1915/1916

Innen auf dem Buchdeckel:
Amtsrichter Dr. iur utriusque
Matthias Konrad Hubert Rech
Berncastel Cues a/d Mosel
Kriegsjahr 1915

Innen in den Buchdeckel eingeklebt: Zeitungsausschnitt
“Kurze Kriegschronik des Jahres 1915”

Auf dem Vorblatt:
 Aufzeichnungen des Bernkastler Amtsrichters Dr. iur. Matthias Konrad Hubert Rech in den Kriegszeiten vom 20. Juli 1915 – 24. November 1916

Wann wird der Friede kommen? 24.11.16. R.
 
 
 

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August 1915 Der Kampf in Polen: Russendämmerung
     Nachmusterung der D.U.
Ende Sept./Okt. (Letzte?) heftigste Offensive der Franzosen und Engländer auf der Westfront. Erfolg?
Bulgarien mobil, Oktober: Serben von Deutschen, Österr. u. Bulgaren überrannt. Die Ententeminister erkranken. –
November: Kitchener geht. Die Serben sind fast eingeschlossen.
Dezember: Serben völlig erledigt. Mackensen in Ägypten? (Mackensen nachträgl. gestrichen)
        Englische Niederlage bei Ktesiphon vor Bagdad.
                  Montenegros Abschied?
Weihnachten 1915: Die Engländer verlassen die Dardanellen. Schluß dort: 10.1.1916
März 1916: Kämpfe vor Verdun.
April 1916 heftige Zeppelinangriffe auf England
Ende April Engl. bei Kut el Amara übergeben 13000 Mann (143 Tage)
Mitte u. Ende Mai: österr. Vorstoß über Tirol nach Oberitalien.
          3 Monate Kampf um Verdun.
31. Mai / 1. Juni Seeschlacht am Skagerrak.
    u. Mitte Juni: Vorstoß der Russen in Wolhynien. Bedrängung Griechenlands
1 / 21. Juli: Starke Angriffe der Engländer - Franzosen an der Somme
                     Erfolg? (wie vor ¾ Jahren?)
6. Sept. Erneute heftige Angriffe an der Somme
        Angriff der Rumänen auf Siebenbürgen, der Bulgaren-Deutschen auf Rumänien.
8. Okt. Auftreten unserer Kriegs-U-Boote an der amerikanischen Küste.
            Rumänen mehrfach geschlagen. Endlose Riesenschlacht Somme.
                                       16.9. Alfred Neitzer, 22.9. Anton Thanisch gefalllen.
Ende Okt. 16: Feldzug in Siebenbürgen und Dobrudscha gewonnen. Walachei.
 
 
 

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Berncastel Cues, den 20. Juli 1915.
Meines Kriegstagebuches II. Teil, der hoffentlich bald den Frieden meldet. Dieses Buch kann ich gleich mit einer sehr erfreulichen Aufzeichnung beginnen: Bin ich auch strategisch ohne alle Kenntnisse, so scheint mir doch durch alle die jetzt gemeldeten Vorwärtsbewegungen im Osten herauszuschimmern, daß man die Russen entscheidend in Polen anpacken will. Geben sie nicht rechtzeitig die Weichsellinie auf, so werden sie wohl wie in einer Riesenzange erfaßt und eingekreist werden. Es muß wie ein bleicher Schrecken durch dieses Riesenreich gehen, daß jetzt Hindenburg losgeht und in gigantischen Umrissen seine Gestalt und sein Plan am nächsten Horizont der Russen auftauchen. Eine Karrikatur des Simplizissimus verbildlichte das kürzlich in treffender Weise (Russendämmerung) –  Helene war gestern nachm., heute morgen und heute nachm. je mit bestem Erfolge mit mir vom Krankenhaus zu unserem Moselgarten gepilgert. Sie kann zusehends besser gehen und gewinnt stark an Eßlust. Mama Rr. (Reitmeister, Helene) ist sehr damit einverstanden, daß ich Herta (Rech, Herta)  bringe und so werde ich wohl Samstag fahren. Es war ein heißer sonniger Tag heute, doch kam es leider zu einem Gewitter. Ich pflanzte einen Hochsommerkopfsalat “Graf Zeppelin”, der angeblich “nie schießt”. Der Hospitalsgärtner überließ mir Pflänzchen. Freund Bruhns (Bruhns, Leo) schrieb mir einen Brief; viele angesehene und alte Balten, darunter Bekannte und Verwandte mußten nach Sibirien, weil sie eine Geldsammlung für deutsche Gefangene veranstaltet hatten.
 
 

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Aus mancherlei Anzeichen schließt er, daß die Russen mit dem Verlust von Riga rechnen. Die Familie seines Bruders Oskar (Bruhns, Oskar) ist in Reval und scheine keine Erlaubnis zu haben, in die Schweiz zu reisen. Oskar geht es nach Mitteilung seiner Mutter körperlich besser. (Er sitzt dort als Untersuchnungsgefangener auf estnische Denunziation wegen angebl. Russenfeind- und Deutschfreund- lichkeit)
21.7.15 Heute morgen gab es von 8 - ½ 1 feste zu arbeiten. Danach schmeckt die Mittagsruhe. Helene will gegen 5 nach Hause kommen, sie sah recht frisch aus und aß mit Appetit zu Mittag. Meiner Mutter meldete ich unsere Ankunft zu Samstagmittag in Bonn. Frau Thanisch fährt schon Freitag, sonst hätten wir zusammen fahren können. An Bruhns schrieb ich Karte mit Nachricht über Noldes, die ich von Thelen hatte. An diese umgekehrt.– Die Stangenbohnen brachten gestern beim II. Pflücken noch reicheren Ertrag und morgen werde ich abermals pflücken müssen. Der Himmel steht voll prächtiger weißer Wolken, hoffentlich giebts bald Regen. Solcher ist stets noch sehr erwünscht.
Die große neue Offensive im Osten, namentlich auf beiden Flügeln ist den Russenverbündeten ein Stein im Magen. Ob damit die russ. Militärmacht für diesen Feldzug gebrochen wird? Die Italiener haben sich bei einem dritten großen Angriff an der Isonzofront wiederum sehr blutige Köpfe geholt. Alles wird dort unterdrückt, selbst die Nachricht vom Untergang des Kreuzers Garibaldi.– Die Russen als Einzelarbeiter und in Trupps sind jetzt schon ein ganz vertrauter täglicher Anblick im Bilde unseres ruhigen Städtchens. Ich freue mich darauf,
 
 

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bald am Rhein mal was anders und mehr Leben zu sehen. Die wiederholt gespritzten Weinberge stehen so schön wie nie. | Gestern kam von Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich), ein gedr. Bericht über seine Liebesgabenfahrt, diesmal nach Tirol. Dabei die Nr. 1 einer “Kriegschronik der Firma F. W. Brügelmann Söhne”. Ich würde als Firmenherr auch eine solche führen, aber ob ichs drucken ließe, weiß ich nicht. Es schmeckt etwas nach Reklame, ist aber “modern” und vielleicht auch praktisch.– “2 Chefs und 98 Anfgestellte stehen im Felde”. 2 Mann sind gefallen.
22.7.15. Heute ist Helene nach leidlich durchschlafener Nacht noch ziemlich schwach; natürlich hat sie trotzdem allerlei schon “nachgesehen” , meist aber auf dem Liegebett gelegen. Fr. v. H. schreibt, (sie hat leider ein L-“knäxchen”) daß ihr Mann in West- und Ostpreußen war und dort manches Interessante sah. Hindenburg soll gesagt haben: “In 4 Wochen bin ich mit den Russen fertig.” Ob ers so gesagt hat? Renommieren tut er sicherlich nicht.–Gestern abend las ich Onkel Dietrichs Bericht über seine III. Frontfahrt mit Liebesgaben; diesmal in die Tiroler Alpen bis zu 2300 m Höhe. Er hat da tolle Sachen erlebt, Willi (Brügelmann, Wilhelm) getroffen und durchs Scherenfernrohr italien. Stellungen in Schneegrenzenhöhe gesehen.– Die Tagesberichte melden das allseitige Vorrücken auf der Ostfront.
23.7.15. Tante Julchen  schreibt, daß Walter, der auf 14 Tage in Urlaub ist, mit seinem Uboot auf letzter Fahrt versenkte: 9 größere Dampfer, 4 Segelschiffe, 1 Fischerboot. Alle Achtung! Neulich 8, jetzt 14 Stück. Was und wieviel steht davon in der Zeitung und auf der Liste, wie sie jetzt die Kölnische Zeitung wieder brachte?
 
 

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Berncastel Cues 30. Juli 1915. Während sich draußen die Ereignisse weltgeschichtlicher Wichtigkeit überstürzen, machte ich aus unserem stillen Kreise eine kleine Reise, die mich mitten ins reiche Leben unserer Provinz führte. Als Berufsberater für Kriegsbeschädigte benutzte ich eine Einladung des Landeshauptmannes zur Teilnahme an einer Tagung für diese Fürsorge in Düsseldorf, um am Samstag morgen (um ½ 8 Uhr erledigte ich noch die am 24. fällige Kassenrevision) mit Herta [Rech, Herta] zunächst nach Bonn zu fahren, bei Großmutter Lord dort Mittagbrot zu nehmen und nachm. nach Begrüßung von Emma und Anita (Rech, Anita) (dem Töchterchen Josefs [Rech, Josef], daß sich sehr gekräftigt hat) nach Hersel zu den Großeltern zu fahren. In Coblenz waren nicht nur viele Feldgraue, sondern vor dem Bahnhof auch ein Truppenzug, freilich ziemlich versteckt zu sehen. Mit vielen grünen Zweigen und lustigen Inschriften (nach Paris, nach Warschau u. dergl.) geziert glich er ganz einem der vielen Züge, die wir vor fast Jahresfrist in Wengerohr in den ersten Augusttagen sahen. Was ist seitdem alles geschehen! Den noch stärksten Eindruck bis jetzt im ganzen Kriegsjahr hatte ich dann Montag (26.) morgens um 8 Uhr auf dem Kölner Hauptbahnhof. Die riesige Halle war dichtgedrängt voll Feldgraue jeden Alters. Es war wie ein riesiger leise summender Bienenstock. Das gleiche Bild oben auf dem Bahnsteig, wo der Personenzug nach Düsseldorf abfuhr. Dort stand alles in kleinen Gruppen von 3 - 10 Mann umher. Alle deutschen Dialekte konnte man da hören und die verschiedensten Waffen und Monturstücke sehen. Auch feldgraue Stahlhelme sah ich. Die große und glänzende Versammlung in der städt. Tonhalle, die Reden und Vorführungen
 
 

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von Beschädigten die Darlegung der ganz neu geschaffenen Organisation der Kriegsfürsorge gab mir ein überzeugendes Bild von dem großen, ja übergroßen Reichtum unserer rheinischen Provinz. Hier an der Mosel, zwischen den wirtschaftlich bescheidenen Landesteilen des Hunsrücks und der Eifel kommt das einem ganz aus dem Gedächtnis, was mir als Rechtsanwaltsvertreter in meiner Referendarzeit ganz selbstverständlich war: Das Gefühl, daß wir in einem reichgesegneten Lande leben. Der Eindruck war um so stärker, als er durch den Anblick der reichen Bodenernte in der rheinischen Ebene noch besonders vorbereitet war. Ist der Hafer hier fast nur fußhoch geworden und viel Roggen nur sehr kümmerlich geblieben, so stand dort allenthalben der Hafer in natürlicher Höhe, der Weizen strotzend und der Roggen gut. In unserem Moseltal aber ist es noch wärmer und hierher zurückgekehrt, finde ich die Stangenbohnen viel weiter, Mirabellen schon überreif und die Trauben an den Hausstöcken im Begriffe, in den Wein zu gehen.– Ich lernte eine Menge auf jener Tagung; schon heute morgen hatte ich Gelegenheit, es nutzbringend zu verwerten. Die einfachsten Ersatzglieder schienen mir für die Arbeit die allergeeignetesten. Um alles geistig gründlich zu verarbeiten, zu verdauen und mir ganz anzueignen, werde ich noch einige Zeit gebrauchen. Nachmittags besuchte ich Leny (Rech, Leny), Johannes (Rech, Johannes) Frau bei den Großeltern Schröder dort, Graf Reckestr. Ich traf sie alle mit dem kleinen Horst (Rech, Horst) zu Hause an. Dieser Kriegsjunge wird in der
 
 

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ersten Hälfte August “Einjähriger”. Ein prächtiges Kerlchen, der mit seinen blauen Augen mich in etwa an Bruder Christians Gesichtsausdruck in seinen Kinderjahren erinnerte. Johannes war donnertags zuvor noch dort in Urlaub gewesen. Vater Schröder, dessen italien. Geschäft seit Mai ganz darniederliegt und der nicht weiß, wie er die Zeit totschlagen soll, begleitete mich zum Zuge. Abends war ich wieder in Hersel, wo ich dienstags mich ausruhte. Herta ist eine Freude der Großeltern und ich konnte sie mit gutem Gewissen und ohne Besorgnis dort zurücklassen. Mittwoch morgen fuhr ich mit Vater Reitmeister (Reitmeister, Peter) nach Bonn, blieb bis Mittag bei meiner Mutter (Rech, Anna Maria) (beriet Emma (Rech, Emma) noch morgens bei Josef’s Vertreter, Ra. Ödekoven) und fuhr nachm. heim. Helene ist noch schwach, erholt sich langsam aber stetig. Hier ist reichlich zu tun. Amt und Berufsberatung sind bald abgearbeitet. Im Garten und auf dem Feldgrundstück ist reiche Ernte. Alles ist um Wochen früher als voriges Jahr.Man redet schon von Faßnot für den kommenden reichen Herbst, neue Fässer sind auf 70 M (gegen 45-55 sonst) gestiegen. Es sind bereits Küfer aus der Front zur Faßherstellung beurlaubt und das hat bereits dem weiteren Aufschnellen der Frachtpreise Einhalt getan. Schon will man an der Obermosel von 250 M per Fuder, einem unerhört niedrigen Preise sprechen, der auf eine riesige Menge schließen lassen würde.– An der Isonzofront sollen die maestri commaxini 100000 Mann Verlust neuerdings gehabt haben.
 
