Innen auf dem Buchdeckel:
Amtsrichter Dr. iur utriusque
Matthias Konrad Hubert Rech
Berncastel Cues a/d Mosel
Kriegsjahr 1915
Innen in den Buchdeckel eingeklebt: Zeitungsausschnitt
“Kurze Kriegschronik des Jahres 1915”
Auf dem Vorblatt:
Aufzeichnungen des Bernkastler Amtsrichters Dr. iur. Matthias
Konrad Hubert Rech in den Kriegszeiten vom 20. Juli 1915 – 24. November
1916
Wann wird der Friede kommen? 24.11.16. R.
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August 1915 Der Kampf in Polen: Russendämmerung
Nachmusterung der D.U.
Ende Sept./Okt. (Letzte?) heftigste Offensive der Franzosen und Engländer
auf der Westfront. Erfolg?
Bulgarien mobil, Oktober: Serben von Deutschen, Österr. u. Bulgaren
überrannt. Die Ententeminister erkranken. –
November: Kitchener geht. Die Serben sind fast eingeschlossen.
Dezember: Serben völlig erledigt. Mackensen in Ägypten? (Mackensen
nachträgl. gestrichen)
Englische Niederlage bei
Ktesiphon vor Bagdad.
Montenegros Abschied?
Weihnachten 1915: Die Engländer verlassen die Dardanellen. Schluß
dort: 10.1.1916
März 1916: Kämpfe vor Verdun.
April 1916 heftige Zeppelinangriffe auf England
Ende April Engl. bei Kut el Amara übergeben 13000 Mann (143 Tage)
Mitte u. Ende Mai: österr. Vorstoß über Tirol nach
Oberitalien.
3 Monate Kampf
um Verdun.
31. Mai / 1. Juni Seeschlacht am Skagerrak.
u. Mitte Juni: Vorstoß der Russen in Wolhynien.
Bedrängung Griechenlands
1 / 21. Juli: Starke Angriffe der Engländer - Franzosen an der
Somme
Erfolg? (wie vor ¾ Jahren?)
6. Sept. Erneute heftige Angriffe an der Somme
Angriff der Rumänen
auf Siebenbürgen, der Bulgaren-Deutschen auf Rumänien.
8. Okt. Auftreten unserer Kriegs-U-Boote an der amerikanischen Küste.
Rumänen mehrfach geschlagen. Endlose Riesenschlacht Somme.
16.9. Alfred Neitzer, 22.9. Anton Thanisch gefalllen.
Ende Okt. 16: Feldzug in Siebenbürgen und Dobrudscha gewonnen.
Walachei.
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Berncastel Cues, den 20. Juli 1915.
Meines Kriegstagebuches II. Teil, der hoffentlich bald den Frieden
meldet. Dieses Buch kann ich gleich mit einer sehr erfreulichen Aufzeichnung
beginnen: Bin ich auch strategisch ohne alle Kenntnisse, so scheint mir
doch durch alle die jetzt gemeldeten Vorwärtsbewegungen im Osten herauszuschimmern,
daß man die Russen entscheidend in Polen anpacken will. Geben sie
nicht rechtzeitig die Weichsellinie auf, so werden sie wohl wie in einer
Riesenzange erfaßt und eingekreist werden. Es muß wie ein bleicher
Schrecken durch dieses Riesenreich gehen, daß jetzt Hindenburg losgeht
und in gigantischen Umrissen seine Gestalt und sein Plan am nächsten
Horizont der Russen auftauchen. Eine Karrikatur des Simplizissimus verbildlichte
das kürzlich in treffender Weise (Russendämmerung) – Helene
war gestern nachm., heute morgen und heute nachm. je mit bestem Erfolge
mit mir vom Krankenhaus zu unserem Moselgarten gepilgert. Sie kann zusehends
besser gehen und gewinnt stark an Eßlust. Mama Rr. (Reitmeister,
Helene) ist sehr damit einverstanden, daß ich Herta (Rech, Herta)
bringe und so werde ich wohl Samstag fahren. Es war ein heißer sonniger
Tag heute, doch kam es leider zu einem Gewitter. Ich pflanzte einen Hochsommerkopfsalat
“Graf Zeppelin”, der angeblich “nie schießt”. Der Hospitalsgärtner
überließ mir Pflänzchen. Freund Bruhns (Bruhns, Leo) schrieb
mir einen Brief; viele angesehene und alte Balten, darunter Bekannte und
Verwandte mußten nach Sibirien, weil sie eine Geldsammlung für
deutsche Gefangene veranstaltet hatten.
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Aus mancherlei Anzeichen schließt er, daß die Russen mit
dem Verlust von Riga rechnen. Die Familie seines Bruders Oskar (Bruhns,
Oskar) ist in Reval und scheine keine Erlaubnis zu haben, in die Schweiz
zu reisen. Oskar geht es nach Mitteilung seiner Mutter körperlich
besser. (Er sitzt dort als Untersuchnungsgefangener auf estnische Denunziation
wegen angebl. Russenfeind- und Deutschfreund- lichkeit)
21.7.15 Heute morgen gab es von 8 - ½ 1 feste zu arbeiten. Danach
schmeckt die Mittagsruhe. Helene will gegen 5 nach Hause kommen, sie sah
recht frisch aus und aß mit Appetit zu Mittag. Meiner Mutter meldete
ich unsere Ankunft zu Samstagmittag in Bonn. Frau Thanisch fährt schon
Freitag, sonst hätten wir zusammen fahren können. An Bruhns schrieb
ich Karte mit Nachricht über Noldes, die ich von Thelen hatte. An
diese umgekehrt.– Die Stangenbohnen brachten gestern beim II. Pflücken
noch reicheren Ertrag und morgen werde ich abermals pflücken müssen.
Der Himmel steht voll prächtiger weißer Wolken, hoffentlich
giebts bald Regen. Solcher ist stets noch sehr erwünscht.
Die große neue Offensive im Osten, namentlich auf beiden Flügeln
ist den Russenverbündeten ein Stein im Magen. Ob damit die russ. Militärmacht
für diesen Feldzug gebrochen wird? Die Italiener haben sich bei einem
dritten großen Angriff an der Isonzofront wiederum sehr blutige Köpfe
geholt. Alles wird dort unterdrückt, selbst die Nachricht vom Untergang
des Kreuzers Garibaldi.– Die Russen als Einzelarbeiter und in Trupps sind
jetzt schon ein ganz vertrauter täglicher Anblick im Bilde unseres
ruhigen Städtchens. Ich freue mich darauf,
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bald am Rhein mal was anders und mehr Leben zu sehen. Die wiederholt
gespritzten Weinberge stehen so schön wie nie. | Gestern kam von Onkel
Dietrich (Brügelmann, Dietrich), ein gedr. Bericht über seine
Liebesgabenfahrt, diesmal nach Tirol. Dabei die Nr. 1 einer “Kriegschronik
der Firma F. W. Brügelmann Söhne”. Ich würde als Firmenherr
auch eine solche führen, aber ob ichs drucken ließe, weiß
ich nicht. Es schmeckt etwas nach Reklame, ist aber “modern” und vielleicht
auch praktisch.– “2 Chefs und 98 Anfgestellte stehen im Felde”. 2 Mann
sind gefallen.
22.7.15. Heute ist Helene nach leidlich durchschlafener Nacht noch
ziemlich schwach; natürlich hat sie trotzdem allerlei schon “nachgesehen”
, meist aber auf dem Liegebett gelegen. Fr. v. H. schreibt, (sie hat leider
ein L-“knäxchen”) daß ihr Mann in West- und Ostpreußen
war und dort manches Interessante sah. Hindenburg soll gesagt haben: “In
4 Wochen bin ich mit den Russen fertig.” Ob ers so gesagt hat? Renommieren
tut er sicherlich nicht.–Gestern abend las ich Onkel Dietrichs Bericht
über seine III. Frontfahrt mit Liebesgaben; diesmal in die Tiroler
Alpen bis zu 2300 m Höhe. Er hat da tolle Sachen erlebt, Willi (Brügelmann,
Wilhelm) getroffen und durchs Scherenfernrohr italien. Stellungen in Schneegrenzenhöhe
gesehen.– Die Tagesberichte melden das allseitige Vorrücken auf der
Ostfront.
23.7.15. Tante Julchen schreibt, daß Walter, der auf 14
Tage in Urlaub ist, mit seinem Uboot auf letzter Fahrt versenkte: 9 größere
Dampfer, 4 Segelschiffe, 1 Fischerboot. Alle Achtung! Neulich 8, jetzt
14 Stück. Was und wieviel steht davon in der Zeitung und auf der Liste,
wie sie jetzt die Kölnische Zeitung wieder brachte?
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Berncastel Cues 30. Juli 1915. Während sich draußen die
Ereignisse weltgeschichtlicher Wichtigkeit überstürzen, machte
ich aus unserem stillen Kreise eine kleine Reise, die mich mitten ins reiche
Leben unserer Provinz führte. Als Berufsberater für Kriegsbeschädigte
benutzte ich eine Einladung des Landeshauptmannes zur Teilnahme an einer
Tagung für diese Fürsorge in Düsseldorf, um am Samstag morgen
(um ½ 8 Uhr erledigte ich noch die am 24. fällige Kassenrevision)
mit Herta [Rech, Herta] zunächst nach Bonn zu fahren, bei Großmutter
Lord dort Mittagbrot zu nehmen und nachm. nach Begrüßung von
Emma und Anita (Rech, Anita) (dem Töchterchen Josefs [Rech, Josef],
daß sich sehr gekräftigt hat) nach Hersel zu den Großeltern
zu fahren. In Coblenz waren nicht nur viele Feldgraue, sondern vor dem
Bahnhof auch ein Truppenzug, freilich ziemlich versteckt zu sehen. Mit
vielen grünen Zweigen und lustigen Inschriften (nach Paris, nach Warschau
u. dergl.) geziert glich er ganz einem der vielen Züge, die wir vor
fast Jahresfrist in Wengerohr in den ersten Augusttagen sahen. Was ist
seitdem alles geschehen! Den noch stärksten Eindruck bis jetzt im
ganzen Kriegsjahr hatte ich dann Montag (26.) morgens um 8 Uhr auf dem
Kölner Hauptbahnhof. Die riesige Halle war dichtgedrängt voll
Feldgraue jeden Alters. Es war wie ein riesiger leise summender Bienenstock.
Das gleiche Bild oben auf dem Bahnsteig, wo der Personenzug nach Düsseldorf
abfuhr. Dort stand alles in kleinen Gruppen von 3 - 10 Mann umher. Alle
deutschen Dialekte konnte man da hören und die verschiedensten Waffen
und Monturstücke sehen. Auch feldgraue Stahlhelme sah ich. Die große
und glänzende Versammlung in der städt. Tonhalle, die Reden und
Vorführungen
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von Beschädigten die Darlegung der ganz neu geschaffenen Organisation
der Kriegsfürsorge gab mir ein überzeugendes Bild von dem großen,
ja übergroßen Reichtum unserer rheinischen Provinz. Hier an
der Mosel, zwischen den wirtschaftlich bescheidenen Landesteilen des Hunsrücks
und der Eifel kommt das einem ganz aus dem Gedächtnis, was mir als
Rechtsanwaltsvertreter in meiner Referendarzeit ganz selbstverständlich
war: Das Gefühl, daß wir in einem reichgesegneten Lande leben.
Der Eindruck war um so stärker, als er durch den Anblick der reichen
Bodenernte in der rheinischen Ebene noch besonders vorbereitet war. Ist
der Hafer hier fast nur fußhoch geworden und viel Roggen nur sehr
kümmerlich geblieben, so stand dort allenthalben der Hafer in natürlicher
Höhe, der Weizen strotzend und der Roggen gut. In unserem Moseltal
aber ist es noch wärmer und hierher zurückgekehrt, finde ich
die Stangenbohnen viel weiter, Mirabellen schon überreif und die Trauben
an den Hausstöcken im Begriffe, in den Wein zu gehen.– Ich lernte
eine Menge auf jener Tagung; schon heute morgen hatte ich Gelegenheit,
es nutzbringend zu verwerten. Die einfachsten Ersatzglieder schienen mir
für die Arbeit die allergeeignetesten. Um alles geistig gründlich
zu verarbeiten, zu verdauen und mir ganz anzueignen, werde ich noch einige
Zeit gebrauchen. Nachmittags besuchte ich Leny (Rech, Leny), Johannes (Rech,
Johannes) Frau bei den Großeltern Schröder dort, Graf Reckestr.
Ich traf sie alle mit dem kleinen Horst (Rech, Horst) zu Hause an. Dieser
Kriegsjunge wird in der
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ersten Hälfte August “Einjähriger”. Ein prächtiges Kerlchen,
der mit seinen blauen Augen mich in etwa an Bruder Christians Gesichtsausdruck
in seinen Kinderjahren erinnerte. Johannes war donnertags zuvor noch dort
in Urlaub gewesen. Vater Schröder, dessen italien. Geschäft seit
Mai ganz darniederliegt und der nicht weiß, wie er die Zeit totschlagen
soll, begleitete mich zum Zuge. Abends war ich wieder in Hersel, wo ich
dienstags mich ausruhte. Herta ist eine Freude der Großeltern und
ich konnte sie mit gutem Gewissen und ohne Besorgnis dort zurücklassen.
Mittwoch morgen fuhr ich mit Vater Reitmeister (Reitmeister, Peter) nach
Bonn, blieb bis Mittag bei meiner Mutter (Rech, Anna Maria) (beriet Emma
(Rech, Emma) noch morgens bei Josef’s Vertreter, Ra. Ödekoven) und
fuhr nachm. heim. Helene ist noch schwach, erholt sich langsam aber stetig.
Hier ist reichlich zu tun. Amt und Berufsberatung sind bald abgearbeitet.
Im Garten und auf dem Feldgrundstück ist reiche Ernte. Alles ist um
Wochen früher als voriges Jahr.Man redet schon von Faßnot für
den kommenden reichen Herbst, neue Fässer sind auf 70 M (gegen 45-55
sonst) gestiegen. Es sind bereits Küfer aus der Front zur Faßherstellung
beurlaubt und das hat bereits dem weiteren Aufschnellen der Frachtpreise
Einhalt getan. Schon will man an der Obermosel von 250 M per Fuder, einem
unerhört niedrigen Preise sprechen, der auf eine riesige Menge schließen
lassen würde.– An der Isonzofront sollen die maestri commaxini 100000
Mann Verlust neuerdings gehabt haben.
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31. Juli 15 Heute meldet ein grünes Extrablättchen,
daß die Österreicher in Lublin eingezogen sind. Damit haben
die Russen eine Bahn weniger von Iwangorod. – Nach dem gestrigen Tagesbericht
ist die russische Front zwischen Weichsel und Bug im Wanken. Werden sie
sich alle auf Warschau zurückziehen und dies ein II. Sedan werden?–
Von heute Nacht an sind alle Küchen- und Backgeräte aus Kupfer
Messing und Reinnickel beschlagnahmt. Wir haben 3 reinnickelne Kochkessel
herzugeben; 19 M wird pro kg gezahlt. Wir geben sie gern und freuen uns
nur, daß unser schöner “sakraler” Messingkronleuchter noch nicht
in den Krieg ziehen braucht. Kommt die Not an ihn, so soll er auch weg.
Nähgarne sind auch in größeren Mengen beschlagnahmt und
daher sehr knapp; hier kaum mehr zu haben. Wir bekommen wohl welches noch
aus der “Handlung” von Rosas Eltern in Commen, von wo Helene vor etlichen
Tagen auch noch eine Reihe Päckchen “Friedrichsdorfer Zwieback”, sogar
zum alten Preise, bekam. Anthrazitkohlen zu 1,90 per 50 kg bekamen wir
reichlich. Es ist warmes Wetter, ein nächtlicher Regen nutzte sehr.
Marianne ging vor Tisch in warmer Sonne zu ihrer Freude mit den Eltern
spazieren. Helene führe ich noch stets am Arm; ist noch schwach, es
eitern immer noch Fadenendchen aus.
1.August 1915 Wieder bewegen sich Gruppen von betenden Frauen und Mädchen
auf beiden Seiten der Mosel und ich höre vom Liegestuhl aus ihr lautes
und eintöniges Beten wie vor Jahresfrist. Welches Leid hat dieses
Jahr gebracht! Aber die Wagschale neigt sich immer deutlicher zu unseren
Gunsten. Das II. Kriegsjahr wird gewiß –und hoffentlich bald– die
Beendigung zu unseren Gunsten bringen. Schon fiel in England das “heikle
Wort” von der Niederlage und ein schwedischer Neutraler entwickelt bereits
den Plan eines starken Angriffs der Zentralmächte auf Egypten, wenn
erst die Russen darniedergeworfen seien. Rumänien und Bulgarien würden
sich dann zu entscheiden haben. Vater Reitmeister (Reitmeister, Peter),
der doch ein Menschenalter hindurch fortlaufend persönliche und geschäftliche
Beziehungen zu Holland hatte, denkt sich die Lösung des Flamenproblems
so:
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Alle flämischen –auch noch zu Frankreich gehörenden– Gebietsteile
werden zu Holland geschlagen. Dies geht mit uns eine Militärkonvention
ein. Im Innern mögen sie machen, was sie wollen. Hinarbeiten auf Zollgemeinschaft,
“Eingemeindung” auch als Ausdruck zu vermeiden.
3.8.15. Seit gestern liegt Helene leider mit geringem Fieber (bis 38,6°)
zu Bett. Die Wunde, welche Fäden absondert ist etwas größer
geworden und giebt viel Eiter ab. Hoffentlich heilt sie bald entgiltig
von innen heraus ab. – Alle Welt starrt nach Polen, unsere Feinde scheinen
recht Angst um den Ausgang des Riesenkampfes dort zu haben. Bringt der
August die Entscheidung? Die Italiener rennen sich immer noch die Köpfe
am Isonzo ein. Fortschritte scheinen sie trotz großer Opfer kaum
zu machen. Nun sollen sie auch zu den Dardanellen Truppen und nach Frankreich
Kavallerie schicken!
5.8. Das riesenhafte deutsche Unwetter, das sich auf die Russen und
Polen zusammengezogen hat, entlädt sich jetzt Schlag auf Schlag. Gestern
schon griffen die Baiern Warschau an, vielleicht haben sie bereits heute
einen Teil davon, wie es die Österreicher schon an Iwangorod haben.
Die nach Osten zusammengezogenen Luftschiffe zerstören die östlichen
Bahnverbindungen, was dem anscheinend jetzt allgemeinen russischen Rückzug
böse Stockungen verursachen wird. Ein englisches Unterseeboot versenkte
in der Ostsee einen deutschen Dampfer. Ich bestellte zusammen mit Erkleben
20 gr Samens von Zwiebeln, die man jetzt sät, Oktober auspflanzt und
im Mai als dicke Zwiebeln erntet. Hoffentlich gelingts. Helene ist gottlob
wieder auf. Von
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Herta kam ausführlich gute Nachricht von ihrer Großmutter,
Marianne, die jetzt auffallend an mir hängt (der “Tata” wie sie laut
zu rufen pflegt, geht über alles), ging vor Tisch mit mir zu Erklebens
Wohnung und zurück. Margaret Thanischs Söhnchen Walter verstand
sich gut mit ihr. Der Junge ist ein Jahr alt und sieht dem Vater ähnlich.
Schwesterchen 1 Monat, welches früh gekommen. Ein prachtvoller sonniger
Tag, der trübe begann.
6.VIII.15 Ich pflückte gestern nachm. auf dem Felde Gurken; da
kam der Feldhüter Denger und wußte “das Neueste”. Ich dachte
mir schon gleich: Warschau unser! Bald hörte man in Cues und Wehlen
die Glocken läuten und als ich gegen 5 nach Hause kam, tönten
auch endlich mal wieder seit langer Zeit die tiefen Töne der großen
Glocke der Bernkastler Kirche. Bald dröhnten Böllerschüsse
und Mariannchen verfehlte beim Kaffetrinken nicht, jedesmal mit erhobenem
Zeigefingerchen und “Buh” uns aufmerksam zu machen. So spielte sich bei
uns die Nachricht dieses sicher sehr einflußreichen Ereignisses ab.
Sehr bezeichnend besetzten die Baiern unter Prinz Leopold die Stadt. Ob
sie unser bleiben und vielleicht ein Wittelsbacher Polenkönig werden
wird? Die Russen scheinen die Stadt noch rechtzeitig geräumt und nur
verhältnismäßig schwach durch Nachhuten verteidigt zu haben.
– Höchst interessant und lehrreich ist für mich als Berufsberater
ein ganz ausgezeichnetes Buch eines Oberbergrats Flemming aus Saarbrücken
über die Arbeitsmöglichkeiten Verkrüppelter. Es kam in 2
Einzelstücken, beide bereitete ich heute für einen festen Einband
vor. Eins soll ins Lazarett kommen.
Hoffentlich behalten die “Neuen Züricher Nachrichten” Recht mit
ihrem Worte: Der Fall Warschaus ist der Fall des Viererbundes.– Herta fühlt
sich sehr wohl bei den Großeltern in Hersel, beide sind sehr froh
mit ihr und schreiben uns ausdrücklich, daß sie ihnen nicht
lästig sei.
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Warschau.
Das Geheimnis des Ringes.
7. August 1915. Der Fall von Warschau und Iwangorod, das die Österreicher
am selben Tage nahmen, erweckt im ganzen Reiche eine große und starke
Freude. Auch im Ausland wird dieser Schlag gegen die Russen allenthalben
betont. Stegemann im Berner Bund eröffnet den Russen die schlimmsten
Aussichten. Unsere Reiterei scheint jetzt im Osten eine große Aufgabe
zu leisten. Die Festungen fallen jetzt, ganz wie Bruhns es neulich als
seinen sehnsüchtigen Wunsch schrieb “wie reife oder gar wie wurmstichige
Früchte” uns in die Hände. Das Ganze will mir als ein bis ins
Einzelne ausgeheckter Riesenplan von Hindenburg erscheinen. Daß wir
jetzt, nach 1 Kriegsjahr, als Sieger dastehen, können selbst die Engländer
nicht leugnen. Sie halten die Hauptstreitkräfte ihrer Hochseeflotte
ängstlich irgendwo versteckt und ein neutraler Matrose von einem nach
Kirkwall geschleppten Schiff hat sie auf einem Ausflug zufällig entdeckt,
bei Scapa Flow, einer ganz versteckten Bucht in den Orkney-Inseln liegt
sie wie eine brave Schafherde beieinander.Daß man nicht mal schnell
mit etlichen U-booten hinkönnte. Tatsächlich scheinen 2 unserer
Unterseer im weißen Meer sich bei Archangelsk zu bewegen. Französ.
Munitionstransporte sollen schon deswegen aufgehört haben.– Gelegentlich
einer Traumvorstellung im halbwachen Frühmorgenschlummer tauchte mir
kürzlich eine Erinnerung an einen Traum auf, den ich schon mehrfach
während des Krieges geträumt haben muß. Auf eine geheimnisvolle,
mir nicht mehr erinnerliche Weise wird mir mitgeteilt, daß mein goldener
Ehering, weil ich ihn stets am linken Ringfinger
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getragen habe, eine ungeheure Zauberkraft besitze, über die mir
aber nichts mitgeteilt werden dürfe. Ich müsse sie selbst finden
und dürfe sie niemandem mitteilen, solle sie nicht alsbald wieder
verlorengehen. Ich zerbreche mir natürlich den Kopf darüber,
welcher Art die Kraft wohl sein könne, erinnere mich der Zauberringe
Salomos, der damit starke Geister in eine Kupferflasche bannt und mit Blei
zupetschierte; nicht minder des Rings von Alladin, der sobald er gerieben
wird, den ungeheuren Geist beschwört, der schlechthin keinen Dienst
versagt u.s.w. Aber alles Reiben, Rollen, Abfingern, Werfen, Schieben und
zauberhaften Herumhantierens will nichts fruchten; nichts läßt
an dem Ring verspüren. Auch, daß ich seine Innenfläche
mit Holz und Metallstiften leise streiche oder gar ganz fein den eingeritzten
Schriftzeichen nachfahre, bringt keinerlei Wirkung hervor. Nach vielen
Tagen voller eifrigster Bemühung mit Hand und Kopf nach jeder Richtung
gebe ich es schließlich auf, das Geheimnis, an das ich fest und zuversichtlich
glaube, auf dem Wege irgend welcher Methode oder des Nachsinnens, zu ergründen.
Ich stecke den Ring ruhig wieder an den Finger und denke: Ein Zufall wird
dir zur rechten Zeit schon zeigen, was es mit dem Ring auf sich hat. Nach
einiger Zeit habe ich auf dem Felde die Tomaten angebunden und abgeblättert,
auch Unkraut daran ausgezogen und sie bewässert. Meine Hände
sind voll Erde und grüngebeizt von dem scharfriechenden Kräutersaft
der Tomatenstauden. Ich nehme etwas Kalk und will mir damit die Hände
rein waschen, ziehe den Ring ab und lege ihn auf ein Spiegelbrett im Gartenhäuschen.
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Ein heftiger Windstoß reißt die Tür auf, das Brett
klappt, der Ring fällt herab, läuft auf dem glatten Linoleumboden
zur Tür hinaus; ich höre ihn deutlich die 4 Steinstufen hinunterspringen
und denke, den findst du gleich vornan im Gartenkies. Sowie die Hände
rein und trocken sind, gehe ich ihn suchen, ich finde ihn nicht sofort
und es fällt mir ein Stück starken Drahtes in die Hand, den ich
kurz zuvor auf dem Wege zum Garten gefunden, mitgenommen und geradegeklopft
hatte. Ich stöchere damit im Kies herum, plötzlich sehe ich den
Ring, stecke den Draht hindurch und hebe ihn damit auf. Da überkommt
mich die Lust ihn durch eine kurze Handdrehung um den Draht kreisen zu
lassen und als er feste im Laufen ist, lasse ich ihn den Draht entlang
mir auf die Hand fallen. Eine Strecke lang berührt er den Draht nicht
und ich habe ihn noch nicht aufgesteckt, da fällt mir auf, daß
der Draht ein stück lang goldig schimmert. Ich denke: nanu, der Ring
kann sich doch nicht so stark daran gescheuert haben. Ich weiß zwar,
daß es sehr reines Gold (900/1000) und weich ist. Ich biege den Draht
an der gelben Glanzstelle durch, dann hin und her und breche ihn schließlich
ab: Er ist durch und durch gelb und weich. Ich hab aber doch vorher gar
nichts davon gemerkt, daß es ein Messingdraht war. Ich besehe ihn
mir noch mal: Es ist ein gewöhnlicher verzinkter Eisendraht, nur ein
großes Stück des unteren Drittels ist wie Messing. Plötzlich
ein blitzschneller Gedanke: Ich hab das Geheimnis des Rings entdeckt: Er
verwandelt alles in Gold, wenn mans hindurchzieht, ohne seine Wand zu berühren.
Schnell die Probe: Ich halte ihn mit der Linken und stecke das Drahtende
hindurch: Es ist gelb und goldig. Ich fühle, wie mir vor freudigem
Schreck die Beine zittern. ––––
Forts. Seite 15
Seite 13
Mutter Rr. (Reitmeister, Helene) teilt heute mit, daß Willy (Reitmeister,
Willi) telefoniert hat: Elsbeths (Reitmeister, Elsbeth) Mutter, Frau Zieting
ist in Bernau gestorben, wo sie bei Verwandten war. Willy war eben dienstlich
in Berlin, wußte nichts davon und fand erst bei seiner Rückkehr
beunruhigende Briefe vor. Elsbeth wird nun von Au nach Siegburg kommen,
Heinz (Reitmeister, Heinz) kommt morgen mit Mädchen nach Hersel. Herta
wird sich freuen. Arme Elsbeth! Für die Mutter und sie ists freilich
rein objektiv gesehen eine Erlösung. – Die Österreicher melden
zugleich: Versenkung eines italien. U-bootes durch ein österr. und
Herabholen eines Luftschiffes, das nach Pola fuhr, mit Schrappnellfeuer.
Wohl in dieser Form der erste Fall im Kriege. Besatzung gefangen genommen
und Luftschiff erbeutet. In der Emmenthaler Zeitung, die Bruhns mir schickte,
lese ich , daß die Italiener bei dem Riesenangriff am Isonzo 300000
M vorgeschickt und 100000 davon verloren haben sollen! Bei der ersten Angriffsschlacht
verloren sie 60000 Mann. Nun wollen sie auf die Dardanellen los! Bulgarien,
das jetzt auch Anleihe von uns bekommen hat, steht wohl dicht vor dem Kriege
gegen Serbien. Äußerer Anlaß: Verlangen nach Aufhebung
der serbischen Donausperrung. Rußland hat wohl ausgespielt, auch
für die Balkanfritzen. Ein türkisch-bulgar. Vertrag soll fertig
sein. Wird Rumänien einschwenken? Es ist jetzt wohl die Wagschale
entgiltig zu unseren Gunsten gesunken. Der Simplizissimus bringt ein herrliches
Titelbild: Der deutsche Wehrmann schützt seine Heimat.–
9.8.15. Ein heißer Sommertag mit hellstrahlender Sonne. Merkwürdigerweise
bleiben die vielen Fliegen heute aus, die mich die letzten Tage und gestern
noch so stark plagten.
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Unser Aktuarius Reuter, der sich seiner Gesundheit halber nach Siegburg
versetzen ließ, erlebte dort ein merkwürdiges Geschick, wie
mir unser Rechtsrat Faber heute morgen erzählte: Während hier,
im Bereich des VIII. Armeekorps seine Unabkömmlichkeit als Justizbeamter
anerkannt worden war, wurde er dort, im XXI. Armeekorpsbezirk, in Kreuznach
neuerlich gemustert, zur Infanterie ausgehoben und alsbald zur Garde nach
Berlin einberufen, wo er schon die 2. Woche dient. Hätte er dies vorausgesehen,
würde er wohl die sommerliche Talhitze hier eher haben ertragen können,
zumal ihm der Gardedienst fast unerträglich ankommt. Man versucht,
ihn loszueisen, aber das wird wohl jetzt nichts mehr helfen. Von Josef
(Rech, Josef) kam ein sehr beruhigender Brief, den unsere Mutter mir schickte:
Er liegt zwischen Metz und Nancy auf einer Ferme, hat vorzügliches
Quartier, gutes Leben und ist sozusagen außer Gefecht. Helenens Wunde
scheint sich langsam schließen zu wollen. Sie kann immer noch nicht
weit gehen, kaum stehen und fühlt sich nur beim Liegen ohne Beschwerden.
Von dem reichen Behang der Reineklaudenbäume sind mehr als ¾
jetzt frühreif und leider wurmstichig. Ebenso gehts mit den dicken
roten Pflaumen. Die Hitze bringt die Tomaten früh zum Reifen und so
aßen wir heute unsere 2. Suppe von eigenen Tomaten.
Weiße Wolken ziehen auf, hoffentlich giebts bald ein Gewitter.
Die Faßnot scheint wirklich ernstlich zu werden, jetzt wird vorgeschlagen,
gefangene Franzosen mit der Herstellung von Fuderfässern zu beschäftigen.
Reinecke schrieb zum Jahrestage seines Ausrückens: 6. August. Seit
diesem Tage bin ich jetzt ein Jahr schon aufsichtf. Amtsrichter hier. Wer
hatte 1910 daran gedacht, als ich als Assessor hierhin kam?
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Märchen ––– Kanonendonner
Jetzt ist die große Geldfrage für unser Reich gelöst:
Vorsichtshalber schneide ich mit der Blechschere, die ich im Bienenhaus
habe, ein Stückchen ab und bringe es zum schwachen (?) Kronser, er
bestätigt es als gediegenes Gold, desgl. der Zahntechniker Bell, dem
ich es gleich für Zwecke des Roten Kreuzes lasse. Jetzt ist es nicht
schwer, die Golderzeugung im großen zu betreiben. Ich richte mir
im Garten eine kleine Werkstätte her, der Ring wird eingeklemmt, 10
mm starker Eisendraht in Massen beschafft und mit einem kleinen elektrischen
Motor zwischen 2 Walzen genau so durch den Ring gestoßen, daß
nirgends eine Berührung stattfindet. Tag und Nacht geht die Goldmühle.
Damit keiner was merkt, ist der Ring in verdeckter Fassung angebracht und
der vorschießende Goldstab überzieht sich automatisch mit einem
Tarnanstrich. Ich selbst schneide mit einer Stanzschere die Stücke
auf kurze Längen ab und versende sie täglich in Weinkisten unter
Deckadresse an die Reichsbank. 10% des Goldwertes werden mir im Reichsschuldbuch
als 5% Schuldverschreibung eingetragen. Die Reichsbank hat binnen kurzem
trotz reichlichster Goldabgabe ins Ausland den höchsten Goldbestand
aller Weltbanken und die Engländer sehen, daß sie zu kurz kommen
und machen nach 2 Monaten Frieden. Bis dahin habe ich mehr als 20 Millionen
im Schuldbuch stehen und zerbreche mir den Kopf, was ich mit dem Geld anfangen
soll.– Was geschähe, wenn das Märchen Wahrheit würde? Das
Gold verlöre vermutlich seinen Wert und ich meine Zufriedenheit.––
Schon vor wenigen Tagen glaubte ich, wieder ab und zu Kanonendonner
zu hören. Soeben gegen 3 ¼ Uhr nachm. hörte ich mehrere
dumpfe starke Schläge ganz genau.
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10. August 1915 Schultze hatte doch recht, als er gestern morgen das
Gerücht eines Luftbombardements von Saarbrücken erzählte.
9 Tote und 26 Schwerverletzte, viele Leichtverletzte waren das Opfer dieses
unsinnigen Angriffs, für den wohl wieder Vergeltung geübt werden
wird. 2 Luftfahrzeuge wurden herabgeschossen. Schönberg erzählte
heute, in Calais habe man unsererseits den dort versammelten englischen
Marinestab beim Mittagessen bombardiert. Das Kanaldrahtnetz scheint tatsächlich
zu existieren, soll an 80 Millionen (Pfund?) gekostet haben. Ein Unterseer
von uns soll ihm zum Opfer gefallen sein. Ich kann mir nicht vorstellen,
daß dieses Netz nicht relativ leicht zu beseitigen oder lokal zu
zerstören sein soll. Unsere schwere Flotte soll in der Ostsee sein,
Angriff auf Riga, Reval oder Kronstadt beabsichtigt? Die nördl. in
den Ostseeprovinzen stehenden Truppen sollen Verpflegung auf dem Seeweg
erhalten. Torpediert wurden ein englischer Hilfkreuzer India 7900 t bei
Badil, und der Barbarossa Saindic (?), ehem. ein Schiff unserer Brandenburgklasse
im Marmarameer durch ein englisches Untersseboot. Ob die Engländer
nicht noch mal einen Vorstoß in unsere Nordseegewässer machen
werden? Nowo Georgewisk scheint von uns fast ringsum eingeschlossen zu
sein. Riga wird von den Russen zur Räumung vorbereitet. Die Polen
möchten lieber österr. als preußisch werden. Der Bonner
Generalanzeiger, stets etwas voreilig, hat schon die Bulgaren gegen die
Serben mobilisiert. Auf unserer Westfront ist es eigentlich verdächtig
still. Karl Liell kam gestern abend fröhlich als
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Vizefeldwebel vom Sennlager heim. Samstag geht er wieder zur Front,
nach seiner alten Stellung in Flandern (Langemark). Frau Liell war seit
etlichen Tagen stets in höchster Unruhe, stand gottweiß wie
früh auf, ging eifrig zur Kirche u.s.w. Gestern abend waren sie bis
in tiefe Nacht hinein fröhlich zusammen. Es regnete in dieser Nacht,
heute ist es schwülwarm, nachm. voll Wolken. Schöneberg will
einen Firmenausflug nach Dänemark und Schweden machen. Mit welchen
Tartarennachrichten wird er von dort heimkehren. Frau Zieting wird heute
in Schönermark bei Gransee bei ihrem Mann beerdigt. Törichterweise
gedenkt Elsbeth noch länger dort zu bleiben, “um alles zu regeln”.
Besser ginge sie gleich wieder in Kur nach Au.
11. Aug. 15 Heut morgen las ich zu meinem Schreck das mit Schreibmaschinenschrift
vervielfältigte “Sonder”-blatt –so heißt es jetzt stets– , das
wieder einen französischen Fliegerangriff, diesmal auf Zweibrücken
und St. Ingbert meldet. Wieder sind 8 Leute tot und manche verwundet. Was
soll das?, denke ich. Ist es Vergeltung für deutsche Bombenwürfe
an besonders empfindlichen Stellen, oder müssen am Ende die Franzosen
Vergeltung üben für Angriffe unserer Luftschiffe auf englische
Küsten. Nein, die Luftschiffe sind ja “nach dem Osten zusammengezogen”
. . . Ich war mit diesen Erwägungen noch nicht fertig, das stand ich
am rechtufrigen Brückenpfeiler, wo mehrere Leute eine Depesche lasen.
Ich wollte schnell vorbei, da ich die Fliegergeschichte schon genügend
genau gelesen hatte, da sah ich ein neues, diesmal gedrucktes, grünes
Sonderblatt: Also doch: In der Nacht 9/10 August haben unsere Marineluftschiffe
die englische Ostküste besucht, dort trotz heftiger Beschießung
Kriegsschiffe in der Themse, den Docks, Hamstead “mit Erfolg” beworfen.
Sie
Seite 18
kamen unbeschädigt nach Hause. Welche Wut muß die hiergegen
machtlosen Engländer bei solche Überfällen heimsuchen. Ob
die Luftschiffe nicht mal bis Scapa Flow kommen. Bodö in Nord-Norwegen
habe ich gestern entdeckt die englische Blockade Norwegens wird wohl durch
unsere Tauchboot stark in Frage stellt werden. (Der Satz ist wirklich so
formuliert) Ein englisches Tauchboot versank bei den Dardanellen. Dort
wurde ein neuer Landungsversuch gemacht, ohne Erfolg. Die Bulgaren erhalten
jetzt eine ½ Milliarde von uns gepumpt; wir müßten doch
schön dumm sein, täten wir das ohne Vertrag.– Heute vormittag
war bis gegen ½ 1 Uhr großes Leben auf unserer Straße
und kurz vor unserem Hause. 3 Offiziere mit etlichen Artilleristen hielten
Pferdeschau bei Thals ab. Vater und Sohn Thal hatten sich in Sonntagsmontur
geworfen, die Pferde wurden auf und abgeführt, am Halse, im Maule
usw. untersucht und an der Schulter gemessen. Trotzdem ja große Pferdeknappheit
herrschen soll, wurden keineswegs alle genommen; die angekauften erhielten
z.T. rechts, z.T. links am Halse eine Marke aufgebrannt. 21 Stück
wurden schließlich zur Bahn gebracht, je 3 zusammengekoppelt. Alle
Nachbarn, von der Arbeit zur Mittagspause heimkehrende Arbeiter und Kaufleute,
Kinder und Frauen gaben einen reichen “Umstand” ab, dazu schien zwischen
Wolken eine helle Sonne: es war ein recht belebtes Bild in unserem sonst
so stillen Städtchen. Der Hausstock hat schon reife weiße Trauben,
die von den Vögeln angepickt, nun von den Bienen fleißig ausgepickt
werden
13.8. Diese Nacht tobte sich ein heftiges Gewitter aus und am regnerischen
und trüben Vormittag brannte das Plein’sche Haus ab; bei der Frau
kaufen wir
(Zwischen Seite 18 und Seite 19 sind zwei Zeitungsausschnitte eingeklebt:
“Ein Seesieg bei den Aalandsinseln”, “Taten und Ende des “Meteor””, “Die
englischen Kriegschiffverluste”)
Seite 19
unsere Einmachgeschirre. Sie dauert mich doppelt, da ihr Mann einberufen
ist. Aber wieviele Häuser brennen heute unter schwereren Bedingungen
ab. Kaufmann Koch zwar meinte, die Feurewwehr sei mal wieder viel zu schnell
am Platze und viel zu eifrig beim Abreißen gewesen. Man habe es mal
ordentlich brennen lassen sollen. Es hätte dort an der Hebegasse (?)einen
hübschen Marktplatz gegeben. Alles wäre gut versichert und die
Versicherungsgesellschaften zahlten ja toll hohe Dividenden. Auch ein Standpunkt.–
Jetzt scheint die Sonne und ich muß mich gleich ans Einernten der
ersten Prinzeßböhnchen machen. Es giebt vielleicht bald wieder
ein Gewitterregenchen.–Marianne wird stets kühner und gewandter. Mit
Hilfe ihres kleinen Kinderstühlchens klettert sie schon aufs Fensterbrett
und an das Gitter im Fensterrahmen. Frau v. H. schreibt, daß es ihr
wieder sehr viel besser gehe, ich solle nur mal in den Ferien hinkommen.
Geht aber nicht. Die Verdeutschung macht ebensolche Fortschritte wie unsere
Truppen im Osten. Hieß es im Bericht der “Obersten Heeresleitung”
am 10. ds. noch “Armee”, so heißt es am 11.:Heeresgruppe”, ein schöner
Ausdruck, der bald Genossen findet, z.B. für das “Bataillon”, mit
dem ich im fortlaufenden Kampfe liege, ob es nicht mit 2 “tt u. 1 l” zu
schreiben sei usw. Bruhns schreibt auf einer Karte sehr trübe Nachrichten
aus seiner baltischen Heimat. Die erzwungene “Flucht” der Balten vor den
anrückenden Deutschen bedeutet Verschleppung und Elend, wo viele zu
Grunde gehen. Wir werden der Balten beim Frieden zu gedenken haben.
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14. Aug. 15. Wieder waren unsere Luftschiffe an der englischen Ostküste.
Der Bund meint, unsere Gegner würden versuchen, “den Warschauer König
mit dem Stambuler Aß zu stechen”. Wenn da nur kein “Petersburger
Bauer” dazwischen sticht! 15./ Gestern schon stand im Extrablatt angeschlagen,
daß eines unserer Tauchboote im ägäischen Meer einen bemannten
10000 t englischen Transportdampfer versenkt hat. Nur wenige Soladaten
sind gerettet. Schrecklich, aber doch sehr erhebend für uns und die
Türken. Es wird ja jetzt ein neuer Angriff der Engländer von
der kleinasiatischen Landseite her vorbereitet. Ein schmerzhafter Anfang.
Die Rumänen haben das Ausfuhrverbot für Getreide ect. aufgehoben.
Sie ersticken vermutlich in solchen Erzeugnissen. Hoffentlich hört
dort die schmähliche Bestechungswirtschaft auf. Es scheint, daß
es daran ist, was jüngst ein Schwede in einem neutralen Plan als die
nächste Folge des Zusammenbruchs der russischen Kriegsmacht darlegte:
Der deutsche Angriff auf Ägypten , um dort England entscheidend zu
treffen. An der Front scheint man von ähnlichem zu reden. Hugo Thanisch
begegnete mir heute morgen und berichtete ähnliches von seinem Bruder
Anton, der großes an der Lorettoschlacht erlebt haben muß.
Jetzt hat er 3 Wochen Urlaub. Er liegt bei Soissons. Ob dort ein Durchbruch
von uns geplant wird? Auf 50 m läge man sich gegenüber , beschösse
sich jedoch wie auf Verabredung nicht. Für den Fall, daß wir
zu den Türken wollen, werden sich vielleicht die Rumänen zu etwas
entschließen müssen.
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Linsingen, von dessen Karpathenarmeen man nichts rechtes mehr hörte,
soll wohl für Rumänien bereitstehen. Ob es zunächst gegen
die Serben los geht und zugleich vielleicht die Bulgaren mittun? für
den 4erVerbund scheint es zur Zeit auf dem Balkan sehr flau auszusehen.
An Frl. Tholin ging heute längerer Brief ab. Ein kleines Gewitter
brachte eben sehr erfrischende Kühle. In Hersel scheints noch gut
zu gehen, Papa (Reitmeister, Peter) schrieb infolge Arbeitsüberhäufung
von Mama mit Einmachen ect. selbst den “Sonntagsbrief”. Herta ist sehr
wohlauf dort. Helene wird wohl bald hinreisen können. – Tomaten bringen
reichliche und köstliche Ernte. – Die Österreicher verloren in
der Adria ihr berühmtes Uboot 12 mit dem Linienschiffslt. Lerch, der
s.Zt. den Courbet torpedierte. Die Mannschaft ging mit unter.
17. Aug. 15. U3 der Österreicher mußte nun auch dran glauben.
Die Italiener versenkten es in der Süd-Adria und retteten einen Teil
der Besatzung. – Um Regen ist am Ende zu stark gebetet worden. Hatten wir
bis an etlichen Tagen regelm. nachm. gegen 4 ein kleines Gewitter mit Regenschauern,
so kommt jetzt noch eins am Vormittag und ein drittes nachts hinzu. Zur
Zeit sitze ich bei solchem mit heftigem Regen eingeschlossen um 4 im Gartenhaus.
Es ist schade, daß man nicht dazu kommt, das jetzt reife Steinobst
einzuheimsen und die Gemüsefelder zu bestellen.
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18.August 1915 Kownos Fall (Fehlen noch Grodno, Ossowiez, Brest Litowsk,
Rubno (Kronstadt?) Heute morgen hatte ich einen sehr strammen Tag und von
¾ 8 ab fleißig zu tun. Eben blieb mir vor Tisch noch ein halbes
Stündchen und um es, da es nicht regnete, nützlich anzuwenden,
lief ich zum Garten und pflückte Prinzeßböhnchen und Tomaten.
Ich war noch nicht ganz fertig damit, da läuteten alle Glocken. Ich
bedachte mich auf dem Heimweg: Was kann denn jetzt so großes geschehen
sein; sicher ist Kowno gefallen, der gestrige Tagesbericht teilte bereits
die Erstürmung der Forts zwischen Nyemmen und Issija mit und auf der
Karte hatte ich mir genügend die Bedeutung dieser wichtigen Festung
klargemacht. Schon hingen die Fahnen bei Frau Kreisarzt Dr Knoll und bei
Karfpeckens (?) und Eich’s Haus heraus und ein grünes Extrablatt meldete
es: Kowno gestürmt, an 400 Geschütze (gestern waren es schon
260!) und unübersehbares Material erbeutet. Hurrah! Frau Liell hat
sich auf meinen Rat den Flaggenstock mit einer Schnur-Rolle zum Aufziehen
der Flagge versehen lassen und nach Tisch zog ich erstmals die Flagge daran
auf. Allgemeines Bedauern herrscht über die Nachricht, daß ein
Sohn des Bankdirektors Thappich hier in Rußland gefallen sei.– Helene
ist sehr erfreut darüber, daß sie heute mit gutem Erfolge wieder
morgens etwas im Haushalt hat mithelfen können. Tomaten wurden da
eingemacht, Mirabellen gedörrt, Perlzwiebel vorbereitet und gefüllte
Tomaten geschmort, ein Gericht, das wir zum ersten Mal aßen und das
vorzüglich schmeckte. Dazu schrieb Mutter Reitmeister (Reitmeister,
Helene) recht befriedigt. Herta geht es gut.
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Heute morgen war u. a. ein verwitweter und etwas dem Trunk ergebener
aber sonst recht fleißiger Tagelöhner Klassen aus Monzelfeld
bei mir. An etlichen Jahren hatte ich seinen ältesten Jungen in Fürsorge
Erziehung tun müssen und jetzt ist ein gleiches für einen jüngeren
der Fall, der noch schulpflichtig ist und tolle Streiche macht. Der Vater
ist damit sehr einverstanden. Der ältere, jetzt 20 Jahre alt, hat
sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet und war schon 3 mal verwundet, hat
angeblich auch das Eiserne Kreuz. Erst war er bei der Marine, dann bei
der Artillerie und jetzt beim Train. Der Vater hat selbst mitgewirkt, daß
er vom Landeshauptmann aus der Fürsorge Erziehung entlassen wurde.
Hoffentlich kehrt er als tüchtiger Mensch gesund heim zu Vater und
Geschwistern, wo er dringend nötig wäre. Es scheint tatsächlich
so zu sein, wie es im Zentralblatt für Jugendfürsorge etliche
Anstaltsleiter stolz mitteilten: Der Krieg hat auf die älteren Fürsorgezöglinge
befreiend und erzieherisch gewirkt. Hoffentlich mit dauerndem Erfolg.
19. Aug. 15 Der gestrige Tag brachte uns noch weitere günstige
Nachrichten: 5 unserer Torpedoboote vernichten einen kleinen modernen englischen
Kreuzer und 1 von 6 englischen Zerstörern! Das war wohl nur durch
wunderbar genau gezielte Torpedoschüsse aus großer Entfernung
möglich? Unsere Torpedobootsflottille erlitt keine Verluste; kürzlich
hat eines unserer neueren Tauchboote die Westküste Englands angesichts
der Insel Man in der irischen See mit Granaten beschossen, Brände
verursacht und eine Eisenbahnlinie unterbrochen. Das ist etwas ganz Neues
und für den (.?.) Engländer jedenfalls Unerhörtes und daher
moralisch äußerst Verwerflisches.
Seite 24
Luftschiffe über London
Allgemach bekommen sie den Krieg ins heilige englische Land gebracht.
Marineluftschiffe haben jetzt endlich auch London-City und anl. Dörfer
fleißig mit Bomben beworfen, Hochofenanlagen ect. mußten dran
glauben. Sie kamen trotz heftiger Beschießung wieder heil heim. Es
muß dies das bodenlose Gefühl absoluter englischer Sicherheit
stark erschüttern. Anton Thanisch, den ich gestern (es ist 2. Woche
in Urlaub) bei seinem Bruder abends nach Tisch sprach, meint, unsere Hochseeflotte
sei neu umbewaffnet und mit den 40 km weit treffenden gewaltigen 38 cm
Geschützen ausgerüstet worden. Sie schössen damit 10 km
weiter als die Engländer und es würde sicher noch zu einer entscheidenden
Seeschlacht kommen. Hinter seiner Stellung bei Soissons (Feld-Art.-44)
stehe solch ein Ungetüm, “Feldbäckerei” genannt, das aus einem
17 m langen Rohre Geschosse von 2,10 m Länge und 16 Ct. Gewicht von
dort bis nach Compiègne schleudere; kürzl. habe man damit auf
den französ. Groß-Generalstab geschossen. Joffre soll erklärt
haben, eine Offensive könne er nicht mehr machen; daher allerhand
aufgeregte Zerfahrenheit in französ. Regierungskreisen und heftige
indirekte Vorwürfe gegen Joffre. Auffallend ist ja die große
Stille jetzt an der ganzen Westfront. Die Kölnische Volkszeitung zerbricht
sich den Kopf darüber, wo Englands Soldaten stehen: In Frankreich
50 km Front, die Hauptkräfte in Egypten, Indien und England. Mehr
als 1 Mill. seien es doch wohl.
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Nowo Georgiewsk gefallen
20. Aug.15. Soeben las ich in der Köln(ischen Zeitung) eine Depesche
vom 19. ds., wonach dem Reichstage eine Gessetzesvorlage zugegangen, nach
der §15 des RMG durch den Zusatz “im Frieden” geändert wird,
d.h. die als “dauernd untauglich” Ausgemustert werden neu gemustert. Also
doch! Es durchzuckte mich, als ich es las, obwohl es ja längst zu
erwarten war. Hoffentlich ist diese Musterung nicht schon in der ersten
Hälfte September hier, damit ich die Ferien nicht zu unterbrechen
brauche. Es sollen, wie man hört, bis dahin alle ausgehobenen Landsturmjahrgänge
einberufen werden. Hält es meine Lunge aus, so soll es mich freuen,
auch noch ins Feld zu kommen. Ich war heute morgen kaum angezogen, als
alle Glocken läuteten: Nowo Georgiewsk wurde gestürmt von General
d. Inf. v. Beseler, dem Erstürmer Antwerpens. 20000 Gefangene dort
im Endkampf gemacht. Jetzt fehlt ur noch Ossowiez und Grodno im Norden;
Brest-Litowsk: Dort ist man schon in ersten Vereidigungslinien der Russen.
Die Franzosen haben nun auch wieder zum Angriff angesetzt bei Souchez und
in den Vogesen. Mit anscheinend geringem Erfolg. Das englische Tauchboot
E 13 wurde im Sund versenkt durch eins unserer Uboote. Dort werden diese
schon wie die Schießhunde aufpassen, denn natürlich werden die
Engländer versuchen, den Russen mit Tauchbooten zu Hilfe zu kommen.
Die Fahnen wehen wieder. Ich holte mit Mariannchen Endivienpflanzen
bei Vater Erkleben und pflanzte sie vor Tisch trotz leichteren Regenschauern
ein, räumte auch sonst im Gärtchen Unkraut ect. weg.– Über
die Schäden der Londoner Zeppelinbeschießung schweigen sich
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die Engländer ängstlich aus. Nicht nur der Angriff unseres
Ubootes an der englischen Westküste sondern auch der Angriff unserer
Torpedoboote auf den englischen Kreuzer und die überlegenen Zerstörer
ist etwas ganz Neues in der Geschichte des Seekampfes. Das gewaltige Vorrücken
in Rußland hält jeder für einen Plan Hindenburgs. Es kommt
mir vor, als ob ein gewaltiger Riese einen noch größeren in
die Flucht geschlagenen und stark blutenden Giganten verfolge, eingeholt
habe und ihn von hinten um die Schulter herum an der Kehle zu erwürgen
versucht. Ob es so gelingen wird?
21.8.15 Ein trostloser Regentag mit empfindlicher Kühle heute.
Helene fuhr 825 bei niedertröpfelndem Nebel ab; ich hatte stramm im
Amt bis Mittag zu tun. Nach einem flüchtigen warmem Sonnenblick heute
mittag regnet es jetzt still und traurig, die Luft voll nässender
Schwaden.– Damit den großen und ernsten Dingen unentbehrliche kleine
und komische Seite nicht fehle, ereignete sich gestern dieses im kleinen
Städtchen: Von rastlosem Tatendrang getrieben, der sich jetzt namentlich
auf den frischeingezogenen evang. Pfarrer (Russen brachten sein Hausgerät
als Handlanger des Fuhrmanns Coblenz aus dem Möbelwagen) konzentriert,
konnte Frau W. es nicht mit dem feierlichen Siegesgeläute für
den Fall von Nowo Georgiewsk genug sein lassen: “In großen Städten
pflege man auch nachmittags noch mal zu läuten”. Der neue Pfarrer
in seiner harmlosen Neulingsart fand nichts dagegen und so läuteten
die Kinder fröhlich und ununterbrochen. Alles stutzte und wunderte
sich. Wir hörtens auf dem Spaziergange und dachten, der neue Pfarrer
werde feierlich
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eingeführt. Dem biederen Presbyter und Landmesser Karspecken aber
ward des Läutens Ende allzu länglich und er ging in Pantoffeln
und Hausflausch hinüber und gebot den läutefrohen Kindern Feierschicht.
Frau W. aber, die uns unterwegs begegnete –seit etlichen Tagen bevölkert
sie die Kaiserallee bis zum Pfarrhaus–, erzählte uns Ihre Läuteanordnung
und ich witterte schon aus einem Mangel sonst stark betonter Sicherheit,
daß etwas nicht zu stimmen schien. Helene verabschiedete sich von
ihr.
6 Generäle, 85000 Mann, über 700 Geschütze und großes
Material sind die Beute von Nowo Georgiewsk. Wie mag es mit Brest-Litowsk
aussehen? Aus einer Schilderung des Berner Bunds vom 15. ds. ist dieses
der Stützpunkt des linken Flügel der neuen russischen Aufstellung
von dort nach Norden bis Riga. Wie kann sich diese Front nach dem Fall
Kownos halten?– Die New Yorker Staatszeitung brache einen Bericht, wie
jüngst ein englischer 10000 t-Dampfer Arabic vollgepfropft mit Munition
und “gedeckt durch Sandsäcke und Amerikaner als Passagiere” nach England
fuhr. Jetzt ist er auf der Rückfahrt torpediert worden. Bravo!
22. August 1915 Die Geschützbeute in Nowo Georgiewsk soll die
größte sein, die in diesem Kriege von uns bisher gemacht wurde.
Der Reichstag hat einstimmig weitere 10 Milliarden bewilligt. Man hofft,
sie später den Feinden an die Beine binden zu können. Die monatlichen
Ausgaben betragen jetzt 1/3. mehr als unsere gesamten Kriegskosten von
70/71! Daran erst wird man die Größe des Brandes gewahr.
Den Eingang in den Rigaschen Meerbusen hat unsere Flotte jetzt augenscheinlich
erzwungen. 3 Torpedoboote sind dabei durch Minen beschädigt, die feindlichen
Sperren beseitigt und etliche feindliche Schiffe versenkt worden. Gestern
nachmittag suchte ich Paul Thanisch auf, der mit Frau noch nichts von der
bevorstehenden Musterung wußte.
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Eben war ich auf dem Feld und pflückte ein Körbchen voll
kleine Prinzeßbohnen und Tomaten. Die sonntägliche Stille wurde
nur gestört durch das kreischende Geräusch aus dem ununterbrochen
arbeitenden Betrieb von Jul. Heiden Wwe, wo auf einer Reihe von Bänken
Tag und Nacht Granaten abgedreht werden. Auf dem Heimweg teilte mir Krings
als Neuigkeit mit: Italien hat der Türkei den Krieg erklärt.
Also endlich mal wieder eine Kriegserklärung! Welche Verblendung der
unglaublich betörten Italiener, deren wohl in jeder Beziehung kleiner
König vor Aufregung über die grausigen Verluste an der istrischen
Front den Verstand halb verloren haben soll! Folge wird wohl ein Vorstoß
unsererseits zu den Türken sein. Denn daß den Russen an den
Dardanellen jede Durchfahrt verstopft bleibt, ist für uns von höchstem
Interesse. Die Serben verhalten sich auffallend ruhig und lehnen jede Offensive
ab. Die Griechen scheinen trotz heftigsten englischen Druckes neutral bleiben
zu wollen.
Franz Müller, den alle Welt frägt, ob er noch nicht seine
Einberufung erhalten habe, ist Pessimist nach wie vor und der Meinung,
sämtliche Balkangauner würden sich schließlich noch einigen
und gegen uns und die Türken losgehen. So einfach scheint mir die
Sache nun doch nicht. Die Serben haben jetzt freilich den Anschein, als
ob sie gewillt seien, den Anforderungen des Viererbundes auf Abtretungen
von Gebietsteilen, nachzukommen. Was daraus folgen wird, mag der Teufel
wissen. Leider bekam ich von Helene heute keine Nachricht.
23.8.1915. Ein wundervoller Sommertag! Endlich ein Ende des überreichen
Regens, der schon vielfach Fäulnis der Trauben erzeugte und Winzern
wie Ackersleuten längst zu viel war. Das Barometer hat freilich einen
so plötzlichen und gewaltigen Sprung aufwärts gemacht, daß
man füglich an einer längeren Beständigkeit des Wetters
zweifeln müßte: Hoffen wir das Beste.
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Unser Kaiser hat aus dem eroberten Nowo Georgiewsk eine prächtige
Depesche an den Reichskanzler losgelassen. Die Uboote scheinen jetzt für
Engländer und Bannware führende Neutrale in erschröcklicher
Zahl und Größe aufzutreten. Das zerstörte englische Uboot
ist in dänischen Territorialgewässern gejagt und aufs Land getrieben
worden. Alsdann hat man –nach einer brieflichen Äußerung des
Torpedobootssteuermanns Heinz von hier– durch Funkspruch bei der Admiralität
angefragt, was zu tun sei, nach 1 Stunde habe man die Antwort gehabt: “Drauf”.
Jetzt ists Geschrei bei den Dänen im Gange. Zu Kriegsbeginn soll man
ihnen mit einer Beschießung Kopenhagens gedroht haben, wenn sie nicht
den Sund sperrten.
Der §15 des Reichsmilitärgesetzes, das den Zusatz “im Frieden”
erhält, spricht nur von den “Militärpflichtigen”. Ich habe nun
an Hand des Verwaltungsrecht von Huc de Graz meine längst verschwitzten
und nie recht verarbeiteten Kenntnisse von der Wehrpflicht und ihren 3
Unterarten: Militär- Dienst- Landsturmpflicht wieder aufgefrischt
und hierbei festgestellt, daß ich infolge meiner vor 11 Jahren erfolgten
Ausmusterung nicht militärpflichtig bin. Paul Thanisch, Rechtsanwalt
Schönberg und ich kommen daher, als Inhaber des gelben Ausmusterungsscheins
nicht in Frage. Wohl aber Assessor Scherer, der s.Zt. zum Landsturm überwiesen
wurde.
24.8.15. Heißer Sommertag, Gewitterschwüle. Gestern habe
ich Fr. v. H. Besuch für Ferien abgesagt. Eine kleine, sehr bemerkenswerte
Nachricht: Das englische Hoflager wird nach Norden (Schottland?) verlegt.
Also London unsicher! Hoffentlich enthält der jetzt abgeschlossene
Vertrag: Bulgarien = Türkei nicht nur Negatives, sondern auch etwas
Positives für uns.– Der Koffer ist gepackt. Morgen um diese Zeit werden
wir uns wohl in Bonn bei meiner
Seite 30
Mutter zur Abreise nach Hersel fertig machen. Weshalb machten 40 englische
Schiffe einen Vorstoß nach Zeebrügge? Wollen die Franzosen ernsthaft
im Elsaß angreifen oder nur ablenken? Sind unsere Linien im Westen
wirklich sehr schwach?
Zwischen Seite 30 und 31 sind mehrere Blätter mit den Tagebucheintragungen
aus Hersel eingeklebt:
Hersel bei Bonn, den 26. August 1915
Die Ferien haben mit schönstem Wetter begonnen und der erste Ferientag
heute brachte gleich die hocherfreuliche Kunde vom Falle Brest-Litowsk.
Nun haben die Russen keine Rücken- und Flankendeckung mehr. Gelingt
unser Vorstoß nach Norden, so können sie abgeschnitten werden.