 

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 31. Juli 15 Heute meldet ein grünes Extrablättchen, daß die Österreicher in Lublin eingezogen sind. Damit haben die Russen eine Bahn weniger von Iwangorod. – Nach dem gestrigen Tagesbericht ist die russische Front zwischen Weichsel und Bug im Wanken. Werden sie sich alle auf Warschau zurückziehen und dies ein II. Sedan werden?– Von heute Nacht an sind alle Küchen- und Backgeräte aus Kupfer Messing und Reinnickel beschlagnahmt. Wir haben 3 reinnickelne Kochkessel herzugeben; 19 M wird pro kg gezahlt. Wir geben sie gern und freuen uns nur, daß unser schöner “sakraler” Messingkronleuchter noch nicht in den Krieg ziehen braucht. Kommt die Not an ihn, so soll er auch weg. Nähgarne sind auch in größeren Mengen beschlagnahmt und daher sehr knapp; hier kaum mehr zu haben. Wir bekommen wohl welches noch aus der “Handlung” von Rosas Eltern in Commen, von wo Helene vor etlichen Tagen auch noch eine Reihe Päckchen “Friedrichsdorfer Zwieback”, sogar zum alten Preise, bekam. Anthrazitkohlen zu 1,90 per 50 kg bekamen wir reichlich. Es ist warmes Wetter, ein nächtlicher Regen nutzte sehr. Marianne ging vor Tisch in warmer Sonne zu ihrer Freude mit den Eltern spazieren. Helene führe ich noch stets am Arm; ist noch schwach, es eitern immer noch Fadenendchen aus.
1.August 1915 Wieder bewegen sich Gruppen von betenden Frauen und Mädchen auf beiden Seiten der Mosel und ich höre vom Liegestuhl aus ihr lautes und eintöniges Beten wie vor Jahresfrist. Welches Leid hat dieses Jahr gebracht! Aber die Wagschale neigt sich immer deutlicher zu unseren Gunsten. Das II. Kriegsjahr wird gewiß –und hoffentlich bald– die Beendigung zu unseren Gunsten bringen. Schon fiel in England das “heikle Wort” von der Niederlage und ein schwedischer Neutraler entwickelt bereits den Plan eines starken Angriffs der Zentralmächte auf Egypten, wenn erst die Russen darniedergeworfen seien. Rumänien und Bulgarien würden sich dann zu entscheiden haben. Vater Reitmeister (Reitmeister, Peter), der doch ein Menschenalter hindurch fortlaufend persönliche und geschäftliche Beziehungen zu Holland hatte, denkt sich die Lösung des Flamenproblems so:
 
 

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Alle flämischen –auch noch zu Frankreich gehörenden– Gebietsteile werden zu Holland geschlagen. Dies geht mit uns eine Militärkonvention ein. Im Innern mögen sie machen, was sie wollen. Hinarbeiten auf Zollgemeinschaft, “Eingemeindung” auch als Ausdruck zu vermeiden.
3.8.15. Seit gestern liegt Helene leider mit geringem Fieber (bis 38,6°) zu Bett. Die Wunde, welche Fäden absondert ist etwas größer geworden und giebt viel Eiter ab. Hoffentlich heilt sie bald entgiltig von innen heraus ab. – Alle Welt starrt nach Polen, unsere Feinde scheinen recht Angst um den Ausgang des Riesenkampfes dort zu haben. Bringt der August die Entscheidung? Die Italiener rennen sich immer noch die Köpfe am Isonzo ein. Fortschritte scheinen sie trotz großer Opfer kaum zu machen. Nun sollen sie auch zu den Dardanellen Truppen und nach Frankreich Kavallerie schicken!
5.8. Das riesenhafte deutsche Unwetter, das sich auf die Russen und Polen zusammengezogen hat, entlädt sich jetzt Schlag auf Schlag. Gestern schon griffen die Baiern Warschau an, vielleicht haben sie bereits heute einen Teil davon, wie es die Österreicher schon an Iwangorod haben. Die nach Osten zusammengezogenen Luftschiffe zerstören die östlichen Bahnverbindungen, was dem anscheinend jetzt allgemeinen russischen Rückzug böse Stockungen verursachen wird. Ein englisches Unterseeboot versenkte in der Ostsee einen deutschen Dampfer. Ich bestellte zusammen mit Erkleben 20 gr Samens von Zwiebeln, die man jetzt sät, Oktober auspflanzt und im Mai als dicke Zwiebeln erntet. Hoffentlich gelingts. Helene ist gottlob wieder auf. Von
 
 

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Herta kam ausführlich gute Nachricht von ihrer Großmutter, Marianne, die jetzt auffallend an mir hängt (der “Tata” wie sie laut zu rufen pflegt, geht über alles), ging vor Tisch mit mir zu Erklebens Wohnung und zurück. Margaret Thanischs Söhnchen Walter verstand sich gut mit ihr. Der Junge ist ein Jahr alt und sieht dem Vater ähnlich. Schwesterchen 1 Monat, welches früh gekommen. Ein prachtvoller sonniger Tag, der trübe begann.
6.VIII.15 Ich pflückte gestern nachm. auf dem Felde Gurken; da kam der Feldhüter Denger und wußte “das Neueste”. Ich dachte mir schon gleich: Warschau unser! Bald hörte man in Cues und Wehlen die Glocken läuten und als ich gegen 5 nach Hause kam, tönten auch endlich mal wieder seit langer Zeit die tiefen Töne der großen Glocke der Bernkastler Kirche. Bald dröhnten Böllerschüsse und Mariannchen verfehlte beim Kaffetrinken nicht, jedesmal mit erhobenem Zeigefingerchen und “Buh” uns aufmerksam zu machen. So spielte sich bei uns die Nachricht dieses sicher sehr einflußreichen Ereignisses ab. Sehr bezeichnend besetzten die Baiern unter Prinz Leopold die Stadt. Ob sie unser bleiben und vielleicht ein Wittelsbacher Polenkönig werden wird? Die Russen scheinen die Stadt noch rechtzeitig geräumt und nur verhältnismäßig schwach durch Nachhuten verteidigt zu haben. – Höchst interessant und lehrreich ist für mich als Berufsberater ein ganz ausgezeichnetes Buch eines Oberbergrats Flemming aus Saarbrücken über die Arbeitsmöglichkeiten Verkrüppelter. Es kam in 2 Einzelstücken, beide bereitete ich heute für einen festen Einband vor. Eins soll ins Lazarett kommen.
Hoffentlich behalten die “Neuen Züricher Nachrichten” Recht mit ihrem Worte: Der Fall Warschaus ist der Fall des Viererbundes.– Herta fühlt sich sehr wohl bei den Großeltern in Hersel, beide sind sehr froh mit ihr und schreiben uns ausdrücklich, daß sie ihnen nicht lästig sei.
 

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Warschau.               Das Geheimnis des Ringes.
7. August 1915. Der Fall von Warschau und Iwangorod, das die Österreicher am selben Tage nahmen, erweckt im ganzen Reiche eine große und starke Freude. Auch im Ausland wird dieser Schlag gegen die Russen allenthalben betont. Stegemann im Berner Bund eröffnet den Russen die schlimmsten Aussichten. Unsere Reiterei scheint jetzt im Osten eine große Aufgabe zu leisten. Die Festungen fallen jetzt, ganz wie Bruhns es neulich als seinen sehnsüchtigen Wunsch schrieb “wie reife oder gar wie wurmstichige Früchte” uns in die Hände. Das Ganze will mir als ein bis ins Einzelne ausgeheckter Riesenplan von Hindenburg erscheinen. Daß wir jetzt, nach 1 Kriegsjahr, als Sieger dastehen, können selbst die Engländer nicht leugnen. Sie halten die Hauptstreitkräfte ihrer Hochseeflotte ängstlich irgendwo versteckt und ein neutraler Matrose von einem nach Kirkwall geschleppten Schiff hat sie auf einem Ausflug zufällig entdeckt, bei Scapa Flow, einer ganz versteckten Bucht in den Orkney-Inseln liegt sie wie eine brave Schafherde beieinander.Daß man nicht mal schnell mit etlichen U-booten hinkönnte. Tatsächlich scheinen 2 unserer Unterseer im weißen Meer sich bei Archangelsk zu bewegen. Französ. Munitionstransporte sollen schon deswegen aufgehört haben.– Gelegentlich einer Traumvorstellung im halbwachen Frühmorgenschlummer tauchte mir kürzlich eine Erinnerung an einen Traum auf, den ich schon mehrfach während des Krieges geträumt haben muß. Auf eine geheimnisvolle, mir nicht mehr erinnerliche Weise wird mir mitgeteilt, daß mein goldener Ehering, weil ich ihn stets am linken Ringfinger
 
 

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getragen habe, eine ungeheure Zauberkraft besitze, über die mir aber nichts mitgeteilt werden dürfe. Ich müsse sie selbst finden und dürfe sie niemandem mitteilen, solle sie nicht alsbald wieder verlorengehen. Ich zerbreche mir natürlich den Kopf darüber, welcher Art die Kraft wohl sein könne, erinnere mich der Zauberringe Salomos, der damit starke Geister in eine Kupferflasche bannt und mit Blei zupetschierte; nicht minder des Rings von Alladin, der sobald er gerieben wird, den ungeheuren Geist beschwört, der schlechthin keinen Dienst versagt u.s.w. Aber alles Reiben, Rollen, Abfingern, Werfen, Schieben und zauberhaften Herumhantierens will nichts fruchten; nichts läßt an dem Ring verspüren. Auch, daß ich seine Innenfläche mit Holz und Metallstiften leise streiche oder gar ganz fein den eingeritzten Schriftzeichen nachfahre, bringt keinerlei Wirkung hervor. Nach vielen Tagen voller eifrigster Bemühung mit Hand und Kopf nach jeder Richtung gebe ich es schließlich auf, das Geheimnis, an das ich fest und zuversichtlich glaube, auf dem Wege irgend welcher Methode oder des Nachsinnens, zu ergründen. Ich stecke den Ring ruhig wieder an den Finger und denke: Ein Zufall wird dir zur rechten Zeit schon zeigen, was es mit dem Ring auf sich hat. Nach einiger Zeit habe ich auf dem Felde die Tomaten angebunden und abgeblättert, auch Unkraut daran ausgezogen und sie bewässert. Meine Hände sind voll Erde und grüngebeizt von dem scharfriechenden Kräutersaft der Tomatenstauden. Ich nehme etwas Kalk und will mir damit die Hände rein waschen, ziehe den Ring ab und lege ihn auf ein Spiegelbrett im Gartenhäuschen.
 
 

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Ein heftiger Windstoß reißt die Tür auf, das Brett klappt, der Ring fällt herab, läuft auf dem glatten Linoleumboden zur Tür hinaus; ich höre ihn deutlich die 4 Steinstufen hinunterspringen und denke, den findst du gleich vornan im Gartenkies. Sowie die Hände rein und trocken sind, gehe ich ihn suchen, ich finde ihn nicht sofort und es fällt mir ein Stück starken Drahtes in die Hand, den ich kurz zuvor auf dem Wege zum Garten gefunden, mitgenommen und geradegeklopft hatte. Ich stöchere damit im Kies herum, plötzlich sehe ich den Ring, stecke den Draht hindurch und hebe ihn damit auf. Da überkommt mich die Lust ihn durch eine kurze Handdrehung um den Draht kreisen zu lassen und als er feste im Laufen ist, lasse ich ihn den Draht entlang mir auf die Hand fallen. Eine Strecke lang berührt er den Draht nicht und ich habe ihn noch nicht aufgesteckt, da fällt mir auf, daß der Draht ein stück lang goldig schimmert. Ich denke: nanu, der Ring kann sich doch nicht so stark daran gescheuert haben. Ich weiß zwar, daß es sehr reines Gold (900/1000) und weich ist. Ich biege den Draht an der gelben Glanzstelle durch, dann hin und her und breche ihn schließlich ab: Er ist durch und durch gelb und weich. Ich hab aber doch vorher gar nichts davon gemerkt, daß es ein Messingdraht war. Ich besehe ihn mir noch mal: Es ist ein gewöhnlicher verzinkter Eisendraht, nur ein großes Stück des unteren Drittels ist wie Messing. Plötzlich ein blitzschneller Gedanke: Ich hab das Geheimnis des Rings entdeckt: Er verwandelt alles in Gold, wenn mans hindurchzieht, ohne seine Wand zu berühren. Schnell die Probe: Ich halte ihn mit der Linken und stecke das Drahtende hindurch: Es ist gelb und goldig. Ich fühle, wie mir vor freudigem Schreck die Beine zittern. ––––
Forts. Seite 15
 
 

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Mutter Rr. (Reitmeister, Helene) teilt heute mit, daß Willy (Reitmeister, Willi) telefoniert hat: Elsbeths (Reitmeister, Elsbeth) Mutter, Frau Zieting ist in Bernau gestorben, wo sie bei Verwandten war. Willy war eben dienstlich in Berlin, wußte nichts davon und fand erst bei seiner Rückkehr beunruhigende Briefe vor. Elsbeth wird nun von Au nach Siegburg kommen, Heinz (Reitmeister, Heinz) kommt morgen mit Mädchen nach Hersel. Herta wird sich freuen. Arme Elsbeth! Für die Mutter und sie ists freilich rein objektiv gesehen eine Erlösung. – Die Österreicher melden zugleich: Versenkung eines italien. U-bootes durch ein österr. und Herabholen eines Luftschiffes, das nach Pola fuhr, mit Schrappnellfeuer. Wohl in dieser Form der erste Fall im Kriege. Besatzung gefangen genommen und Luftschiff erbeutet. In der Emmenthaler Zeitung, die Bruhns mir schickte, lese ich , daß die Italiener bei dem Riesenangriff am Isonzo 300000 M vorgeschickt und 100000 davon verloren haben sollen! Bei der ersten Angriffsschlacht verloren sie 60000 Mann. Nun wollen sie auf die Dardanellen los! Bulgarien, das jetzt auch Anleihe von uns bekommen hat, steht wohl dicht vor dem Kriege gegen Serbien. Äußerer Anlaß: Verlangen nach Aufhebung der serbischen Donausperrung. Rußland hat wohl ausgespielt, auch für die Balkanfritzen. Ein türkisch-bulgar. Vertrag soll fertig sein. Wird Rumänien einschwenken? Es ist jetzt wohl die Wagschale entgiltig zu unseren Gunsten gesunken. Der Simplizissimus bringt ein herrliches Titelbild: Der deutsche Wehrmann schützt seine Heimat.–
9.8.15. Ein heißer Sommertag mit hellstrahlender Sonne. Merkwürdigerweise bleiben die vielen Fliegen heute aus, die mich die letzten Tage und gestern noch so stark plagten.
 
 

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Unser Aktuarius Reuter, der sich seiner Gesundheit halber nach Siegburg versetzen ließ, erlebte dort ein merkwürdiges Geschick, wie mir unser Rechtsrat Faber heute morgen erzählte: Während hier, im Bereich des VIII. Armeekorps seine Unabkömmlichkeit als Justizbeamter anerkannt worden war, wurde er dort, im XXI. Armeekorpsbezirk, in Kreuznach neuerlich gemustert, zur Infanterie ausgehoben und alsbald zur Garde nach Berlin einberufen, wo er schon die 2. Woche dient. Hätte er dies vorausgesehen, würde er wohl die sommerliche Talhitze hier eher haben ertragen können, zumal ihm der Gardedienst fast unerträglich ankommt. Man versucht, ihn loszueisen, aber das wird wohl jetzt nichts mehr helfen. Von Josef (Rech, Josef) kam ein sehr beruhigender Brief, den unsere Mutter mir schickte: Er liegt zwischen Metz und Nancy auf einer Ferme, hat vorzügliches Quartier, gutes Leben und ist sozusagen außer Gefecht. Helenens Wunde scheint sich langsam schließen zu wollen. Sie kann immer noch nicht weit gehen, kaum stehen und fühlt sich nur beim Liegen ohne Beschwerden. Von dem reichen Behang der Reineklaudenbäume sind mehr als ¾ jetzt frühreif und leider wurmstichig. Ebenso gehts mit den dicken roten Pflaumen. Die Hitze bringt die Tomaten früh zum Reifen und so aßen wir heute unsere 2. Suppe von eigenen Tomaten.
Weiße Wolken ziehen auf, hoffentlich giebts bald ein Gewitter. Die Faßnot scheint wirklich ernstlich zu werden, jetzt wird vorgeschlagen, gefangene Franzosen mit der Herstellung von Fuderfässern zu beschäftigen. Reinecke schrieb zum Jahrestage seines Ausrückens: 6. August. Seit diesem Tage bin ich jetzt ein Jahr schon aufsichtf. Amtsrichter hier. Wer hatte 1910 daran gedacht, als ich als Assessor hierhin kam?
 
 

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Märchen   –––   Kanonendonner
Jetzt ist die große Geldfrage für unser Reich gelöst: Vorsichtshalber schneide ich mit der Blechschere, die ich im Bienenhaus habe, ein Stückchen ab und bringe es zum schwachen (?) Kronser, er bestätigt es als gediegenes Gold, desgl. der Zahntechniker Bell, dem ich es gleich für Zwecke des Roten Kreuzes lasse. Jetzt ist es nicht schwer, die Golderzeugung im großen zu betreiben. Ich richte mir im Garten eine kleine Werkstätte her, der Ring wird eingeklemmt, 10 mm starker Eisendraht in Massen beschafft und mit einem kleinen elektrischen Motor zwischen 2 Walzen genau so durch den Ring gestoßen, daß nirgends eine Berührung stattfindet. Tag und Nacht geht die Goldmühle. Damit keiner was merkt, ist der Ring in verdeckter Fassung angebracht und der vorschießende Goldstab überzieht sich automatisch mit einem Tarnanstrich. Ich selbst schneide mit einer Stanzschere die Stücke auf kurze Längen ab und versende sie täglich in Weinkisten unter Deckadresse an die Reichsbank. 10% des Goldwertes werden mir im Reichsschuldbuch als 5% Schuldverschreibung eingetragen. Die Reichsbank hat binnen kurzem trotz reichlichster Goldabgabe ins Ausland den höchsten Goldbestand aller Weltbanken und die Engländer sehen, daß sie zu kurz kommen und machen nach 2 Monaten Frieden. Bis dahin habe ich mehr als 20 Millionen im Schuldbuch stehen und zerbreche mir den Kopf, was ich mit dem Geld anfangen soll.– Was geschähe, wenn das Märchen Wahrheit würde? Das Gold verlöre vermutlich seinen Wert und ich meine Zufriedenheit.––
Schon vor wenigen Tagen glaubte ich, wieder ab und zu Kanonendonner zu hören. Soeben gegen 3 ¼ Uhr nachm. hörte ich mehrere dumpfe starke Schläge ganz genau.
 