Was mag es geben? Fritz Schetter brachte als Briefbote gegen Abend diese
große Nachricht in die ländlich stille Einsamkeit hier.–Gestern
morgen hatte ich noch ½ 8 Gerichtskassenrevision und fuhr 828 mit
Frl. und Marianne nach Bonn. Wie stets, war in Coblenz viel Militär
zu sehen und der Zug durchweg überfüllt, trotz riesiger Anhänge
an Soldatenwagen. Garten und Feld hatten wir die letzten Tage fleißig
bestellt und Rosa überließen wir wohl- und frohgemut den Abschluß
der Wohnung usw. In Bonn suchten wir meine Mutter (Rech, Anna Maria) auf.
Marianne verstand sich gleich ausgezeichnet mit seiner “Gött” und
“Groß”, sie war sehr zutraulich zu ihr. Emma (Rech, Emma) besuchte
uns mit Anita (Rech, Anita), beide Kinder verstanden sich, noch ziemlich
ohne Worte beiderseits, recht gut miteinander. Auf der warmen Veranda konnten
wir bequem und luftig Kaffee trinken. Mutters Garten ist glänzend
in Ordnung und voller guten Gemüses. Wohl noch nie ist er so gepflegt
worden: Folge des Krieges. Ein Gewitter, das uns auf dem Marsch vom Herseler
Bahnhof bedrohte, blieb aus. Helene, die uns mit Herta abholte, sah recht
frisch aus; Herta war ganz auffallend in dem 1 Monat, den sie hier ist,
gewachsen und etwas blaß. Die Großeltern sahen vorzüglich
aus und sind nicht ganz ohne Sorge, wir würden sie kahl fressen. Heute
morgen konnte ich gleich meine mitgebrachte Arbeitsschürze in Gebrauch
nehmen: Da wurden Birnen auf dem Speicher verlesen, zum Dörren ausgesucht,
geschält, in Herd und Sonne angetrocknet, ferner früheste weiße
Frühlingszwiebeln auf einem dazu hergerichteten Beet gesät –den
Samen hatte ich mitgebracht– reichlich Krauskohl gepflanzt und Prinzeßböhnchen
gepflückt. Dabei gabs noch bequem Zeit, mit Helene etwas in der Sonne
zu liegen, tüchtig zu essen, nachmittags zu ruhen und dann mit den
Kindern rheinab nach Üdorf zu spazieren, wo Steinewerfen, Schiffe
ect. das Herz erfreuten, das alles in einen prächtigen stillen warmen
Sonnendunst getaucht. Ein herrlicher Tag mit dem prachtvollen Abschluß:
Fall von Brest-Lit. Morgen früh werde ich gleich eine Fahne klar zu
machen versuchen.
Hersel 4. September 1915
Eine Fahrt nach Siegburg, wo wir Schwager Willi (Reitmeister, Willi)
und seine Familie besuchten brachte mannigfache und sehr anregende Eindrücke.
Siegburg mutete ganz an wie die gewerbefleißige Vorstadt einer riesigen
modernen Großstadt. Kürzlich noch mit nur 15000 Einwohnern gesegnet,
beschäftigt sie heute in staatl. und privaten Geschoß- und Pulverfabriken
21000 Leute. Wir sahen abends um ½ 7 auf der Kaiserstraße
eine wahre Volkswanderung von Arbeitern, 7000 kamen da aus dem Feuerwerkslaboratorium
aus der Arbeit. Radfahrer fuhren eine lange Zeit in ununterbrochener Reihe
hintereinander. Auf dem breiten Bürgersteig marschierte es ebenso
ununterbrochen von Männern und Frauen. Ich denke es mir in der Londoner
City zu den lebhaften Geschäftsstunden nicht viel anders. Wir fuhren
zurück mit der neuen elektrischen Bahn Siegburg - Zündorf, ebenfalls
überfüllt. Troisdorf, Sieglar, Eschmar usw. eine aneinanderhängende
ewig lange Häuserreihe; alles im Aussehen an rasch aufschießende
Industriestadt gemahnend. Zwischendurch konnten wir auf freiem Felde, oft
gedeckt durch einiges Gebüsch, bald vereinzelt, bald in ganzen Wagenburgen
zusammengestellt, die bekannten soliden Wohnwagen der auf den Kirmessen
umherziehenden Budenbesitzer sehen. Sie werden als Schlafraum, oft an 6
Parteien, wie mir ein älterer Arbeiter erzählte, mit gutem Verdienst
vermietet und brauchten selbst nur etwa 6 M Standgeld dem Grundeigentümer
zu bezahlen. Manche hatten sich ordentliche Lauben angebaut und hausten
mit Weib und Kind so halb im Freien; ein Leben, das mir auch zusagen möchte.
Jedenfalls recht bequem und gesund im Vergleich zu Schützengräben
und Unterständen. Eine prächtige Abendsonne goß rotes trübes
Licht über die ganze Siegniederung und vergoldete alles. Prächtige
Haus- und Hofanlagen im ausklingenden Barock, meist aus dem Ende des 18.
Jahrhunderts (179...) las ich des öfteren) die früher allein
behaglich an der Landstraße lagen, haben heute beengende Nachbarschaft
von manchmal hübschen, mitunter scheußlichen Neubauten bekommen,
in denen hinter großen Spiegelscheiben alle Sachen zum Kauf ausliegen.
Mondorf, wo wir schließlich bei einbrechender Dunkelheit landeten,
ist ein wohlhabendes Dorf geworden. Ein hochgegiebelter prächtiger
Neubau birgt ein großes Warenhaus, eine “Handlung”, wie es sie im
kleinen ja stets schon auf dem Lande allenthalben gab. Diesmal war es aber
ein weiter tiefer Laden mit ganz neuzeitlicher Einrichtung und riesigen
Scheiben. Was es da nicht alles zu kaufen giebt! Dazu ist das Haus wirklich
erfreulich schön gebaut. Mondorf verdankt seinen Wohlstand jetzt wohl
z.T. auch mit der jetzt dort so eifrig betriebenen feldmäßigen
Zucht von Rhabarber. Nur die gute rotstengelige Sorte Viktoria wird gebaut,
die Bottner’s Gartenbuch als die einzig richtige bezeichnet. Ganze Felder
sahen wir von dieser nützlichen und ertragreichen Planze dort; waggonweise
geht sie zur Erntezeit mit der Bahn weg.– Auf der Fahrt zeigte mir auch
ein Arbeiter die zwischen Spich und Troisdorf liegende Ballonhalle, in
der wir vorgestern abend von hier aus einen Zeppelin landen sahen. Das
Einfahrtstor liegt gegen Westen dem Rhein zu. Ein Gehölz maskiert
sie nach einer Seite, ein dem Gelände angepaßter Anstrich macht
sie von oben recht unauffällig. Für unser langes Warten an der
Mondorfer Fähre, das sich bis in den dunklen Abend hinein erstreckte,
wurden wir auf dem Heimwege dadurch entschädigt, daß wir von
verschiedenen Seiten große Scheinwerfer aufleuchten sahen, die bald
von Cöln, bald von Bonn, bald von Siegburg den Horizont abstreiften
und wie (von) Riesenarmen an die Wolken gerissen und sie zu kitzeln schienen.
Wir hatten prächtiges Wetter und kamen wenn auch spät und müde,
so doch recht befriedigt nach Hause. – Wir sahen hier öfters Ein-
und Doppeldecker, unsere Kinder betrachten sie ebenso wie Zeppelins als
etwas Gewohntes. 1907 aber konnte man erst fliegen! Mit Äpfel, Birnen,
Zwiebel ect. ernten habe ich reichlich im Garten zu tun, ebenso Kalkstreuen
auf Spinat us. fort. Es sind sehr angenehme Ferien. Morgen ist hier Kirmeß
und zu deren Feier das – Weizenmehl ausgeblieben, so daß es nicht
mal “Feinbrot” giebt, das sonst recht gut ist.– Die letzten Tage brachten
wieder gewaltige Fortschritte. Eine Aufzählung der Augustbeute weist
geradezu erschreckende Ziffern für die Russen auf, es muß doch
allgemach mit ihnen zu Ende gehen. Jetzt haben sie auch noch Grodno und
damit die letzte Festung in Polen verloren. In Wolhynien sind die Österreicher
dabei, die beiden Restfestungen zu nehmen. Die Türken scheinen eine
starke Offensive zu planen und werden wohl unsere Unterstützung dabei
finden. Rumänien wird sich wohl bald entscheiden müssen und Bulgarien
ist uns wohl schon verbündet. Amerika beginnt freundlich zu uns und
Mr. Grey mürbe zu werden. Es wird toll von englischer Seite mit Friedensgerüchten
gearbeitet und man scheint ihn allmählich von dort aus zu wünschen.
Aber bis dahin hats wohl noch Eile. Willy (Reitmeister, Willi) versicherte
mir, daß wir mit Schießbedarf jetzt ganz glänzend versehen
seien und bald wohl ein großer Angriff im Westen vorbereitet werde.
Bahnsperre sei schon angekündigt. Die Artillerie müsse es mit
Massenschießerei machen. – Böse für die Engländer
ist, daß ihnen in Amerika eine 3 Mill. Anleihe abgeschlagen wurde.
Für unsere Anleihe wird jetzt eifrig gezeichnet. 3500 M konnte ich
gestern für meine Mutter zeichnen und ich selbst hoffe auch noch für
mich 15-2000 M zusammenkratzen zu können.
14. September 1915, Hersel. In den letzten 10 Tagen hat sich Vieles
ereignet, selbst in unserem kleinen friedlichen Kreise. Das Wetter war
bei östlichem Wind geradezu herrlich geworden und wir erinnern uns
kaum, je schöneren Spätsommer hier erlebt zu haben. An einem
solch herrlichen Morgen war Helene mit ihrer Mutter und Herta zur Stadt
gefahren und ich ging mit Mariannchen den Rhein entlang spazieren. Sie
marschierte tapfer (“tappen - tappen” sagt sie dazu) bis hinter Uedorf
mit. Dort traf ich den Schriftsteller und Frankfurter Universitätsgelehrten
Willrath Dreesen, unsern Nachbar hier, der als Unteroffizier in einem Landsturm
Batl. in Aachen steht und einige Tage Urlaub hatte. Mit seinem kleinen
5jährigen Heiko vergnügte er sich mit Fischen. Wir kamen in eifriges
Gespräch über alles mögliche, Marianne wurde unterdessen
vom Kinderfrl. geholt und in angeregter Unterhaltung wandelten wir den
Uferhang entlang bis zum Baierhof und landeten schließlich natürlich
auf dem Mäuerchen an der Tränke, unserem Hause gegenüber.
Was heben wir nicht alles verhandelt: Krieg, Mörike, Otto Frings,
Herseler Schullehrer, Musterung der Untauglichen, gänzliche Unübersichtlichkeit
unserer entgültigen Kriegs- und Friedensziele, Hölderlin und
was nicht alles. Es war wirklich ein erfrischendes geistiges Bad, mit dem
tüchtigen Mann zu plaudern. Meine Absicht, ihn folgenden Tags ähnlich
zu treffen, wurde leider bös durchkreuzt: Ich hatte blutigen Auswurf
bei der allmorgendlichen Lungentoilette und blieb daher den Tag – es war
Do, den 9.9.15 – über hübsch fein still im Bett. Gottlob gabs
keine größere Blutung. Aber heute noch hab ich winzige Farbpartikel
im Sputum. Am selben Tag wollte ich meine Mutter in Bonn besuchen und dort
noch alles mögliche besorgen. Ich ließ ihr durch Emma abtelefonieren.
Sie war kurz zuvor sehr vergnügt mit ihrem Mädchen (Rech, Anita)
am Nachmittag hier gewesen und hatte sich namentlich über Mariannchen,
ihr Patenkind, herzlichst gefreut. Den Freitag stand ich auf , hielt mich
aber sehr still, meist zu Hause. Samstag aber fuhr ich morgens bei Zeiten
in schönstem Wetter nach Bonn, besuchte meine Mutter, besorgte deren
und meine Sachen und zeichnete Kriegsanleihen: für mich, für
Helene, für Willy, für meine Mutter und für deren Mädchen.
Über Mittag blieb ich dort und fuhr nachmittags nach Hersel zurück.
Mittlerweile hatte ich mich auf eine Bekanntmachung in den hiesigen Lokalblättern
(nach denen ich mich bis zum 13. auf dem Herseler Bürgermeisteramt
in Wesseling zur Eintragung in die Landsturmrolle hätte anzumelden
gehabt) mich schriftlich beim Bürgermeisteramt daheim in Bernkastel
gemeldet und eine Abschrift meines Ausmusterungsscheins von 1904 beigefügt.
Unbewußt traf ich damit das Richtige, denn diese Meldung kreuzte
sich mit einem Briefe Fabers (unseres ersten Gerichtsschreibers in B),
der mir mitteilte, daß ich mich dort zu melden hatte. Gut also, daß
ich mich nicht hier gemeldet und wir damit nachherige Abmeldung und allerlei
Lausescherereien erspart haben. Gut aber ist es, daß wir morgen heim
fahren. Denn wir hatten uns hier nicht gemeldet (wie dies im Festungsbereich
Cöln besonders scharf vorgeschrieben ist) und in Bonn hängt alles
voll kleiner roter Plakate, die persönliche polizeiliche Meldung binnen
12 Stunden an jedem Aufenthaltsort vorschreiben. Daß das jetzt nochmal
so scharf betont wird, hängt sicher damit zusammen, daß kein
Untauglicher sich an der Listeneintragung und der noch im Laufe dieses
Monats stattfindenden Musterung soll vorbeidrücken können. Wir
hatten uns hier nur “auf Brotkarten” angemeldet.– Gestern abend finde ich
einen weiteren Brief von Faber vor, daß die Musterung bereits an
diesem Freitag, den 17. Sept. 15 stattfindet. Das ist mir sehr angenehm.
So giebts eine baldige Lösung der Frage, die mich schon lange beschäftigt.
Ich habe mir schon alle Möglichkeiten genau überlegt. Kommts
dazu, so werde ich versuchen, als Freiwilliger bei den Bonner Husaren anzukommen.
zu meiner Freude hörte ich gestern von Gentrup in Bonn, daß
Altersgenossen, wie z.B. die Rechtsanwälte Henry und Mandt dabei dienten.
Gentrups junger Sohn, der das Reiten schnell erlernte, kam vor etlichen
Tagen mit anderen Rekruten nach nur 3 monatlicher Ausbildung weg, vermutlichnach
Laon “zur weiteren kavalleristischen Ausbildung”. Das könnte mir auch
gut passen. Hoffentlich gehts nur nicht wie Mandt, der vom Pferde fiel
und etliche Rippen brach. Bei meiner Mutter könnte ich gut in Bonn
wohnen.– Na, so weit sind wir vorab noch nicht.
Bis zum 21 ds. ist zu berichten, ob nicht unser Gerichtspersonal vermindert
werden kann. Wir werden wohl 1 Richter entbehren können. Frage, wer
wegkommt; vermutlich AR Liell, weil er am meisten “kostet”. Eventl. wird
diese Frage bei meiner Unabkömmlichkeit eine Rolle spielen. Ich sehe
es schon kommen, daß ich mit Faber und dem alten Kanzlisten Rydzewski
schließlich allein auf dem Amte sitze. Abwarten.– Hoffentlich bleibt
einstweilen Assessor Scherer noch eine Zeitlang in B. == Gestern lud uns
Papa, der Herta schon vor geraumer Zeit eine Rhein-Schiffahrt versprochen
hatte, zu einer solchen ein. Wir hatten das denkbar schönste Wetter
und fuhren nachm. ½ 3 von Bonn mit dem Lohengrin nach Grafenwerth,
tranken dort Kaffee mit selbst mitgebrachtem Kriegskuchen und fuhren von
dort mit dem Drachenfels wieder nach Bonn zurück. Es waren auf beiden
Schiffen viele Leute und manche Feldgraue, meist Offiziere. Da man stets
Bekannte darauf zu treffen pflegt, so blieb dies auch diesmal nicht aus.
In Bonn trafen wir schon Gentrups, die mit ihrem (Mädchen?) mit bis
Godesberg und nachher auch wieder von dort mit zurück fuhren. Herta
hatte an dem Mädchen eine schnellbefreundete erfreuliche Spielgenossin,
die zugleich gut acht auf sie gab. Das Kind ist gegen Weihnachten 1905
geboren, wir hatten in jenem Jahre eine recht fröhliche Fastnacht
auf der Lese gefeiert. Andere Zeiten!– Auf der Insel Grafenwerth war es
entzückend schön. Wir saßen im Schatten der sonnebestrahlten
Laubbäume und bedauerten nur, nicht noch etliche Stunden, statt der
knappbemessenen Zeit dort sitzen zu können. Am Brückenkopf traf
Herta noch ihre frühere Gespielin Anita Frings von der Bachstraße
und ich hörte, daß ihr Onkel, mein Schulgenosse Hermann Neusser
auch “im Kriege” sei. Auf der Berg- und Talfahrt besahen wir uns jedesmal
genau das prächtige Haus des verstorbenen Collegen Braubach in Königswinter.
Es war bewohnt, über der Rhein- und Gartenterrasse war ein riesiger
Sonnenschirm herabgelasssen und an der Westwand brannte schon rotes Weinlaub
in der Abendsonne. Selbst wenn wir das noch nicht recht faßliche
Glück haben sollten, mit unserer Meldung auf die dortige Stelle (nach
dem Kriege) Glück zu haben, so wird es uns wohl aus Geldmangel nicht
möglich werden, dort miet- oder gar eigentümerweise zu hausen.
Wer weiß?– Sehr gut auch gefiel uns die freilich sehr eng zwischen
Eisenbahn und Straße am Fuße des Drachenfels gelegene “Villa
Abbazzia”, die schon für 28000 M zu haben ist. Aber derlei Zukunftspläne
liegen noch sehr im Weiten und für meine Gesundheit wäre vielleicht
ein 5jähriger Aufenthalt in Castellaun sehr viel besser. Denn dort
soll College Hindersen weg wollen. Seiner an Lungenblutungen leidenden
Frau ist es dort ausgezeichnet bekommen. Na, das alles hat einstweilen
mal noch geraume Zeit. Was alles liegt heute nicht sehr viel näher?
Zunächst schon mal das Packen und das bevorstehende Abschiednehmen.
Hierzu ist seit heute früh “just das rechte Wetter”. Erst leiser,
dann dichter Regen bei fast - graubezogenem Himmel und sanftem Westwind.
Leider wird dieses Wetter einer sehr wirksamen Tätigkeit unserer Luftschiffe
über England und insbesondere der Londoner Altstadt ein vorläufiges
Ende machen. Mehrmals sind verschiedene drüben gewesen. Sie müssen
erschrecklichen Schaden verursacht haben. Die Engländer halten hierüber
bewundernswert dicht, aber aus neutralen, namentlich amerikanischen Erzählungen
erfährt man allerlei. Sowohl Marineluftschiffe von Norden bei Emden
(Dratsen’s (oder Draksen) Heimat) als Militärzeppelin von Belgien
und Rheinland aus scheinen ausgiebig gewirkt zu haben. Der Zeppelin aus
der Halle bei Spich (die nach Willys Bekundung alle paar Wochen einen anderen
Anstrich bekommt: Ihr Westtor, von hier deutlich zu sehen, täuscht
z. Zt. eine Strohmiete vor) war angeblich 5 Tage unterwegs nach Westen.
Jedenfalls kam er diese Nacht (frühmorgens 4 Uhr, kurz vor Beginn
des Regens) mit furchtbarem Getöse kurz über uns wieder heim.
Helene wurde nicht ganz wach davon und träumte, sie sei – in London!–
Hoffentlich bekommen wir bald wieder Ostwind und Aufklärung, so nützlich
jetzt der Regen für das Rauhfutter ist.
Helene hat heute morgen gepackt und Papa hat eifrig mit der Vorbereitung
zur Teilnahme am Begräbnis einer alten Frau Wwe. August Volk-Loosen
in Oberwinter (morgen nachmittag 3 Uhr) zu tun.
Die Ferien haben den rechten Abschluß gefunden. Onkel Oskar Neitzer
aber, der Unverwüstliche, den wir gestern auf der Heimfahrt auf dem
Schiffe ebenfalls trafen, soll heute nachmittag nochmal nach hier kommen
und eine frischere Note bringen. Ich sah ihn blitzartig kurz in Königswinter
einsteigen, man wollte es mir nicht glauben; doch konnte ich ihn bald vom
Oberdeck herunterholen. Sein Schwiegersohn (Kimmler, Karl) sitzt ewig noch
in Südfrankreich als Zivilgefangener, und sein Sohn Alfred (Neitzer,
Alfred), der in Straßburg bei der Artillerie dient, liegt z. Zt.
im Lazarett. Er ist mit Tante Henriette (Neitzer, Henriette) auf acht Tage
bei Forstmanns (Forstmann, Gustav) in Godesberg zu Besuch und hatte den
schönen Tag gestern benutzt, um allein einen schönen Tagesausflug
durchs Siebengebirge zu machen. Er und Tante Henriette sahen sehr gut aus
und diese ist hoch zu loben ob ihrer tüchtigen Wirtschaft: Sie leben
gut bei bescheidenen Mitteln und können sich noch manches leisten.
Etwas umgekehrt scheint es in Willys (Reitmeister, Willi) Haushalt
herzugehen, doch hat er durch Patente und Kriegszulage mehr Einkommen.
Sonntag waren sie alle mit Kind und Mädchen den ganzen Tag hier. Elsbeth
(Reitmeister, Elsbeth) leider recht schlecht und der Junge sehr unruhig
und überall bei losen unbeabsichtigten Streichen. Willy wußte
manches sehr Interessante zu erzählen. Leider hatte er 8 Tage zuvor
einen tötlichen Unfall in seinem Betrieb. Er hatte von einem Marinearzt
auf seiner Fahrt nach Berlin eine Schilderung von Walter Forstmanns (Forstmann,
Walter) Taten gehört. v. Pohl wollte es s. Zt. nicht glauben, daß
er mit seinem Uboot Prise nach Seebrügge brachte, später hat
er bei einer bezechten Gelegenheit höchst vertraulich dem alten Admiral
auf die Schulter geklopft und ihn mit seinem Spitznamen Andreas angeredet.
Im Rigaschen Meerbusen hatten wir böse Verluste, u. a. einen neuen,
erstmals ausgefahrenen Torpedobootszerstörer, der für Argentinien
gebaut war. Die Russen sollen sehr gute Minen haben. Unsere Industrie sei
fabelhaft leistungsfähig, Salpeter werde schon auf zwei Arten gemacht.
Die Wildemann’s Werke, die wir bei Zündorf sahen, sollen wohl auch
solches machen. Munition, und zwar beste, sei jetzt die Fülle vorhanden
u.s.w.
Eine seltsame Wendung nimmt die Baumwollfrage. Nachdem die Engländer
sie für Bannware erklärten, boten die Deutschen statt 41 Pf 1
M pro engl. Pfund loco Bremen. Nun großer Krach in Amerika. – Eine
Karte von Bruhns berichtet wenig. Sein Bruder Oskar ist im Petersburger
Gefängnis schlecht plaziert. Die Kurländer sind außer sich
vor Freude über die deutsche Besatzung, die sie für dauernd halten.
In Rußland geschehen seltsame Dinge: Großfürst Nicolajewitsch
ist abgesägt, der Zar “an der Spitze des Heeres”. Was mag das geben?
Der Tag vor unserer Abreise (14. Sept), an dem uns nachmittags Onkel
Oskar (Neitzer, Oskar) und Tante Henriette Neitzer besuchten, wurde durch
ein echtes Etappen-Latrinen-Gerücht verdorben, das der Gartenarbeiter
Schanzen zum Besten gab: Durch feindliche Fliegerbomben sei halb Trier
zerstört und die Franzosen seien im Elsaß durchgebrochen und
hätten bereits Mühlhausen besetzt. Papa fuhr abends gleich mit
nach Bonn und brachte beruhigende Nachrichten heim. Etliche Bomben haben
allerdings Trier beschädigt, so soll in Landrat Anton Thanisch’s Wohnung
eine gefallen sein und ein Zimmer unten zerstört haben.
17.9.15. Die Mosel empfing uns mit dumpfer feuchtwarmer Luft, die sich
bei mir gestern in heftiges Kopfweh umsetzte. Der Garten erfreute durch
reichliches Gemüse. Die Musterung ist für uns Reichskrüppel
erst Montag, 20. ds. Bin neugierig, ob und zu welchem Ergebnis sie führte.
Heute wurden bereits eine Menge Untauglicher vom Lande gemustert und durchweg
genommen, soweit sie nicht verkrüppelte Glieder hatten.– Wann werden
wir soweit sein, daß die Landsturmpflicht auf 50 Lebensjahre (oder
gar 55 wie man im Hunsrück schon behauptet) ausdehnen wird?
Heute ist ein herrlicher, warmer Spätsommertag. Assessor Scherer
ist –wohl eine Folge seines krankhaften Herzens– mal wieder arg aufgeregt
und gibt allerhand Tartarennachrichten zum Besten, z.B. über das Zurückbleiben
verheirateter Offiziere bei Sturmangriffen ect.
Hiermit sind die Eintragungen auf den eingehefteten Blättern zu
Ende.
Ein Zeitungsausschnitt vom 18.9.15 mit einer Liste der Beute von Nowo
Georgiewsk und Kowno ist eingeklebt.
Seite 31 des Tagebuchs von 1915/16
18. Septemb. 15. Heute waren wieder zahlreiche Landleute am Gestade
zur Landsturmnachmusterung. Wie ich hörte, wurden durchschnittlich
61% der Geladenen für tauglich befunden. Lediglich Krüppel scheiden
aus, während man Lungen- und Herzkranke nimmt. Es werden lediglich
die Jahrgänge von 1876 ab gemustert, so daß für später
nochmals in Frage kommen 70 - 76. Auf meine Vorladung, die ich gestern
bekam, bin ich unrichtigerweise als “militärpflichtig” bezeichnet;
müßte heißen: “wehrpflichtig”. Nicht durch die Änderung
des §15 des Reichsmilitär-Gesetzes, der nur vom “Militärpflichtigen”
handelt, sondern durch die Streichung des Abs. 2 im §27 Art II des
Abänderungsgesetzes von 1888 komme ich in Frage: Dort ist der Landsturm
neu umgrenzt: Alle Wehrpflichtigen von 17 - 45 Jahren . . ., dazu gehören
jetzt nachdem die Bestimmung über die Ausgemusterten gestrichen ist,
alle schlechthin. Die gesetzliche Unterlage ist also jetzt korrekt. ==
Paul Thanisch soll es schlecht gehen, hoffentlich hat er keine ernstliche
Blutung. Das feuchtwarme Wetter jetzt würde derartiges stark begünstigen.
Für die Weinstöcke ist das Wetter geradezu ideal. Helene und
ich besahen uns gestern das reizende kleine Häuschen, in dem ein Bankbeamter
Heinz wohnt. Eigentümer Keller zeigte es uns. Heinz steht im Felde.
Er hatte schon mal gekündigt, hat die Kündigung aber wieder zurückgenommen.
Die Wohnung hätte genügend Räume für uns, doch leider
zu wenig Platz für unseren Möbelsegen. An Wohnungen ist jetzt
hier kein Mangel. Nächstens sehen wir uns einmal die von Schnittgen
an. Frau Liell scheint wieder Bohrversuche wegen Erhöhung des Wassergeldes
vorzuhaben. Sie kam dabei aber auf Treibsand, indem ich die Gelegenheit
der Bean-(standung)
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einer geringen Ausgabe für Instandsetzung des Mägdezimmers
dazu benutzte, um binnen 2 Wochen die Instandsetzung der arg mitgenommenen
Küche zu verlangen. – In Rußland schickt man die Duma heim bis
Mitte November und in England tobt das Geschrei um die Wehrpflicht. Wilna
scheint von uns jetzt ernstlich bedroht. Hoffentlich gelingt in Kurland
noch vor Wintereinbruch etwas Entscheidendes. Merkwürdig, daß
schon ein Lord Cecil betonen muß, England könne keine Bedingung
annehmen, die ihm Kriegskosten auferlegte! Abwarten! –Mutter Reitmeister
(Reitmeister, Helene) vermißt uns sehr in Hersel.
Sonntag, 19. An diesem wolkenlosen prächtigen Tage vollendet unsere
liebe Herta (Rech, Herta) ihr 4. Lebensjahr. Von 3 Geburtstagsfeiern fielen
schon 2 in die Kriegszeit, hoffentlich nicht noch eine dritte! Mariannchen
aber wird wohl vorab erst nur im Krieg Geburtstag feiern können, Weihnachten
1914, 1915.
Herta hatte sich schon lange in ihrer stillen hartnäckigen Art
auf den Keburtstag gefreut. Die Freude war groß. 4 flammende Kerzchen
bestrahlten bei abgeblendetem Sonnenlicht ein selig erfreutes Kindergesicht,
dem nichts vom Schrecken dieser Zeit bekannt ist. Gottlob, daß es
noch Menschen giebt, die so fröhlich und ohne Druck leben können.
Wir wollen den Tag noch sonderlich dadurch feiern, daß wir heute
nachmittag mit Herta zum Burghotel Kaffee trinken gehen. Es wird eine selten
schöne Aussicht dort sein.– Eine wahre geistige Erquickung war mir
die Lektüre eines famosen Aufsatzes in der Kölnischen Zeitung,
in dem ein “Goethepedant”, Goethes Tage und Dichten mit Marianne von Willemer,
jetzt vor 100 Jahren farbig darstellt. Eine grade
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in jetziger Zeit doppelt packende Erinnerung an das Ringen vor 100
Jahren. Was wird dieses Jahr noch werden? – Auf die “Unabkömmlichen”
wird jetzt von Mißvergnügten schon heftig geschimpft; letzthin
las ich einen geharnischten Protest hiergegen, in dem diese – von morgen
ab gehöre ich ja wohl auch zu dieser wenig gelobten Sorte der emboscasi
– hiergegen und namentlich gegen das schöne Wort in Schutz genommen
werden, das man in Sachsen erfunden zu haben scheint: Gott strafe die Unabkömmlichen!
– ! – Womit, frage ich. Ich meine, dieser Ton hat etwas Komisches, zum
Lachen Anreizendes an sich.
20.9.15. Nun sind wir abermals gemustert und – zu leicht befunden worden;
“dauernd untauglich”. Ich wollte lieber, die Lunge wäre gesund und
ich könnte dienen. Es ist ein abscheulich mulmiges Gefühl, zu
den (endgiltig?) ausgemusterten zu gehören. Die Unabkömmlichkeit
kam erst gar nicht in Frage. Eben las ich die packende Schilderung eines
Reiteroffiziers von einer großen Reiterschlacht im Osten, auf dem
Liegestuhl liegend, um Kur zu machen. Denn ich sehe in der Tat schlecht
aus und hatte die letzte zeit viel Auswurf. Man kommt sich in dieser Zeit
so doppelt kläglich vor. Scherer wurde für Infant.G (=garnisonsdienstfähig)
befunden, seine Unabkömmlichkeit aber anerkannt, ebenso die des Gerichtsdieners
Friedrich (als Gefängniswart). Paul Thanisch ward nach eingehender
Untersuchung für untauglich befunden, während der sehr angenehme
Stabsarzt bei mir solche erst gar nicht vornahm.– Dr. Schmitz ja hatte
mir gestern abend noch ein
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Attest über meine letzte schwere Blutung anfangs 1914 geschrieben,
das der Arzt aufmerksam durchlas und das ihm zu genügen schien. Schmitz
hat also Recht damit behalten, daß er behauptete, es sei unter allen
Umständen ausgeschlossen, daß sie uns nähmen. – eheu mihi
quales erant!
War das eine Garde, die sich da am Gestade versammelte! Ich war der
8. älteste, Scherer, Thanisch, Schönberg, Katenhofen und ich
waren wenigstens noch gerade Menschen, aber da gab es Einäugige, Idioten,
Lahme, Bucklichte usw. Die Krüppel brauchten sich erst gar nicht zu
entkleiden. Der Gärtner vom Hospital, der mir als tüchtiger fleißiger
Gärtner lange bekannt, freilich ob seiner Fistelstimme als halber
Eunuch vorkam, schien als Idiot behandelt zu werden. Auf die Frage, wieviel
er zu bezahlen hätte, wenn er 6 Schoppen à 15 Pf getrunken
hätte, meinte er: 1M 70 Pf. Ob dieser schwachen Rechenkunst befand
man ihn untauglich. Augenscheinlich war seine Dummheit der Kommission längst
notorisch. Gerichtsdiener Grohn wurde zur Inf. I ausgehoben. Er hatte schon
damit gerechnet und will sich freiwillig melden.
Gestern nachmittag feierten wir Hertas Geburtstag durch einen prachtvollen
Spaziergang zum Schloßhotel, wo wir Kaffee tranken und selbstgebackenen
Kriegs-Honigkuchen verzehrten. Herta war ganz selig. Kreisschullinspektor
Müller und “Ober” Schultz von der Spezialkomm. fanden sich auch dort
ein. Ersteren hatte manschon mal 3 Tage eingezogen, dann wieder heimgeschickt,
weil die Büro’s hinreichend mit Büroarbeitsfähigen gefüllt
waren. Letzterer, dessen Nervosität über die Nachmusterung
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stadtbekannt ist, braucht sich noch nicht zu stellen, weil er vor 1876
geboren ist. Alles das wurde beim Kaffee erörtert.– Wir gingen
am Burgkopf vorbei zur Wilhelmhöhe, verzehrten auf einer sonnigen
Bank noch saftige Herseler Birnen und zogen fröhlich heim, die weitschimmernde
Mosellandschaft war köstlich in klaren tiefen herbstlichen Farben
und dem satten Grün zu sehen. – Auf dem Heimweg trennte ich mich von
Helene, sprach mit Paul Thanisch und Anton Schmitz und verabredete mich
mit diesem. Vor Tisch sah ich noch mal im Bienenhaus nach, daß Rosa
das Futter richtig verzapft hatte. Nach Tisch suchte ich Schmitz auf, mußte
bei seinen liebenswürdigen Eltern noch frische Nüsse zu einem
guten Glase Wein essen. Helenens neue Beschwerden (arges Wundsein infolge
Ausflusses) wurden besprochen; dann gingen wir zusammen zu Frau Anton Thanisch,
wo wir deren 3 Söhne trafen. Anton hat unbestimmten Urlaub seines
arg zerstörten Hausrats wegen: Sie liegt in der Nähe der Reichsbank
und wurde statt dieser von 2 Fliegerbomben beim letzten Angriff (13. od.
14. ds.) getroffen. Beide durchschlugen das obere Stockwerk und 1 platzte
in seinem Wohnzimmer, die andere war ein Ausbläser. Er hatte bereits
große photogr. Aufnahmen von der wirklich grauenhaften Zerstörung
der Zimmer. Selbst Russen hätten es nicht so gründlich besorgen
können. Was ihn arg schmerzt, ist die Zerschmetterung zahlreicher
Jagdtrophäen, Gamskrickeln usw. Bertha Suttners Buch Die Waffen nieder
lag mit viel Wandmörtel vermischt auf einem Trümmerhaufen oben
auf. Allgemein wurde Thanisch beglückwünscht, daß seine
Familie nicht
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in der Wohnung waren (Frau und Kind sind am Laacher See) und er an
der Front war. Welche Wirkungen muß erst eine Zeppelinbombe in London
haben? Selbst wenn Willys Angabe etwas stark sein sollte: Fällt eine
am Brandenburger Tor nieder, so sei der Reichstag weg. Allmählich
kommen stets sich mehrende neutrale Nachrichten über die ungeheuerlichen
Wirkungen der Zeppelinbomben in London. Es muß entsetzlich sein.
– Wir unterhielten uns bei Thanischs sehr angeregt, Anton erzählte
sehr Interessantes von der Front: Der lange Heinrich –so heißt das
ungeheure Geschütz mit 17 m Rohrlänge, das 43 km schießt–
langte neulich in eine französische Stadt hinein und schon sahen sie
bei der Feldartillerie, die ca 20 km vor dem Riesengeschütz liegt,
durchs Fernrohr, wie die Stadtautos aus der Stadt flitzten. Ich gab die
Schilderung zum Besten, die mir am 13. ds. abends in Bonn an der Rheinuferbahn
Freund Stahl über seine 6monatlichen vergeblichen Kriegsdrillübungen
gemacht hatte. Es war ein allgemeines Halloh darüber. Als Schütze,
beim Maschinengewehr, bei der Feldküche als Koch und Fahrer, kurz
überall erwies sich St. als derart unanstellig, daß man ihn
nach tollen Dressurversuchen schließlich als hoffnungslosen “Halbwaisen”
laufen ließ. Er ist immer noch nichts. Wie er das Referendarexamen
machen konnte, ist vollkommen unerfindlich. – In Rußland gehen merkwürdige
Dinge vor: Die Duma scheint in Wisborg trotzen
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zu wollen, die Selbstverwaltungen größerer Städte wurden
aufgelöst. In Kurland scheint Bedeutendes im Gange zu sein. Es geht
jetzt um die Linie Düna, Beresina, Dnjepr. In England herrscht wahnsinniges
Geschrei um die Wehrpflicht und bleiche Angst vor Zeppelinen. Wind und
Wetter sind diesen jetzt wohl sehr günstig. Bulgarien scheint gegen
Serbien losschlagen zu wollen.
Abends: Wilna, stark befestigt, nach starker Umfassung genommen.
23.Sept.15. Um Dünaburg toben gewaltige Kämpfe und eine russische
Heeressäule scheint von einer Einkreisung bedroht.– Der Bienenzucker
ist nun da und hoffentlich kann er den dieses Jahr so erfolgreichen Honigvögelchen
schnell bei dem schönen Wetter gefüttert werden. Für uns
bekomme ich heute auch 50 kg Zucker zum mäßigen Preise von 26
M. Die Kinder freuen sich gewaltig an 2 hübschen Kaninchen, die ich
samt dem Kasten dem Gerichtsdiener Grohn abkaufte. Sein College Friedrich
wird schöne Wehlener Eiseräpfel zu 8 M pro 50 kg liefern.– Kernseife
soll jetzt rar werden. Schmierseife liest man allenthalben angeboten.–
Die Kartoffeln sind gut geraten, und die Bauern scheinen ernstlich zu fürchten,
daß sie im Preise fallen, wenn die Menge mal erst recht bekannt wird.
3 - 3,50 sollen 50 kg kosten.– Kleine Gewichte können jetzt aus Eisen
hergestellt werden. Ich werde meine gegen solche umtauschen.– Bulgarien
macht mobil: natürlich gegen die Serben. Gegen diese donnern auch
deutsche Kanonen jetzt. Allgemein rechnet man damit, daß jetzt der
letzte Abschnitt des Krieges beginnt, bei dem wir wohl vor den Feinden
in Konstnatinopel sein werden. In Rußland wetterleuchtet es stark,
ohne daß man daraus recht klug wird.
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Die geistige Gestaltungskraft des Kindes ist stärker als die des
Erwachsenen und steht sehr nahe der dichterischen. Herta (Rech, Herta)
setzte mir heute morgen auseinander, daß die Bäume jetzt traurig
sein würden, wenn wir aus dem Garten herausgingen. Eine Stelle aus
einem Briefe Mackensen’s, die ich in der Kölnischen Volkszeitung fand,
muß ich mir hier aufbewahren. Sie stimmt aufs beste mit dem Bilde,
das man sich von ihm nach seinen Gesichtszügen macht.– Der scharfe
Ostwind hat einer milderen Luft jetzt Platz gemacht. Gar zu gerne möchte
ich in den nächsten Tagen einmal zur Marscheider Jagdhütte, um
die Hirsche schreien zu hören. Paul Thanisch ist jetzt selbst mit
seiner Frau oben.– Hier erzählt man, daß der Trierer Zeppelin
mit in London gewesen sei und jetzt kleine Beschädigungen auszubessern
habe. Ganz das Gleiche schreibt Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene)
von dem Spicher. Es scheint also doch hier und da ein Sprengstück
sie zu erreichen. Allmählich tauchen immer mehr Einzelheiten aus neutralen
Nachrichten über die Londoner Zerstörungen auf: Ganze Zeilen
mit Munitionsvorräten seien zerstört, die englische Bank oder
ihre Umgebung stark mitgenommen usw. Hoffentlich könne unsere Luftschiffe
bald wieder hin. Die Wetterlage ist wohl günstig.
Samstag, 25. September 1915. Es liegt eine dumpfe schwüle Spannung
in der Luft. Meine Wetterapparate zeigen schon seit gestern morgen: “Drohendes
Gewitter mit Hagelwahrscheinlichkeit” an; doch will sich noch nichts lösen.
Der Himmel hat sich bleischwer bezogen, und ich hörte heute zum erstenmal
seit langer Zeit wieder das Pochen des Kanonendonners, wie man es um die
gleiche Zeit (19. Sept.)
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im vorigen Jahr hier zu hören begann. Ganz deutlich höre
ich gerade jetzt wieder das dumpfe Pochen. Wenn Helene in vorletzter Nacht
geträumt zu haben glaubt, die Franzosen kämen und man hörte
deutlich die Geschütze donnern, so wird das wohl auch hiermit zusammenhängen.
Gestern nach Tisch gingen Helene, Herta und ich bei schwülheißem
Sonnenschein die Mosel entlang nach Wehlen spazieren und besuchten dort
Hauth’s. Auf ihrer prächtigen Veranda mit entzückender Aussicht
auf die weinstrotzenden guten Lagen von Zeltingen und Wehlen tranken wir
behaglich Kaffee mit großem Pflaumenkuchen. Natürlich war auch
wieder viel von Krieg die Rede. Louis Hauth hatte die –kaum vorhandenen–
Beschädigungen in Trier durch die französischen Fliegerbomben
gesehen und war stark – enttäuscht davon. Der Schaden betrug keine
50% der daraufgewandten Kosten, meinte er nach kaufmännischer Rechnung.
Schön war es dort auch im Garten und herrlich geradezu der Ausblick
von der nunmehr fertigen schlanken Betonbrücke. Auf deren Rampe begegnete
uns Eduard Hauth, der tiefgebräunt in Inf. Uniform nach 5wöchentlicher
Übung (eingezogen als 40(?)jähriger ungedienter Landsturmmann)
zum erstenmal in Urlaub kam und von Frau und Schwester abgeholt wurde.
Es ist ein schweres Stück, in solchem Alter den ungewohnten Soldaten-
und Kriegsdienst zu erlernen.
Heimgekehrt um 6 Uhr leuchteten uns bunte Plakate mit der erfreulichen
Nachricht entgegen: 12 Milliarden, 30 Millionen sind auf die III. Kriegsanleihe
gezeichnet worden! Welcher Sieg! Wer hätte das dem Volke zugetraut.
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26. Sept. 15. Kanonendonner, Sonne zwischen Wolken. Heftigstes Trommelfeuer
an der Westfront. Fürchterliche englische Angriffe bei La Basse, Arras,
französ. in Champagne und Argonnen. Gottlob kein Durchbruch! Es müssen
fürchterliche Kämpfe dort sein. == Wir machten bei den neuen
Pfarrersleuten Besuch, sprachen nur die Frau und deren Mutter. Helene besuchte
noch Frau Dr. Knoll, die ihr den heftigen Abschluß ihres 1½
jährigen Verkehrs mit Frau “Cissi” (Clemens) schilderte. Winckler
kam gestern in Urlaub – seit 10 Monaten. = Unsere 3. Kriegsanleihe von
12,03 Milliarden Mark ist die größte, bisher bekannte Finanzoperation
der Weltgeschichte. Die klugen Worte D. Helferichs gegenüber amerikanischen
Journalisten verdienen, hier aufbewahrt zu bleiben. ebenso wie der erschütternde
gestrige Tagesbericht.
28. Sept 15. Wer kann den Tagesbericht von vorgestern und gestern ohne
Grauen und Schrecken und doch nicht ohne Freude lesen? Die Franzosen behaupten
in ihrem vom 26.: 4-5 km Fortschritte und 12000 Gefangene. Hoffentlich
ist es ein wenig übertrieben. Ob diese Riesenschlacht der letzte Versuch
größten Stils auf der Westfront bleiben wird? Im Balkan scheint
sich die Lage allgemach zu unseren Gunsten zu verschieben. Ob schließlich
nicht auch Schweden mobilisiert? Alles das scheint im Fluß zu sein.–
Für die Verwundeten hier sollen abends Vorträge gehalten werden.
Der biedere Landrat meinte gleich 6 x die Woche, ich schlug 3 x vor, die
anderen, die mittun sollen – es sind alles meist ältere höhere
Lehrer – meinten 2 x genüge. Freitag soll weiter beraten werden. Die
Platzfrage wird noch die meisten Schwierigkeiten machen. Nasse stellt sich
das alles anscheinend etwas zu leicht vor. Ich habe mich für naturgeschichtliche
Zwischen Seite 40 und 41 Sind Zeitungsausschnitte mit den Tagesberichten vom 26. bis 28. September eingeklebt.
Seite 41
Vorträge verpflichtet. – Ununterbrochen ist die Luft von Kanonendonner
durchschüttert. Bruder Jann (Rech, Johannes) schrieb fröhliche
Karte aus Lille, wo er auf der Durchreise nach seiner Gouvernementsarztassistentenstelle
in Brüssel “auf Kosten der Stadt” herrlich dinierte. Ob er wohl zu
den Kämpfen bei Arras zurückgerufen wurde? – Die Franzosen wollen
auch die Kohlengruben bei Loos wieder zurückgewonnen haben. Hoffentlich
hat der Gegenangriff Erfolg. – Ich bekomme aus dem St. Nikolaus Hospital
morgen eine Fuhre Mist und sehe so dem Gemüseanbau für nächstes
Jahr mit Ruhe entgegen. Zur Zeit steht fast noch alles Land voller
Gemüse. Frau Paul Thanisch besuchte uns gestern. Helene unterhielt
sich gut mit ihr. Sie konnte gut erzählen, wie die “Bärenkessele”
auf den “Dick Thonisch” (ihr Mann mit gemeint) und den “Räsch” (was
ich bin) schimpfte und sich selbst zu der Behauptung verstiegen, “sie hätten
es mit Geld gemacht, daß sie freikämen”. Es ist wohl überall
dasselbe.
29. Sept 15. Der gestrige Bericht ist wieder beruhigend. Der geplante
Durchbruch der Engländer und Franzosen scheint nicht geglückt
zu sein. Es werden die englischen und französischen amtlichen Berichte
auch abgedruckt. Man scheint auf der Gegenseite auch Bulgarien auf jede
Weise einzuschüchtern, ob mit Erfolg? Anscheinend nicht. Winkler war
vor Tisch bei mir. Er meinte, den Angriff habe man bei uns erwartet. Vordem
seien unsere Linien sehr dünn besetzt gewesen und die Gegener hätten
keine Munition gehabt. Jetzt verschwenden sie solche in unerhörter
Menge. Er hatte auch Lust, gegen die Gemeindesteuer anzugehen, gegen die
ich mich neulich auch beschwerte. Wir berechneten die für ihn zutreffende
Formel.
Heute ist es kalt und regnerisch, Markttag; die Küfer haben viele
Fässer und Bottiche aufgestellt. W. Erzählte uns sehr nett, wie
sie dort riesige Kartoffelernte mit Hilfe russ. Gefangener
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einbrachten.Alles irgendwie Nutzbare werde nach Deutschland geschafft,
so jetzt große Waldungen methodisch abgeholzt, auch Äpfel in
großen Mengen, so daß deren Preise nicht allzu hoch emporschießen.
Vorgestern sah ich schon an der Graacher Straße einen Wein lesen.
Es war Maintzer wie ich später hörte, der Erlaubnis hatte, eine
frühe Rebsorte zu lesen. W. will morgen nach Oppenheim, wo nach der
Lese der Weingärten bald allgemeine Lese sein wird. Er hat nur 14
Tage Urlaub.
30. Sept. 15. Meine Mutter (Rech, Anna Maria) schreibt, daß Bruder
Josef (Rech, Josef) jetzt in Bonn sei und vom 25.9.-11.10. Urlaub habe.
Er sehe recht stattlich und sehr wohl aus. Der Biedermann Merschheim hatte
Mama eine Karte über die Erledigung des Zülpicher Notariats geschrieben
und es für mich dort sehr empfohlen. Daran kann aber jetzt kein Gedanke
sein. Reinecke schrieb, daß er morgen in Urlaub komme und mich besuchen
wolle. Der gestrige Tagesbericht ist wieder voll von der erbittertsten
Kämpfe an der Westfront. Selbst die Winterschlacht in der Champagne
soll ein Kinderspiel dagegen gewesen sein. Allenthalben hört man die
Ansicht, dieser unerhörte heftige Angriff sei ein letzter verzweifelter
Versuch der Franzosen und Engländer, uns aus Nordfrankreich und Belgien
herauszuschlagen. Hoffentlich geht es auf ein Ende noch vor dem Winter
zu!– Die Franzosen scheinen allmählich zu resignieren.
Gestern abend war ich seit langem mal wieder in der Kneipe, auf dem
“Bierstrategenabend”, wo wir uns zu 4 bis 12 Uhr gut unterhielten.
1. Oktober 1915. Wieder meldet der Tagesbericht von gestern heftige
Schlachten im Westen, bei denen wir hier und da etwas Gelände einbüßten.
Es ist ein bitterer Kampf. Man kann es kaum begreifen, daß dabei
hier alles so friedlich weitergeht. Der Himmel hängt voll schwerer
Wolken, mitunter leuchtet die Sonne durch. Die Weinlagen beginnen langsam,
sich mit gelben Strichen zu bedecken; die Mosel, die stark gesunken war,
steigt wieder. Die
Seite 43
angeschlagenen Tagesberichte werden jetzt mit ruhiger Andacht gelesen.
Man sieht jedem Leser trotz seiner äußerlichen Ruhe seine innere
Bewegtheit an. Jede Post bringt mir jetzt Sachen der Kriegsbeschädigten-Fürsorge.
Das dumpfe ferne Pochen der Geschütze ist ununterbrochen zu hören.
Reinecke, der sich für gestern oder heute in Urlaub angesagt hatte,
ist nochnicht gekommen. Gestern schrieb ich an Frau von H. Von Frl Thelen
(Tholen?) hörte ich lange nichts mehr, Freund Bruhns sandte sehr interessannte
schweizer. Zeitungen, darunter die Emmenthaler Nachrichten durch eine derbe
Sprache sehr erfrischend wirken. Ein Artikel: “Das Gemeinste an diesem
Kriege” bekämpfte die Lügensucht unserer Feinde in einer Form,
wie sie bei den mir zu Gesicht kommenden (reichs)deutschen Zeitungen schon
nicht mehr üblich ist. Es scheint, daß der Viererbund allenthalben
als Verlierer betrachtet wird.
2. Okt. Der Hauptangriff der Franzosen scheint vorüber zu sein
– oder sollte er am Ende noch kommen? Seltsam, alle Welt glaubt, es sei
ein letzter Versuch der Franzosen. Wenn man sich da nur nicht täuscht!
Mag ja schließlich sein, daß der Stoß zu früh einsetzte
und dem Militärbefehlshaber Joffre von den politischen Machthabern
aufgedrängt wurde, um die Bulgaren zu bluffen. Oder sollte das französische
Volk ungeduldig werden und entschlossen sein, so oder so eine Entscheidung
noch vor dem Winter zu erzwingen, damit kein 2. Winterfeldzug mehr stattfindet?
In Rußland haben wir im September fast wieder an 100000 Gefangene
gemacht. Die entsetzliche Verwüstung des Landes und das Herumtreiben
der Bevölkerungsmassen könnte doch den inneren Zusammenbruch
dort stark beschleunigen.– Es ist kalt geworden, wir haben etwas eingeheizt.
Fleisch wird viel weniger gegessen als früher. Schweinefleisch hier
1,40 M per ½ kg; alles andere 1,20 M. Fett 1,40 M. An Fett und Öl
tritt
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anscheinend Mangel ein. Wir selbst haben noch eine schöne geräucherte
Speckseite und einen Topf Fett. Hoffentlich werden im Laufe des Winters
angesichts der riesigen Kartoffelernte die Schweine billiger. Ich werde
mit Faber noch mal ½ Schwein schlachten. Jetzt kosten sie Lebendgewicht
1,10 M per ½ kg, vor 1 Jahr zur gleichen Zeit ca 0,50 M (!).– Morgen
werde ich 36 Jahre alt. Ich hoffe kaum, 70 Jahre alt zu werden und so habe
ich also die Höhe meines Lebens überschritten. Trotz aller meiner
Krankheiten aber fühle ich mich noch so jung, daß ich daran
nicht glauben kann. Ichhabe das Gefühl, auf einem weiten ziemlich
ebenen Gipfelgrat des Lebens voller Lust zu schreiten. Hin und wieder kommen
Spalten, in die ich auch ab und zu hinpurzele, doch hoffe, wie bisher,
so auch künftig mich noch stets leidlich wohlbehalten daraus hervorzukrabbeln,
bis ich endlich auf einem in meiner Erwartung recht sanft abfälligen
Wiesenhang meiner Endbestimmung zuwandere. Giebt mir ein gütiger Himmel
noch einmal die gleiche Lebensdauer wie bisher, so hoffe ich noch große
Dinge in unserem Volk miterleben zu dürfen.––
3. Okt. 15. 14680 Gefangene meldet unser gestriger Tagesbericht als
Gesamtziffer bisher. Da kann es auch wohl stimmen, daß uns die Franzosen
ca 20-23000 an Gefangenen abnahmen. Aber wie viele Tote werden die Gegner
haben lassen müssen? Eben, gegen ½ 3 nachmittags waren wieder
schwere Schläge zu hören. Jetzt ist es wieder ruhiger. Gestern
betäubte ich ein Volk, das ich vor 2 Jahren in einem großen
Korb einfütterte, nachdem ich es nackt aus der Heide bezogen und ihm
eine Hunsrücker Königin zugesetzt hatte. 2 Jahre lang war es
äußerst stark, gab aber Schwarm und Honig. Es hatte jetzt noch
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eine Menge Honig, war aber nicht sehr groß und hatte kaum noch
Brut. Im Kasten scheint es sich wohl zu fühlen. Vielleicht verstärke
ich es noch. Mein Geburtstag wird still gefeiert. Für die Gefangenen
im Osten werden Pakete mit Wintersachen angefordert. Da wollen wir gleich
eins geben. Freund Bruhns sandte eine Karte, die ein wenig traurig gestimmt
war. Ich schrieb ihm gleich einen längeren Brief. Der Prozeß
seines Bruders soll in Petersburg im Gange sein.– Angeblich sollen die
Engländer den Russen weiter Geld pumpen. Wie lange noch?
5. Okt. Die Kanonade ist heute besonders heftig zu hören. Die
letzten Tagesberichte sind günstig. Die oberste Heeresleitung veröffentlichte
Joffre’s Angriffsbefehl, äußerst blamable Sache für Franzosen
und Engländer angesichts des geringen Erfolges. 190000 Mann sollen
sie verloren haben, wir nicht 1/5 davon, d.h. noch nicht 38000; sagen wir
35000, davon 23000 Gefangene, also 12000 Tote und Verwundete. Die Zahl
der Verwundeten muß ungeheuer sein, denn, wie man hört, sind
alle Lazarette hier im Westen stark belegt. Hier sollen dieser Tage alle
Einheimischen zur Weinlese und ihre Kameraden mit ihnen beurlaubt werden.
Von Siegburg kommen sehr ernste Nachrichten, E. (Reitmeister, Elsbeth)
ist recht schlecht und hat anscheinend T.B. im Darm. Wenn das kein böses
Ende nimmt! Der arme Willy (Reitmeister, Willi) und der Junge.– Man kann
es sich nicht gut ausdenken. Helene hat wieder allerlei und verschiedene
Beschwerden. Blieb mal halben Tag zu Bett. Dr. Schmitz ist in Trier jetzt
stark in Anspruch genommen und kann daher Frau Brinkmann nicht operieren,
die sich jetzt ganz darauf eingerichtet hatte.
Ich kaufte mir im Hospital 50 Salatpflänzchen und setzte sie.
Honig wurde aus den Waben des Korbvolkes ausgepreßt. Eine rechte
Matscherei.
Seite 46
Fürs Heer werden jetzt auch Marmeladen gesammelt. Margarine hört
auf und der Fettstoffmangel beginnt. Hoffentlich wirds nicht zu schlimm
damit oder ein Ersatz wird gefunden. Ob wir nicht am Ende aus Kohle Nahrungsmittel
zu machen lernen?
Den Bulgaren haben die Russen ein Ultimatum mit 24 Stunden Frist gestellt;
sie sind wohl selbst von der Nutzlosigkeit einer Einwirkung zu ihren Gunsten
überzeugt.
6. Okt. 15. Ein grauer Tag heute, an dem nur Arbeit hilft. Aus Siegburg
werden die Nachrichten stets trüber, es scheint zum Endkampf zu gehen.
Helene hat die Nacht heftigste Blasenschmerzen und blieb im Bett. Sie kann
sich bei dem Gedanken an Willy, sein Kind und seine Frau der Thränen
nicht erwehren. Wir überlegten schon, Heinz (Reitmeister, Heinz) zu
uns zu nehmen. – Josef (Rech, Josef) will uns Sonntag, auf seiner Rückreise
zur Front, hier besuchen. Am Amt gabs reichlich zu tun und leider stets
störende Unterbrechungen. Ein vor Tisch angeschlagenes Extrablatt
giebt das Abdanken des griechischen Ministerpräsidenten Weniselos
bekannt. Werden jetzt in Saloniki beim Landungsversuch der Franzosen und
Engländer die griechischen Kanonen losgehen? Ob das französisch-englische
Heer den Serben ausschließlich nur zu Hilfe kommen oder nicht vielleicht
auch etwas sanften Druck auf diese ausüben soll, sich gegen die Bulgaren
zu wenden und von Albanien abzulassen? Und ob nicht die Griechen in Albanien
Front gegen Italiener machen werden? Es ist ein rechter Brodeltopf dort,
in dem unseren Feinden hoffentlich eine recht heiße und ungenießbare
Suppe eingebrockt wird. – Die Vorträge an unsere Verwundeten sind
wegen der vielen Weinlesebeurlaubungen verschoben worden und so werde ich
erst am 20. ds. also in 14 Tagen losschießen. Was mag sich bis dahin
nicht alles ereignet haben?
Zwischen den Seiten 46 und 47 sind wieder Zeitungsausschnitte mit den Tagesberichten eingeklebt.
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7. Okt. 15. Eine dicke Nebelschicht drückt auf unsere Bergrücken,
die Talsohle ist frei davon. In ihr schwelen überall Kartoffelfeuer
und machen die Luft dick und süßlich.– Heute kamen Kartoffeln
aus Commen im Hunsrück, 11 Zt. à 3,50 M. Dazu 1 Zt. Parmänen
zu 8, und schlechte Äpfel zu 3,50 M. Gerichtsdiener Friedrich hat
im Amtsgerichtskeller 2 ½ Zt. Eiseräpfel à 8 M aufgelagert,
die ich ihm heute zahlte. So wären wir für den Winter hinreichend
versorgt. Fehlte nur noch Fett, Öl, Fleisch. – Vorgestern beobachtete
ich mittags eine Szene, bei der ich so wunderlich gemischte Gefühle
hatte, daß ich sie mir notieren muß: Notar Dr Astor hat auf
seinem Büro einen Angstellten namens Ferres, der stets so spindeldürr
und so lederartig verschrumpft im Gesicht aussah, daß man glauben
sollte, er sei in einem bereits sehr fortgeschrittenen Grade der Schwindsucht
verfallen. Er wurde schon zu Anfang des Krieges als völlig gesund
befunden und eingezogen. Nun kam er aus dem Schützengraben in Urlaub
und ich sah ihn die Brückenrampe an der Bernkastler Seite herabmarschieren:
mit feldmarschmäßig gepacktem Tournister, Feldkrätzchen
ect. Er sah genauso aus wie früher und so wenig heldenhaft, daß
es trotz des Gedankens an seine Strapazen und Gefahren einen unwillkürlich
lächerte. Sein Gepäck mit aufgeschnalltem Mantel und Zeltbahn
und vielen Anhängseln bildet mit seinen Beinen fast eine Linie, vertikal
zur Erde. Daran hing weit nach vorne gebeugt sein Oberkörper, als
ob er am Gepäck mit Kraft zöge und auf fröhliche und scherzhafte
Zurufe von allen Seiten antwortete er, ohne das ganz verkniffene und in
höchst sorgenvolle Falten verzogene Gesicht irgend zu verziehen.
9.10.15. Wieder toben die Franzosen und Engländer im Westen. Hoffentlich
auch diesmal ohne Erfolg. Gestern morgen erlitt ich mit meiner Lunge mal
wieder einen kleinen “Fliegerüberfall”, d.h. geringer Blutauswurf
veranlaßte
Seite 48
mich, stramm einen Tag im Bett zu bleiben. Der Erfolg war günstig.
Heute morgen war es schon nur mehr ganz verschwindend wenig. Da Helene
ihrer Blasengeschichte wegen auch hübsch still im Bett bleibt, so
erinnerten wir uns jener schweren Zeiten im Beginn unserer Ehe, wo wir
beide unter schlimmen Umständen darniederlagen. Willy (Reitmeister,
Willi) schrieb einen recht sachlichen und klaren Brief über Elsbeths
(Reitmeister, Elsbeth) Krankheit; vielleicht, daß die Strahlungen
doch helfen. Hoffnung ist noch vorhanden. Ich bin heute morgen, etwas spät
freilich, aufgestanden und konnte mich durch Bearbeitung gerichtlicher
Sachen, Steuerangelegenheiten ect. schon wieder nützlich machen. Es
geht ein abscheulich feiner Regen nieder, alles rüstet auf die Weinernte.
Es ist mir zu feucht draußen, sonst ginge ich zum Liegestuhl im Garten.