 

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10. August 1915 Schultze hatte doch recht, als er gestern morgen das Gerücht eines Luftbombardements von Saarbrücken erzählte. 9 Tote und 26 Schwerverletzte, viele Leichtverletzte waren das Opfer dieses unsinnigen Angriffs, für den wohl wieder Vergeltung geübt werden wird. 2 Luftfahrzeuge wurden herabgeschossen. Schönberg erzählte heute, in Calais habe man unsererseits den dort versammelten englischen Marinestab beim Mittagessen bombardiert. Das Kanaldrahtnetz scheint tatsächlich zu existieren, soll an 80 Millionen (Pfund?) gekostet haben. Ein Unterseer von uns soll ihm zum Opfer gefallen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses Netz nicht relativ leicht zu beseitigen oder lokal zu zerstören sein soll. Unsere schwere Flotte soll in der Ostsee sein, Angriff auf Riga, Reval oder Kronstadt beabsichtigt? Die nördl. in den Ostseeprovinzen stehenden Truppen sollen Verpflegung auf dem Seeweg erhalten. Torpediert wurden ein englischer Hilfkreuzer India 7900 t bei Badil, und der Barbarossa Saindic (?), ehem. ein Schiff unserer Brandenburgklasse im Marmarameer durch ein englisches Untersseboot. Ob die Engländer nicht noch mal einen Vorstoß in unsere Nordseegewässer machen werden? Nowo Georgewisk scheint von uns fast ringsum eingeschlossen zu sein. Riga wird von den Russen zur Räumung vorbereitet. Die Polen möchten lieber österr. als preußisch werden. Der Bonner Generalanzeiger, stets etwas voreilig, hat schon die Bulgaren gegen die Serben mobilisiert. Auf unserer Westfront ist es eigentlich verdächtig still. Karl Liell kam gestern abend fröhlich als
 
 

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Vizefeldwebel vom Sennlager heim. Samstag geht er wieder zur Front, nach seiner alten Stellung in Flandern (Langemark). Frau Liell war seit etlichen Tagen stets in höchster Unruhe, stand gottweiß wie früh auf, ging eifrig zur Kirche u.s.w. Gestern abend waren sie bis in tiefe Nacht hinein fröhlich zusammen. Es regnete in dieser Nacht, heute ist es schwülwarm, nachm. voll Wolken. Schöneberg will einen Firmenausflug nach Dänemark und Schweden machen. Mit welchen Tartarennachrichten wird er von dort heimkehren. Frau Zieting wird heute in Schönermark bei Gransee bei ihrem Mann beerdigt. Törichterweise gedenkt Elsbeth noch länger dort zu bleiben, “um alles zu regeln”. Besser ginge sie gleich wieder in Kur nach Au.
11. Aug. 15 Heut morgen las ich zu meinem Schreck das mit Schreibmaschinenschrift vervielfältigte “Sonder”-blatt –so heißt es jetzt stets– , das wieder einen französischen Fliegerangriff, diesmal auf Zweibrücken und St. Ingbert meldet. Wieder sind 8 Leute tot und manche verwundet. Was soll das?, denke ich. Ist es Vergeltung für deutsche Bombenwürfe an besonders empfindlichen Stellen, oder müssen am Ende die Franzosen Vergeltung üben für Angriffe unserer Luftschiffe auf englische Küsten. Nein, die Luftschiffe sind ja “nach dem Osten zusammengezogen” . . . Ich war mit diesen Erwägungen noch nicht fertig, das stand ich am rechtufrigen Brückenpfeiler, wo mehrere Leute eine Depesche lasen. Ich wollte schnell vorbei, da ich die Fliegergeschichte schon genügend genau gelesen hatte, da sah ich ein neues, diesmal gedrucktes, grünes Sonderblatt: Also doch: In der Nacht 9/10 August haben unsere Marineluftschiffe die englische Ostküste besucht, dort trotz heftiger Beschießung Kriegsschiffe in der Themse, den Docks, Hamstead  “mit Erfolg” beworfen. Sie
 
 

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kamen unbeschädigt nach Hause. Welche Wut muß die hiergegen machtlosen Engländer bei solche Überfällen heimsuchen. Ob die Luftschiffe nicht mal bis Scapa Flow kommen. Bodö in Nord-Norwegen habe ich gestern entdeckt die englische Blockade Norwegens wird wohl durch unsere Tauchboot stark in Frage stellt werden. (Der Satz ist wirklich so formuliert) Ein englisches Tauchboot versank bei den Dardanellen. Dort wurde ein neuer Landungsversuch gemacht, ohne Erfolg. Die Bulgaren erhalten jetzt eine ½ Milliarde von uns gepumpt; wir müßten doch schön dumm sein, täten wir das ohne Vertrag.– Heute vormittag war bis gegen ½ 1 Uhr großes Leben auf unserer Straße und kurz vor unserem Hause. 3 Offiziere mit etlichen Artilleristen hielten Pferdeschau bei Thals ab. Vater und Sohn Thal hatten sich in Sonntagsmontur geworfen, die Pferde wurden auf und abgeführt, am Halse, im Maule usw. untersucht und an der Schulter gemessen. Trotzdem ja große Pferdeknappheit herrschen soll, wurden keineswegs alle genommen; die angekauften erhielten z.T. rechts, z.T. links am Halse eine Marke aufgebrannt. 21 Stück wurden schließlich zur Bahn gebracht, je 3 zusammengekoppelt. Alle Nachbarn, von der Arbeit zur Mittagspause heimkehrende Arbeiter und Kaufleute, Kinder und Frauen gaben einen reichen “Umstand” ab, dazu schien zwischen Wolken eine helle Sonne: es war ein recht belebtes Bild in unserem sonst so stillen Städtchen. Der Hausstock hat schon reife weiße Trauben, die von den Vögeln angepickt, nun von den Bienen fleißig ausgepickt werden
13.8. Diese Nacht tobte sich ein heftiges Gewitter aus und am regnerischen und trüben Vormittag brannte das Plein’sche Haus ab; bei der Frau kaufen wir
(Zwischen Seite 18 und Seite 19 sind zwei Zeitungsausschnitte eingeklebt: “Ein Seesieg bei den Aalandsinseln”, “Taten und Ende des “Meteor””, “Die englischen Kriegschiffverluste”)
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unsere Einmachgeschirre. Sie dauert mich doppelt, da ihr Mann einberufen ist. Aber wieviele Häuser brennen heute unter schwereren Bedingungen ab. Kaufmann Koch zwar meinte, die Feurewwehr sei mal wieder viel zu schnell am Platze und viel zu eifrig beim Abreißen gewesen. Man habe es mal ordentlich brennen lassen sollen. Es hätte dort an der Hebegasse (?)einen hübschen Marktplatz gegeben. Alles wäre gut versichert und die Versicherungsgesellschaften zahlten ja toll hohe Dividenden. Auch ein Standpunkt.– Jetzt scheint die Sonne und ich muß mich gleich ans Einernten der ersten Prinzeßböhnchen machen. Es giebt vielleicht bald wieder ein Gewitterregenchen.–Marianne wird stets kühner und gewandter. Mit Hilfe ihres kleinen Kinderstühlchens klettert sie schon aufs Fensterbrett und an das Gitter im Fensterrahmen. Frau v. H. schreibt, daß es ihr wieder sehr viel besser gehe, ich solle nur mal in den Ferien hinkommen. Geht aber nicht. Die Verdeutschung macht ebensolche Fortschritte wie unsere Truppen im Osten. Hieß es im Bericht der “Obersten Heeresleitung” am 10. ds. noch “Armee”, so heißt es am 11.:Heeresgruppe”, ein schöner Ausdruck, der bald Genossen findet, z.B. für das “Bataillon”, mit dem ich im fortlaufenden Kampfe liege, ob es nicht mit 2 “tt u. 1 l” zu schreiben sei usw. Bruhns schreibt auf einer Karte sehr trübe Nachrichten aus seiner baltischen Heimat. Die erzwungene “Flucht” der Balten vor den anrückenden Deutschen bedeutet Verschleppung und Elend, wo viele zu Grunde gehen. Wir werden der Balten beim Frieden zu gedenken haben.
 
 

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14. Aug. 15. Wieder waren unsere Luftschiffe an der englischen Ostküste. Der Bund meint, unsere Gegner würden versuchen, “den Warschauer König mit dem Stambuler Aß zu stechen”. Wenn da nur kein “Petersburger Bauer” dazwischen sticht! 15./ Gestern schon stand im Extrablatt angeschlagen, daß eines unserer Tauchboote im ägäischen Meer einen bemannten 10000 t englischen Transportdampfer versenkt hat. Nur wenige Soladaten sind gerettet. Schrecklich, aber doch sehr erhebend für uns und die Türken. Es wird ja jetzt ein neuer Angriff der Engländer von der kleinasiatischen Landseite her vorbereitet. Ein schmerzhafter Anfang. Die Rumänen haben das Ausfuhrverbot für Getreide ect. aufgehoben. Sie ersticken vermutlich in solchen Erzeugnissen. Hoffentlich hört dort die schmähliche Bestechungswirtschaft auf. Es scheint, daß es daran ist, was jüngst ein Schwede in einem neutralen Plan als die nächste Folge des Zusammenbruchs der russischen Kriegsmacht darlegte: Der deutsche Angriff auf Ägypten , um dort England entscheidend zu treffen. An der Front scheint man von ähnlichem zu reden. Hugo Thanisch begegnete mir heute morgen und berichtete ähnliches von seinem Bruder Anton, der großes an der Lorettoschlacht erlebt haben muß. Jetzt hat er 3 Wochen Urlaub. Er liegt bei Soissons. Ob dort ein Durchbruch von uns geplant wird? Auf 50 m läge man sich gegenüber , beschösse sich jedoch wie auf Verabredung nicht. Für den Fall, daß wir zu den Türken wollen, werden sich vielleicht die Rumänen zu etwas entschließen müssen.
 
 

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Linsingen, von dessen Karpathenarmeen man nichts rechtes mehr hörte, soll wohl für Rumänien bereitstehen. Ob es zunächst gegen die Serben los geht und zugleich vielleicht die Bulgaren mittun? für den 4erVerbund scheint es zur Zeit auf dem Balkan sehr flau auszusehen. An Frl. Tholin ging heute längerer Brief ab. Ein kleines Gewitter brachte eben sehr erfrischende Kühle. In Hersel scheints noch gut zu gehen, Papa (Reitmeister, Peter) schrieb infolge Arbeitsüberhäufung von Mama mit Einmachen ect. selbst den “Sonntagsbrief”. Herta ist sehr wohlauf dort. Helene wird wohl bald hinreisen können. – Tomaten bringen reichliche und köstliche Ernte. – Die Österreicher verloren in der Adria ihr berühmtes Uboot 12 mit dem Linienschiffslt. Lerch, der s.Zt. den Courbet torpedierte. Die Mannschaft ging mit unter.
17. Aug. 15. U3 der Österreicher mußte nun auch dran glauben. Die Italiener versenkten es in der Süd-Adria und retteten einen Teil der Besatzung. – Um Regen ist am Ende zu stark gebetet worden. Hatten wir bis an etlichen Tagen regelm. nachm. gegen 4 ein kleines Gewitter mit Regenschauern, so kommt jetzt noch eins am Vormittag und ein drittes nachts hinzu. Zur Zeit sitze ich bei solchem mit heftigem Regen eingeschlossen um 4 im Gartenhaus. Es ist schade, daß man nicht dazu kommt, das jetzt reife Steinobst einzuheimsen und die Gemüsefelder zu bestellen.

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18.August 1915 Kownos Fall (Fehlen noch Grodno, Ossowiez, Brest Litowsk, Rubno (Kronstadt?) Heute morgen hatte ich einen sehr strammen Tag und von ¾ 8 ab fleißig zu tun. Eben blieb mir vor Tisch noch ein halbes Stündchen und um es, da es nicht regnete, nützlich anzuwenden, lief ich zum Garten und pflückte Prinzeßböhnchen und Tomaten. Ich war noch nicht ganz fertig damit, da läuteten alle Glocken. Ich bedachte mich auf dem Heimweg: Was kann denn jetzt so großes geschehen sein; sicher ist Kowno gefallen, der gestrige Tagesbericht teilte bereits die Erstürmung der Forts zwischen Nyemmen und Issija mit und auf der Karte hatte ich mir genügend die Bedeutung dieser wichtigen Festung klargemacht. Schon hingen die Fahnen bei Frau Kreisarzt Dr Knoll und bei Karfpeckens (?) und Eich’s Haus heraus und ein grünes Extrablatt meldete es: Kowno gestürmt, an 400 Geschütze (gestern waren es schon 260!) und unübersehbares Material erbeutet. Hurrah! Frau Liell hat sich auf meinen Rat den Flaggenstock mit einer Schnur-Rolle zum Aufziehen der Flagge versehen lassen und nach Tisch zog ich erstmals die Flagge daran auf. Allgemeines Bedauern herrscht über die Nachricht, daß ein Sohn des Bankdirektors Thappich hier in Rußland gefallen sei.– Helene ist sehr erfreut darüber, daß sie heute mit gutem Erfolge wieder morgens etwas im Haushalt hat mithelfen können. Tomaten wurden da eingemacht, Mirabellen gedörrt, Perlzwiebel vorbereitet und gefüllte Tomaten geschmort, ein Gericht, das wir zum ersten Mal aßen und das vorzüglich schmeckte. Dazu schrieb Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) recht befriedigt. Herta geht es gut.
 
 

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Heute morgen war u. a. ein verwitweter und etwas dem Trunk ergebener aber sonst recht fleißiger Tagelöhner Klassen aus Monzelfeld bei mir. An etlichen Jahren hatte ich seinen ältesten Jungen in Fürsorge Erziehung tun müssen und jetzt ist ein gleiches für einen jüngeren der Fall, der noch schulpflichtig ist und tolle Streiche macht. Der Vater ist damit sehr einverstanden. Der ältere, jetzt 20 Jahre alt, hat sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet und war schon 3 mal verwundet, hat angeblich auch das Eiserne Kreuz. Erst war er bei der Marine, dann bei der Artillerie und jetzt beim Train. Der Vater hat selbst mitgewirkt, daß er vom Landeshauptmann aus der Fürsorge Erziehung entlassen wurde. Hoffentlich kehrt er als tüchtiger Mensch gesund heim zu Vater und Geschwistern, wo er dringend nötig wäre. Es scheint tatsächlich so zu sein, wie es im Zentralblatt für Jugendfürsorge etliche Anstaltsleiter stolz mitteilten: Der Krieg hat auf die älteren Fürsorgezöglinge befreiend und erzieherisch gewirkt. Hoffentlich mit dauerndem Erfolg.
19. Aug. 15 Der gestrige Tag brachte uns noch weitere günstige Nachrichten: 5 unserer Torpedoboote vernichten einen kleinen modernen englischen Kreuzer und 1 von 6 englischen Zerstörern! Das war wohl nur durch wunderbar genau gezielte Torpedoschüsse aus großer Entfernung möglich? Unsere Torpedobootsflottille erlitt keine Verluste; kürzlich hat eines unserer neueren Tauchboote die Westküste Englands angesichts der Insel Man in der irischen See mit Granaten beschossen, Brände verursacht und eine Eisenbahnlinie unterbrochen. Das ist etwas ganz Neues und für den (.?.) Engländer jedenfalls Unerhörtes und daher moralisch äußerst Verwerflisches.
 