Der Haushalt geht gut. Josef entdeckte auf seinem Urlaubspaß, daß
er bis zum 16. Urlaub hat und kommt daher erst Freitag.– Die Franzosen
sind außer sich über das Spiegelbild ihres politischen Bankerotts
auf dem Balkan, den Serben geht es an den Kragen und die Russen werden
widerspenstig, weil sie von den Engländern anscheinend kein Geld bekommen.–
10.10.15. Der Himmel ist heiter geworden und so sieht sich alles besser
an. Ich hoffe, heute nach Tisch meinen Stubenarrest durch eine Gartenliegekur
unterbrechen zu können. Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ist mit
seinem Uboot jetzt auch nach dem Mittelmeer, dort scheint jetzt deren Haupttätigkeit
zu liegen. Die Fettfrage, die allgemach dringend wird, scheint eine Lösung
zu finden: Kaum daß ich neulich den Gedanken an einen künstlichen
Ersatz hatten, so
Zwischen den Seiten 48 und 49 sind Zeitungsausschnitte mit den Tagesberichten vom 8. -11. Oktober eingeklebt.
Seite 49
fand ich schon anderen Tags in der Köln eine Notiz, daß
man im Institut für Gärungsgewerbe eine fettstofferzeugende Hefe
mit 18% Fettgehalt gefunden habe. Ein Dr Lindner ist der Züchter.
Soll ein reines Öl ergeben, das sich ohne weiters zu Kernseife eignet.
Fabrikmäßige Ausnutzung steht noch dahin, ebenso Verwendung
als menschliches und tierisches Genußmittel. Nun, auch das wird sich
schon finden. | In Serbien scheint es vorwärts zu gehen. | Kunz gab
mir bei einem Morgenbesuch eine hübsche Schilderung seines Bienenausflugs
nach Annenberg, den ich nicht hatte mitmachen können. Fiel heute vor
1 Jahr nicht Antwerpen?
10.10.15. Nachmittags im Garten. Ich meine wer weiß wie lange
nicht mehr im Garten gewesen zu sein; dabei waren es nur 2 Tage, daß
ich fehlte. Währenddem aber hat der Herbst mit breitem Pinsel und
bunten Farben in Garten und Landschaft herumgewirtschaftet und heute läßt
die volle Herbstsonne alles farbig aufleuchten. Der Waldsaum über
den gelb angetönten Wingerten ist in ein tiefes rottöniges Bunt
getaucht und blendende Wolken segeln aus Südost darüber hin.
Es ist ein wundervoller Herbsttag. Morgen soll die Weinlese beginnen. Es
scheint fast, als ob schönes Wetter dabei sein sollte. Ob der Wein
noch im Kriege blank wird? Wer kann es wissen.
W. bekam gestern früh Depesche, daß er schon mit erstem
Zuge abfahren mußte. Wir erfuhren dies mittags durchs Kinderfräulein.
Seltsamerweise hatte ich im Halbschlaf morgens einen gräulichen Traum:
W. sei gefallen und seine Frau wollte mit den Kindern nach Bonn oder Godesberg
ziehen. Ich hoffe bestimmt, daß Träume = Schäume sind und
nichts davon eintrifft.
14. Okt. 15. Wieder war ich des schlechten Wetters wegen 2 Tage nicht
im Garten und wieder große Veränderung. Statt des trübschweren
Nebels der letzten Tage strahlt heute nun unvergleichlich bunte Herbstsonne
die Weinberge, in
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denen ein selten reicher Herbst gelesen wird, strahlen in leuchtendem
Gelb auf hellgrünem Grund. Ein Farbenfest ohne Gleichen. Es tut mir
jetzt doppelt leid, nicht mit Helene heraus zu können. Sie bleibt
heute noch zu Bett, hofft aber morgen aufstehen zu können. Mit Herta
ging ich gestern Paul Thanisch aufsuchen und traf ihn 4 ½ grade
rechtzeitig noch an. Wir kletterten in den Distrikt Ofen, wo die Lese schon
im Gange war. Seine Mutter war dort, beaufsichtigte und half mit. Herta
schwelgte in Trauben und durfte sich noch welche mitnehmen. Überall
sind sie sehr süß in diesem Jahre. Nachher trafen wir Walther
Thanisch, der als “Kraftfahrer” in Cöln dient, Freund Sondag ist Adjudant
dort. Er erzählte mir allerlei von ihm. Nachdem wir bei Onkel Thanisch
den süßen Most gekostet hatten, nahm Walter mich zu ihrem Keller
mit, in dem ich noch nicht gewesen war. Ich sah dort eine originelle niedrige,
famos arbeitende hydraulische Presse. Ich maß: Nachlauf 72, Vorlauf
75 Mostgewicht nach Öchsle. Ich mußte dann noch die guten Doctorweinfuder
1911-1914 durchprobieren. Es waren herrliche Weine dabei. Am besten schmeckte
ein 11er , schon auf Flasche gezogener Doctor in feinster Edelreife; vergleichsweise
dazu ein vorzüglicher Weinbrand aus den gleichen Trauben geringerer
Art (halbverfaulte ect) der vorzüglich mundete. Eine angebrochene
Flasche dieses köstlichen Moselkognaks mußte ich mitnehmen.
Rechtsanwalt Schönberg hat den bekannten Schriftsteller-Schauspieler
Frank Wedekind auf seiner letzten Reise kennen gelernt und eingeladen.
Er ist seit gestern hier und ich hoffe ihn heute oder die nächsten
Tage kennen zu lernen. Morgen soll nun Bruder Josef 502 kommen. Ich freue
mich sehr darauf.– Immer noch toben
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heftige Angriffe auf der Westfront, namentlich in der Champagne und
im Weinberg hörten wir den Kanonendonner wieder so heftig und deutlich
wie im vorigen Jahre beim gleichen Anlaß. Die reiche Ernte –viele
können sich eines solchen Ertrages nicht erinnern– ist gleichsam unter
fortwährendem Kanonendonner gewachsen. | Es zeigt sich, daß
wir auf dem Balkan die Engländer endlich an einer empfindlichen Stelle
packen. Ihr übertriebenes Pressegeschrei ist freilich mit gebotener
Vorsicht zu genießen, so erfreulich uns da vieles klingen mag: Politisch,
wie sie stets und in allen Dingen sind, versuchen die führenden Kreise
jetzt dort die allgemeine Bestätigung dazu zu benützen, um den
“Dienstzwang” so sieht dort die “Wehrpflicht” aus, einzuführen. ||
Auf größere französische Luftangriffe gegen unsere Städte
hier im Westen scheint man sich allenthalben vorzubereiten. Selbst hier
sollte neulich eine solche Übung stattfinden. In Bonn wird eine Sirene
zur allgemeinen Warnung angeschafft. Ein Lt. Immelmann ist wohl der erste,
der namentlich in einem Tagesbericht unserer obersten Heeresleitung genannt
wurde.
17. Oktober 1915. Die letzten Tage waren so reich an Eindrücken
aller Art, daß ich erst einiger Tage stiller Sammlung bedarf, um
sie geistig und körperlich alle zu verdauen und mich von einem gewissen
Drucke wieder freizumachen. Sehr geeignet zu diesem Zwecke erscheint mir
erscheint mir eine kurze Skizzierung. Vorgestern hatte ich den ganzen Tag
über einen rechten Kater, der mich zum Fasten verurteilte und mich
erst gegen Abend wieder aufleben ließ. Unseren Bruder Josef (Rech,
Josef), den ich seit dem Frühjar 1914 nicht mehr wiedergesehen hatte,
holte ich um 502 am Bahnhof mit Herta ab. Er ist ein riesiger und stattlicher
Kriegsmann von fast 2 Ctnern Gewicht
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geworden und eine neue feldgraue Montur stand dem Oberleutnant und
Kompagnieführer vortrefflich. Helene war aufgestanden und so waren
wir den Abend gemütlich beisammen. Josef ist sehr ruhig und gefiel
uns sehr.
18.10.15. Gestern kam ich nicht weiter, heftige Kopfschmerzen am Hinterkopf
hinderten mich; ich schreibe sie –auch nach Beobachtungen bei anderen–
dem reichlichen Genuß von nikotingespritzten Trauben am Abend vorher
zu. – Unentwegt ist heiteres Wetter, sogar Nachtfrost für Höhenlagen
zu befürchten. Allenthalben Weinlese mit riesigen Erträgen. An
Übertreibungen fehlts auch nicht; so will Fr. W. Erz 26 Bürden
von 183 Stöcken im Gedert gelesen haben (28-30 Bürden = 25 Zt.
rechnet man auf ein Fuder!) Gestern nachmittag ruhte ich mich zu Hause
nach Tisch, Helene hatte sich müde gefühlt und war zu Bett gegangen.
Gegen 3 holte mich Schönberg ab und ich ging mit ihm, seiner Schwester
und Wedekind bei prächtigstem Wetter über Lieser nach Dusemond.
Dort tranken wir bei Schönbergs Eltern Kaffee, lernten den Hauseigentümer
Geh. R. Weinmann aus Marburg kennen, der übrigens auch Franz Bildhauers
Hausherr ist. Ein prächtiger alter Herr. Dann gings durchs Feld bergan
einen Waldhang entlang nach Waldhaus, der weltentlegenen Klause des hier
so viel verschrieenen Dr. Ludwig, des Mannes, der da “Diamanten, Gold und
Platin machen will”. Nach einem Leben voller Entbehrungen und Arbeiten
hat er nunmehr von der D. Diskonto Ges. und anderen die Mittel bekommen,
seine Versuche in Ruhe und mit genügenden technischen Hilfsmitteln
machen zu können. Eine saubere luftige Werkstatt mit Werkzeugmaschinen,
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eine liliputartige kleine Wohnung und ein tief in den Berg getriebener
Stollen mit Kleinbahn, Drehbühnen ect. geben einen ganz phantastischen
Eindruck. Im Winkel des bequem zu begehenden Schachtes waren dann unheimliche
kurz und dickbäuchische Apparate mit gewaltigen Stahlarmaturen zu
sehen, die der Explosionsgefahren wegen hier tief im Felsenleib der Erde
später tätig werden sollen. Zunächst sollen dort Edelmetalle
und Kohlensäure unter ungeheurem Druck erhitzt zugleich aber an der
Verdampfung gehindert und hierdurch gezwungen werden, sich selbst in ihren
Atomen noch zerspalten zu lassen, so z. B. Platin in Chrom und Eisenstein!
Gelingts –und es ist schon gelungen– so wird sich wohl ein Weg zur Synthese
finden. Wir besprachen auf dem Heimweg nach Dusemond in der Abenddämmerung
die gänzlich unabsehbare Umwälzung, die durch die Lösung
dieser Frage über die ganze Wirtschaftswelt hereinbrechen müßte,
eine Umwälzung, mit der verglichen, der jetzt zum Weltkrieg sich auswachsende
europäische Krieg am Ende ein Kinderspiel werden könnte. Nach
diesen reichen und durch geistreiche Bemerkungen Schönbergs und Wedekinds
gewürzten Eindrücken, nahmen wir bei Schönbergs Eltern einen
schmackhaften Abendimbiß. Es stellte sich dabei heraus, daß
in Dusemond noch paradisische Zustände herrschen, indem die Butter
dort 1,60 M per ½ kg kostet, während sie in Dänemark schon
2,25 Kr. kostet!– Bei scharfkühler Luft und Mondschein erwarteten
wir eine lange Weile den Schaukelzug, der uns mit einer Reihe Bekannter
darin heimbrachte. Helene war ausgewesen, hatte Bekannte getroffen und
sich auch gut unterhalten.
Seite 54
Josef hatte Erholungsurlaub mit ärztlichem Zeugnis für 3
Wochen für nur 2 Wochen beantragt, aber ohne es zu sehen, für
3 bewilligt erhalten. Er machte uns gute Schilderungen von seiner ganzen
Tätigkeit. Er hat doch eine ganze Reihe und z.T. gefährliche
Gefechte mitgemacht. Das schlimmste bei einem völlig aussichts- und
erfolglosem Sturmangriff auf starke französische Befestigungen vor
St. Geneviève, von wo sie schließlich in regelloser Flucht
zurückgingen und jeden 4. Mann verloren. Ich werde nie seine Schilderung
vergessen, die er mir hiervon am Samstagabend auf dem Wengerohrer Bahnhof
macht, wo wir bei Mondschein in stillkalter Nacht auf und ab wanderten,
um seinen Schnellzug abzuwarten, der ihn um 10 nach Trier brachte. Von
dort bis 1230 in Metz, wo sein getreuer Bursche Sturm aus Blankenheim in
der Eifel ihn mit einem Gefährt seit 10 erwartete. In 4 Stunden, ich
wurde nachts um ½ 5 noch mal wach und dachte daran, wird er dann
wieder auf seinem Gutshof Hautonnerie in einem nach Pont-Mouseron gekehrten
Abschnitt von Metz angekommen sein. Besagten Sturm hatte er schon vor Jahren,
als er in Berlin bei den Gardepionieren als Einj. Freiwilliger diente als
Putzer; er ist bei allen Gefechten stets um ihn gewesen und hat sich in
gefährlichen Augenblicken stets quer vor ihn als Deckung gelegt, wenn
er es noch so oft verhindern wollte. Josef kamen die Tränen in die
Augen, wenn er davon sprach. Jene Schilderung des Gefechts von Geneviève
ist mir klarer eingegangen als alle bisherigen Kriegsschilderungen und
ich will sie hier keineswegs wiederholen.– Der Krieg mit den Mitteln des
Nahkampfs tobt auch in seinem Abschnitt ununterbrochen. Sein
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Standquartier liegt zwar hinter der Gefechtslinie, aber selbstredend
im Bereich der französischen Artillerie.– Gerade sehe ich wie gegenüber
in einer Lage Paul Thanisch mit seiner Mutter und zahlreichen Weibern bei
der Weinlese ist und die als Bürdenträger neu eingetroffenen
Russen erstmals mit den Bürden über eine Leiter an der Mauer
zur Bütte auf die Straße hinuntersteigen. Ein merkwürdiges
. . . (nicht zu entziffern) =Kriegsbild.– Der Hof gehört –auf
deutschem Boden– einem Franzosen, der auch für sein Land kämpft.
Die Pächtersleute stammen aus dem Orte, an dem die feindliche Artillerie
gegenüber ihren Standort hat und diesem Umstand glaubt Josef es mit
zuschreiben zu müssen, daß sein Quartier bisher noch recht auffällig
von Beschießung freigeblieben ist. Der Pächter bekommt dort
sogar Quartiergelder. Da er solche auch unbefugterweise für die Belegung
eines Herrenhauses angenommen (das ihm nicht gehört und wie das ganze
Besitztum unter deutscher Verwaltung steht) so hat er ihn ein wenig in
der Hand. Hat auch die Absicht, später von ihm ein Schwein zu kaufen,
schlachten und räuchern zu lassen. Empfahl ihm hieran meine Beteiligung
zu ½.–
19. Okt.1915. Wieder ein sonniger Herbsttag, diesmal mit ziemlich kaltem
Nordwind wie gestern. Auf dem Felde haben wir gestern Tomaten und Bohnen
ausgerissen. Dann sagte sich Dr. Schmitz an und verabredete für heute
früh mit Helene eine Untersuchung im Krankenhaus. Gestern abend trank
ich mit ihm und Paul Th. an dem recht zusammengeschrumpften Stammtisch
ein Gläschen Bier, das erstemal seit langer, langer Zeit.– Hier noch
einiges von
Seite 56
dem was Josef erzählte: Seine Kompagnie, 250 Mann stark mit 5
Offizieren ist keine einheitliche “Kampftruppe”. Sie steht selbständig
innerhalb der Armeegruppe v. Schrantz (?) und sein Vorgesetzter ist der
dieser Armeegruppe zugeteilte Pioniergeneral. Er hat also weder Major,
Oberstlt. noch Oberst über sich. Er selbst liegt innerhalb des Bereichs
eines Inf. Regiments, doch hat dieser Oberst nur in Notfällen auf
eigene Verantwortung ihm dienstliche Befehle zu geben. Die Pioniere sind
über die mit Infanterie besetzten Stellungen verteilt und unterweisen
und unterstützen diese in der Anlage und im Ausbau der Stellungen.
Sie beziehen ihre Posten nachts, wo auch meist gearbeitet wird. Von verschiedenen
Punkten laufen Telefonleitungen bei ihm im Schlafzimmer zusammen, die namentlich
auch nachts arbeiten. Kommt es zu größeren Gefechten, so wird
die Compagnie in Gruppen verteilt und er kommt zum Stab.– Der frühere
Führer der Kompagnie, ein alter Res. Hauptmann und Katasteronkel im
Zivilberuf hat durch sein anschnauzendes Verhalten hinter der Kampffront
und geringen Mut im Gefecht viel böses Blut gesetzt. Er bestand aus
“Waffenrock und Widerspruch”.– Die Soldaten sind natürlich auf allerlei
Nebenbeschäftigungen und Streiche bedacht. Es giebt sehr geschickte
Handwerker unter ihnen, die hübsche Sachen in ihren Feierstunden anfertigen,
so z.B. hübsche Fingerringe aus dem Aluminium eines erbeuteten Flugzeuges.
Die Ringe werden eifrig begehrt und kosteten durchweg 2 M, bis ein sehr
geschäftsgewandter Pionier sich solche gleich in Massen von einer
Fabrik im Inland kommen ließ und dadurch den Preis auf 1,80 M drückte.
Mir brachte Josef einen Brieföffer mit, aus dem Sprengstück einer
Granate sauber gefertigt. Schon lange hätte ich gern einen kleinen
Brandstempel für meine Bienenkästen und sonstiges Gartengerät
Zwischen Seite 56 und 57 eingeklebt: Tagesberichte vom 16.-18.10.1915
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gehabt. Er will mir gern einen schneiden lassen.– Sehr beliebt sind
natürlich kleine und größere Raufereien der Truppen untereinander.
Ein Pionier verschafft sich z.B. Heu auf diese Weise: Durch einen Hohlweg
kommt regelmäßig eine Kolonne, die auch Heu in Ballen mitführt.
An einer abschüssigen Stelle hat er an einem oben stehenden Baum einen
Anker an einem Seil befestigt. So wie der letzte Wagen vorbeifährt,
schleudert er den Anker als Harpune auf einen Heuballen und erbeutet ihn
auch meist.– Ein Eisenbahntransport mit Liebesgaben hält an einer
Stelle, an der die Pioniere einen neuen Weg bauen. Dem Transportfüher
wird auf seinen Wunsch ein Öfchen für den Winter eingebaut. Währenddem
hat man 1 Zt. Kiste Liebesschokolade entwendet.– Pioniere haben meist feste
Brechstangen mit und sind daher allen Transporten gefährlich. – ||
Am Samstag, dem 16. holte ich morgens noch im Nebel Josef aus Reineckes
Wohnung ab. Dort war er von uns in Ermangelung eines Fremdenzimmers einquartiert
worden. Wir hatten gemütlich zusammen gefrühstückt und kaum
davon gesprochen, daß wir (wegen) des Petroleum- und Spiritusmangels
den Kerzenkronleuchter im Wohnzimmer ab- und dort eine Gaslampe aufhängen
wollten, als Josef schon keine Ruhe mehr hatte, bis er diesen Umhang mit
starker und kundiger Hand fertiggebracht hatte. Zwischendurch gingen wir
im Garten eine Rohrzange aus dem Häuschen holen. Josef besah sich
Garten, Garten- und Bienenhaus mit größtem Interesse. Sein getr.
Leibpionier Sturm aus Blankenheim ist auch Imker, hat ihm in Chambley kräftig
Honig eingesammelt und will ihm Bienenkästen machen. Übrigens
bekommt Emma (Rech, Emma) Kartoffeln und Butter von ihm. – Josef beneidet
uns sehr und findet, daß der “Amtsrichter auf dem Lande” das Einzigwahre
sei. –
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20.10.15. Es ist kühl, der Himmel eisengrau gewellt.Wir haben
gestern bereits einen Teil der roten Beeten ausgegraben. Sie sollen bald
eingeschlagen werden. Am Samstag aßen wir dann friedlich zusammen,
nachdem Josef, Herta und ich einen Spaziergang in die Weinberge gemacht
hatten. Der Nebel ging am Mittag langsam weg, eine warme Sonne schien.
Wir trafen Paul Th., Josefs Schulgenossen. Er führte uns die steile
Treppe zur Ley herunter, wo wir unter dem vorspringenden Fels köstliche
Trauben aßen von einer unvergleichlichen Süße und Milde.
Ich meine nie, etwas Schöneres gegessen zu haben.– Nach Tisch ruhten
wir uns ein wenig und dann ging Helene zum erstenmal (seit wie langer Zeit)
mit in den Weinberg. Zunächst die Graacher Straße entlang, dann
die alte Straße durch die Weinberge zurück. [Keller und Kelterei
hatte ich mit Josef schon vor Tisch bei Anton Tanisch’s besehen. Als wir
dort im Hofe standen, grüßte uns Frau v. Nasse noch recht freundlich
zu; gestern nacht bekam sie ihr 2. Kind, ein kleines Töchterchen]
Auf dem Heimweg suchten wir dann noch Frau Sieburg auf, die eine alte,
von Josef längst vergessene Tanzstundenflamme Josefs war. Vor vielen
Jahren war sie in Bonn in einem Pensionat gewesen und hatte an einem Cassebohm-v.Nolte-schen
Tanzkränzchen teilgenommen. – Natürlich gab es da allerlei Erinnerungen
an alte Tage und Bekannte. Wir tranken dann daheim Tee, plauderten bis
zum und über das etwas früher angesetzte Abendessen hinaus und
dann fuhr ich 750 mit Josef nach Wengerohr. Schon auf der Strecke bis dahin
machte sich Josefs Eisenbahn-Seekrankheit auf. Den 1½ stündigen
Aufenthalt auf dem Bahnhof dort benutzten wir zu fleißigem Auf- und
Abspazieren in der mondhellen und stillen Nacht. – Heute morgen kam ein
Kartenbrief an, daß er gut angekommen und sich schon wieder eingelebt
habe. Im Gedanken an einen
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Winter-Dauerfeldzug sei er unverzüglich an den Bau einer Kegelbahn
gegangen. Ich fand heute früh auf dem Amt gleich Gelegenheit, ihm
brieflich zu antworten.
Nachzuholen ist dieses:
Am Mittwoch, 13. war ich nachmittags mit Herta im Weinberg gewesen,
hatte Paul Thanisch abgepaßt und etwas mitgelesen, wobei Herta eifrig
mithalf. Auf dem Heimweg trafen wir Walter Thanisch, mit dem ich dann noch
vor Tisch zu ihrer Kelter gehen mußte. Er wußte, daß
auf Einladung Schönberg Frank Wedekind hierher kommen werde. Wir probierten
13er und 14er Weine und tranken einen wundervollen 11er Doktor aus der
Flasche. Donnerstag lernte ich dann Wedekind in Anton Thanisch’s Kelterei
kennen und denselben Abend trafen wir uns mit Schönberg, ihm und Walter
Thanisch in dessen Keller, wo wir fidel bis gegen ½ 3 zusammen waren.
Dies aber bekam mir schlecht. Freitag hatte ich von 11 Uhr morgens bis
5 nachm. den schönsten Kater. Gestern stellte ich fest, daß
besagter Wedekind 24. Juli 1864 geboren ist. Also kann er es doch gewesen
sein, muß sich aber stark verjüngt haben.
Alle sind sich darüber einig, daß man einen solchen Herbst
seit 1865 nicht mehr erlebt habe und schwerlich wieder erleben werde. Rechtsanwalt
Schönberg kaufte aus guter Erdener Lage Trauben, die ihm ein Ürziger
Besitzer (Jean Zinmahl) keltern und einkellern wird. Es wird sich auf noch
nicht 600 M das trinkfertige Fuder stellen. Ich möchte mich gern hieran
beteiligen. Ich schneide einen Bericht aus der Kölnischen Volkszeitung
aus, der sehr richtig ist.
Freitag, 22. X. 1915. Gestern abend, kurz nach Tisch, sagte sich Reinecke
von der Lenchen aus an. Er sah sehr frisch und wohl aus und konnte nicht
genug seiner Freude Ausdruck geben, nach 15 Monaten Kriegszeit mal wieder
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im Frieden und häuslichen Wohlbehagen zu sein. Er hatte seinen
Hausgenossen Sauer versprochen, sie abends noch zu sprechen und ging also
hin, kam ½10 zurück und unterhielt sich bis gen Mitternacht
aufs Beste mit uns. Heute morgen suchte er mich bei Gericht auf und wir
gingen zusammen zum Oberförster, wo wir uns bei zwei guten Flaschen
bis gegen ½2 festschwatzten. Dann aß er bei uns zu Tisch,
und Herta freute sich mächtig, die Trauben zum Nachtisch mit ihm essen
zu dürfen, holte sein Bild aus dem Nebenzimmer und war recht fröhlich
und schelmisch zu ihm. Eben begleitete er mich zum Garten und gleich werde
ich zu ihm zu einer Tasse Kaffee gehen.– Bei der Unterhaltung mit R. namentlich
auch beim Oberförster kam mancherlei Bemerkenswerte zu Tage: Sein
Divisionär Hausmann verschwand (im März 1915?) über Nacht
von seinem Posten. Kosch, v. Nasses Schwiegervater muß als Divisionsführer
in einer Schlacht bei Serres (? 21/22 Aug 14) alles durcheinander gebracht
haben, ebenso der Corpsführer v. Hausmann, so daß die Franzosen,
hätten sie es genau gewußt, uns dort hätten “vernichten”
können. Gehorsamsverweigerungen in der vordersten Linie kommen immer
noch vor. usw.
23. Okt. 1915. Heute war es ein angenehm und reich bewegter Morgen.
Pfarrer Storkebaum auf Wolf brachte Anleihe zur gerichtlichen Verwahrung
und ich unterhielt mich mit ihm aufs Beste. Er meinte, aus Nachrichten
unseres Freundes Kramm entnähme er dessen Enttäuschung über
seine Tätigkeit in Charlottenburg. Auf der Brücke begegnete mir
Reinecke, ich begleitete ihn zu Frau Thanisch, die ich schon vorher gesprochen
hatte. Wir gingen nochmals ins Kelterhaus und in den Keller, wo es eifrig
brodelte. Etliche Fässer waren schon “durch” und so wurde “Federweißer”
probiert. Ich begleitete Reinecke zur Bahn, wo er 1235 abfuhr.
Seite 61
Dort war auch Frau W. und brachte ihre Tochter Ellen, die als Frau
Treß vorgestellt wurde zur Bahn. Es ist eine schlanke Person mit
rassigem Profil, recht mager oder “dürr”, wie Rosa sagt. Gestern besprach
ich mit Reinecke seine Familien- und Halbfamilien-Angelegenheiten ganz
offen wie unter wackeren Freunden. Er ging dann noch mal zum Oberförster,
mit dem er in der Doctorstube einen Hasen zu verzehren gedachte. Leider
hatte Helene infolge des ungewohnten Weingenusses heftiges Kopfweh und
so gingen wir nicht zur Doctorstube, wo Reinecke noch allerhand Bekannte,
so auch Gescher getroffen hatte.– Am vorigen Sonntag waren Flieger in Trier
und warfen Brandbomben, trafen aber nichts. Oberförster Bauer hatte
auch dort in einen Keller gehen müssen. Husgen erzählte in der
Bahn, daß sie einen Schutter Lang (?) verfolgten aber nicht erreicht
hätten.
24.X.15. Sonntags nachmittag auf dem Liegestuhl, da schreibe ich jetzt
durchgängig. Eben ruft mich Herta von der Graacherstraße aus
an, und ich antworte durch einige Pfiffe. Die Sonne dringt durch dünnen
Nebel und läßt alles in leicht verschleierten tiefen und bunten
Herbsttönen aufleuchten. Zu Hause bin ich eifrig beschäftigt,
alle Verbindlichkeiten –wir haben nur kleine– zu lösen, um freies
Gesichtsfeld dafür zu bekommen, ob sich eine Winterkur in der Schweiz
für mich ermöglichen läßt oder nicht. Etwas blutig
gefärbter Auswurf heute früh war mir wieder ein rechter Mahner.
Gleichwohl fühle ich mich recht frisch und wohl. Bruhns schrieb sehr
niedergedrückt, daß sein Bruder Oskar zu 10 Jahren Zwangsansiedlung
in Sibirien verurteilt worden sei und per Etappe wie ein Verbrecher und
mit solchen dorthin gebracht werden solle. Fürchterlich. Ich habe
mich der Kölnischen Zeitung unter Mitteilung des Sachverhaltes zur
Verfügung gestellt, um solches und ähnliches Material zu Artikeln
zu verarbeiten, in denen für eine spätere Berücksichtigung
der Deutschrussen energisch Stimmung gemacht wird.
Seite 62
Es sollte mich von Herzen freuen, wenn ich damit etwas nützen
könnte. Welches Elend müssen gerade die Besten dort erdulden!
Jetzt sind die Serben so recht in der Verzweiflung. Wenn dem mordsüchtigen
Pack seiner Regierung und Drahtzieher dies von Herzen gegönnt
werden kann, so kann es einem um das Volk doch leid tun. Denn ohne Zweifel
wird seitens der mit Recht erbitterten Bulgaren der Krieg dort als Rassenkampf
mit Niedermetzelungen aller Art geführt. Das Volk geht dabei gewiß
z.T. zu Grunde. Kein Wunder, daß sie daher jetzt angesichts der mangelnden
Hülfe ihres Bundesgenossen mit dem Gedanken arbeiten, sich uns und
den Österreichern auf Gnade und Ungnade auszuliefern. England ist
anscheinend mit seinem Latein zu Ende: Zypern hat man den Griechen schon
angeblich angeboten. Das will für England gewiß etwas heißen,
wenn es auch für die Griechen u.U. nichts bedeutet. Rumänien
ist jetzt glücklich abgeklemmt und die Schweizer reden bereits davon,
in welcher Form die Mittelmächte Frieden zu machen gedenken, nämlich
mit jedem ihrer Feinde getrennt und allein. Italiener scheinen nicht recht
auf den Balkan zu wollen. In Saloniki muß es toll zugehen. Ich meine,
die Sache ist bereits diplomatisch für uns entschieden, militärisch
wohl auch bald. Hätten wir nur erst Riga und Calais noch. Mr. Casson,
ich denke mir darunter den Führer der irischen Ulsterleute, der wirklich
ein schneidiger und großdenkender Kopf zu sein scheint, ist aus dem
hin und her schwankenden englischen Kabinett ausgetreten. Mit dem “freiwilligen”
Rekrutierungssystem wird dort der letzte Verzweiflungsversuch gemacht.
Zwischen den Seiten 62 und 63 ist der Zeitungsausschnitt mit einer Karte
der Ostfront eingeklebt.
Seite 63
Reinecke wollte gehört haben, 18 (!) Armeekorps (einige ½
Million Soldaten) gegen die Serben auf den Beinen. Winckler sitzt, wie
seine Frau erzählt, wie auf heißen Kohlen. Er wechselt mit seiner
schweren Artillerie Kolonne mehrfach das Quartier und soll demnächst
Proviant für 10 Tage fassen. Da andere Kolonnen, die nach dem
Osten kamen, für nur 6 Tage Proviant faßten, so “hofft” er,
nach Serbien zu kommen. Was kann er dort und weiterhin im Orient noch alles
erleben. Man möchte ihn schon recht darum beneiden.– In Warschau hat
man nationalpolnische Theaterstücke aufgeführt, die bei den Russen
stets verboten waren.
Gegenüber ist die Lese der Anton Thanisch’schen Weinberge in der
Ley im Gange und auch heute wird dort eifrig gelesen. Gestern waren Helene
und ich mit Herta dort in der steilsten Lage. Die Trauben waren im letzten
Grad der Reife, die untersten an den reichbehangenen Stöcken bereits
in edle Fäule übergegangen. Wir sprachen lang und unterhaltsam
mit Frau Thanisch, die eifrig mit beschäftigt ist. Dann kletterten
wir nach oben, saßen lange an dem erwärmten Felsen in der Spätnachmittagssonne,
die dünn durch zarten Nebelschleier schien. Der Ausblick aus dem gelbbelaubten
Weinberg aufs Städtchen war entzückend. Nie aber meine ich in
meinem Leben köstlichere Trauben gegessen zu haben, als dort. Von
jedem Stocke hatten sie einen anderen Geschmack edelster Würze und
Süße. Die Hände freilich klebten einem heftig und Herta
war nicht wenig unglücklich hierüber.– Russische Kriegsgefangene
arbeiteten auch dort und junger Mann, den ich mit ein paar russischen Sprachbrocken
bewarf, redete unaufhörlich, ohne daß ich etwas verstand. Er
schien mir einen wohlgesetzten Vortrag über den Unterschied zwischen
russischem und deutschem Brote zu halten.
Seite 64
25.X.15: Regen, alles feuchtverhangen. Ich sprach Viktor Thanisch,
der seinen Vollbart nicht mehr hatte. Er erzählte von unglaublichen
Winterstrapazen und Märschen in den Ostseeprovinzen. Weihnachten feierte
er noch in Frankreich in vorderster Linie. Bald darauf von Tilsit los,
in Schneestürmen von 16-18° Kälte!–– Er hat was erlebt und
überstanden. Jetzt vor Dünaburg, wohin er Ende der Woche zurückkehrt.
26. Ein blaues Sonderblatt bringt eine böse Nachricht: Unser großer
Kreuzer Prinz Adalbert sank durch zwei englische Unterseebootschüsse
in der Ostsee, wenige der Besatzung nur gerettet. Die Engländer haben
also von uns gelernt. Mit Moltke hatte es vor einiger Zeit bei einem ähnlichen
Angriff gut gegangen. Der Kreuzer wird einen schweren Verlust unserer Hochseestreitkräfte
bedeuten, obgleich ich zu meiner Schande gestehen muß, daß
ich ihn nicht einmal dem Namen nach kannte.– Die Italiener rennen gegen
die österreichischen Stellungen seit einigen Tagen wieder in wahnsinnigen
Angriffen an, ohne größeren Erfolg, wie es scheint. Gegen die
Serben geht es blitzschnell vorwärts. Den Griechen, die selbst Cypern
verschmähten, halten jetzt die Engländer die Faust drohend unter
die Nase. Erfolg?– Nach dem trüben Regentag gestern –dem einzigen
in der heurigen Weinlese– scheint heute die Sonne von einem blitzblanken
Himmel, die Bergränder schimmern violettbraun, alle Hänge leuchtend
gelb, die Mosel dunkelblau gekräuselt durch einen kalten scharfen
Nordwind. Carl Liell sandte aus der Gegend von Ypern eine nette Karte;
sie sehen dort dem Winter mit Ruhe entgegen, besser dazu gerüstet
als voriges Jahr. Wann wird es enden?
Eingefügt ein Zeitungsausschnit mit der Frontlinie in Serbien.
Seite 65
17. Zahlreiche Einberufungen sind hier wieder erfolgt, alle zum 3.11.15.
so der Sohn Geller, Gerichtsdiener Grohn, Seiler Hundemer. . . Der Verlust
des Kreuzers geht allen nahe, doch spricht man kaum davon. Heute ist nach
feuchtem Nebel ein mildwarmer Tag geworden. Es soll noch “Adventsgemüse”
auf dem Felde gepflanzt werden. Frau Thanisch begegnete mir heute und lud
mich ein, zur Badstube zu kommen, wo heute gelesen wird. So werden wir
heute nachmittag dorthin pilgern. Josef schrieb und sandte 2 hübsche
Postkarten. Die Kegelbahn hat er bald fertig. Brenneisenstempel läßt
er mir schneiden. Bildhauer hat er keinen, so daß es nichts mit einem
Lüsterweibchen ist.– Es tobt immer noch ein wütender Angriff
der Franzosen gegen unsere Westfront; jetzt in der Champagne am heftigsten.
Wann endlich werden die Franzosen ein Einsehen haben? Jetzt werden die
18jährigen als letzte Reserve bei ihnen einberufen. Auf dem Balkan
geht es mächtig voran. Die Bulgaren haben bereits Üsküb
in Mazedonien und stehen im Nordosten auf 45 km den unsrigen nahe. Was
wird es geben? Die Griechen lehnten ein Eingreifen zu gunsten unserer Gegner
abermals ab.
27.X.15. Der Weinbergsbesuch in der Badstube gestern war sehr erfreulich.
Es war lachender Sonnenschein, über Kallenfels standen breite Wolken
und der Rebenhügel schimmerte goldgelb. Dazu prächtige Aussicht
auf Altenwald, Burgkopf und Mosel mit dem Städtchen unten. Der Trauben
war auch dort die reichste Fülle. Es war recht steil hinaufzuklettern,
zumal hinter dem Ende der Bodentreppe quer über den dort sehr reichlich
liegenden Schiefer. Helene kamen ihre Nagelschuhe, die sei erstmals seit
unserer Schweizerfahrt anhatte, sehr gut. Sie kam gut hinauf. Herta fiel
es sehr viel schwieriger. Wir unterhielten uns unten mit Paul, oben mit
seiner Mutter und gingen den Pellesteg, dann über eine lange Treppe
hinunter, fanden unterwegs auch noch “Mausohr”-salat zum Abendtisch.– Heute
ist es wieder trüb. Viele glauben, der Krieg ginge doch noch vor dem
Winter zu Ende. Ich glaube es nicht.
Seite 66
29.X.1915. Der blaue Anschlag mit der bösen Nachricht über
unseren Kreuzer Prinz Adalbert (er war 1901 erbaut und hatte 7000 t) ist
heute abgelöst durch einen roten mit der erfreulichen Nachricht, daß
die Bulgaren die serbische Festung Tiros genommen und sich damit wohl den
Anmarsch vor Serbiens 2. Hauptstadt Nisch freigemacht haben. Im Nordosten
trafen Österr.-Deutsche mit den Bulgaren bei Milutinowatz zusammen.
Man wird sich das zu merken haben. Wird damit der Weg für eine neue
Wirtschaftseinheit von der Nordsee nach dem Persischen Meer oder noch mehr,
vielleicht der durch keine Seeübermacht mehr bestreitbare Landweg
nach Afrika und dem äußersten Osten frei? Wer kann es wissen?
Den Engländern schwant böses. Heute ist es ein stiller kühl
trüber Novembertag. Gegenüber auf der Graacherstraße wird
in einem Weinberg noch fleißig gelesen. Gestern machte ein Fischer
mit dem Wurfnetz reiche Züge. Es sind drei strenge Fasttage von der
kirchlichen Behörde angeordnet worden und da kommen die Fische gerade
recht; denn Abstinenz und Fasten werden keineswegs getrennt. Helene war
gestern bei Frau Kreisarzt Dr. Knoll auf einen “Kaffee” und erlebte dabei
die Genugtuung, mit einer leichten weißen Seidenbluse und einem sehr
chiken schwarzen oben stark gekräuselten Seidenrock einen unbestrittenen
allseitig anerkannten “Sieg” davonzutragen, der ihr gar nicht im Sinn gelegen
hatte. Im übrigen fand sie Ton und Unterhaltungsstoff des Kaffeeklatsches
sehr beschränkt und kleinstädtisch-spießbürgerlich.–
Na, sie ist wohl zu lange außerhalb derartiger Unterhaltungen gewesen,
um sich so bald darauf wieder einschrauben zu können.
30.X.15. Wieder ein stilltrüber Tag. Nur mittags kam die Sonne
etwas zum Vorschein. Es ist ein ununterbrochenes heftiges Trommelfeuer
zu hören, bei dem sich verschiedene Geschützgrößen
Seite 67
deutlich unterscheiden lassen. Auf dem Felde setzte ich schöne
Rosen- Weißkohl- und auch Wirsingpflanzen, die ich von Gerichtsdiener
Friedrich bekam. Die Händler kaufen bereits in Ortschaften wie Gornhausen
das Wintergemüse auf. Weiskohl kostet dort 3,40 pro 50 kg. Ein Vormund
von dort, der heute vorsprach, wird mir in nächster Woche solches
von dort besorgen. Wir wollen dann Sauerkraut einlegen. Friedrich geht
heute auf den Kuhhandel, der noch neue Gesichtspunkte erhielt durch das
vorsprechen eines 20jährigen Lieserer Mündels, der am Mittwoch
eintreten muß, während am Donnerstag Viehmarkt in Wittlich ist.
Da er eine große trächtige Kuh daheim hat, gedenken die Viehjuden
natürlich einen Schnitt zu machen, ich jedoch diesen ein Schnippchen
zu schlagen. 540 M sollen sie ihm geboten haben, er verlangt 630 M!!– Paul
Thanisch erzählte, daß der Bruder seiner Frau durch den Tod
erlöst ist. Für die hart betroffene Familie eine wahre Erlösung.
Ich hatte heute Zahltag und manche Zahlungen zu besorgen. Ich überschlug,
daß ichgut 2 Monate zur Kur nach der Schweiz gehen kann, ohne daß
wir uns sonderlich einzuschränken brauchen. Von einem Collegen aus
Saarlouis hat Scherer wieder allerlei gehört: Von 3 Lebacher Richtern
sind 2 für unabkömmlich erklärte Felddienstfähig einberufen
worden. (Meine Ahnung: schließlich bin ich der einzige hier) –
31.X.15 Die Russen verloren in den letzten Tagen zwei Linienschiffe
vor Warna durch deutsche Tauchbootschüsse; den Engländern strandete
ein Kreuzer Argyll und wir verloren den “Prinzen Adalbert”. Die Griechen
werden –augenscheinlich infolge der Rückversicherung mit Bulgaren,
Türken und uns– energisch und in Saloniki soll die Landungskomödie
der Franzosen-Engländer mit der Wiedereinschiffung eine neue Wendung
bekommen, die Serben scheint das Geschick zu ereilen, das man uns im Sommer
1914 freundlich zugedacht hatte: Von allen Seiten von der Übermacht
angegriffen, wird es wohl überrannt.
Seite 68
Im Osten haben die Bulgaren die Front bereits zerrissen, von Süden
kommt keine rechte Hilfe. Vom Norden und Westen rücken Deutsche und
Österreicher heran. Es sollen diese zusammen doch 15 Armeekorps dort
haben, wie mir gestern v. Nasse nach Bericht seines Schwiegervaters Kosch
bestätigte (womit also Reinecke recht gehabt hätte). Er wußte
auch aus einem Einzelfall, daß schon deutsche Truppen von dort wieder
weggezogen wurden. Im englischen Unterhaus drückte sich ein Minister
merkwürdig um die Antwort auf eine Frage nach englisch-deutschen Friedensverhandlungen
herum. Seltsam, daß gerade die Balkanvölker berufen zu sein
scheinen, unseren Gegner entgültig zu beweisen, wer Sieger in diesem
Kriege bleibt. Die Engländer werden wohl in echt englischer Selbstsucht
ihre Stellung am Suez-Kanal möglichst stark zu machen suchen und ihre
Truppen dorthin ziehen. “Dienst”pflicht ist bei ihnen nur noch eine Frage
der Zeit. Daß ihr König bei einem Ritt auf der flandrischen
Front vom Pferd fiel und sich erheblich verletzte, möchte einem fast
als symbolisches Zeichen vorkommen.
1. Nov. 1915. Ein trüber Regentag mit halbwarm und halbkaltem
West. Die Weinberge sind gelb mit violettem Schimmer. Dicht vor dem Gartenhaus
tummelt sich eine Kette kleiner Duckenten lustig in der Mosel. Es ist sonst
seltsam still – nur der Wald rauscht fern im Wind. Ab und zu hört
man fernen Kanonendonner leise pochen. Ich las in des Knaben Wunderhorn.–
2.XI. 1915. Allerseelenstimmung, trüb, feucht, Wind und Wolken.
Den Serben geht es schlecht. Krajusevac haben wir jetzt genommen. Fest
sind sie allerseits umklammert. Ob sie denn kapitulieren? Die wackeren
Emmenthaler Nachrichten, von denen Bruhns eben einige Nummern sandte,
Zwischen den Seiten 68 und 69 sind wieder Zeitungsausschnitte eingeklebt.
Seite 69
bringen unter dem 26./X einige genaue Angaben, nach denen König
Nikita bereits bestrebt sei, mit Wien sich in die serbische Erbschaft zu
teilen. Alle Neutralen loben und bedauern die mutigen Serben, wohl alle
in der Erwartung, daß sie baldigst Ruhe geben und mit dem Friedenschließen
den Anfang machen. “Mindestens 150000! Mann” kostete die jetzt allmählich
abflauende III. große italienische Offensive, so sagen die Österreicher.
3.11.1915. Höchstens ½ Jahr dürfte der Krieg dauern,
sollte er in diesem Anschreibebuch noch zu Ende gehen. Eine wichtige Höhe
bei Tahure, der Haupterfolg des letzten großen französischen
Angriffs ist von uns zurückerobert worden. Joffre war in London, warum
wohl? Heute sind die zuletzt einberufenen, ehemals Untauglichen eingetreten.
Helene hat leider wieder unter heftigem Zahnweh an den Schneidezähnen
zu leiden. Gestern abend besuchte ich Dr. Schmitz und unterhielt mich mit
ihm und seinen Eltern bei einigen Gläschen federweißen “Rosenbergers”
ausgezeichnet. Es stellte sich heraus, daß er von Freiburg her den
Russen Petrutskewitsch (?) gut kennt, der dort sehr interessante mikroskopische
Untersuchungen über Bieneneier machte und die alten Erfahrungen Dzierzon’s
(?) bestätigt fand, natürlich Gegner von Dukel. Auch über
Kriegsbeschädigte unterhielten wir uns des längeren. Die Ärzte
hatten sehr viel gelernt im Kriege. Eine Reihe Frakturen, die anfangs noch
zu Versteifungen der Gieder führten, behandle man heute dergestalt,
daß die Leute wieder dienstfähig würden. Schließlich
zeigte der Vater einige prächtig lila blühende Blumen, von denen
bei Kesten ganze Felder jetzt in üppigster Blüte ständen
und von den Bauern als Futter gehauen werden. Ich sprach sie als Phagelia
Aenazetifolia an, Schmitz meinte, es sei eine Heliotrop-Art.
Seite 70
4.XI.15. Heute gabs mal feste zu schaffen von 8 - 1 Uhr und noch nicht
fertig. Ein Gornhausener Bauer brachte Gemüse. Der Zt. Weißkohl
kostet 4 M statt 2,10 M Höchstpreis. Machte ich mich strafbar? Gestern
abend hatte ich Herta zu Thanischs gebracht, wo sie mit der kleinen Ellinor
von Anton Th. spielte. Im Keller wurde das Fuder N° 100 bei Blitzlicht
aufgenommen mit der Kleinen obenauf. Sie werden wohl 103 bis 104 Fuder
gelegt haben. Es will noch nicht recht hell heute werden. Bruhns sandte
Brief mit ausführlicher Vorstellung des Prozesses seines Bruders;
er ist wohl zu lebenslänglicher Zwangsansiedlung verurteilt.
5.XI.15. Aus der langatmigen Rede des englischen Ministerpräsidenten
Asquith hat man den Eindruck, als ob dieser gerissene Advokat unter der
Maske des Biedermanns sich von einem noch gerisseneren Fuchs für überrumpelt
halte, nämlich jenem schlauen Kreter Weniselos, der so eng mit dem
Viererbund befreundet war und diesem die Hilfe Griechenlands versprach
–worauf die Engländer sich verließen– und dann –– stürzte,
womit die Engländer auf dem Balkan blamiert waren. Den Serben geht
es täglich schlimmer. Der Simplizissimus brachte bereits eine schwarz-weiß-rot
bemalte Pyramide mit einem feldgrauen Musketier als Wache, der einen Geierkopf
trägt, wie eine altägyptische Gottheit dargestellt wird. Das
Ganze als “Alpdruck der Engländer”. England gerät immer mehr
in die Defensive.
9.11.15. Unser kleiner Kreuzer Undine wurde in der Ostsee das Opfer
eines englischen Tauchbootes, und unsere Tauchboote versenken im Mittelmeer
immerzu feindliche Schiffe. Nun ist den Serben auch ihre 2. Hauptstadt
Nisch genommen. Es bleibt ihnen schließlich nur noch der Rückzug
nach Montenegro oder Albanien. Sie müssen fest büßen. Lord
Kitschener aber –der englische Kriegsminister– verduftet plötzlich
aus London. Was bedeutet das?
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Geht es doch mit der allgemeinen Dienstpflicht nicht recht voran? In
Griechenland wird im Ministerium und Parlament mal wieder: “Bäumchen,
Bäumchen, wechsle dich” gespielt. Der König aber und seine feste
Hand bleiben. Eier, Hülsenfrüchte, Mais und andere nützliche
Dinge sollen wir von den Bulgaren jetzt bekommen. Die “edlen” Bulgaren,
die mit 3 Ernten über dem Hals im Getreide stecken, wollen jetzt den
grotesken Versuch machen, es über – Rußland (!!) zu verkaufen.
Bei ruhigem Abwarten fällt uns da wohl noch eine fette Beute in den
Hals. Schweine-Höchstpreise sind ab 12. Nov. festgesetzt. Folge: Preissturz
am Kölner Schweinemarkt und eifriges Anbringen auch fetter Schweine,
blieben aber an 3000! Stück unverkauft. 2 fleischlose Tage machen
sich bemerkbar. Mich interessiert der Höchstpreis von 90 M per 50
kg Lebendgewicht vom Schwein bis 80 kg Gewicht.– Der Butterkrieg tobt immer
noch, die Behörden gehen jetzt stramm vor. (Siehe eingeklebte Zeitungsausschnitte).
Wir bekamen wieder mal 5 kg, diesmal hochfeines weißes Weizenmehl
zu 48 Pf per Kilo. (das 2. mal). Mit Helene besahen wir uns gestern das
Haus Schnittgen am Wehlener Weg, das 1 Jahr leer steht. Hätte ich
die Gewißheit, noch einige Jahre hier zu bleiben, so zöge ich
hinein, hätte freigelegene Wohnung, Garten, Acker, alles wie ich es
wünsche. Fehlt nur noch gedeckte Liegehalle. Von Bruhns hatte ich
mehrere Briefe. Sein Vater, von Oskars Zwangsansiedlung bis ins Herz erschüttert,
will sich zur Ruhe setzen. Einziger Lichtblick: Sie hatten vorzügliche
Ernte.
10.XI.15. Den Serben geht es immer schlimmer. Auf Griechenland brauchen
unsere Feinde schon nicht mehr zu rechnen.
Seite 72
12.XI.15. Seit zwei Tagen sitze ich wie eine kranke Eule mit gesträubtem
Gefieder mit heftiger Erkältung zu Hause und erfreue mich an scheußlichen
Zahnneuralgien; draußen toben nasse Novemberstürme. Es ist abscheulich.
Das einzig Erhebende ist die Zertrümmerung Serbiens und die anscheinend
nunmehr recht ernstliche Bedrohung des englischen Weltreiches: Kitchener
soll also jetzt nach – Indien! Da wäre ja mehr als man zu hoffen wagt:
ein allgemeiner Aufstand? Die Nachricht kommt aus Amerika. Dort hat man
vielleicht (ähnlich wie wir es 1866 es gern sahen, daß Österreich
von Italien geschwächt wurde) seine heimliche Freude daran, daß
England politisch kleiner wird. Finanziell hat man es ja schon recht fest
in der Hand. Also könnte es mal der kleinere angelsächsische
Bruder des Amerikaners werden. – Jetzt verstehe ich den Jammer erst recht,
den 2 englische Lords kürzlich im Oberhaus anstimmten über die
Greuel der Verwüstung des Krieges und die Schönheit des Friedens.
Nur müßten sich die Deutschen noch an den Gedanken gewöhnen,
daß sie von England keine Kriegsentschädigung erwarten könnten
(aha!) und auch aus Belgien und Frankreich zurückgehen müßten.
– Seltsam trifft sich hiermit die Nachricht, daß die Eingeborenen
in Tripolis den Italienern schwere Schlappen beibrachten. Sollte wirklich
die Welt des Islams allgemach in Bewegung geraten? Dann wäre es bald
zu Ende mit Frankreich und – England! Na, so schnell wird es ja wohl noch
nicht kommen. Aber sorgenschwere (Wort fehlt) haben die Engländer
jetzt schon, das merkt man an manchem.
Reinecke fuhr gestern mittag aus seinem Urlaub zur Front zurück.
Tags zuvor war er nachmittags hier angekommen, hatte mich bei Gericht aufgesucht,
mich abermals zum Oberförster und dann zu Schönberg geschleppt.
Hier blieben wir beide zum Abendbrot und unterhielten uns aufs beste. Den
notwendig kommenden großen Wirtschafts- und Staatenverband: Deutschland
- Österreich - Türkei - Bulgarien (vielleicht auch Holland, Schweiz
und sonstige Neutrale mitsamt den Skandinaviern) konnten wir R. nur sehr
schwer in den Kopf kriegen: Er wollte hartnäckig wissen, in welcher
“staatsrechtlichen Form” irgendwelche Angliederungen stattfinden sollten.
Als wenn es bei der jetzt allgemein üblichen Verkrustung und Kartellierung
der ganzen Erde auch noch sehr auf “Form” ankäme. Einzig die Einverleibung
Kurlands als neue Provinz in Preußen schien ihm ganz und ein halbsouveränes
Königreich Polen halbwegs klar zu sein. Ob Polen an die Habsburger
Krone kommt? Mir will es nicht so scheinen.––
18.11.15. Heute schneits bereits den ganzen Tag. Wir hatten schon etliche
Nachtfröste und auch schon einmal geringen Schneefall. Natürlich
schmilzt in der warmen Talsohle alles bald wieder weg. Eben aber bleibt
er liegen. Vor Tisch sah ich Anton Thanisch, der infolge Verschiebung seines
Regiments einige Tage Erholungsurlaub hat. Er sieht sehr viel weniger gut
aus als bei letztem Hiersein.– Seit 1 Woche ist wieder besonders starker
ununterbrochener Kanonendonner zu hören. Während die Kinder und
ich den Schnupfen so ziemlich los sind, leidet Helene immer noch stark
an einer Erkältung und Husten.
19.XI.15. Es ist trotz recht hohen Barometerstandes trübes Wetter,
der Himmel
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mit Wolken und Dunst grauverhangen. Der Schnee scheint oben fest und
hoch zu liegen. Sämtliche Weinhänge sind durchaus schneefrei.
Helene geht es besser, doch hat sie noch empfindliche Rückenschmerzen
und bleibt vernünftigerweise zu Bett. Herta fuhr heute früh mit
Frl. Hedwig nach Cues, das Mehl zur Bäckerin bringen. Das brachte
sie natürlich darauf, daß sie vielleicht nächstens mit
mir nach Bonn fahren soll: Ich meldete mich zu einem 3tägigen Kursus
der Kriegsbeschädigten-Fürsorge nach Düsseldorf. Antwort
steht noch aus. Ich würde dann gleichzeitig einige Tage nach Bonn
gehen.– Das Schießen ist unaufhörlich zu hören. Die Serben
scheinen bald festgedrängt zu sein. Die Saloniker Expeditionstruppen
haben augenscheinlich gar nicht den Zweck, ihnen zu Hilfe zu kommen, sondern
sollen vermutlich nur unsere Verbindung zum Orient stören. Im englischen
Unterhause hat man auch mal vom Frieden geredet und die “Rückgabe
Elsaß-Lothringens und Polens” als “Kriegsziel” bezeichnet. Ob Russen
und Franzosen noch lange auf solchen Köder zubeißen? In Persien
vollzieht sich augenscheinlich eine allgemeine Schwenkung gegen Rußland
und England, zu unseren Gunsten. In Indien soll es stellenweise bös
aussehen und den Japanern mißtrauen dort auch die englischen Bundesgenossen.
Griechenland wird durch allerlei Erpressungen allmählich anscheinend
auf unsere Seite gedrängt. Schon beschlagnahmen die Engländer
griechische Schiffe. Könnten wir nur erst mal an Egypten heran. Churchill,
der Luftikus, ist abgegangen.
Zwische Seite 74 und 75 eingeklebt: Zeitungsausschnitt “Unsere Kriegsbeute”
Seite 75
20.XI.15. Jetzt hats auch in unserem Hause eingeschlagen: Frau Alf
teilte mir gestern abend, heftig erregt, mit, daß Carl’s (Liell)
Bursche geschrieben habe, er sei verwundet. Mehr wisse er nicht. Natürlich
sind Mutter und Tante sehr aufgeregt. Ich schrieb gleich an Johannes (Rech,
Johannes), der ja Verwundeten-Transportwesen in Brüssel leitet, er
möge Feststellungen versuchen und drahten. Auch schrieb ich Formularkarten
an die Zentralauskunftsstelle Berlin und sandte beides den Frauen gestern
abend.
Trotzdem sie wegen Rückenschmerzen keine gute Nacht hatte, ist
Helene heute doch aufgestanden. Über Frau Balma’s Tod schrieb ich
gestern an Hemi van Felde in Amsterdam. Nachdem der 3. große Angriff
der Italiener abgeschlagen ist, versuchen sie jetzt einen (letzten?) Angriff,
vermutlich um der äußerst zugespitzten Lage auf dem Balkan auch
ihrerseits gerecht zu werden. Auf dem Balkan selbst einzugreifen, scheint
ihnen noch immer die Lust zu fehlen. Im Mittelmeer sind unsere Uboote jetzt
wieder sehr rührig. Eins versenkte einen größeren englischen
Hilfskreuzer, versenkte durch Geschützfeuer im Hafen von Sollum (Egypten
- Tripolis) 2 Boote und erbeutete Geschütze von feindl. Handelsdampfer.
Wie mag letzteres hergegangen sein? Die Americaner haben wieder Gelegenheit
zum Notenwechsel, da ein österr. Uboot einen großen italienischen
Personendampfer Ancona mit Passagieren versenkte, natürlich auch 1
Dtz der unvermeidlichen Americaner. (2 Mill. Lire in Gold nach Frisco!)
22.XI. Seit gestern haben wir strahlend blauen wolkenlosen Himmel.
College Liell ist heute nach Trier zum Bezirkskommando befohlen, hoffentlich
findet
Seite 76
man ihn nicht felddienstfähig. Unser Landgerichtspräsident
ist abgegangen; schade, er war ein recht angenehmer Vorgesetzter. Heute
ist Kontrollversammlung hier, das Gestade stand voller Menschen, viele
Bekannte darunter. Paul Thanisch und ich sind fast die einzigen mit graden
Gliedern, die die nicht dabei waren. Nach einer Äußerung unseres
Landtagsabgeordneten Veltin soll dem künftig zusammentretenden Reichstag
die Erweiterung der Landsturmpflicht bis 52 (50?) Jahre vorgelegt werden.
Ohm Gottfried behält also schließlich recht damit: “Salls sehn,
me komme noch all dran, dä Preuß jit net noh!” Ja, so wirds
wohl noch kommen. Selbst in Rußland werden die D.U. gemustert und
das letzte Aufgebot ist schon erfolgt. Die D.U. Musterung scheint dort
namentlich in industriellen Kreisen stark einzuschneiden. Die Serben sind
jetzt aus ihrem eigentlichen Vaterlande herausgedängt und nur 3erlei
steht ihnen offen: Endkampf auf dem berühmten Amselfeld, Flucht nach
Montenegro, wo der Hunger grinst, oder Übertritt nach Griechenland,
wo man entwaffnet wird, wie die wackeren Griechen allen Viererbunddrohungen
zum Trotz neulich nochmals versichert haben. – Aus einem (vom Compagnieführer
wie stets zensierten) Brief eines Wehrmannes Müller an Helene spricht
außer großer Kriegsmüdigkeit und grenzenloser Sehnsucht
nach Heimat, Frau und Kind auch starke Erbitterung gegen die, die am Krieg
verdienen. 8 Monate liegt er jetzt schon vor Verdun im Schützengraben.
Daß das die Leute aushalten! In Wolhynien ist ein Druchbruchsversuch
der Russen abgeschlagen worden.
Seite 77
24.XI. Leider sind die schönen strahlenden Tage mal wieder vorbei
und vom trüben Himmel tröpfelt es in kaltem Regen. Helene hatte
wieder eine sehr schlechte Nacht und ist durch mehrtägige erneute
Anfälle ihres nervenaufreibenden Leidens wieder arg geschwächt
und mutlos. Sie hat sich entschlossen, übermorgen mit mir nach Bonn
zu fahren und den dort in Urlaub weilenden Dr. Trebes zu Rat zu ziehen.
Gestern besuchte ich Frau P. Th. und ich holte sie abends dort ab. Schade,
daß es ewig nicht besser mit ihr werden soll. Der Himmel ist trostlos.
Wie muß es jetzt einem Serben zu mut sein? Allerseits schmählich
im Stich gelassen kämpfen sie bis zum Äußersten mit heftigen
täglichen Verlusten. Die Engländer führen gegen die Griechen
schon sozusagen Krieg.– Unter dem grauen Himmel liegen die Berge jetzt
in dunklem Braunviolett. Alles trübe und traurig.
25.XI. Wieder alles trüb, am Himmel jagen sich die Regenwolken,
eintönig rauscht oben der Thanischwald auf der Höhe und aus den
Wingerten hört man das ununterbrochene Knipsen der Rebenscheren, mit
denen die Stöcke beschnitten werden. Alles aber übertönt
–selbst das entfernte Lärmen der Straßenjugend– das dumpf erschütternde
Gepolter der fernen Geschütze und Minenfeuers an der Grenze. Dr. Brockes
aus Zeltingen untersuchte mich heute morgen und fand ganz richtig die linke
Seite als den Hauptsitz meiner Lungenkrankheit. Mit Paul Th. sprach ich
gestern abend beim Billardspielen nach Tisch auch über Winterkur.
Er will halben Januar bis Mitte März weggehen. Ich finde das auch
noch am besten. Heute morgen hatte ich es mit einigen Kriegsbeschädigten
zu tun, denen leicht zu helfen war. Dagegen geht mir ein sehr abgemagerter
ganz gelber leberkranker Unteroffizier nahe, der kaum mehr etwas tun kann
und
Seite 78
begonnen hat, seine Musestunden mit Sticken auszufüllen. Leider
ist er noch körperlich viel zu schwach, als daß er darin besonders
ausgebildet werden könnte.