 

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Luftschiffe über London
Allgemach bekommen sie den Krieg ins heilige englische Land gebracht. Marineluftschiffe haben jetzt endlich auch London-City und anl. Dörfer fleißig mit Bomben beworfen, Hochofenanlagen ect. mußten dran glauben. Sie kamen trotz heftiger Beschießung wieder heil heim. Es muß dies das bodenlose Gefühl absoluter englischer Sicherheit stark erschüttern. Anton Thanisch, den ich gestern (es ist 2. Woche in Urlaub) bei seinem Bruder abends nach Tisch sprach, meint, unsere Hochseeflotte sei neu umbewaffnet und mit den 40 km weit treffenden gewaltigen 38 cm Geschützen ausgerüstet worden. Sie schössen damit 10 km weiter als die Engländer und es würde sicher noch zu einer entscheidenden Seeschlacht kommen. Hinter seiner Stellung bei Soissons (Feld-Art.-44) stehe solch ein Ungetüm, “Feldbäckerei” genannt, das aus einem 17 m langen Rohre Geschosse von 2,10 m Länge und 16 Ct. Gewicht von dort bis nach Compiègne schleudere; kürzl. habe man damit auf den französ. Groß-Generalstab geschossen. Joffre soll erklärt haben, eine Offensive könne er nicht mehr machen; daher allerhand aufgeregte Zerfahrenheit in französ. Regierungskreisen und heftige indirekte Vorwürfe gegen Joffre. Auffallend ist ja die große Stille jetzt an der ganzen Westfront. Die Kölnische Volkszeitung zerbricht sich den Kopf darüber, wo Englands Soldaten stehen: In Frankreich 50 km Front, die Hauptkräfte in Egypten, Indien und England. Mehr als 1 Mill. seien es doch wohl.
 
 

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Nowo Georgiewsk gefallen
20. Aug.15. Soeben las ich in der Köln(ischen Zeitung) eine Depesche vom 19. ds., wonach dem Reichstage eine Gessetzesvorlage zugegangen, nach der §15 des RMG durch den Zusatz “im Frieden” geändert wird, d.h. die als “dauernd untauglich” Ausgemustert werden neu gemustert. Also doch! Es durchzuckte mich, als ich es las, obwohl es ja längst zu erwarten war. Hoffentlich ist diese Musterung nicht schon in der ersten Hälfte September hier, damit ich die Ferien nicht zu unterbrechen brauche. Es sollen, wie man hört, bis dahin alle ausgehobenen Landsturmjahrgänge einberufen werden. Hält es meine Lunge aus, so soll es mich freuen, auch noch ins Feld zu kommen. Ich war heute morgen kaum angezogen, als alle Glocken läuteten: Nowo Georgiewsk wurde gestürmt von General d. Inf. v. Beseler, dem Erstürmer Antwerpens. 20000 Gefangene dort im Endkampf gemacht. Jetzt fehlt ur noch Ossowiez und Grodno im Norden; Brest-Litowsk: Dort ist man schon in ersten Vereidigungslinien der Russen. Die Franzosen haben nun auch wieder zum Angriff angesetzt bei Souchez und in den Vogesen. Mit anscheinend geringem Erfolg. Das englische Tauchboot E 13 wurde im Sund versenkt durch eins unserer Uboote. Dort werden diese schon wie die Schießhunde aufpassen, denn natürlich werden die Engländer versuchen, den Russen mit Tauchbooten zu Hilfe zu kommen.
Die Fahnen wehen wieder. Ich holte mit Mariannchen Endivienpflanzen bei Vater Erkleben und pflanzte sie vor Tisch trotz leichteren Regenschauern ein, räumte auch sonst im Gärtchen Unkraut ect. weg.– Über die Schäden der Londoner Zeppelinbeschießung schweigen sich
 
 

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die Engländer ängstlich aus. Nicht nur der Angriff unseres Ubootes an der englischen Westküste sondern auch der Angriff unserer Torpedoboote auf den englischen Kreuzer und die überlegenen Zerstörer ist etwas ganz Neues in der Geschichte des Seekampfes. Das gewaltige Vorrücken in Rußland hält jeder für einen Plan Hindenburgs. Es kommt mir vor, als ob ein gewaltiger Riese einen noch größeren in die Flucht geschlagenen und stark blutenden Giganten verfolge, eingeholt habe und ihn von hinten um die Schulter herum an der Kehle zu erwürgen versucht. Ob es so gelingen wird?
21.8.15 Ein trostloser Regentag mit empfindlicher Kühle heute. Helene fuhr 825 bei niedertröpfelndem Nebel ab; ich hatte stramm im Amt bis Mittag zu tun. Nach einem flüchtigen warmem Sonnenblick heute mittag regnet es jetzt still und traurig, die Luft voll nässender Schwaden.– Damit den großen und ernsten Dingen unentbehrliche kleine und komische Seite nicht fehle, ereignete sich gestern dieses im kleinen Städtchen: Von rastlosem Tatendrang getrieben, der sich jetzt namentlich auf den frischeingezogenen evang. Pfarrer (Russen brachten sein Hausgerät als Handlanger des Fuhrmanns Coblenz aus dem Möbelwagen) konzentriert, konnte Frau W. es nicht mit dem feierlichen Siegesgeläute für den Fall von Nowo Georgiewsk genug sein lassen: “In großen Städten pflege man auch nachmittags noch mal zu läuten”. Der neue Pfarrer in seiner harmlosen Neulingsart fand nichts dagegen und so läuteten die Kinder fröhlich und ununterbrochen. Alles stutzte und wunderte sich. Wir hörtens auf dem Spaziergange und dachten, der neue Pfarrer werde feierlich
 
 

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eingeführt. Dem biederen Presbyter und Landmesser Karspecken aber ward des Läutens Ende allzu länglich und er ging in Pantoffeln und Hausflausch hinüber und gebot den läutefrohen Kindern Feierschicht. Frau W. aber, die uns unterwegs begegnete –seit etlichen Tagen bevölkert sie die Kaiserallee bis zum Pfarrhaus–, erzählte uns Ihre Läuteanordnung und ich witterte schon aus einem Mangel sonst stark betonter Sicherheit, daß etwas nicht zu stimmen schien. Helene verabschiedete sich von ihr.
6 Generäle, 85000 Mann, über 700 Geschütze und großes Material sind die Beute von Nowo Georgiewsk. Wie mag es mit Brest-Litowsk aussehen? Aus einer Schilderung des Berner Bunds vom 15. ds. ist dieses der Stützpunkt des linken Flügel der neuen russischen Aufstellung von dort nach Norden bis Riga. Wie kann sich diese Front nach dem Fall Kownos halten?– Die New Yorker Staatszeitung brache einen Bericht, wie jüngst ein englischer 10000 t-Dampfer Arabic vollgepfropft mit Munition und “gedeckt durch Sandsäcke und Amerikaner als Passagiere” nach England fuhr. Jetzt ist er auf der Rückfahrt torpediert worden. Bravo!
22. August 1915 Die Geschützbeute in Nowo Georgiewsk soll die größte sein, die in diesem Kriege von uns bisher gemacht wurde. Der Reichstag hat einstimmig weitere 10 Milliarden bewilligt. Man hofft, sie später den Feinden an die Beine binden zu können. Die monatlichen Ausgaben betragen jetzt 1/3. mehr als unsere gesamten Kriegskosten von 70/71! Daran erst wird man die Größe des Brandes gewahr.
Den Eingang in den Rigaschen Meerbusen hat unsere Flotte jetzt augenscheinlich erzwungen. 3 Torpedoboote sind dabei durch Minen beschädigt, die feindlichen Sperren beseitigt und etliche feindliche Schiffe versenkt worden. Gestern nachmittag suchte ich Paul Thanisch auf, der mit Frau noch nichts von der bevorstehenden Musterung wußte.
 
 

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Eben war ich auf dem Feld und pflückte ein Körbchen voll kleine Prinzeßbohnen und Tomaten. Die sonntägliche Stille wurde nur gestört durch das kreischende Geräusch aus dem ununterbrochen arbeitenden Betrieb von Jul. Heiden Wwe, wo auf einer Reihe von Bänken Tag und Nacht Granaten abgedreht werden. Auf dem Heimweg teilte mir Krings als Neuigkeit mit: Italien hat der Türkei den Krieg erklärt. Also endlich mal wieder eine Kriegserklärung! Welche Verblendung der unglaublich betörten Italiener, deren wohl in jeder Beziehung kleiner König vor Aufregung über die grausigen Verluste an der istrischen Front den Verstand halb verloren haben soll! Folge wird wohl ein Vorstoß unsererseits zu den Türken sein. Denn daß den Russen an den Dardanellen jede Durchfahrt verstopft bleibt, ist für uns von höchstem Interesse. Die Serben verhalten sich auffallend ruhig und lehnen jede Offensive ab. Die Griechen scheinen trotz heftigsten englischen Druckes neutral bleiben zu wollen.
Franz Müller, den alle Welt frägt, ob er noch nicht seine Einberufung erhalten habe, ist Pessimist nach wie vor und der Meinung, sämtliche Balkangauner würden sich schließlich noch einigen und gegen uns und die Türken losgehen. So einfach scheint mir die Sache nun doch nicht. Die Serben haben jetzt freilich den Anschein, als ob sie gewillt seien, den Anforderungen des Viererbundes auf Abtretungen von Gebietsteilen, nachzukommen. Was daraus folgen wird, mag der Teufel wissen. Leider bekam ich von Helene heute keine Nachricht.
23.8.1915. Ein wundervoller Sommertag! Endlich ein Ende des überreichen Regens, der schon vielfach Fäulnis der Trauben erzeugte und Winzern wie Ackersleuten längst zu viel war. Das Barometer hat freilich einen so plötzlichen und gewaltigen Sprung aufwärts gemacht, daß man füglich an einer längeren Beständigkeit des Wetters zweifeln müßte: Hoffen wir das Beste.
 
 

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Unser Kaiser hat aus dem eroberten Nowo Georgiewsk eine prächtige Depesche an den Reichskanzler losgelassen. Die Uboote scheinen jetzt für Engländer und Bannware führende Neutrale in erschröcklicher Zahl und Größe aufzutreten. Das zerstörte englische Uboot ist in dänischen Territorialgewässern gejagt und aufs Land getrieben worden. Alsdann hat man –nach einer brieflichen Äußerung des Torpedobootssteuermanns Heinz von hier– durch Funkspruch bei der Admiralität angefragt, was zu tun sei, nach 1 Stunde habe man die Antwort gehabt: “Drauf”. Jetzt ists Geschrei bei den Dänen im Gange. Zu Kriegsbeginn soll man ihnen mit einer Beschießung Kopenhagens gedroht haben, wenn sie nicht den Sund sperrten.
Der §15 des Reichsmilitärgesetzes, das den Zusatz “im Frieden” erhält, spricht nur von den “Militärpflichtigen”. Ich habe nun an Hand des Verwaltungsrecht von Huc de Graz meine längst verschwitzten und nie recht verarbeiteten Kenntnisse von der Wehrpflicht und ihren 3 Unterarten: Militär- Dienst- Landsturmpflicht wieder aufgefrischt und hierbei festgestellt, daß ich infolge meiner vor 11 Jahren erfolgten Ausmusterung nicht militärpflichtig bin. Paul Thanisch, Rechtsanwalt Schönberg und ich kommen daher, als Inhaber des gelben Ausmusterungsscheins nicht in Frage. Wohl aber Assessor Scherer, der s.Zt. zum Landsturm überwiesen wurde.
24.8.15. Heißer Sommertag, Gewitterschwüle. Gestern habe ich Fr. v. H. Besuch für Ferien abgesagt. Eine kleine, sehr bemerkenswerte Nachricht: Das englische Hoflager wird nach Norden (Schottland?) verlegt. Also London unsicher! Hoffentlich enthält der jetzt abgeschlossene Vertrag: Bulgarien = Türkei nicht nur Negatives, sondern auch etwas Positives für uns.– Der Koffer ist gepackt. Morgen um diese Zeit werden wir uns wohl in Bonn bei meiner
 
 

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Mutter zur Abreise nach Hersel fertig machen. Weshalb machten 40 englische Schiffe einen Vorstoß nach Zeebrügge? Wollen die Franzosen ernsthaft im Elsaß angreifen oder nur ablenken? Sind unsere Linien im Westen wirklich sehr schwach?
 
 

Zwischen Seite 30 und 31 sind mehrere Blätter mit den Tagebucheintragungen aus Hersel eingeklebt:
Hersel bei Bonn, den 26. August 1915
Die Ferien haben mit schönstem Wetter begonnen und der erste Ferientag heute brachte gleich die hocherfreuliche Kunde vom Falle Brest-Litowsk. Nun haben die Russen keine Rücken- und Flankendeckung mehr. Gelingt unser Vorstoß nach Norden, so können sie abgeschnitten werden. Was mag es geben? Fritz Schetter brachte als Briefbote gegen Abend diese große Nachricht in die ländlich stille Einsamkeit hier.–Gestern morgen hatte ich noch ½ 8 Gerichtskassenrevision und fuhr 828 mit Frl. und Marianne nach Bonn. Wie stets, war in Coblenz viel Militär zu sehen und der Zug durchweg überfüllt, trotz riesiger Anhänge an Soldatenwagen. Garten und Feld hatten wir die letzten Tage fleißig bestellt und Rosa überließen wir wohl- und frohgemut den Abschluß der Wohnung usw. In Bonn suchten wir meine Mutter (Rech, Anna Maria) auf. Marianne verstand sich gleich ausgezeichnet mit seiner “Gött” und “Groß”, sie war sehr zutraulich zu ihr. Emma (Rech, Emma) besuchte uns mit Anita (Rech, Anita), beide Kinder verstanden sich, noch ziemlich ohne Worte beiderseits, recht gut miteinander. Auf der warmen Veranda konnten wir bequem und luftig Kaffee trinken. Mutters Garten ist glänzend in Ordnung und voller guten Gemüses. Wohl noch nie ist er so gepflegt worden: Folge des Krieges. Ein Gewitter, das uns auf dem Marsch vom Herseler Bahnhof bedrohte, blieb aus. Helene, die uns mit Herta abholte, sah recht frisch aus; Herta war ganz auffallend in dem 1 Monat, den sie hier ist, gewachsen und etwas blaß. Die Großeltern sahen vorzüglich aus und sind nicht ganz ohne Sorge, wir würden sie kahl fressen. Heute morgen konnte ich gleich meine mitgebrachte Arbeitsschürze in Gebrauch nehmen: Da wurden Birnen auf dem Speicher verlesen, zum Dörren ausgesucht, geschält, in Herd und Sonne angetrocknet, ferner früheste weiße Frühlingszwiebeln auf einem dazu hergerichteten Beet gesät –den Samen hatte ich mitgebracht– reichlich Krauskohl gepflanzt und Prinzeßböhnchen gepflückt. Dabei gabs noch bequem Zeit, mit Helene etwas in der Sonne zu liegen, tüchtig zu essen, nachmittags zu ruhen und dann mit den Kindern rheinab nach Üdorf zu spazieren, wo Steinewerfen, Schiffe ect. das Herz erfreuten, das alles in einen prächtigen stillen warmen Sonnendunst getaucht. Ein herrlicher Tag mit dem prachtvollen Abschluß: Fall von Brest-Lit. Morgen früh werde ich gleich eine Fahne klar zu machen versuchen.
Hersel 4. September 1915
Eine Fahrt nach Siegburg, wo wir Schwager Willi (Reitmeister, Willi) und seine Familie besuchten brachte mannigfache und sehr anregende Eindrücke. Siegburg mutete ganz an wie die gewerbefleißige Vorstadt einer riesigen modernen Großstadt. Kürzlich noch mit nur 15000 Einwohnern gesegnet, beschäftigt sie heute in staatl. und privaten Geschoß- und Pulverfabriken 21000 Leute. Wir sahen abends um ½ 7 auf der Kaiserstraße eine wahre Volkswanderung von Arbeitern, 7000 kamen da aus dem Feuerwerkslaboratorium aus der Arbeit. Radfahrer fuhren eine lange Zeit in ununterbrochener Reihe hintereinander. Auf dem breiten Bürgersteig marschierte es ebenso ununterbrochen von Männern und Frauen. Ich denke es mir in der Londoner City zu den lebhaften Geschäftsstunden nicht viel anders. Wir fuhren zurück mit der neuen elektrischen Bahn Siegburg - Zündorf, ebenfalls überfüllt. Troisdorf, Sieglar, Eschmar usw. eine aneinanderhängende ewig lange Häuserreihe; alles im Aussehen an rasch aufschießende Industriestadt gemahnend. Zwischendurch konnten wir auf freiem Felde, oft gedeckt durch einiges Gebüsch, bald vereinzelt, bald in ganzen Wagenburgen zusammengestellt, die bekannten soliden Wohnwagen der auf den Kirmessen umherziehenden Budenbesitzer sehen. Sie werden als Schlafraum, oft an 6 Parteien, wie mir ein älterer Arbeiter erzählte, mit gutem Verdienst vermietet und brauchten selbst nur etwa 6 M Standgeld dem Grundeigentümer zu bezahlen. Manche hatten sich ordentliche Lauben angebaut und hausten mit Weib und Kind so halb im Freien; ein Leben, das mir auch zusagen möchte. Jedenfalls recht bequem und gesund im Vergleich zu Schützengräben und Unterständen. Eine prächtige Abendsonne goß rotes trübes Licht über die ganze Siegniederung und vergoldete alles. Prächtige Haus- und Hofanlagen im ausklingenden Barock, meist aus dem Ende des 18. Jahrhunderts (179...) las ich des öfteren) die früher allein behaglich an der Landstraße lagen, haben heute beengende Nachbarschaft von manchmal hübschen, mitunter scheußlichen Neubauten bekommen, in denen hinter großen Spiegelscheiben alle Sachen zum Kauf ausliegen. Mondorf, wo wir schließlich bei einbrechender Dunkelheit landeten, ist ein wohlhabendes Dorf geworden. Ein hochgegiebelter prächtiger Neubau birgt ein großes Warenhaus, eine “Handlung”, wie es sie im kleinen ja stets schon auf dem Lande allenthalben gab. Diesmal war es aber ein weiter tiefer Laden mit ganz neuzeitlicher Einrichtung und riesigen Scheiben. Was es da nicht alles zu kaufen giebt! Dazu ist das Haus wirklich erfreulich schön gebaut. Mondorf verdankt seinen Wohlstand jetzt wohl z.T. auch mit der jetzt dort so eifrig betriebenen feldmäßigen Zucht von Rhabarber. Nur die gute rotstengelige Sorte Viktoria wird gebaut, die Bottner’s Gartenbuch als die einzig richtige bezeichnet. Ganze Felder sahen wir von dieser nützlichen und ertragreichen Planze dort; waggonweise geht sie zur Erntezeit mit der Bahn weg.– Auf der Fahrt zeigte mir auch ein Arbeiter die zwischen Spich und Troisdorf liegende Ballonhalle, in der wir vorgestern abend von hier aus einen Zeppelin landen sahen. Das Einfahrtstor liegt gegen Westen dem Rhein zu. Ein Gehölz maskiert sie nach einer Seite, ein dem Gelände angepaßter Anstrich macht sie von oben recht unauffällig. Für unser langes Warten an der Mondorfer Fähre, das sich bis in den dunklen Abend hinein erstreckte, wurden wir auf dem Heimwege dadurch entschädigt, daß wir von verschiedenen Seiten große Scheinwerfer aufleuchten sahen, die bald von Cöln, bald von Bonn, bald von Siegburg den Horizont abstreiften und wie (von) Riesenarmen an die Wolken gerissen und sie zu kitzeln schienen. Wir hatten prächtiges Wetter und kamen wenn auch spät und müde, so doch recht befriedigt nach Hause. – Wir sahen hier öfters Ein- und Doppeldecker, unsere Kinder betrachten sie ebenso wie Zeppelins als etwas Gewohntes. 1907 aber konnte man erst fliegen! Mit Äpfel, Birnen, Zwiebel ect. ernten habe ich reichlich im Garten zu tun, ebenso Kalkstreuen auf Spinat us. fort. Es sind sehr angenehme Ferien. Morgen ist hier Kirmeß und zu deren Feier das – Weizenmehl ausgeblieben, so daß es nicht mal “Feinbrot” giebt, das sonst recht gut ist.– Die letzten Tage brachten wieder gewaltige Fortschritte. Eine Aufzählung der Augustbeute weist geradezu erschreckende Ziffern für die Russen auf, es muß doch allgemach mit ihnen zu Ende gehen. Jetzt haben sie auch noch Grodno und damit die letzte Festung in Polen verloren. In Wolhynien sind die Österreicher dabei, die beiden Restfestungen zu nehmen. Die Türken scheinen eine starke Offensive zu planen und werden wohl unsere Unterstützung dabei finden. Rumänien wird sich wohl bald entscheiden müssen und Bulgarien ist uns wohl schon verbündet. Amerika beginnt freundlich zu uns und Mr. Grey mürbe zu werden. Es wird toll von englischer Seite mit Friedensgerüchten gearbeitet und man scheint ihn allmählich von dort aus zu wünschen. Aber bis dahin hats wohl noch Eile. Willy (Reitmeister, Willi) versicherte mir, daß wir mit Schießbedarf jetzt ganz glänzend versehen seien und bald wohl ein großer Angriff im Westen vorbereitet werde. Bahnsperre sei schon angekündigt. Die Artillerie müsse es mit Massenschießerei machen. – Böse für die Engländer ist, daß ihnen in Amerika eine 3 Mill. Anleihe abgeschlagen wurde. Für unsere Anleihe wird jetzt eifrig gezeichnet. 3500 M konnte ich gestern für meine Mutter zeichnen und ich selbst hoffe auch noch für mich 15-2000 M zusammenkratzen zu können.
14. September 1915, Hersel. In den letzten 10 Tagen hat sich Vieles ereignet, selbst in unserem kleinen friedlichen Kreise. Das Wetter war bei östlichem Wind geradezu herrlich geworden und wir erinnern uns kaum, je schöneren Spätsommer hier erlebt zu haben. An einem solch herrlichen Morgen war Helene mit ihrer Mutter und Herta zur Stadt gefahren und ich ging mit Mariannchen den Rhein entlang spazieren. Sie marschierte tapfer (“tappen - tappen” sagt sie dazu) bis hinter Uedorf mit. Dort traf ich den Schriftsteller und Frankfurter Universitätsgelehrten Willrath Dreesen, unsern Nachbar hier, der als Unteroffizier in einem Landsturm Batl. in Aachen steht und einige Tage Urlaub hatte. Mit seinem kleinen 5jährigen Heiko vergnügte er sich mit Fischen. Wir kamen in eifriges Gespräch über alles mögliche, Marianne wurde unterdessen vom Kinderfrl. geholt und in angeregter Unterhaltung wandelten wir den Uferhang entlang bis zum Baierhof und landeten schließlich natürlich auf dem Mäuerchen an der Tränke, unserem Hause gegenüber. Was heben wir nicht alles verhandelt: Krieg, Mörike, Otto Frings, Herseler Schullehrer, Musterung der Untauglichen, gänzliche Unübersichtlichkeit unserer entgültigen Kriegs- und Friedensziele, Hölderlin und was nicht alles. Es war wirklich ein erfrischendes geistiges Bad, mit dem tüchtigen Mann zu plaudern. Meine Absicht, ihn folgenden Tags ähnlich zu treffen, wurde leider bös durchkreuzt: Ich hatte blutigen Auswurf bei der allmorgendlichen Lungentoilette und blieb daher den Tag – es war Do, den 9.9.15 – über hübsch fein still im Bett. Gottlob gabs keine größere Blutung. Aber heute noch hab ich winzige Farbpartikel im Sputum. Am selben Tag wollte ich meine Mutter in Bonn besuchen und dort noch alles mögliche besorgen. Ich ließ ihr durch Emma abtelefonieren. Sie war kurz zuvor sehr vergnügt mit ihrem Mädchen (Rech, Anita) am Nachmittag hier gewesen und hatte sich namentlich über Mariannchen, ihr Patenkind, herzlichst gefreut. Den Freitag stand ich auf , hielt mich aber sehr still, meist zu Hause. Samstag aber fuhr ich morgens bei Zeiten in schönstem Wetter nach Bonn, besuchte meine Mutter, besorgte deren und meine Sachen und zeichnete Kriegsanleihen: für mich, für Helene, für Willy, für meine Mutter und für deren Mädchen. Über Mittag blieb ich dort und fuhr nachmittags nach Hersel zurück. Mittlerweile hatte ich mich auf eine Bekanntmachung in den hiesigen Lokalblättern (nach denen ich mich bis zum 13. auf dem Herseler Bürgermeisteramt in Wesseling zur Eintragung in die Landsturmrolle hätte anzumelden gehabt) mich schriftlich beim Bürgermeisteramt daheim in Bernkastel gemeldet und eine Abschrift meines Ausmusterungsscheins von 1904 beigefügt. Unbewußt traf ich damit das Richtige, denn diese Meldung kreuzte sich mit einem Briefe Fabers (unseres ersten Gerichtsschreibers in B), der mir mitteilte, daß ich mich dort zu melden hatte. Gut also, daß ich mich nicht hier gemeldet und wir damit nachherige Abmeldung und allerlei Lausescherereien erspart haben. Gut aber ist es, daß wir morgen heim fahren. Denn wir hatten uns hier nicht gemeldet (wie dies im Festungsbereich Cöln besonders scharf vorgeschrieben ist) und in Bonn hängt alles voll kleiner roter Plakate, die persönliche polizeiliche Meldung binnen 12 Stunden an jedem Aufenthaltsort vorschreiben. Daß das jetzt nochmal so scharf betont wird, hängt sicher damit zusammen, daß kein Untauglicher sich an der Listeneintragung und der noch im Laufe dieses Monats stattfindenden Musterung soll vorbeidrücken können. Wir hatten uns hier nur “auf Brotkarten” angemeldet.– Gestern abend finde ich einen weiteren Brief von Faber vor, daß die Musterung bereits an diesem Freitag, den 17. Sept. 15 stattfindet. Das ist mir sehr angenehm. So giebts eine baldige Lösung der Frage, die mich schon lange beschäftigt. Ich habe mir schon alle Möglichkeiten genau überlegt. Kommts dazu, so werde ich versuchen, als Freiwilliger bei den Bonner Husaren anzukommen. zu meiner Freude hörte ich gestern von Gentrup in Bonn, daß Altersgenossen, wie z.B. die Rechtsanwälte Henry und Mandt dabei dienten. Gentrups junger Sohn, der das Reiten schnell erlernte, kam vor etlichen Tagen mit anderen Rekruten nach nur 3 monatlicher Ausbildung weg, vermutlichnach Laon “zur weiteren kavalleristischen Ausbildung”. Das könnte mir auch gut passen. Hoffentlich gehts nur nicht wie Mandt, der vom Pferde fiel und etliche Rippen brach. Bei meiner Mutter könnte ich gut in Bonn wohnen.– Na, so weit sind wir vorab noch nicht.
Bis zum 21 ds. ist zu berichten, ob nicht unser Gerichtspersonal vermindert werden kann. Wir werden wohl 1 Richter entbehren können. Frage, wer wegkommt; vermutlich AR Liell, weil er am meisten “kostet”. Eventl. wird diese Frage bei meiner Unabkömmlichkeit eine Rolle spielen. Ich sehe es schon kommen, daß ich mit Faber und dem alten Kanzlisten Rydzewski schließlich allein auf dem Amte sitze. Abwarten.– Hoffentlich bleibt einstweilen Assessor Scherer noch eine Zeitlang in B. == Gestern lud uns Papa, der Herta schon vor geraumer Zeit eine Rhein-Schiffahrt versprochen hatte, zu einer solchen ein. Wir hatten das denkbar schönste Wetter und fuhren nachm. ½ 3 von Bonn mit dem Lohengrin nach Grafenwerth, tranken dort Kaffee mit selbst mitgebrachtem Kriegskuchen und fuhren von dort mit dem Drachenfels wieder nach Bonn zurück. Es waren auf beiden Schiffen viele Leute und manche Feldgraue, meist Offiziere. Da man stets Bekannte darauf zu treffen pflegt, so blieb dies auch diesmal nicht aus. In Bonn trafen wir schon Gentrups, die mit ihrem (Mädchen?) mit bis Godesberg und nachher auch wieder von dort mit zurück fuhren. Herta hatte an dem Mädchen eine schnellbefreundete erfreuliche Spielgenossin, die zugleich gut acht auf sie gab. Das Kind ist gegen Weihnachten 1905 geboren, wir hatten in jenem Jahre eine recht fröhliche Fastnacht auf der Lese gefeiert. Andere Zeiten!– Auf der Insel Grafenwerth war es entzückend schön. Wir saßen im Schatten der sonnebestrahlten Laubbäume und bedauerten nur, nicht noch etliche Stunden, statt der knappbemessenen Zeit dort sitzen zu können. Am Brückenkopf traf Herta noch ihre frühere Gespielin Anita Frings von der Bachstraße und ich hörte, daß ihr Onkel, mein Schulgenosse Hermann Neusser auch “im Kriege” sei. Auf der Berg- und Talfahrt besahen wir uns jedesmal genau das prächtige Haus des verstorbenen Collegen Braubach in Königswinter. Es war bewohnt, über der Rhein- und Gartenterrasse war ein riesiger Sonnenschirm herabgelasssen und an der Westwand brannte schon rotes Weinlaub in der Abendsonne. Selbst wenn wir das noch nicht recht faßliche Glück haben sollten, mit unserer Meldung auf die dortige Stelle (nach dem Kriege) Glück zu haben, so wird es uns wohl aus Geldmangel nicht möglich werden, dort miet- oder gar eigentümerweise zu hausen. Wer weiß?– Sehr gut auch gefiel uns die freilich sehr eng zwischen Eisenbahn und Straße am Fuße des Drachenfels gelegene “Villa Abbazzia”, die schon für 28000 M zu haben ist. Aber derlei Zukunftspläne liegen noch sehr im Weiten und für meine Gesundheit wäre vielleicht ein 5jähriger Aufenthalt in Castellaun sehr viel besser. Denn dort soll College Hindersen weg wollen. Seiner an Lungenblutungen leidenden Frau ist es dort ausgezeichnet bekommen. Na, das alles hat einstweilen mal noch geraume Zeit. Was alles liegt heute nicht sehr viel näher? Zunächst schon mal das Packen und das bevorstehende Abschiednehmen. Hierzu ist seit heute früh “just das rechte Wetter”. Erst leiser, dann dichter Regen bei fast - graubezogenem Himmel und sanftem Westwind. Leider wird dieses Wetter einer sehr wirksamen Tätigkeit unserer Luftschiffe über England und insbesondere der Londoner Altstadt ein vorläufiges Ende machen. Mehrmals sind verschiedene drüben gewesen. Sie müssen erschrecklichen Schaden verursacht haben. Die Engländer halten hierüber bewundernswert dicht, aber aus neutralen, namentlich amerikanischen Erzählungen erfährt man allerlei. Sowohl Marineluftschiffe von Norden bei Emden (Dratsen’s (oder Draksen) Heimat) als Militärzeppelin von Belgien und Rheinland aus scheinen ausgiebig gewirkt zu haben. Der Zeppelin aus der Halle bei Spich (die nach Willys Bekundung alle paar Wochen einen anderen Anstrich bekommt: Ihr Westtor, von hier deutlich zu sehen, täuscht z. Zt. eine Strohmiete vor) war angeblich 5 Tage unterwegs nach Westen. Jedenfalls kam er diese Nacht (frühmorgens 4 Uhr, kurz vor Beginn des Regens) mit furchtbarem Getöse kurz über uns wieder heim. Helene wurde nicht ganz wach davon und träumte, sie sei – in London!– Hoffentlich bekommen wir bald wieder Ostwind und Aufklärung, so nützlich jetzt der Regen für das Rauhfutter ist.
Helene hat heute morgen gepackt und Papa hat eifrig mit der Vorbereitung zur Teilnahme am Begräbnis einer alten Frau Wwe. August Volk-Loosen in Oberwinter (morgen nachmittag 3 Uhr) zu tun.
Die Ferien haben den rechten Abschluß gefunden. Onkel Oskar Neitzer aber, der Unverwüstliche, den wir gestern auf der Heimfahrt auf dem Schiffe ebenfalls trafen, soll heute nachmittag nochmal nach hier kommen und eine frischere Note bringen. Ich sah ihn blitzartig kurz in Königswinter einsteigen, man wollte es mir nicht glauben; doch konnte ich ihn bald vom Oberdeck herunterholen. Sein Schwiegersohn (Kimmler, Karl) sitzt ewig noch in Südfrankreich als Zivilgefangener, und sein Sohn Alfred (Neitzer, Alfred), der in Straßburg bei der Artillerie dient, liegt z. Zt. im Lazarett. Er ist mit Tante Henriette (Neitzer, Henriette) auf acht Tage bei Forstmanns (Forstmann, Gustav) in Godesberg zu Besuch und hatte den schönen Tag gestern benutzt, um allein einen schönen Tagesausflug durchs Siebengebirge zu machen. Er und Tante Henriette sahen sehr gut aus und diese ist hoch zu loben ob ihrer tüchtigen Wirtschaft: Sie leben gut bei bescheidenen Mitteln und können sich noch manches leisten.
Etwas umgekehrt scheint es in Willys (Reitmeister, Willi) Haushalt herzugehen, doch hat er durch Patente und Kriegszulage mehr Einkommen. Sonntag waren sie alle mit Kind und Mädchen den ganzen Tag hier. Elsbeth (Reitmeister, Elsbeth) leider recht schlecht und der Junge sehr unruhig und überall bei losen unbeabsichtigten Streichen. Willy wußte manches sehr Interessante zu erzählen. Leider hatte er 8 Tage zuvor einen tötlichen Unfall in seinem Betrieb. Er hatte von einem Marinearzt auf seiner Fahrt nach Berlin eine Schilderung von Walter Forstmanns (Forstmann, Walter) Taten gehört. v. Pohl wollte es s. Zt. nicht glauben, daß er mit seinem Uboot Prise nach Seebrügge brachte, später hat er bei einer bezechten Gelegenheit höchst vertraulich dem alten Admiral auf die Schulter geklopft und ihn mit seinem Spitznamen Andreas angeredet. Im Rigaschen Meerbusen hatten wir böse Verluste, u. a. einen neuen, erstmals ausgefahrenen Torpedobootszerstörer, der für Argentinien gebaut war. Die Russen sollen sehr gute Minen haben. Unsere Industrie sei fabelhaft leistungsfähig, Salpeter werde schon auf zwei Arten gemacht. Die Wildemann’s Werke, die wir bei Zündorf sahen, sollen wohl auch solches machen. Munition, und zwar beste, sei jetzt die Fülle vorhanden u.s.w.
Eine seltsame Wendung nimmt die Baumwollfrage. Nachdem die Engländer sie für Bannware erklärten, boten die Deutschen statt 41 Pf 1 M pro engl. Pfund loco Bremen. Nun großer Krach in Amerika. – Eine Karte von Bruhns berichtet wenig. Sein Bruder Oskar ist im Petersburger Gefängnis schlecht plaziert. Die Kurländer sind außer sich vor Freude über die deutsche Besatzung, die sie für dauernd halten. In Rußland geschehen seltsame Dinge: Großfürst Nicolajewitsch ist abgesägt, der Zar “an der Spitze des Heeres”. Was mag das geben?
Der Tag vor unserer Abreise (14. Sept), an dem uns nachmittags Onkel Oskar (Neitzer, Oskar) und Tante Henriette Neitzer besuchten, wurde durch ein echtes Etappen-Latrinen-Gerücht verdorben, das der Gartenarbeiter Schanzen zum Besten gab: Durch feindliche Fliegerbomben sei halb Trier zerstört und die Franzosen seien im Elsaß durchgebrochen und hätten bereits Mühlhausen besetzt. Papa fuhr abends gleich mit nach Bonn und brachte beruhigende Nachrichten heim. Etliche Bomben haben allerdings Trier beschädigt, so soll in Landrat Anton Thanisch’s Wohnung eine gefallen sein und ein Zimmer unten zerstört haben.
17.9.15. Die Mosel empfing uns mit dumpfer feuchtwarmer Luft, die sich bei mir gestern in heftiges Kopfweh umsetzte. Der Garten erfreute durch reichliches Gemüse. Die Musterung ist für uns Reichskrüppel erst Montag, 20. ds. Bin neugierig, ob und zu welchem Ergebnis sie führte. Heute wurden bereits eine Menge Untauglicher vom Lande gemustert und durchweg genommen, soweit sie nicht verkrüppelte Glieder hatten.– Wann werden wir soweit sein, daß die Landsturmpflicht auf 50 Lebensjahre (oder gar 55 wie man im Hunsrück schon behauptet) ausdehnen wird?
Heute ist ein herrlicher, warmer Spätsommertag. Assessor Scherer ist –wohl eine Folge seines krankhaften Herzens– mal wieder arg aufgeregt und gibt allerhand Tartarennachrichten zum Besten, z.B. über das Zurückbleiben verheirateter Offiziere bei Sturmangriffen ect.
 