4. Dezember 1915. Eine ganze Woche waren Helene, Herta und ich weg.
Heute bin ich erstmals wieder auf dem Gartenliegestuhl. Fast unheimlich
dumpfe und feuchte Wärme, die Mosel geht hoch und lautlos schnell,
breit, dunkelbraun gänzend. Am Himmel jagend silberglänzende
weiche schwere Regenwolken, die Berge schillern vom leuchtenden Braun bis
zum samtartigen tiefdunklen Purpur. Was haben wir in den Tagen vieles erlebt,
gesehen und gehört. Wir sind noch so voller Eindrücke, daß
sich alles ungeordnet durcheinanderschiebt. Nur das Gefühl einer großen
geistigen und körperlichen Erfrischung ist noch sehr lebendig, wenn
auch schon durch das unnatürlich warme erschlaffende Wetter bedroht.
Vor allem ist Serbien jetzt völlig erledigt. Gestern sah ich in Bonn
in schneller Fahrt einen Zug durchfahren, der ein Regiment oder einen Teil
desselben zu befördern schien. Ich hatte die bestimmte Vorstellung,
es seien Truppen, die aus Serbien nach Flandern fuhren. In Flandern soll
nämlich wieder allerlei im Gange sein. Selbst – Bulgaren sollen auf
dem Wege nach dort sein!– Ich war 3 Tage in Cöln und fuhr täglich
nach Düsseldorf. Stets waren beide Bahnhöfe mitunter ganz dicht
mit Feldgrauen besetzt. Es war mir erschütternd, eine neu ausgebildete
Kompagnie in guter voller Ausrüstung mit Musik zum Bahnhof marschieren
zu sehen, lauter Leute gesetzten Alters. Ich war eine Zeitlang mitten unter
ihnen und kam mir doch recht wenig achtenswert vor. In Düsseldorf
tagten wir
Seite 79
in dem prächtigen Ständehaus in einem schönen langen
Saale mit etwas weichlichen aber angenehm wohllautenden Wandbildern von
Adolf Münze (?) (1911 gemalt), die ich mir als Ruhepunkt der Augen
oft lange betrachtete. Ich lernte verschiedene Menschen und manches Neue
kennen, das mir für die Berufung der Kriegsbschädigten vorteilhaft
sein wird. Bei Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) wohnte ich fürstlich,
alles kommt mir jetzt ganz traumhaft vor. Hier gab es gleich wieder feste
zu tun und das ist gut. Denn das Wetter ist trostlos. Unaufhörlich
gießt ein weich-warmer Segen herunter.
Sonntag, den 5.XII. Die dumpfe Schwüle von gestern löste
sich diese Nacht in einem kurzen heftigen Gewitter. Heute ist ein leuchtend
schöner, milder Frühlingstag, der die Bienen aus den Stöcken
lockt, keineswegs zu ihrem Vorteil. Ich habe alle Sachen auf dem Amt in
der Kriegsbeschädigten-Fürsorge –K.B. lehnte in Düsseldorf
ein Crefelder Dr. Horst mit Recht ab– Kartoffel-Brei liegt zu nahe und
man wird es nicht mehr los– beigearbeitet und fühle mich wieder freier.
Heute vor 8 Tagen besuchten Helene und ich Freund Heinrich Schneiders,
den wir zu Vaters Reitmeisters Geburtstag am 9. März 1915 im Urlaub
zuletzt gesehen hatten. Wenige Tage nachher wurde er bei jener schweren
Minensprengung im Priesterwalde verletzt. Von seinem 45st. Zuge waren noch
8 Mann übrig. Über diese Sprengung hat man schon viel geredet
und am Dienstag sprachen wir in Düseldorf im Restaurant Lennartz mittags
wieder bei Tisch davon. Heinrich sah zwar
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wohlbeleibt, aber doch sehr angegriffen aus: Er hat öfters und
meist nachts heftige Fieberanfälle bis 41°C, die mehrere Stunden
dauern und ihn sehr erschöpfen. Dann wieder 36,7°! Die riesige
Wunde am Oberschenkel, Gesäß und Darm, die er uns zeigte, war
bis auf ein kleines Ende gut verheilt. Es muß ein riesiger Schnitt
und Stoß in das Bajonett gewesen sein; von dem mitverletzten Darm
aus wurde die Wunde stets verunreinigt und so hat er jetzt wohl auch noch
allerhand fiebererregende Bacterien im Leibe. Nun ist sein Bruder Wilhelm
so plötzlich ein Opfer seines Berufes geworden. Ein diphteriekrankes
Kind hustete ihn an, seine empfindlichen Schleimhäute infizierten
sich und trotz baldiger Serumbehandlung erkannte er die Hoffnungslosigkeit
seines Zustandes. Liesel Schn. war schon bei ihrer Schwägerin, als
“Wilhelmchen”, wie wir ihn so gern nannten, noch nicht ganz hin war. Das
1jährige Töchterchen brachten sie für die ersten Tage in
ein Säuglingsheim. Montag wurde er dann bei halsbrechendem Glatteis
auf dem Poppelsdorfer Friedhof, ohne daß einer seiner Brüder
dabei sein konnte; denn Franz liegt seit der D.U.-Musterung mit schmerzhaftem
Rheuma zu Bett. Trotz der wahrlich trüben
Seite 81
und traurigen Stimmung sollen die wunderlichen Bewegungen der nicht
wenigen Teilnehmer auf den ansteigenden vereisten Wegen stark zum Lachen
gereizt haben. Weinen und Lachen wohnen oft sehr nahe beieinander.– Wir
hatten uns noch nicht sehr lange mit Heinrich an jenem frostigen Wintermorgen
= wir waren in schneidend eisigem Wind zu Fuß über die Rheinbrücke
dorthin gepilgert = unterhalten, da kam ihn sein gerade beurlaubter Hauptmann
Ruhr besuchen, der jetzt eine “hohe Hausummer” zeigte (346?) Die früher
selbständigen Landwehr Bataillone sind neuerdings zu Regimentern zusammengestellt
worden. Dieser recht jugendlich aussehende Herr erzählte mancherlei
Interessantes. Sie hätten jetzt 6 m unter der Erde geräumige
Unterstände, in denen sie gegen normale Artillerie ganz gesichert
sich aufhalten und schlafen könnten. In Artillerie seien wir jetzt
dort –im Priesterwald– den Franzosen stark überlegen. Wie man es dort
vorigen Winter dort 3 Monate lang in offenen schmalen Gräben habe
aushalten können, sei jetzt jedermann schleierhaft und doch habe man
damals eine sehr viel gehobenere Stimmung gehabt als heute. Der jahrelange
Stellungskrieg zerre und zehre gewaltig an den Nerven. Freund Reinecke,
den K.G. Rat, kannte er natürlich gut und jener General Junk, den
er wegen vorsätzlicher
Seite 81
Körperverletzung vor ein Kriegsgericht ziehen wollte (das S. M.
der Kaiser erst hätte zusammenberufen müssen) ist sein Vorgesetzter.
Prächtig war eine Schilderung, wie in seiner Gegend an einem hellen
klaren Tage auf einem Abschnitt ein glänzender Sturmangriff auf die
überraschten französischen Stellungen über mehrere Linien
vorgetragen wurde, bei dem der französische Bataillonsstab und viele
Leute gefangen wurden. Unsere Leute aus dem benachbarten Abschnitt hätten
sich diesen Angriff von Brüstungen ihrer Gräben pfeifeschmauchend
in aller Ruhe angesehen, ohne von feindlicher Artillerie oder Infanterie
dabei gestört zu werden. – Hiervon morgen mehr. Heute vormittag erlebte
ich eine rechte Freude: einmal das frohe Leuchten bei Frau Thanisch, als
ich ihr erzählte, wie ich mehrmals ihre Heimat, Fabrik, Wohnhaus und
Garten in Langenfeld gesehen hätte, und zum zweiten, als Herr Koch
mir erzählte, daß sein Sohn Rudi, Frau Louis Hauth’s Halbbruder
das Referendarexamen glücklich bestanden habe. Nota bene: Die Engländer
haben eine anscheinend recht kräftige Niederlage einen Tagemarsch
vor Bagdad erhalten, bis wohin sie sich so allmählich im Laufe eines
Jahres beiderseits des Tigris und Euphrat heraufgearbeitet hatten. Diese
Niederlage von Ktesiphon scheint ihnen schwer in den Knochen zu liegen.
Der Rückzug ist dort
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bedenklich, denn die Araber und sonstige Eingeborene schließen
sich den siegreichen Türken gewiß an, schon um Beute zu machen
und hieran scheint’s diesmal nicht zu fehlen. Vermutlich bringen deutsche
Offiziere die Sache dort in Schwung. Hoffen wir das Beste aus dieser günstigen
Verbindung für den großen Angrif auf Egypten. Wie hieß
der französische General, der für eine von ihm frei zu bildende
Armee unbedenklich preußische Offiziere und nach kurzem Bedenken
als Leute türkische Soldaten wählte? (aus der französischen
Armee: die Regimentsmusik!) = Hier will man wissen, daß schon Bulgaren
zur Westfront – (Offensive in Flandern?)
7.XII.15. Gottlob ist es etwas kühler und frischer, freilich immer
noch reichlich warm für die Jahreszeit. Gestern war ich so schlapp,
daß mir die kleinste Arbeit große Mühe machten. Die Bienen
flogen ebenso eifrig als unnütz umher.– Um auf Schneiders und den
Hauptmann Ruhr zurückzukommen: Er hatte große Zweifel, ob wir
mit den Lebensmitteln auskommen würden. Die gleichen Bedenken äußerte
auf der Bahnfahrt Düsseldorf-Cöln ein augenscheinlich recht intelligenter
älterer Herr. Beiden hielt ich Polen und den Balkan, auch den jetzt
erreichten Anschluß an Vorderasien vor, ohne daß sie hierauf
erwas besonderes zu erwidern wußten, aber ohne auch von ihrer Ansicht
abzulassen. Hoffen wir, daß
Seite 84
sie nicht recht behalten.– Gestern wurde für uns und Rechnungsrat
Faber ein prächtiges fettes Schwein in des Gerichtsdieners Wohnung
geschlachtet. Es soll eins der schönsten Schweine sein, die seit langem
hier geschlachtet wurden. Wir lassen viel Schmalz auch aus Speck aus, auch
giebt viel Wurst, von der Helene einen Teil in Gläsern einmachen will.
In Bonn und Cöln ist jetzt keine Butter zu haben. Vielleicht Übergangserscheinung
infolge der Zentralisierung des Butterverkehrs in Berlin; wir senden Mama
Rr. welche von hier. =Leider sah ich Liesel Schneiders nur sehr flüchtig
bei unserer Abfahrt.= Heute vor 8 Tagen lud Onkel Dietrich Freund Sondag
zum Abendessen ein: Wir unterhielten uns vortrefflich. Er ist Adjudant
bei der Kraftfahrertruppe in Cöln, richtete vor einiger Zeit auch
ein Kraftwagen-Depot in Kowno ein. Er will auch bald zur Front. Sehr bezeichnend
klang mir eine Bemerkung aus seinem Munde, da er doch Geschichte mit als
Hauptfach studiert hat: Es sind gewiß noch nie so viel Aufzeichnungen
über große Ereignisse gemacht worden, und wenn man nun bedenkt,
wie jemand bei vorsichtigster Benutzung des ganzen riesigen Materials später
doch in vielen Punkten zu ganz falschen Ergebnissen kommen kann und wird,
so sollte man überhaupt an der Möglichkeit einer absolut richtigen
Geschichtsforschung
Seite 85
verzweifeln!– Nichts richtiger wie das: alle Wahrheit ist beschränkt,
relativ, vergänglich. Quid est veritas?– Selbst die Möglichkeit
eines Druchbruchs Suezkanallinie vorausgesetzt, muß ein Marsch nach
Ägypten doch allerlei Bedenken unterliegen. Unser nächstes Ziel
wird wohl die Lösung der Frage der Landungstruppen in Salonik, die
Bezwingung Montenegro’s und vielleicht der Vormarsch auf Bessarabien sein.
Gewiß aber geschieht diesen Winter noch etwas. Unser Kaiser besuchte
den österreichischen in Wien, bei welcher Gelegenheit 3 österr.
Minister flogen, ohne daß daran in unserer Presse Commentare geknüpft
werden durften. Es muß doch etwas wie Vereinheitlichung im Gange
sein. Mackensen ist Oberbefehlshaber aller auf dem Balkan fechtender deutscher,
österreichischer, bulgarischer und türkischer Truppen. So was
haben die Gegner nicht. Joffre hat man jetzt zum Oberbefehlshaber aller
französischer Truppen in und außer Frankreich gemacht. Hierüber
giebts viele erregte Nachfragen bei den Franzosen.= In Cöln und Düsseldorf
sah ich schon viele weibliche Postbriefträger. Auf der Elektrischen
sind nur die Fahrer männlich. Bei den Kriegsbeschädigten - Erörterungen
bemerkte ein Lt. v. Zengeler aus dem VIII AC. Komm., daß noch viel
mehr felddienstfähige Arbeiter aus der Industrie, insbesondere Schwerindustrie
Seite 85
und selbst aus den Munitionsfabriken herausgezogen werden müßten,
die dann möglichst durch Kriegsbeschädigte ersetzt werden sollen.
Böse Aussichten.
8.XII. Mit Brinkmann, den ich schon gestern sah, sprach ich heute länger.
Er liegt jetzt nördlicher, bei Coutrai oder Kortryk und Tournai. Anscheinend
seien dort jetzt heftige Kämpfe im Gange, jedenfalls höre man
heftiges Artilleriefeuer. Er ist dort jetzt näher an der Front (bei
Lille) und da hören sie natürlich mehr; so z.B. sei die letzte
große Offensive im September an vielen Stellen ganz überraschend
für uns gekommen, die Bevölkerung habe zu der Zeit alle Leitungen
zerschnitten, so seien manche Truppenteile vorn ganz abgeschnitten gewesen
und verloren gegangen. Trotzdem das Volk dort halbverhungert sei, würde
es, sobald ein feindlicher Angriff in Sicht sei, stets unglaublich frech.
Es regne oft Strafen.Auch jetzt herrscht wieder ein allgemeiner Geist aufsetzlicher
Widerspenstigkeit. Br. ist z. Zt. Compagnieführer. Sein Hauptmann
häufig krank, namentlich wenn es wie neulich, den Anschein habe, als
ginge es zur Front. – Heute morgen ließen wir einen Teil Speck sowie
Schmalzfeder und sonstiges Fett des geschlachteten Schweines aus. Zu Tisch
aber gab es herrlichen feisten Wildschweinbraten. Fettnot hätten wir
einstweilen überwunden. Helene machte Leberwurst in Gläser ein.
Ich ging 2 Stunden mit den Kindern aus. Marianne erlebt so was selten und
freut sich sehr.
Seite 87
9. Dezember 1915. Brinckmann erzählte, was man öfters und
von verschiedener Seite hört, daß ältere Mannschaften zum
Sturm nicht vorgehen, wenn der Offizier nicht mit vorgeht. Hieran solls
mitunter hapern, zumal das Gegenteil mehrfach befohlen wird.– Heute ist
es ein trüber nasser dunstiger Tag gegen die Voranzeige aller Wetterapparate,
nach denen schönes Wetter sein müßte. Von großen
Gefechten in Flandern redet man jetzt allgemein. Ich ging heute morgen
daran, einen Artikel für die Zukunft der Balten zu schreiben. Ich
muß mich dazu mit Gewalt aufrütteln, da mich eine drückende
Faulheit die letzten Tage befallen hat. Helene hat die letzte Zeit mit
großem Eifer vormittags in der Küche geschafft. Hoffentlich
bekommt ihr das gut. Sie sterilisiert allerlei von dem geschlachteten Schwein,
dessen frische Leber- und Blutwurst uns jetzt mächtig gut schmeckt.
– Gestern war Fr. Th. zum Kaffee bei uns, ihr Mann, der sich entschlossen
hat, mit mir nach Leysin zu gehen, war zur Weinversteigerung nach Trier.
Nachher gingen wir, wie stets auf der Graacher Straße spazieren und
unterhielten uns auch noch eine Zeitlang zu Hause. Ich begleitete sie dann
heim. Helene versteht sich so gut mit ihr, daß ich es sehr bedauere,
daß sie die meiste Zeit der Kur ihres Mannes nach Hause (Langenfeld)
geht.
10.XII.15. Heute ist wieder reines Hochwasserwetter, schwül warm,
Wind, Wolken, Regen. Die Mosel geht hoch und lehmgelb. Gestern abend begegnete
mir auf dem Heimweg vom Amt Ant. Schmitz, er ist nach St. Quentin beordert,
was ihm gerade jetzt keine besondere Freude macht, da er eine Reihe schwerer
Seite 88
Fälle in Trier lieber gern selbst weiter behandelt hätte.
Es scheint auch seine neue Beorderung mit dem erwarteten Angriff im Westen
zusammenzuhängen. Heute abend setzt er “sich in Marsch”. Sein Vetter
Paul Th. war sehr befriedigt über die bei der Weinversteigerung in
Trier erzielten Preise. Die kleinen städtischen Besitzer hier, die
den 1913er inzwischen schon meist unter der Hand verkauft hatten, sind
schlecht auf ihn und Hüsgen zu sprechen. Brinkmann, mit dem es heute
amtlich zu verhandeln gab, bedauert, daß er mir nicht die Schreibarbeit
in der Kriegsbeschädigten-Fürsorge machen kann. Ich bedauere
es noch viel mehr. Heute morgen bestellte ich mir Aktendeckel. Dann wird
alles darin eingesargt und läuft Gefahr, wie Bürgermeister Keßler
es hübsch ausdrückte: “im Formalismus bald zu erstarren”. Hoffentlich
werde ich das für unseren Kreis verhindern. – Rosa aus Commen war
heute da zur großen Freude der Kinder, denen sie natürlich Nüsse
mitbrachte. Sie rühmte, daß die Winterfrucht so gut und dicht
herausgekommen sei und vorzüglich stünde. Das ist schon mal recht
erfreulich. Hier habe ich beobachtet, daß vor meiner Abreise nach
Bonn –heute vor 14 Tagen– noch nichts herausgekommen war; jetzt steht der
Roggen dicht und 4-5 Fingerbreit hoch.– Es ist ein seltsam aufregender
Zustand jetzt.– Der Reichskanzler hat gestern sachlich und knapp gesprochen.
Es schien, als ob er vieles mit Absicht ungesagt ließ. In Amerika
zieht Wilson gegen die Deutsch-Amerikaner los.
Zwischen den Seiten eingeklebt: Karte mit der Balkanfornt
Seite 89
11.XII.1915. Heute nacht ist die Mosel beängstigend gestiegen.
Sie stand schon heute früh über dem Bahngeleise der Moselbahn
und stieg den Morgen über noch weiter, wie ich von meiner Amtsstube
aus nicht ohne Besorgnis beobachtete. Es kommen nämlich allmählich
unsere Äpfel und die große Pökelbütte im Gerichtskeller
in Gefahr. Äpfel sollen unsere Mädchen nach Kaffee holen gehen.
Der Wind braust unaufhörlich und schwere Regenwolken ziehen ohne Unterlaß
am Himmel dahin. Eine Regenschauer folgt der anderen. Hier draußen
im Garten, wo ich dies auf dem Liegestuhl schreibe, habe ich die Mosel
noch nicht so hoch gesehen, sie spült am Rand des Moselweges. (1910,
wo wir zwei Überschwemmungen im Winter erlebten, hatten wir den Garten
noch nicht) In den Keller hier kommt es aber so bald noch nicht.– Heute
morgen hörte ich aus dem Munde eines Kriegsbeschädigten wieder
das von ihm –einem recht klugen jungen Mann– sicherlich ehrlich gemeinte
Wort, jedermann an der Front, insbesondere aber alle Kriegsbeschädigte
seien Sozialdemokraten. Ich sagte ihm, daß vor mir als Richter, alle
Menschen gleich seien, soweit ihr Verhalten nicht gegen das Gesetz verstieße.
Ich habe den Eindruck, daß in der Sucht, Sozialdemokraten zu werden,
eine gewisse Hilflosigkeit gegen veränderte Lebensbedingungen liegt;
positives wird damit wenig geleistet werden, auch nicht für eine künftig
etwa “regierungsfähige” geschlossene Partei aller Arbeiter und deren
Interessen.
Seite 90
Der wirtschaftliche Aneinanderschluß der Mittelmächte und
ihrer Anhänger beginnt einsichtigen Engländern allmählich
böse Sorgen zu machen, zumal das alte Ränkespiel mit der gegenseitigen
Aufhetzung wohl auf die Dauer nicht mehr verfangen wird. Der Reichskanzler
hat Tatsachen berichtet und damit gut geredet. Gut auch die Sozialdemokraten.
Friedensanfrage beantwortet. Wir sind gern zum Frieden bereit, wenn uns
die hierzu nötigen Garantien einschl. der hierzu erforderlichen Gebietsabtretungen
geboten werden. Je länger der Krieg fortgesetzt wird, desto größer
werden diese Garantien werden müssen. Gut.–
13.XII.15. Unsere sanfte Mosel hat sich in einen reißenden Strom
verwandelt; breit und gelb gehts mit Macht daher. Hier unter dem Balcon
leckt das Wasser an den Mauern. Gestern hatte ich schon befürchtet,
es würde hier in den Keller kommen und hatte das Gemüse daraus
weggeschafft. Trotzdem es diese Nacht noch erheblich gestiegen ist, steht
es fast noch 1/3 - ½ m unter der Kellersohle. Astor und Paul Thanisch
dagegen sind gehörig drin; schon gestern morgen stand’s in den Küchen
und die Heizung bei Th. ist aus. Abscheulich. Gerichtsdiener Friedrich,
der Samstag noch nicht dran glauben wollte, hat in der Nacht bis 1 Uhr
im Keller schaffen müssen und so ging es manchem. Jetzt war diese
Nacht Frost. Das Barometer steht hoch
Seite 91
und so hofft man auf baldiges Sinken. Viel Tannenholz ist hier angeschwemmt,
wie man hört von einem Holzlager in Mülheim, dessen Eigentümer
im Felde steht. Gestern regnete es Bindfäden, mittags sank die Luftwärme
stark und es schneite kräftig. Oben liegt der Schnee jetzt noch. Heute
mittag ist heftig rollendes Geschützfeuer zu hören. – America
scheint jetzt Rußland in der Deutschen-Hetze nachahmen zu wollen.–
Franzosen und Engländer erlitten durch Bulgaren (und Deutsche?) eine
empfindliche Niederlage am Wardar, nicht allzu weit von der griechischen
Grenze. Was wird Griechenland demnächst machen? fragt jeder. = Ich
erinnere mich, daß Sondag in Cöln von einem Offizier sprach,
der 43 Gefechte mitgemacht hatte und stets heil davongekommen war.
14.12.15. Die Mosel hat sich ausgetobt. Heute morgen war sie erheblich
gesunken; die Keller zeigten wieder trockenen Boden, hier draußen
spült sie schon wieder ½ Fuß tief unterhalb des Wegrandes.
Leider scheint auch das schöne Wetter nur von kurzer Dauer zu sein,
allzu schnell stieg das Barometer, um jetzt schon wieder zu fallen. Ein
milchig-trüber Himmel verspricht baldigen Schnee. Allgemein redet
man von einer deutschen Offensive im Westen. Brinckmann verabschiedete
sich heute. P. Th. wird heute der Rostocker jur. Fakultät wegen Doktorarbeit
schreiben. – Helene ist leider
Seite 92
stark erkältet, diese Nacht war es mit außerordentlich heftigen
Kopfschmerzen besonders schlimm. Das Klima taugt hier nichts. Brinckmann
meinte heute das Gleiche. Er wird, wenn ich weggehe, auch Versetzung anstreben.
Die “Friedens”-rede unseres Kanzlers wird im ganzen Ausland eifrig kommentiert,
ein Zeichen für ihre Bedeutung; der Berner Bund meint, der Krieg müsse,
so wie er jetzt stehe, ausgehen oder eine ganz neue Kriegsperiode beginnen.
Jedenfalls haben wir die Engländer insofern an der Nase gefaßt,
als sie unseren Angriff auf Egypten schon jetzt für nahe bevorstehend
hielten und sich dorthin konzentrierten, während wir zunächst
mal mit den Türken auf die Bagdad-Mesopotamien-Expedition uns stürzten
und sie anscheinend gründlich zu Fall brachten. Das könnte starke
Einwirkungen auf den Orient einschließlich Indien haben. – In China
scheint Juankischai sich zum Kaiser gemacht zu haben, was natürlich
für dieses Land das einzig Richtige ist; schon der japanische Widerspruch
beweist es. Schönberg, mit dem ich mich gestern unterhielt, setzte
mir auf grund eines Artikels der Zürcher N. N. auseinander, welche
Nachteile ein Eingreifen Griechenlands an unserer Seite mit Rücksicht
auf den Gegensatz zu Bulgarien und die künftigen Verpflichtungen gegen
Griechenland
Seite 93
selbst habe. Bulgarien wird wohl erst mit ganz Macedonien zufrieden
sein und dann vielleicht zur Türkei in ein Verhältnis, wie Deutschland
zu Österreich zu kommen wünschen.
15.12.15. Heute endlich mal klarer kalter Wintertag. Auf dem Amt gabs
mancherlei Arbeit. Leider ist Helene gar nicht gut; stark erkältet.
Es schwirren wieder alle möglichen Gerüchte: Hartnäckig
das von einem großen Angriff unserseits auf der Westfront, der heute
beginnen soll. 6 Millionen neuer verbesserter Rauchmasken, neue Munition
mit neuen, noch schlimmeren Gasen sei bereit, Bulgaren und Türken(!)
will man in Wengerohr haben durchfahren sehen, in Saarlouis(?) seien
allein in letzter Zeit 400000 (!!) frische Truppen durchgekommen, die Untauglichen
werde man im Januar abermals mustern, im 21. A.C. beginne man schon damit
usw. Tatsachen: Ober-Stabsarzt Dr. Sally Döblin hat die “ledige” Angelika
Stöck geheiratet, ob auch getauft, ist ungewiß. Damit hört
manches Gerede auf und beginnt manches neu. Eben fuhr die Moselbahn wieder,
die Mosel steht schon fast 1 ½ m unter dem Geleise. Das halbe Schwein,
(es wog lebend 121 kg) kostete mich fertig mit zugekauftem Fleisch, Wurst,
Sülze, Metzger ect. 148,10 M und wurde heute bezahlt. Wir schwelgen
noch in Blut- und Leberwürsten. Der junge Geller ist als DA (dauernd
arbeitsunfähig, sehr nahe verwandt mit dem DU) von Mörchinger
Rekruten Depot wieder entlassen worden, nachdem er anfangs Holz gehackt,
später einem Feldwebel bei der Schreibarbeit geholfen, nie aber die
Waffe geführt hat. Von 310 sollen 250 als DA entlassen sein.
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Die Anzeichen für den großen Eindruck der Reden unseres
Kanzlers im Ausland mehren sich. Die Bulgaren scheinen den Franzosen und
Engländern auch ins griechische Macedonien hinein zu folgen.– Für
Mutter und Brüder bearbeitete ich Steuersache. Für die Kriegsbeschädigten
lege ich jetzt regelrechte Akten mit Registratur an. Heute kamen die Aktendeckel.
Ich hoffe, in 4 Wochen damit fertig zu werden, um alsdann die Sachen wohlgeordnet
dem Vertreter –Amtsbruder Liell hat sich hierzu erboten– zu hinterlassen.
Des Schreibwerks wird leider immer mehr dabei.
16.XII.15. Die Butterfrau aus dem Hunsrück und die Milchfrau aus
der Stadt berichteten heute früh übereinstimmend, daß heute
ein besonders starkes Schießen zu hören sei. Eben höre
ich in der Tat gegen 3 Uhr ein ununterbrochenes hin und herrollendes dumpfes
Donnern., zu dem das lebhafte ferne Rufen der am Gestade spielenden Schulkinder
in seltsamem Gegensatz steht.– Eine zeitlang redeten die Engländer
von Wiederherstellung der mittelafrikanischen Neutralität, die sie
doch sofort zu Beginn des Krieges brachen. Ob sie eine Beunruhigung der
muhamedanischen Bevölkerung im Süden und in Südegypten befürchten?
Es scheint, daß der Islam nicht umsonst sich der besonderen Aufmerksamkeit
unserer ostafrikanischen Kolonialbehörden erfreut hat. Am Suez und
bei Kairo müssen sich die Engländer bis an den Hals bewaffnet
haben.– Frau Emmi Th. klagte gestern Helene ihr Leid ob des Zwistes mit
ihrer Schwiegermutter. Wir haben s. Zt. noch schöneres erlebt.––
Seite 95
Mit Schönberg unterhielt ich mich gestern sehr angeregt über
Namenschutz für Sachen, worüber er viel Material angesammelt
hat. Die Fülle des Materials war blendend. Vielleicht gehe ich mal
an eine gemeinschaftliche Ausarbeitung.
17.XII.1915. Heute war es auf dem Amt ein vielbewegter Morgen: ich
war schon rechtzeitig hin, um einen Artikel für die Trierer Zeitung
“Zukunft der Balten” mit der Wiedergabe eines sehr interessanten Teiles
eines Breifes von Bruhns zu fertigen, der gestern nachmittag ankam und
auch die erwünschte Auskunft über die im Januar 16 zu eröffnende
“Bruhns’sche Pension” gab. Eben war ich fertig mit ihm, war schon der erste
K.b. (Kriegsbeschädigte) da, einer aus Wehlen, der bisher immer noch
nicht gekommen war. Er war verwundet in französische Gefangenschaft
geraten und nach 5 Monaten ausgetauscht worden. Er klagte nicht über
schlechte Behandlung. Zwischendurch erschienen verschiedene Leute, die
dazwischen abgefertigt werden konnten, u.a. gab Pfarrer Mörchen eine
so saftige Schilderung über eine Veldenzer Säuferin, daß
ich diese dort unmöglich belassen kann. Eine nicht allzu geistesstarke
Frau wollte von einer Pflegschaft nichts wissen und ihr Sparbuch “frei”
haben. Ich warnte sie genügend, senkte den Samen des Mißtrauens
in ihren seichten Verstandesgrund und gab ihr das Buch (mit 2900 M!) frei.
Sie kam bald nachher wieder damit zurück und gab es uns “in Verwahr”,
nur 90 M hatte sie erhoben. Dann wieder andere Leute, darunter einer, der
seiner Schwester bestand, an dessen linker Hand ich eine starke Beschädigung
sah: Es fehlten ihm 3 Finger, Daumen
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kleiner Finger aber bildeten eine feste arbeitsfähige Zange. Er
hatte in seiner Jugend Unglück an einer Dreschmaschine gehabt. Jetzt
war er bei der D.U. Musterung als arbeitswendungsfähig geschrieben.