 

Hiermit sind die Eintragungen auf den eingehefteten Blättern zu Ende.
Ein Zeitungsausschnitt vom 18.9.15 mit einer Liste der Beute von Nowo Georgiewsk und Kowno ist eingeklebt.

Seite 31 des Tagebuchs von 1915/16
18. Septemb. 15. Heute waren wieder zahlreiche Landleute am Gestade zur Landsturmnachmusterung. Wie ich hörte, wurden durchschnittlich 61% der Geladenen für tauglich befunden. Lediglich Krüppel scheiden aus, während man Lungen- und Herzkranke nimmt. Es werden lediglich die Jahrgänge von 1876 ab gemustert, so daß für später nochmals in Frage kommen 70 - 76. Auf meine Vorladung, die ich gestern bekam, bin ich unrichtigerweise als “militärpflichtig” bezeichnet; müßte heißen: “wehrpflichtig”. Nicht durch die Änderung des §15 des Reichsmilitär-Gesetzes, der nur vom “Militärpflichtigen” handelt, sondern durch die Streichung des Abs. 2 im §27 Art II des Abänderungsgesetzes von 1888 komme ich in Frage: Dort ist der Landsturm neu umgrenzt: Alle Wehrpflichtigen von 17 - 45 Jahren . . ., dazu gehören jetzt nachdem die Bestimmung über die Ausgemusterten gestrichen ist, alle schlechthin. Die gesetzliche Unterlage ist also jetzt korrekt. == Paul Thanisch soll es schlecht gehen, hoffentlich hat er keine ernstliche Blutung. Das feuchtwarme Wetter jetzt würde derartiges stark begünstigen. Für die Weinstöcke ist das Wetter geradezu ideal. Helene und ich besahen uns gestern das reizende kleine Häuschen, in dem ein Bankbeamter Heinz wohnt. Eigentümer Keller zeigte es uns. Heinz steht im Felde. Er hatte schon mal gekündigt, hat die Kündigung aber wieder zurückgenommen. Die Wohnung hätte genügend Räume für uns, doch leider zu wenig Platz für unseren Möbelsegen. An Wohnungen ist jetzt hier kein Mangel. Nächstens sehen wir uns einmal die von Schnittgen an. Frau Liell scheint wieder Bohrversuche wegen Erhöhung des Wassergeldes vorzuhaben. Sie kam dabei aber auf Treibsand, indem ich die Gelegenheit der Bean-(standung)
 

Seite 32
einer geringen Ausgabe für Instandsetzung des Mägdezimmers dazu benutzte, um binnen 2 Wochen die Instandsetzung der arg mitgenommenen Küche zu verlangen. – In Rußland schickt man die Duma heim bis Mitte November und in England tobt das Geschrei um die Wehrpflicht. Wilna scheint von uns jetzt ernstlich bedroht. Hoffentlich gelingt in Kurland noch vor Wintereinbruch etwas Entscheidendes. Merkwürdig, daß schon ein Lord Cecil betonen muß, England könne keine Bedingung annehmen, die ihm Kriegskosten auferlegte! Abwarten! –Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) vermißt uns sehr in Hersel.
Sonntag, 19. An diesem wolkenlosen prächtigen Tage vollendet unsere liebe Herta (Rech, Herta) ihr 4. Lebensjahr. Von 3 Geburtstagsfeiern fielen schon 2 in die Kriegszeit, hoffentlich nicht noch eine dritte! Mariannchen aber wird wohl vorab erst nur im Krieg Geburtstag feiern können, Weihnachten 1914, 1915.
Herta hatte sich schon lange in ihrer stillen hartnäckigen Art auf den Keburtstag gefreut. Die Freude war groß. 4 flammende Kerzchen bestrahlten bei abgeblendetem Sonnenlicht ein selig erfreutes Kindergesicht, dem nichts vom Schrecken dieser Zeit bekannt ist. Gottlob, daß es noch Menschen giebt, die so fröhlich und ohne Druck leben können. Wir wollen den Tag noch sonderlich dadurch feiern, daß wir heute nachmittag mit Herta zum Burghotel Kaffee trinken gehen. Es wird eine selten schöne Aussicht dort sein.– Eine wahre geistige Erquickung war mir die Lektüre eines famosen Aufsatzes in der Kölnischen Zeitung, in dem ein “Goethepedant”, Goethes Tage und Dichten mit Marianne von Willemer, jetzt vor 100 Jahren farbig darstellt. Eine grade
 
 

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in jetziger Zeit doppelt packende Erinnerung an das Ringen vor 100 Jahren. Was wird dieses Jahr noch werden? – Auf die “Unabkömmlichen” wird jetzt von Mißvergnügten schon heftig geschimpft; letzthin las ich einen geharnischten Protest hiergegen, in dem diese – von morgen ab gehöre ich ja wohl auch zu dieser wenig gelobten Sorte der emboscasi – hiergegen und namentlich gegen das schöne Wort in Schutz genommen werden, das man in Sachsen erfunden zu haben scheint: Gott strafe die Unabkömmlichen! – ! – Womit, frage ich. Ich meine, dieser Ton hat etwas Komisches, zum Lachen Anreizendes an sich.
20.9.15. Nun sind wir abermals gemustert und – zu leicht befunden worden; “dauernd untauglich”. Ich wollte lieber, die Lunge wäre gesund und ich könnte dienen. Es ist ein abscheulich mulmiges Gefühl, zu den (endgiltig?) ausgemusterten zu gehören. Die Unabkömmlichkeit kam erst gar nicht in Frage. Eben las ich die packende Schilderung eines Reiteroffiziers von einer großen Reiterschlacht im Osten, auf dem Liegestuhl liegend, um Kur zu machen. Denn ich sehe in der Tat schlecht aus und hatte die letzte zeit viel Auswurf. Man kommt sich in dieser Zeit so doppelt kläglich vor. Scherer wurde für Infant.G (=garnisonsdienstfähig) befunden, seine Unabkömmlichkeit aber anerkannt, ebenso die des Gerichtsdieners Friedrich (als Gefängniswart). Paul Thanisch ward nach eingehender Untersuchung für untauglich befunden, während der sehr angenehme Stabsarzt bei mir solche erst gar nicht vornahm.– Dr. Schmitz ja hatte mir gestern abend noch ein
 
 

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Attest über meine letzte schwere Blutung anfangs 1914 geschrieben, das der Arzt aufmerksam durchlas und das ihm zu genügen schien. Schmitz hat also Recht damit behalten, daß er behauptete, es sei unter allen Umständen ausgeschlossen, daß sie uns nähmen. – eheu mihi quales erant!
War das eine Garde, die sich da am Gestade versammelte! Ich war der 8. älteste, Scherer, Thanisch, Schönberg, Katenhofen und ich waren wenigstens noch gerade Menschen, aber da gab es Einäugige, Idioten, Lahme, Bucklichte usw. Die Krüppel brauchten sich erst gar nicht zu entkleiden. Der Gärtner vom Hospital, der mir als tüchtiger fleißiger Gärtner lange bekannt, freilich ob seiner Fistelstimme als halber Eunuch vorkam, schien als Idiot behandelt zu werden. Auf die Frage, wieviel er zu bezahlen hätte, wenn er 6 Schoppen à 15 Pf getrunken hätte, meinte er: 1M 70 Pf. Ob dieser schwachen Rechenkunst befand man ihn untauglich. Augenscheinlich war seine Dummheit der Kommission längst notorisch. Gerichtsdiener Grohn wurde zur Inf. I ausgehoben. Er hatte schon damit gerechnet und will sich freiwillig melden.
Gestern nachmittag feierten wir Hertas Geburtstag durch einen prachtvollen Spaziergang zum Schloßhotel, wo wir Kaffee tranken und selbstgebackenen Kriegs-Honigkuchen verzehrten. Herta war ganz selig. Kreisschullinspektor Müller und “Ober” Schultz von der Spezialkomm. fanden sich auch dort ein. Ersteren hatte manschon mal 3 Tage eingezogen, dann wieder heimgeschickt, weil die Büro’s hinreichend mit Büroarbeitsfähigen gefüllt waren. Letzterer, dessen Nervosität über die Nachmusterung
 
 

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stadtbekannt ist, braucht sich noch nicht zu stellen, weil er vor 1876 geboren ist. Alles das wurde beim Kaffee erörtert.–  Wir gingen am Burgkopf vorbei zur Wilhelmhöhe, verzehrten auf einer sonnigen Bank noch saftige Herseler Birnen und zogen fröhlich heim, die weitschimmernde Mosellandschaft war köstlich in klaren tiefen herbstlichen Farben und dem satten Grün zu sehen. – Auf dem Heimweg trennte ich mich von Helene, sprach mit Paul Thanisch und Anton Schmitz und verabredete mich mit diesem. Vor Tisch sah ich noch mal im Bienenhaus nach, daß Rosa das Futter richtig verzapft hatte. Nach Tisch suchte ich Schmitz auf, mußte bei seinen liebenswürdigen Eltern noch frische Nüsse zu einem guten Glase Wein essen. Helenens neue Beschwerden (arges Wundsein infolge Ausflusses) wurden besprochen; dann gingen wir zusammen zu Frau Anton Thanisch, wo wir deren 3 Söhne trafen. Anton hat unbestimmten Urlaub seines arg zerstörten Hausrats wegen: Sie liegt in der Nähe der Reichsbank und wurde statt dieser von 2 Fliegerbomben beim letzten Angriff (13. od. 14. ds.) getroffen. Beide durchschlugen das obere Stockwerk und 1 platzte in seinem Wohnzimmer, die andere war ein Ausbläser. Er hatte bereits große photogr. Aufnahmen von der wirklich grauenhaften Zerstörung der Zimmer. Selbst Russen hätten es nicht so gründlich besorgen können. Was ihn arg schmerzt, ist die Zerschmetterung zahlreicher Jagdtrophäen, Gamskrickeln usw. Bertha Suttners Buch Die Waffen nieder lag mit viel Wandmörtel vermischt auf einem Trümmerhaufen oben auf. Allgemein wurde Thanisch beglückwünscht, daß seine Familie nicht
 
 

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in der Wohnung waren (Frau und Kind sind am Laacher See) und er an der Front war. Welche Wirkungen muß erst eine Zeppelinbombe in London haben? Selbst wenn Willys Angabe etwas stark sein sollte: Fällt eine am Brandenburger Tor nieder, so sei der Reichstag weg. Allmählich kommen stets sich mehrende neutrale Nachrichten über die ungeheuerlichen Wirkungen der Zeppelinbomben in London. Es muß entsetzlich sein. – Wir unterhielten uns bei Thanischs sehr angeregt, Anton erzählte sehr Interessantes von der Front: Der lange Heinrich –so heißt das ungeheure Geschütz mit 17 m Rohrlänge, das 43 km schießt– langte neulich in eine französische Stadt hinein und schon sahen sie bei der Feldartillerie, die ca 20 km vor dem Riesengeschütz liegt, durchs Fernrohr, wie die Stadtautos aus der Stadt flitzten. Ich gab die Schilderung zum Besten, die mir am 13. ds. abends in Bonn an der Rheinuferbahn Freund Stahl über seine 6monatlichen vergeblichen Kriegsdrillübungen gemacht hatte. Es war ein allgemeines Halloh darüber. Als Schütze, beim Maschinengewehr, bei der Feldküche als Koch und Fahrer, kurz überall erwies sich St. als derart unanstellig, daß man ihn nach tollen Dressurversuchen schließlich als hoffnungslosen “Halbwaisen” laufen ließ. Er ist immer noch nichts. Wie er das Referendarexamen machen konnte, ist vollkommen unerfindlich. – In Rußland gehen merkwürdige Dinge vor: Die Duma scheint in Wisborg trotzen
 
 

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zu wollen, die Selbstverwaltungen größerer Städte wurden aufgelöst. In Kurland scheint Bedeutendes im Gange zu sein. Es geht jetzt um die Linie Düna, Beresina, Dnjepr. In England herrscht wahnsinniges Geschrei um die Wehrpflicht und bleiche Angst vor Zeppelinen. Wind und Wetter sind diesen jetzt wohl sehr günstig. Bulgarien scheint gegen Serbien losschlagen zu wollen.
Abends: Wilna, stark befestigt, nach starker Umfassung genommen.
23.Sept.15. Um Dünaburg toben gewaltige Kämpfe und eine russische Heeressäule scheint von einer Einkreisung bedroht.– Der Bienenzucker ist nun da und hoffentlich kann er den dieses Jahr so erfolgreichen Honigvögelchen schnell bei dem schönen Wetter gefüttert werden. Für uns bekomme ich heute auch 50 kg Zucker zum mäßigen Preise von 26 M. Die Kinder freuen sich gewaltig an 2 hübschen Kaninchen, die ich samt dem Kasten dem Gerichtsdiener Grohn abkaufte. Sein College Friedrich wird schöne Wehlener Eiseräpfel zu 8 M pro 50 kg liefern.– Kernseife soll jetzt rar werden. Schmierseife liest man allenthalben angeboten.– Die Kartoffeln sind gut geraten, und die Bauern scheinen ernstlich zu fürchten, daß sie im Preise fallen, wenn die Menge mal erst recht bekannt wird. 3 - 3,50 sollen 50 kg kosten.– Kleine Gewichte können jetzt aus Eisen hergestellt werden. Ich werde meine gegen solche umtauschen.– Bulgarien macht mobil: natürlich gegen die Serben. Gegen diese donnern auch deutsche Kanonen jetzt. Allgemein rechnet man damit, daß jetzt der letzte Abschnitt des Krieges beginnt, bei dem wir wohl vor den Feinden in Konstnatinopel sein werden. In Rußland wetterleuchtet es stark, ohne daß man daraus recht klug wird.
 
 

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Die geistige Gestaltungskraft des Kindes ist stärker als die des Erwachsenen und steht sehr nahe der dichterischen. Herta (Rech, Herta) setzte mir heute morgen auseinander, daß die Bäume jetzt traurig sein würden, wenn wir aus dem Garten herausgingen. Eine Stelle aus einem Briefe Mackensen’s, die ich in der Kölnischen Volkszeitung fand, muß ich mir hier aufbewahren. Sie stimmt aufs beste mit dem Bilde, das man sich von ihm nach seinen Gesichtszügen macht.– Der scharfe Ostwind hat einer milderen Luft jetzt Platz gemacht. Gar zu gerne möchte ich in den nächsten Tagen einmal zur Marscheider Jagdhütte, um die Hirsche schreien zu hören. Paul Thanisch ist jetzt selbst mit seiner Frau oben.– Hier erzählt man, daß der Trierer Zeppelin mit in London gewesen sei und jetzt kleine Beschädigungen auszubessern habe. Ganz das Gleiche schreibt Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene)  von dem Spicher. Es scheint also doch hier und da ein Sprengstück sie zu erreichen. Allmählich tauchen immer mehr Einzelheiten aus neutralen Nachrichten über die Londoner Zerstörungen auf: Ganze Zeilen mit Munitionsvorräten seien zerstört, die englische Bank oder ihre Umgebung stark mitgenommen usw. Hoffentlich könne unsere Luftschiffe bald wieder hin. Die Wetterlage ist wohl günstig.
Samstag, 25. September 1915. Es liegt eine dumpfe schwüle Spannung in der Luft. Meine Wetterapparate zeigen schon seit gestern morgen: “Drohendes Gewitter mit Hagelwahrscheinlichkeit” an; doch will sich noch nichts lösen. Der Himmel hat sich bleischwer bezogen, und ich hörte heute zum erstenmal seit langer Zeit wieder das Pochen des Kanonendonners, wie man es um die gleiche Zeit (19. Sept.)
 
 

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im vorigen Jahr hier zu hören begann. Ganz deutlich höre ich gerade jetzt wieder das dumpfe Pochen. Wenn Helene in vorletzter Nacht geträumt zu haben glaubt, die Franzosen kämen und man hörte deutlich die Geschütze donnern, so wird das wohl auch hiermit zusammenhängen. Gestern nach Tisch gingen Helene, Herta und ich bei schwülheißem Sonnenschein die Mosel entlang nach Wehlen spazieren und besuchten dort Hauth’s. Auf ihrer prächtigen Veranda mit entzückender Aussicht auf die weinstrotzenden guten Lagen von Zeltingen und Wehlen tranken wir behaglich Kaffee mit großem Pflaumenkuchen. Natürlich war auch wieder viel von Krieg die Rede. Louis Hauth hatte die –kaum vorhandenen– Beschädigungen in Trier durch die französischen Fliegerbomben gesehen und war stark – enttäuscht davon. Der Schaden betrug keine 50% der daraufgewandten Kosten, meinte er nach kaufmännischer Rechnung. Schön war es dort auch im Garten und herrlich geradezu der Ausblick von der nunmehr fertigen schlanken Betonbrücke. Auf deren Rampe begegnete uns Eduard Hauth, der tiefgebräunt in Inf. Uniform nach 5wöchentlicher Übung (eingezogen als 40(?)jähriger ungedienter Landsturmmann) zum erstenmal in Urlaub kam und von Frau und Schwester abgeholt wurde. Es ist ein schweres Stück, in solchem Alter den ungewohnten Soldaten- und Kriegsdienst zu erlernen.
Heimgekehrt um 6 Uhr leuchteten uns bunte Plakate mit der erfreulichen Nachricht entgegen: 12 Milliarden, 30 Millionen sind auf die III. Kriegsanleihe gezeichnet worden! Welcher Sieg! Wer hätte das dem Volke zugetraut.
 
 

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26. Sept. 15. Kanonendonner, Sonne zwischen Wolken. Heftigstes Trommelfeuer an der Westfront. Fürchterliche englische Angriffe bei La Basse, Arras, französ. in Champagne und Argonnen. Gottlob kein Durchbruch! Es müssen fürchterliche Kämpfe dort sein. == Wir machten bei den neuen Pfarrersleuten Besuch, sprachen nur die Frau und deren Mutter. Helene besuchte noch Frau Dr. Knoll, die ihr den heftigen Abschluß ihres 1½ jährigen Verkehrs mit Frau “Cissi” (Clemens) schilderte. Winckler kam gestern in Urlaub – seit 10 Monaten. = Unsere 3. Kriegsanleihe von 12,03 Milliarden Mark ist die größte, bisher bekannte Finanzoperation der Weltgeschichte. Die klugen Worte D. Helferichs gegenüber amerikanischen Journalisten verdienen, hier aufbewahrt zu bleiben. ebenso wie der erschütternde gestrige Tagesbericht.
28. Sept 15. Wer kann den Tagesbericht von vorgestern und gestern ohne Grauen und Schrecken und doch nicht ohne Freude lesen? Die Franzosen behaupten in ihrem vom 26.: 4-5 km Fortschritte und 12000 Gefangene. Hoffentlich ist es ein wenig übertrieben. Ob diese Riesenschlacht der letzte Versuch größten Stils auf der Westfront bleiben wird? Im Balkan scheint sich die Lage allgemach zu unseren Gunsten zu verschieben. Ob schließlich nicht auch Schweden mobilisiert? Alles das scheint im Fluß zu sein.– Für die Verwundeten hier sollen abends Vorträge gehalten werden. Der biedere Landrat meinte gleich 6 x die Woche, ich schlug 3 x vor, die anderen, die mittun sollen – es sind alles meist ältere höhere Lehrer – meinten 2 x genüge. Freitag soll weiter beraten werden. Die Platzfrage wird noch die meisten Schwierigkeiten machen. Nasse stellt sich das alles anscheinend etwas zu leicht vor. Ich habe mich für naturgeschichtliche
 
 

Zwischen Seite 40 und 41 Sind Zeitungsausschnitte mit den Tagesberichten vom 26. bis 28. September eingeklebt.

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Vorträge verpflichtet. – Ununterbrochen ist die Luft von Kanonendonner durchschüttert. Bruder Jann (Rech, Johannes) schrieb fröhliche Karte aus Lille, wo er auf der Durchreise nach seiner Gouvernementsarztassistentenstelle in Brüssel “auf Kosten der Stadt” herrlich dinierte. Ob er wohl zu den Kämpfen bei Arras zurückgerufen wurde? – Die Franzosen wollen auch die Kohlengruben bei Loos wieder zurückgewonnen haben. Hoffentlich hat der Gegenangriff Erfolg. – Ich bekomme aus dem St. Nikolaus Hospital morgen eine Fuhre Mist und sehe so dem Gemüseanbau für nächstes Jahr mit Ruhe entgegen. Zur Zeit  steht fast noch alles Land voller Gemüse. Frau Paul Thanisch besuchte uns gestern. Helene unterhielt sich gut mit ihr. Sie konnte gut erzählen, wie die “Bärenkessele” auf den “Dick Thonisch” (ihr Mann mit gemeint) und den “Räsch” (was ich bin) schimpfte und sich selbst zu der Behauptung verstiegen, “sie hätten es mit Geld gemacht, daß sie freikämen”. Es ist wohl überall dasselbe.
29. Sept 15. Der gestrige Bericht ist wieder beruhigend. Der geplante Durchbruch der Engländer und Franzosen scheint nicht geglückt zu sein. Es werden die englischen und französischen amtlichen Berichte auch abgedruckt. Man scheint auf der Gegenseite auch Bulgarien auf jede Weise einzuschüchtern, ob mit Erfolg? Anscheinend nicht. Winkler war vor Tisch bei mir. Er meinte, den Angriff habe man bei uns erwartet. Vordem seien unsere Linien sehr dünn besetzt gewesen und die Gegener hätten keine Munition gehabt. Jetzt verschwenden sie solche in unerhörter Menge. Er hatte auch Lust, gegen die Gemeindesteuer anzugehen, gegen die ich mich neulich auch beschwerte. Wir berechneten die für ihn zutreffende Formel.
Heute ist es kalt und regnerisch, Markttag; die Küfer haben viele Fässer und Bottiche aufgestellt. W. Erzählte uns sehr nett, wie sie dort riesige Kartoffelernte mit Hilfe russ. Gefangener
 
 

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einbrachten.Alles irgendwie Nutzbare werde nach Deutschland geschafft, so jetzt große Waldungen methodisch abgeholzt, auch Äpfel in großen Mengen, so daß deren Preise nicht allzu hoch emporschießen. Vorgestern sah ich schon an der Graacher Straße einen Wein lesen. Es war Maintzer wie ich später hörte, der Erlaubnis hatte, eine frühe Rebsorte zu lesen. W. will morgen nach Oppenheim, wo nach der Lese der Weingärten bald allgemeine Lese sein wird. Er hat nur 14 Tage Urlaub.
30. Sept. 15. Meine Mutter (Rech, Anna Maria) schreibt, daß Bruder Josef (Rech, Josef) jetzt in Bonn sei und vom 25.9.-11.10. Urlaub habe. Er sehe recht stattlich und sehr wohl aus. Der Biedermann Merschheim hatte Mama eine Karte über die Erledigung des Zülpicher Notariats geschrieben und es für mich dort sehr empfohlen. Daran kann aber jetzt kein Gedanke sein. Reinecke schrieb, daß er morgen in Urlaub komme und mich besuchen wolle. Der gestrige Tagesbericht ist wieder voll von der erbittertsten Kämpfe an der Westfront. Selbst die Winterschlacht in der Champagne soll ein Kinderspiel dagegen gewesen sein. Allenthalben hört man die Ansicht, dieser unerhörte heftige Angriff sei ein letzter verzweifelter Versuch der Franzosen und Engländer, uns aus Nordfrankreich und Belgien herauszuschlagen. Hoffentlich geht es auf ein Ende noch vor dem Winter zu!– Die Franzosen scheinen allmählich zu resignieren.
Gestern abend war ich seit langem mal wieder in der Kneipe, auf dem “Bierstrategenabend”, wo wir uns zu 4 bis 12 Uhr gut unterhielten.
1. Oktober 1915. Wieder meldet der Tagesbericht von gestern heftige Schlachten im Westen, bei denen wir hier und da etwas Gelände einbüßten. Es ist ein bitterer Kampf. Man kann es kaum begreifen, daß dabei hier alles so friedlich weitergeht. Der Himmel hängt voll schwerer Wolken, mitunter leuchtet die Sonne durch. Die Weinlagen beginnen langsam, sich mit gelben Strichen zu bedecken; die Mosel, die stark gesunken war, steigt wieder. Die
 
 

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angeschlagenen Tagesberichte werden jetzt mit ruhiger Andacht gelesen. Man sieht jedem Leser trotz seiner äußerlichen Ruhe seine innere Bewegtheit an. Jede Post bringt mir jetzt Sachen der Kriegsbeschädigten-Fürsorge. Das dumpfe ferne Pochen der Geschütze ist ununterbrochen zu hören. Reinecke, der sich für gestern oder heute in Urlaub angesagt hatte, ist nochnicht gekommen. Gestern schrieb ich an Frau von H. Von Frl Thelen  (Tholen?) hörte ich lange nichts mehr, Freund Bruhns sandte sehr interessannte schweizer. Zeitungen, darunter die Emmenthaler Nachrichten durch eine derbe Sprache sehr erfrischend wirken. Ein Artikel: “Das Gemeinste an diesem Kriege” bekämpfte die Lügensucht unserer Feinde in einer Form, wie sie bei den mir zu Gesicht kommenden (reichs)deutschen Zeitungen schon nicht mehr üblich ist. Es scheint, daß der Viererbund allenthalben als Verlierer betrachtet wird.
2. Okt. Der Hauptangriff der Franzosen scheint vorüber zu sein – oder sollte er am Ende noch kommen? Seltsam, alle Welt glaubt, es sei ein letzter Versuch der Franzosen. Wenn man sich da nur nicht täuscht! Mag ja schließlich sein, daß der Stoß zu früh einsetzte und dem Militärbefehlshaber Joffre von den politischen Machthabern aufgedrängt wurde, um die Bulgaren zu bluffen. Oder sollte das französische Volk ungeduldig werden und entschlossen sein, so oder so eine Entscheidung noch vor dem Winter zu erzwingen, damit kein 2. Winterfeldzug mehr stattfindet? In Rußland haben wir im September fast wieder an 100000 Gefangene gemacht. Die entsetzliche Verwüstung des Landes und das Herumtreiben der Bevölkerungsmassen könnte doch den inneren Zusammenbruch dort stark beschleunigen.– Es ist kalt geworden, wir haben etwas eingeheizt. Fleisch wird viel weniger gegessen als früher. Schweinefleisch hier 1,40 M per ½ kg; alles andere 1,20 M. Fett 1,40 M. An Fett und Öl tritt
 
 