Wieder ein K.B., den kenne ich schon, er will eine fahrende Briefpost Thalfang
Berglicht übernehmen und das Pferd selbst dazu stellen. Er soll vom
Ers. Batl. den Ausstellungsschein bekommen, wenn die Postbehörde diesen
verlangt. Ich rücke ihm einen Tisch zurecht und er ist noch am schreiben,
als ich mittlerweile bis kurz vor 1 Uhr mit allen sonstigen Akten fertig
werde. Immerhin habe ich doch alles, was ich vorhatte, fertig bekommen,
wenn es mir auch etwas bunt im Kopfe davon ist. Leider ist Helene nicht
nur erkältet, sondern auch seelisch arg niedergedrückt, indem
sie Ursache zu dem Glauben zu haben behauptet, es käme wieder zu neuer
Operation u.s.w. Schade; hoffentlich ist sie diese Gedanken los, ehe ich
zur Kur weggehe. Dank der gütigen Fürsorge des Beamtenvereins
aßen wir heute mittag prachtvollen gebackenen Kabeljau (... 0,60
M per ½ kg)
18.XII.15. Heute morgen –es gab wieder befriedigend viel zu schaffen–
vernahm ich einen jungen Kanonier im Urlaub, der mit neuen 10 cm Feldgeschützen
(weittragende Geschütze) in den Tiroler Bergen auf die Italiener schießt,
in deutscher Uniform. Seine seltsame Feldadresse brachte mich auf die Frage
darnach (... Willy Brügelmann (Brügelmann, Wilhelm)
ist zur Zeit in Cöln, er macht ja ähnliches im Pustertal (?)
Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) ist als Liebesgabentransport
bis zur Batterie - Feuerstellung vorgedrungen und konnte durchs
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Scherenfernrohr in die italienischen Stellungen sehen. Dort soll man
jüngst einen Posten mit Offizier abgefaßt haben, alle
in deutscher Uniform. Was geschieht mit ihnen bei den Italienern, mit denen
wir doch “keinen Krieg” haben? Baiern sollen ja sehr zahlreich dort in
österr. Uniform stehen und mit einer Bescheinigung versehen sein,
“daß sie aus dem deutschen Heere aus und ins italienische (muß
wohl heißen: österreichische) Heer eingetreten” seien. Sonderbare
Dinge. Den Italienern dürfte dies alles aber keineswegs unbekannt
sein. Ich erinnere mich auch einer Erzählung von Freund Sondag neulich
in Cöln: Ein Teil einer Kraftwagenkolonne, den man lange vermißt
habe, sei zufällig bei unseren Bundesgenossen an der Isonzofront aufgefunden
worden. Aus Galizien sei sie nach dort verschlagen und von den Bundesgenossen
kurzerhand mitbenutzt worden. = Herta hustete heute morgen. Als ich mittags
nach Hause kam, lag sie still und brav im Bett und erzählte mir, sie
sei krank “gewesen” und hätte arges Kopfweh gehabt. Sie hat ein heißes
Köpfchen. Erkältung oder verdorbenen Magen. Marianne bemüht
sich jetzt etwas mehr sprechen zu lernen. Sie ist durchweg stets fidel
und unternehmungslustig. Am Suezkanal scheint es los zu gehen. Angeblich
kamen holländische und englische Schiffe nicht mehr hindurch.
19.XII. Herta hat gut geschlafen und stand heute morgen auf, bekam
gegen Mittag wieder etwas Fieber und ging gern wieder zu Bett. Sie hatte
auch wieder Lust, zu essen. Wir meinen, es geht ihr besser. Sie hatte einen
Teil (Bronchialkatarrh)-Schleim verschluckt und erbrach
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ihn heute morgen. Leider beginnt Mariannchen auch weinerlich zu werden,
hoffentlich kriegen wir nicht den Keuchhusten.– Wie es gemacht wird, sieht
man an Kleinigkeiten: Für 1 l Spiritus, dessen Verkaufspreis für
den Kleinverkauf vom Spiritusring fest auf 45 Pf bestimmt und auf allen
Flaschenverschlüssen aufgedruckt ist, verlangt man gestern 50 Pf wegen
“Frachtspesen”. Obwohl wir gestern froh sein konnten, ihn zu haben, denn
kurz vor 8 versagte die Gasleitung, schrieb ich heute doch eine Karte an
die Spirituszentrale. Angeblich sollten gestern feindliche Flieger gemeldet
sein, Frau L. wollte sich schon im Keller einquartieren und unser Kinderfräulein
hatte alles ausmarschbereit zurecht gelegt. Ich hatte es bis zum Einschlafen
längst vergessen. Heute streicht ein kalter Ostwind über den
fast wolkenlosen Himmel und beim Schreiben auf dem Liegestuhl frieren mir
elend die Finger.= Für die Schweizer Kur ist die Quartierfrage für
mich und Thanisch bei Freund Bruhns gelöst. Hoffentlich kommt nun
bald der Urlaub. Wider Erwarten schnell haben wir einen neuen Landgerichts-Präsidenten
in Trier bekommen, heißt Knapp, war Director in Elberfeld und soll
im Felde sein. Thanisch’s Billard schraubten wir gestern wieder zusammen
und spielten gleich eine kleine Partie. Er will diese Woche zur Jagdhütte;
vielleicht, daß ich einmal mitgehe.
Weihnachten 1915. Anfang dieser Woche ging ich mit Paul Th. nach Merscheid.
Wir erlebten dort einige herrliche Wintertage im Schnee, von denen ich
später noch ein wenig berichten muß. Den Hartmannsweilerkopf
haben die Unsrigen den Franzosen wieder abgenommen. Eben lese ich in der
Kölnischen Zeitung den Abdruck des Briefes von Oskar Bruhns über
seinen politischen Prozeß in Petersburg. Leider mit
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Namen. Hoffentlich hat das keine Rückwirkung auf die Eltern! Die
Kinder haben Husten, ich im Halse, auch Helene erkältet. Heute lauwarm,
Wind, Regen, Mosel steigt wieder. Die Engländer räumen die Dardanellen,
schöner Erfolg für die Türken, uns und den Orient.
26.XII.1915. Die Mosel geht wieder gewaltig hoch und lehmgelb. Bahngeleise
sind überschwemmt. Wir bescherten erst gestern, da vorgestern Herta
noch im Bettchen lag. Die Freude der Kinder war echt, rein und groß.
Wer beneidet sie nicht heute? An die Kölnische Zeitung sandte ich
gestern eine Plauderei über Erfahrungen in der Kriegsbeschädigten-Fürsorge.
Bin neugierig, obs angenommen wird. Mit Helene begann ich gestern abend
die Lektüre von Naumann “Mitteleuropa” Es ist zur Zeit das Buch.–
Der junge Robert Koch machte heute vormittag Besuch bei uns. Er bedankte
sich nochmals für meine Mithülfe –ich hatte ihm nur etl. Gesuchschreiben
überprüft– bei seinem glücklich bestandenem Examen. Er hat
den Feldzug in Ostpreußen, Samogitien und Kurland hinter sich und
hofft, zur Westfront zu kommen. Auf meine Anregung hat er auch dafür
gesorgt, daß er als Referendar vereidigt wurde. Er war so froh und
aufgeweckt, daß es einem ordentlich Freude machte. Als Offiziersaspirant
hofft er wieder in einen Regimentsverband zu kommen, um auch Gelegenheit
zu haben, Leutnant zu werden. – Sehe ich den trostllosen feuchtwarmen Regenhimmel,
so scheinen mir die beiden (oder 3) Schnee- und Jagdtage auf dem Hunsrück
schon in weiter Ferne zu liegen. Montag nachmittag fuhren wir mit
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dem “Postauto” (Heiden nimmt jetzt wilkürliche Preise, so 1,90
M bis zur Römerstraße) hinauf. Bereits im Hinterbachtal begann
es zu schneien. Oben auf der Römerstraße hatten wir einen ganz
herrlichen Gang durch den schon abenddunklen Winterwald mit verschneiten
Wegen. Wir marschierten nach Merscheid, aßen Brot und Suppe zu abend
und legten uns nach einigem Wirtshausbesuch halb angekleidet ins Bett.
12 Uhr holte uns der Jagdaufseher, der Vollmond stand am Himmel und es
war ein unvergleichlich schöner Marsch über verschneite Fluren
zum dunklen Wald. Ich ging mit Mayer, Th. für sich. Leider kamen wir
an der Elzerather Flur einem Rudel Hirsche mit dem Wind zu nahe. Sie spürten
uns, als wir sie umgehen wollten und wir hörten bald an dem Krachen
des gefrorenen Laubes, daß uns eine gute Gesellschaft ausriß.
Am großen Schlag, den ich sofort vom Sommer her wiedererkannte, hörte
ich ein leises helles Zetern: junges Schwarzwild trieb sich dort munter
in einer Dickung herum. Auch hier wurde nichts daraus, die Tiere herauszubekommen.
Wir waren gegen ½ 4 noch nicht lange “daheim”, als Th. zurückkam.
Er hatte ein starkes Rudel Rotwild getroffen, davon hatten 2 “Geweihte”
(nur am Bau hatte er sie als solche erkannt, denn das Geweih ist selbst
in heller Mondscheinnacht nicht zu erkennen) sich abgezweigt und waren
auf ihn zu gekommen. Er hatte gemeint, sie lieber noch näher und mit
der breiten Körperseite vorkommen zu lassen und nicht auf sie gefeuert.
Plötzlich waren sie seitab in der Heide verschwunden. Er war hinterher
schlecht auf sich selbst zu sprechen. Mit Mayer ging er
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nochmals auf diese Hirsche in der selbigen Nacht aus. Ohne Erfolg.
Das Kanonenschießen hörten wir unheimlich genau in dieser hellen
Winternacht. Andern Tags wurde bis 10 Uhr gehörig ausgeschlafen und
nach einem tüchtigen Frühstück –Butter und Brot gabs in
Fülle, Käse hatten wir mit– gings mit 2 jungen Treibern, die
mit Schellen bewaffnet auszogen, auf die Jagd. Gleich im ersten Treiben,
man hatte mir eine leichte handliche Schrotflinte mitgegeben, bemerkte
ich ein munteres Häschen aus dem Tannendickicht kommen. Ich ließ
es gemächlich seitwärts traben und gab dann aus kurzer Entfernung
meinen ersten Schuß aus einer Flinte ab. Ich bin mittlerweile 36
Jahre alt und schon 5 ½ Jahr Amtsrichter in einem Nest, in dem nur
von Wein und Jagd die Rede ist und hatte bis dato noch nie aus etwas anderem
als einem 6 mm Flobert geschossen. Ich hatte Dusel: der Schuß saß
so, daß der Hase nicht mal mehr sich überschlagen konnte, er
schlug wie ein nasser Sack gleich mausetot zu Boden. Man brachte mir einen
großen Bruchteil einer jungen Fichte als Bruch und ich mußte
wirklich lachen über diese wohlgelungene erste Betätigung als
Jäger. Dabei war mir mein rechtliches Herz nicht ohne Bedrücken,
denn einen Jagdschein hatte ich nicht. Bei einem späteren Treiben
saß ich im Schneegeriesel gegen kalten Wind recht hübsch gedeckt
in einer Talmulde und hätte in aller Bequemlichkeit ein prächtiges
Stück Wild schießen können, das ich für eine Rehgeiß
ansah, nach meiner genauen Beschreibung aber ein Hirschkalb gewesen sein
muß. Das Tier sprang so munter am Waldrand auf der Flur herum, daß
ichs nicht schießen mochte, zumal nachher auch noch ein junger unkundiger
Hund hinter ihm
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her sprang. Zudem hatte ich vorher auf einen Hasen allerdings auf weite
Entfernung vorbei gewischt und mir vorgenommen, jede unnütze Schießerei
zu vermeiden. Beim Sichern des Gewehrs gab ich nicht genau genug beim Abspannen
eines Hahnes mit dem etwas verklamten rechten Daumen acht und rabums sauste
der Postenschuß steil nach oben in den Schneehimmel. Das passiert
mir auch so bald nicht wieder. Zum Schlusse stand ich lang bei heftigem
Schneegeriesel zwischen prächtigen Felsecken unten im Drohntal, um
eines Fuchses zu warten, der dort gejagt und dann bei mir vorbeikommen
sollte. Es war ein prächtiges Bild. Rechts rauschte der Wildbach in
einem schäumenden Strudel, links und rechts schlossen steilragende
Felsen das kleine Wiesental ab, die felsigen Hänge dicht mit Gestrüpp
und Dornhecken aller Art bewachsen. Nichts zu hören außer dem
Wasserrauschen und dem leisen Zirpen kleinen Gevögels, das sich in
den Hecken munter herumtrieb und das vergnügt des stillstehenden Schützen
nicht achtete, der allgemach im Schneegeriesel langsam einzuschneien begann.
Schließlich mußte ich den hochaufliegenden Schnee vom Gewehrlauf
streifen. Rechts trat gleichzeitig ein Reh aus und äugte mich an,
sprang dann alsbald an der anderen Bach- und Felsseite steilauf den Hang
hinan. Verschiedentlich glaubte ich links oben über den Felsen die
auf dem Flurrand jagenden Hunde zu hören. Auch von links kam ein Stück
Rehwild, sprang von oben gerade auf mich zu , blieb aber völlig jedem
Blick verborgen, in Felsgeklüft und Dornenhecke stehen. Der erwartete
Meister
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Reinecke blieb aus. Fern oben am Horizont erschien als kleiner blasser
aber sehr deutlicher Schattenumriß die Gestalt des Jagdhüters
auf einer Felsenplatte und ich konnte verstehen, daß es einen reizen
könnte, eine solche Figur mit einem Kugelschuß hinunterzuputzen.
Schließlich erschien auch einer der Treiber mit den Hunden. Ich stapfte
durch den hochbeschneiten Weg bergan und traf vor dem Dorf mit Th. zusammen.
Seltsamerweise war mein Häschen die einzige Strecke geblieben. | Daheim,
bei Kaufmann (Warenhausinhaber, Junggeselle und Postagent) schätzte
ich es sehr, daß ich meine Hausschuhe mitgenommen hatte. Wir bestellten
auf 8 Uhr eine kräftige Suppe mit Bauernschinken und vertrieben uns
die Zeit im Wirtshaus mit der Unterhaltung mit einem klugen älteren
Bauern (Petry), dessen Sohn im Feld steht. Ihm fehlten beim Ausrücken
ins Feld gerade noch 3 Arbeitstage (an 3 Monaten), sonst hätter der
Vater von dem Dillinger Werk Unterstützung bekommen. Nach einigem
Gespräch holte er die Papiere hierüber und ich konnte ihm noch
den Rat geben, sich auf die Fortdauer des ungekündigten Arbeitsdienstvertrages
zu berufen. Ob es freilich nutzen wird, bleibt dahingestellt. Nach frugalem
Abendmahl gingen wir kurz noch mal in eine andere Kneipe, damit keine zu
kurz käme; dann wieder halbangezogen bis 12 ins Bett. Um Mitternacht
erschien abermals der tüchtige Mayer, wir machten uns jagdfertig und
zogen diesmal über den Mantel ein weißes Nachthemd, sowie eine
Zeitung um den Hut. Wir sahen
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recht phantastisch aus, als wir zwar ohne Mondlicht aber doch bei heller
Schneenacht abzogen. Wer uns begegnete, hätte uns für Winterkämpfer
in den Karpathen, wenn nicht für Gespenster halten müssen. Der
Wind blies nicht schlecht und der Schnee sauste in kurzen Flöckchen.
Wir trennten uns; ich zog mit M. zunächst quer über die Flur,
der fast fußtiefe Schnee erschwerte das Marschieren und man konnte
den Weg schlecht inne halten. Wir waren noch nicht weit heraus – diesmal
hatte ich eine Flinte mit Büchsenlauf mit – als sehr schnell aufeinander
einige Schüsse fielen. M. und ich trennten uns dann auch mit der Abrede:
ich sollte erst links am Walde entlang über die Heide, dann zum Wald
zurück, durch einen Fichtenstand hindurch und auf dem großen
Freischlag mich in einem Art Unterstand (Schirm) bereitstellen. M. wollte
dann versuchen, Sauen hierauf zuzutreiben. Das allein stampfen durch den
hohen Schnee im totenstillen Winterwald, wo auch kein Windhauch zu spüren
war und der Schneefall aufgehört hatte, machte mir eine besondere
Freude. Er erinnerte mich an einsame Gänge, die ich im graubündener
Winter auch gelegentlich gern für mich seitab im Schneegeriesel machte.
Jenseit der breiten Heide fiel ein Schuß – M. meinte später,
ich hätte ihn abgegeben, was aber nicht der Fall war, er blieb eigentlich
unaufgeklärt – fern bellte ein Hund, daß es durch den Wald hallte.
Als ich auf der Blöße stand und
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noch nach dem Schirm suchte, hörte ich nahebei einen leisen Pfiff,
der Jagdhüter M. war wieder zurück, da Nebel einfiel und alle
weiteren Jagdversuche vergeblich machte. Wir sahen uns erst auf ganz nahe
Entfernung und merkten so erst, welch großen Schutz die weiße
Maskerade auf dem Schnee bietet. Kurz vor dem Dorfeingang bemerkten wir
an der Spur, daß Th. schon wieder heim war, gleich darauf tauchte
er dicht vor uns auf, dicht hinter ihm kam ein Junge und die Frau von M.
mit einem kleinen Leiterwagen, die er schon herangeholt hatte. Er war gleich
hinter dem Dorf einem ganzen Rudel Rotwild begegnet und hatte noch von
einem kleinen Hohlweg über die Flur darauf gefeuert, insbesondere
auf das stärkste Tier. Er konnte es verfolgen und ihm nach kurzer
Zeit den Fangschuß geben. Nun wurde eine mitgebrachte Carbidlaterne
angezündet, die trotz des Windzuges nicht erlosch und auf der Schneefläche
hell leuchtete. Während der kleine Wagen im weiten Bogen durch den
Schnee mühsam herangebracht wurde, untersuchten Th. und M. die zahlreichen
Fährten. Ich hielt den Hund fest. Die beiden wandelnden Gestalten
mit den weißen Hemden und dem hellen Licht, die sich bald zur Erde
beugten, bald wieder aufrichteten und weitergingen, boten ein ganz seltsames
spukartiges Bild. Der Nebel vedichtete sich und als sie sich eine Strecke
entfernt hatten, schimmerte die helle Lampe nur noch ganz klein und schwach
auf der trübmilchigen Fläche, von der man den Eindruck weitester
Unendlichkeit hatte. Anderen morgens sah ich sie grau
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und nüchtern im Tageslicht aus. Das verendete Rotwild fand sich
bald, eine riesige alte Hirschkuh, ein Gelttier, das nicht mehr trächtig
war. Diese alte Tante war gewiß das Leittier des Rudels gewesen und
hatte 2 tötliche Kugeln erhalten, sich gleichwohl mit einem nachschleppenden
Lauf noch einige hundert Meter weitergeschleppt und dann den Fangschuß
bekommen. M. zog alsbald seinen blauen Wollfriesrock aus und brach das
Tier auf. Der Wanst war gefüllt mit einer Menge Äsung von Winterfrucht.
Auf dem Wägelchen war es heimgebracht und das Jagdergebnis bei einer
Flasche Rotwein besprochen. Gar zu gerne hätte ich mal auf ein Stück
Schwarzwild geschossen. Diesmal schliefen wir wieder feste. Morgens wurde
ich von der lärmenden Schuljugend geweckt, die augenscheinlich eine
große Schneeballschlacht lieferte. Später halb eingeduselt,
sehe ich plötzlich einen frischen jungen Mann in mein Zimmer stürmen.
Ich begrüßte ihn mit guten Moregn, was er kurz erwiderte mit
der verwunderten Frage: Wer ist denn da zu Besuch? Außer der Nase
mag aber von mir in dem hohen Bauernfederbett nichts zu sehen gewesen sein.
Ohne sich aufzuhalten ist er mit einem Satze bei dem Harmonium am Fenster
und läßt dies aus allen Fugen und Registern arbeiten. Ich hätte
gar nicht gedacht, daß in dem kleinen Kasten eine solche Tonfülle
sitzen könnte. Er spielte gar micht schlecht und ich merkte sofort,
er war mit ganzer Seele dabei. Choräle, Kirchenlieder, Vorspiele und
Stücke aus
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alten Messen rauschten daher. Ich schloß die Augen und hörte
mit Behagen zu, schließlich träumte ich wieder wie im Halbschlaf
und glaubte mich in einen großen Dom versetzt und eine riesige Kirchenorgel
zu hören. Schließlich sang der Unbekannte auch einige Responsorien,
holte sich Notenhefte und ruhte nicht, bis er alles durchgespielt hatte.
Mit einer entschuldigenden Wendung, er habe mich wohl wackerich gemacht,
war er wieder hinaus. Ich versicherte der Wahrheit entsprechend, daß
ich gern zugehört hätte. Meine Vermutung, daß es vielleicht
ein Urlauber war, bestätigte sich. Es war der junge Küster, der
nachts erst aus dem Felde nach Hause auf Urlaub gekommen war und morgens
gleich zu seines Freundes Kaufmann Harmonium stürmte, um die langersehnte
Möglichkeit, Musik zu spielen, sofort auszunutzen. Ich sah später
den blonden jungen Mann auf der Straße stehen, er gefiel mir recht
gut. – Wir packten unsere Sachen, frühstückten noch mal kräftig
und ließen –der gastliche Hausherr nimmt nichts für solchen
Besuch– einen kleinen Beitrag (ausgemacht ist 1 M pro Nacht, ich gab 2,50
M) auf dem Schlafzimmer fürs Mädchen liegen. Die sehr zahlreichen
Rotwildfährten auf der Flur wurden nochmals genau untersucht. Anfangs
schien es, als ob vielleicht noch ein Hirsch angschossen worden sei, doch
erwiesen sich die vermeintlichen Schweißspuren als trügerisch.
Wie genau festgestellt werden konnte, hatten zahlreiche Krähen sich
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blutige Stücke des Ausbruchs zum Verzehren geholt und waren damit
an Rasenschollen, die aus dem Schnee hervorstanden geflogen, dort ihre
Beute zu verschlingen. Hierbei waren Blutspuren an verschiedenen Stellen
auf die Hirschfährten gekommen und daraus hatte man falsche Schlüsse
gezogen. Während fernweg auf etlichen beschneiten Hoch- und Talflächen
noch blasser Sonnenschein lag, zog von Norden und Westen her eine gewaltige
dunkle Wolkenbank über den Hardt-Hochwald heran und verfinsterte bald
den Himmel. Wir machten noch am Waldsaum mit dem wackeren Mäxchen
–so heißt die Hirschbrake, die wir mit hatten– (...) dann erhielt
ich von M. meinen Rucksack zurück und los gings durch den Wald der
Heimat zu. Es war z.T. ein recht beschwerlicher Marsch, zur Stärkung
wurde unterwegs gehörig gefrühstückt. In einem Buchenbestand
schnitt mir Th. eine etwa 6 cm große kreisförmige Marke an eine
Buche an und aus ca 40 m Entfernung gab ich darauf meine ersten Büchsenkugel
ab: Ich hatte ganz unglaublichen Dusel und traf genau in die Mitte: In
der Wellersbach war der Schnee schon fortgeschmolzen, auf der Höhe
am Monzelfeld lief das Schmelzwasser bachartig über Feldwege und im
Moseltal empfingen uns durch und durch aufgeweichte Wege und milde Luft.
Zu Hause traf ich noch Assessor Meynen, der von der Champagnefront – wo
er die 2. Landw.Comp. früher VIII. jetzt VII. A.C. führt – nach
Ediger zu seiner Braut fuhr. Er hatte sich mit Helene schon lange unterhalten.
Wir fanden beide, daß er sich sehr zu seinem Vorteil verändert
hatte. – Die Merscheider hatten an dem
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Gelttier einen billigen Wehnachtsbraten, denn Th. ließ es M.
zu 55 Pf pro ½ kg.
27.12.15. Ein seltsames Weihnachtswetter: Hochwasser, dessen Steigen
nach heute mittag ausgeschellter Bekanntmachung noch zu erwarten ist, milde
Luft, daß mittags die Bienen fliegen; eben ein Stück blauen
Himmels. Bruhns schrieb von Neuschnee dort. Thanischs kamen gestern von
ihren Schwiegereltern zurück und aßen bei uns zu Abend. Der
Waldhase schmeckte ganz köstlich. Wir unterhielten uns bis 11 Uhr
unterm Weihnachtsbaum aufs Beste. Leider ist ihr Haus wieder vom Hochwasser
bedroht. Sein Schwager hatte schon einen schönen Fahrplan bis Leysin
ausgeschrieben.
In der Christnacht hörten wir heftigen Kanonendonner, vom Hartmannsweilerkopf??–
28.XII.1915. Heute endlich lese ich die erste Nachricht der Türken
über erfolgreiches Vorgehen der Senussi, einer tripolitanischen Arabersekte
gegen die Westgrenze Ägyptens. Anscheinend haben die Engländer
dort eine nicht unbedeutende Schlappe erhalten, die sicher nicht unbedenklich
ist, zumal sie in Mesopotamien auch arg ins Gedränge geraten sind.
Dergleichen kann den Orient schießlich doch auf die Beine bringen.
Die Mosel ist gut um 1 Fuß gefallen, die Hochwassergefahr also wohl
mal wieder vorbei. Mildes Wetter und Sonnenschein lockt die Bienen in Massen
heraus. Herta wird täglich besser, das Spazierengehen bekommt ihr
sehr gut. In Albanien schlagen die Bulgaren die letzten Serbenreste nieder,
die Russen leugnen heftig Absichten zu Sonderfrieden ab und über Schweden
hört man
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verdächtig wenn (?). Von Rumänien kommen jetzt 50000 Waggon
Getreide. Die hellen Sachsen führen serbische Schweine ein. || Mit
Thanisch sah ich heute eine prächtige junge Wuz, die Mayer an der
Blöße geschossen hat, wohin wir öfters vergeblich gingen.
29.XII. 15. Kühl, trüb, neblig. Eben ein Karnickel durch
Genickschläge geschlachtet. Unangenehmes Gefühl, das stumme Todeszucken
und die großen offenen Augen zu sehen. Ich schlachtete noch nie eins.
Vor meiner Reise müssen beide weg, damit sie nicht vergessen werden,
hungern und frieren müssen. Helene hat Lust, mit einen Hunsrückmarsch
zu machen, um in Büchenbeuren mit Kriegsbeschädigten Besprechung
zu halten. Gestern hörte ich, daß Alois Wagner Graacher Schäferei
als Kriegsblinder in Urlaub gekommen sei. Ein Bruder unseres ersten Mädchens
Johanna hier. Ich bestellte ihn heute auf Samstag. Die Aktenregistratur
der Kriegsbeschädigten wird zur Zeit eifrig bearbeitet, ich hoffe
mit nächster Woche sie zu beendigen und dann alles auf den Laufenden
zu haben.– An Freund Sonnenburg, mit dem seit meiner Verheiratung aller
Verkehr aufgehört hatte, schrieb ich heute. Neugierig, ob und was
er antwortet.– Mit Schönberg, den Th. und ich gestern wegen Besprechung
eines geeigneten Themas aufsuchten, entstand bei einem guten Tropfen “Ürziger
Würzgartens” eine recht unterhaltsame Besprechung. Er hatte die Abschrift
eines sehr merkwürdigen österr. Tagesbefehls, durch den das K.
K. Inf. Reg. 28 vollkommen aufgelöst wird, weil es mit Mann und Maus
zu den Russen desertieren wollte und dabei
Seite 111
irrtümlicherweise an Baiern geraten war. 50 Offiziere und entsprechende
Anzahl Leute wurden erschossen. Das ganze in allen Schulen der Doppelmonarchie
bekannt gegeben. Toll! In einem neuen Briefe Schnitzers klagt dieser sehr
über brutal schnodderiges Auftreten unserer Offiziere bei den Türken.
Selbst Liman Sanders sei so –?– v. d. Goltz müsse dann stets wieder
vermitteln. Die Türken würden froh sein, wenn sie unsere dort
sehr herrisch (?) auftretenden Offiziere wieder los würden. (Na, das
wird wohl nicht ganz so schlimm sein.) Übrigens habe die Türkei
noch einen großen Teil guter Leute, die sie uns gern zur Verfügung
stellte. – Über die Pabstansprache vom 21. Nov. 1915 (gegen die methodistischen
Bestrebungen in Rom: Soldaten des Satans, Pestkanzeln, Lehren Luthers,
Calvins und dergleichen) bringt jetzt auch die Kölnische Zeitung ein
Wolfftelegramm, wonach Kardinal Hartmann die deutschen Protestanten als
nicht damit gemeint besänftigt.– Draußen tobt der Weltkrieg.
Hier glimmt und glost unter scheinbar friedlicher Hülle ein Jägerstreit:
Vor Wochen ward auf der Veldenzer Jagd –Oberförster Bauer, Thappisch–
ein selten schöner 12-Ender erlegt. Es schossen darauf: der alte Herr
Müller (auch Müüler genannt), Geller und Thappich. Das Schiedsgericht,
Oberförster, Sieburg, Louis Hauth tagt und tagt, ohne zum Spruch zu
kommen. Der Hirsch hing am Baum beim Metzger, als allerlei Unberufene daran
“herumbügelten”, Kugeln herausschnitten und dergleichen Scherze mehr.
Was noch alles draus werden kann, bleibt abzuwarten.
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30.12.15. Anl. Wiedergabe einer nach der Schweiz dirigierten deutschen
Friedensstimme ist doch zu merkwürdig um verschwiegen zu werden. Schönberg
will gehört haben, daß unsere Zensur die Wiedergabe der ganzen
Nachricht (Der Zeitungsausschnitt ist eingeklebt), jedoch keinerlei Kommentar
dazu will. Die Broschüre des in Sicherheitshaft nach Deutschland gebrachten
Prüm in Luxemburg enthält manches Interessante; u. a. scheint
ein Doppeltext der Kriegserklärung an Rußland vorhanden gewesen
und versehentlich mit abgeschrieben und den Russen überrreicht worden
zu sein. England sieht sich jetzt ernstlich bedroht und scheint den Dienstzwang
einführen zu wollen, nicht nur wie er tatsächlich schon besteht,
sondern auch gesetzlich. Für den Paß ließ ich mich heute
photografieren. Beim Zahnarzt wurde unerfreulicher Weise eine höchstwahrscheinliche
Entzündung der linken Backenhöhle (im Kiefer über den Backzähnen)
festgestellt. Ich habe dort schon vor einiger Zeit einen heftigen Katarrh
mit gelb-eitrig-schleimigem Exsudet gehabt. Hoffentlich bedarf es keines
operativen Eingriffs. Ich habe derzeit auf dem Amt und mit Aufarbeitung
der Berufsberatungsakten so viel zu tun, daß ich einen Vortrag zum
7.1. für die Verwundeten ablehnte. Vielleicht ist Schönberg hierzu
zu haben. Von ihm hörte ich allerlei recht interessante Urteile über
nähere Bekannte hier.
Vor einigen Tagen brachten die Zeitungen eine Notiz, daß der
Kaiser an einer “Zellgewebe-Entzündung” erkrankt sei. Hoffentlich
ists nichts Schlimmes; man munkelt allerlei von Carcinom und einer früheren
Entfernung einer “Wucherung”
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im Halse. Der Kronprinz, der sonst noch nie seine Front verlassen hat,
soll in Berlin (gewesen?) sein und man betrachte die Sache nicht als unbedenklich.
Ich meine, selbst das Schlimmste würden wir auch hier ertragen können.–