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anscheinend Mangel ein. Wir selbst haben noch eine schöne geräucherte Speckseite und einen Topf Fett. Hoffentlich werden im Laufe des Winters angesichts der riesigen Kartoffelernte die Schweine billiger. Ich werde mit Faber noch mal ½ Schwein schlachten. Jetzt kosten sie Lebendgewicht 1,10 M per ½ kg, vor 1 Jahr zur gleichen Zeit ca 0,50 M (!).– Morgen werde ich 36 Jahre alt. Ich hoffe kaum, 70 Jahre alt zu werden und so habe ich also die Höhe meines Lebens überschritten. Trotz aller meiner Krankheiten aber fühle ich mich noch so jung, daß ich daran nicht glauben kann. Ichhabe das Gefühl, auf einem weiten ziemlich ebenen Gipfelgrat des Lebens voller Lust zu schreiten. Hin und wieder kommen Spalten, in die ich auch ab und zu hinpurzele, doch hoffe, wie bisher, so auch künftig mich noch stets leidlich wohlbehalten daraus hervorzukrabbeln, bis ich endlich auf einem in meiner Erwartung recht sanft abfälligen Wiesenhang meiner Endbestimmung zuwandere. Giebt mir ein gütiger Himmel noch einmal die gleiche Lebensdauer wie bisher, so hoffe ich noch große Dinge in unserem Volk miterleben zu dürfen.––
3. Okt. 15. 14680 Gefangene meldet unser gestriger Tagesbericht als Gesamtziffer bisher. Da kann es auch wohl stimmen, daß uns die Franzosen ca 20-23000 an Gefangenen abnahmen. Aber wie viele Tote werden die Gegner haben lassen müssen? Eben, gegen ½ 3 nachmittags waren wieder schwere Schläge zu hören. Jetzt ist es wieder ruhiger. Gestern betäubte ich ein Volk, das ich vor 2 Jahren in einem großen Korb einfütterte, nachdem ich es nackt aus der Heide bezogen und ihm eine Hunsrücker Königin zugesetzt hatte. 2 Jahre lang war es äußerst stark, gab aber Schwarm und Honig. Es hatte jetzt noch
 
 

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eine Menge Honig, war aber nicht sehr groß und hatte kaum noch Brut. Im Kasten scheint es sich wohl zu fühlen. Vielleicht verstärke ich es noch. Mein Geburtstag wird still gefeiert. Für die Gefangenen im Osten werden Pakete mit Wintersachen angefordert. Da wollen wir gleich eins geben. Freund Bruhns sandte eine Karte, die ein wenig traurig gestimmt war. Ich schrieb ihm gleich einen längeren Brief. Der Prozeß seines Bruders soll in Petersburg im Gange sein.– Angeblich sollen die Engländer den Russen weiter Geld pumpen. Wie lange noch?
5. Okt. Die Kanonade ist heute besonders heftig zu hören. Die letzten Tagesberichte sind günstig. Die oberste Heeresleitung veröffentlichte Joffre’s Angriffsbefehl, äußerst blamable Sache für Franzosen und Engländer angesichts des geringen Erfolges. 190000 Mann sollen sie verloren haben, wir nicht 1/5 davon, d.h. noch nicht 38000; sagen wir 35000, davon 23000 Gefangene, also 12000 Tote und Verwundete. Die Zahl der Verwundeten muß ungeheuer sein, denn, wie man hört, sind alle Lazarette hier im Westen stark belegt. Hier sollen dieser Tage alle Einheimischen zur Weinlese und ihre Kameraden mit ihnen beurlaubt werden.
Von Siegburg kommen sehr ernste Nachrichten, E. (Reitmeister, Elsbeth) ist recht schlecht und hat anscheinend T.B. im Darm. Wenn das kein böses Ende nimmt! Der arme Willy (Reitmeister, Willi) und der Junge.– Man kann es sich nicht gut ausdenken. Helene hat wieder allerlei und verschiedene Beschwerden. Blieb mal halben Tag zu Bett. Dr. Schmitz ist in Trier jetzt stark in Anspruch genommen und kann daher Frau Brinkmann nicht operieren, die sich jetzt ganz darauf eingerichtet hatte.
Ich kaufte mir im Hospital 50 Salatpflänzchen und setzte sie. Honig wurde aus den Waben des Korbvolkes ausgepreßt. Eine rechte Matscherei.
 
 

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Fürs Heer werden jetzt auch Marmeladen gesammelt. Margarine hört auf und der Fettstoffmangel beginnt. Hoffentlich wirds nicht zu schlimm damit oder ein Ersatz wird gefunden. Ob wir nicht am Ende aus Kohle Nahrungsmittel zu machen lernen?
Den Bulgaren haben die Russen ein Ultimatum mit 24 Stunden Frist gestellt; sie sind wohl selbst von der Nutzlosigkeit einer Einwirkung zu ihren Gunsten überzeugt.
6. Okt. 15. Ein grauer Tag heute, an dem nur Arbeit hilft. Aus Siegburg werden die Nachrichten stets trüber, es scheint zum Endkampf zu gehen. Helene hat die Nacht heftigste Blasenschmerzen und blieb im Bett. Sie kann sich bei dem Gedanken an Willy, sein Kind und seine Frau der Thränen nicht erwehren. Wir überlegten schon, Heinz (Reitmeister, Heinz) zu uns zu nehmen. – Josef (Rech, Josef) will uns Sonntag, auf seiner Rückreise zur Front, hier besuchen. Am Amt gabs reichlich zu tun und leider stets störende Unterbrechungen. Ein vor Tisch angeschlagenes Extrablatt giebt das Abdanken des griechischen Ministerpräsidenten Weniselos bekannt. Werden jetzt in Saloniki beim Landungsversuch der Franzosen und Engländer die griechischen Kanonen losgehen? Ob das französisch-englische Heer den Serben ausschließlich nur zu Hilfe kommen oder nicht vielleicht auch etwas sanften Druck auf diese ausüben soll, sich gegen die Bulgaren zu wenden und von Albanien abzulassen? Und ob nicht die Griechen in Albanien Front gegen Italiener machen werden? Es ist ein rechter Brodeltopf dort, in dem unseren Feinden hoffentlich eine recht heiße und ungenießbare Suppe eingebrockt wird. – Die Vorträge an unsere Verwundeten sind wegen der vielen Weinlesebeurlaubungen verschoben worden und so werde ich erst am 20. ds. also in 14 Tagen losschießen. Was mag sich bis dahin nicht alles ereignet haben?
 
 

Zwischen den Seiten 46 und 47 sind wieder Zeitungsausschnitte mit den Tagesberichten eingeklebt.

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7. Okt. 15. Eine dicke Nebelschicht drückt auf unsere Bergrücken, die Talsohle ist frei davon. In ihr schwelen überall Kartoffelfeuer und machen die Luft dick und süßlich.– Heute kamen Kartoffeln aus Commen im Hunsrück, 11 Zt. à 3,50 M. Dazu 1 Zt. Parmänen zu 8, und schlechte Äpfel zu 3,50 M. Gerichtsdiener Friedrich hat im Amtsgerichtskeller 2 ½ Zt. Eiseräpfel à 8 M aufgelagert, die ich ihm heute zahlte. So wären wir für den Winter hinreichend versorgt. Fehlte nur noch Fett, Öl, Fleisch. – Vorgestern beobachtete ich mittags eine Szene, bei der ich so wunderlich gemischte Gefühle hatte, daß ich sie mir notieren muß: Notar Dr Astor hat auf seinem Büro einen Angstellten namens Ferres, der stets so spindeldürr und so lederartig verschrumpft im Gesicht aussah, daß man glauben sollte, er sei in einem bereits sehr fortgeschrittenen Grade der Schwindsucht verfallen. Er wurde schon zu Anfang des Krieges als völlig gesund befunden und eingezogen. Nun kam er aus dem Schützengraben in Urlaub und ich sah ihn die Brückenrampe an der Bernkastler Seite herabmarschieren: mit feldmarschmäßig gepacktem Tournister, Feldkrätzchen ect. Er sah genauso aus wie früher und so wenig heldenhaft, daß es trotz des Gedankens an seine Strapazen und Gefahren einen unwillkürlich lächerte. Sein Gepäck mit aufgeschnalltem Mantel und Zeltbahn und vielen Anhängseln bildet mit seinen Beinen fast eine Linie, vertikal zur Erde. Daran hing weit nach vorne gebeugt sein Oberkörper, als ob er am Gepäck mit Kraft zöge und auf fröhliche und scherzhafte Zurufe von allen Seiten antwortete er, ohne das ganz verkniffene und in höchst sorgenvolle Falten verzogene Gesicht irgend zu verziehen.
9.10.15. Wieder toben die Franzosen und Engländer im Westen. Hoffentlich auch diesmal ohne Erfolg. Gestern morgen erlitt ich mit meiner Lunge mal wieder einen kleinen “Fliegerüberfall”, d.h. geringer Blutauswurf veranlaßte
 
 

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mich, stramm einen Tag im Bett zu bleiben. Der Erfolg war günstig. Heute morgen war es schon nur mehr ganz verschwindend wenig. Da Helene ihrer Blasengeschichte wegen auch hübsch still im Bett bleibt, so erinnerten wir uns jener schweren Zeiten im Beginn unserer Ehe, wo wir beide unter schlimmen Umständen darniederlagen. Willy (Reitmeister, Willi) schrieb einen recht sachlichen und klaren Brief über Elsbeths (Reitmeister, Elsbeth) Krankheit; vielleicht, daß die Strahlungen doch helfen. Hoffnung ist noch vorhanden. Ich bin heute morgen, etwas spät freilich, aufgestanden und konnte mich durch Bearbeitung gerichtlicher Sachen, Steuerangelegenheiten ect. schon wieder nützlich machen. Es geht ein abscheulich feiner Regen nieder, alles rüstet auf die Weinernte. Es ist mir zu feucht draußen, sonst ginge ich zum Liegestuhl im Garten. Der Haushalt geht gut. Josef entdeckte auf seinem Urlaubspaß, daß er bis zum 16. Urlaub hat und kommt daher erst Freitag.– Die Franzosen sind außer sich über das Spiegelbild ihres politischen Bankerotts auf dem Balkan, den Serben geht es an den Kragen und die Russen werden widerspenstig, weil sie von den Engländern anscheinend kein Geld bekommen.–
10.10.15. Der Himmel ist heiter geworden und so sieht sich alles besser an. Ich hoffe, heute nach Tisch meinen Stubenarrest durch eine Gartenliegekur unterbrechen zu können. Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ist mit seinem Uboot jetzt auch nach dem Mittelmeer, dort scheint jetzt deren Haupttätigkeit zu liegen. Die Fettfrage, die allgemach dringend wird, scheint eine Lösung zu finden: Kaum daß ich neulich den Gedanken an einen künstlichen Ersatz hatten, so
 
 

Zwischen den Seiten 48 und 49 sind Zeitungsausschnitte mit den Tagesberichten vom 8. -11. Oktober eingeklebt.

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fand ich schon anderen Tags in der Köln eine Notiz, daß man im Institut für Gärungsgewerbe eine fettstofferzeugende Hefe mit 18% Fettgehalt gefunden habe. Ein Dr Lindner ist der Züchter. Soll ein reines Öl ergeben, das sich ohne weiters zu Kernseife eignet. Fabrikmäßige Ausnutzung steht noch dahin, ebenso Verwendung als menschliches und tierisches Genußmittel. Nun, auch das wird sich schon finden. | In Serbien scheint es vorwärts zu gehen. | Kunz gab mir bei einem Morgenbesuch eine hübsche Schilderung seines Bienenausflugs nach Annenberg, den ich nicht hatte mitmachen können. Fiel heute vor 1 Jahr nicht Antwerpen?
10.10.15. Nachmittags im Garten. Ich meine wer weiß wie lange nicht mehr im Garten gewesen zu sein; dabei waren es nur 2 Tage, daß ich fehlte. Währenddem aber hat der Herbst mit breitem Pinsel und bunten Farben in Garten und Landschaft herumgewirtschaftet und heute läßt die volle Herbstsonne alles farbig aufleuchten. Der Waldsaum über den gelb angetönten Wingerten ist in ein tiefes rottöniges Bunt getaucht und blendende Wolken segeln aus Südost darüber hin. Es ist ein wundervoller Herbsttag. Morgen soll die Weinlese beginnen. Es scheint fast, als ob schönes Wetter dabei sein sollte. Ob der Wein noch im Kriege blank wird? Wer kann es wissen.
W. bekam gestern früh Depesche, daß er schon mit erstem Zuge abfahren mußte. Wir erfuhren dies mittags durchs Kinderfräulein. Seltsamerweise hatte ich im Halbschlaf morgens einen gräulichen Traum: W. sei gefallen und seine Frau wollte mit den Kindern nach Bonn oder Godesberg ziehen. Ich hoffe bestimmt, daß Träume = Schäume sind und nichts davon eintrifft.
14. Okt. 15. Wieder war ich des schlechten Wetters wegen 2 Tage nicht im Garten und wieder große Veränderung. Statt des trübschweren Nebels der letzten Tage strahlt heute nun unvergleichlich bunte Herbstsonne die Weinberge, in
 
 

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denen ein selten reicher Herbst gelesen wird, strahlen in leuchtendem Gelb auf hellgrünem Grund. Ein Farbenfest ohne Gleichen. Es tut mir jetzt doppelt leid, nicht mit Helene heraus zu können. Sie bleibt heute noch zu Bett, hofft aber morgen aufstehen zu können. Mit Herta ging ich gestern Paul Thanisch aufsuchen und traf ihn 4 ½ grade rechtzeitig noch an. Wir kletterten in den Distrikt Ofen, wo die Lese schon im Gange war. Seine Mutter war dort, beaufsichtigte und half mit. Herta schwelgte in Trauben und durfte sich noch welche mitnehmen. Überall sind sie sehr süß in diesem Jahre. Nachher trafen wir Walther Thanisch, der als “Kraftfahrer” in Cöln dient, Freund Sondag ist Adjudant dort. Er erzählte mir allerlei von ihm. Nachdem wir bei Onkel Thanisch den süßen Most gekostet hatten, nahm Walter mich zu ihrem Keller mit, in dem ich noch nicht gewesen war. Ich sah dort eine originelle niedrige, famos arbeitende hydraulische Presse. Ich maß: Nachlauf 72, Vorlauf 75 Mostgewicht nach Öchsle. Ich mußte dann noch die guten Doctorweinfuder 1911-1914 durchprobieren. Es waren herrliche Weine dabei. Am besten schmeckte ein 11er , schon auf Flasche gezogener Doctor in feinster Edelreife; vergleichsweise dazu ein vorzüglicher Weinbrand aus den gleichen Trauben geringerer Art (halbverfaulte ect) der vorzüglich mundete. Eine angebrochene Flasche dieses köstlichen Moselkognaks mußte ich mitnehmen. Rechtsanwalt Schönberg hat den bekannten Schriftsteller-Schauspieler Frank Wedekind auf seiner letzten Reise kennen gelernt und eingeladen. Er ist seit gestern hier und ich hoffe ihn heute oder die nächsten Tage kennen zu lernen. Morgen soll nun Bruder Josef 502 kommen. Ich freue mich sehr darauf.– Immer noch toben

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heftige Angriffe auf der Westfront, namentlich in der Champagne und im Weinberg hörten wir den Kanonendonner wieder so heftig und deutlich wie im vorigen Jahre beim gleichen Anlaß. Die reiche Ernte –viele können sich eines solchen Ertrages nicht erinnern– ist gleichsam unter fortwährendem Kanonendonner gewachsen. | Es zeigt sich, daß wir auf dem Balkan die Engländer endlich an einer empfindlichen Stelle packen. Ihr übertriebenes Pressegeschrei ist freilich mit gebotener Vorsicht zu genießen, so erfreulich uns da vieles klingen mag: Politisch, wie sie stets und in allen Dingen sind, versuchen die führenden Kreise jetzt dort die allgemeine Bestätigung dazu zu benützen, um den “Dienstzwang” so sieht dort die “Wehrpflicht” aus, einzuführen. || Auf größere französische Luftangriffe gegen unsere Städte hier im Westen scheint man sich allenthalben vorzubereiten. Selbst hier sollte neulich eine solche Übung stattfinden. In Bonn wird eine Sirene zur allgemeinen Warnung angeschafft. Ein Lt. Immelmann ist wohl der erste, der namentlich in einem Tagesbericht unserer obersten Heeresleitung genannt wurde.
17. Oktober 1915. Die letzten Tage waren so reich an Eindrücken aller Art, daß ich erst einiger Tage stiller Sammlung bedarf, um sie geistig und körperlich alle zu verdauen und mich von einem gewissen Drucke wieder freizumachen. Sehr geeignet zu diesem Zwecke erscheint mir erscheint mir eine kurze Skizzierung. Vorgestern hatte ich den ganzen Tag über einen rechten Kater, der mich zum Fasten verurteilte und mich erst gegen Abend wieder aufleben ließ. Unseren Bruder Josef (Rech, Josef), den ich seit dem Frühjar 1914 nicht mehr wiedergesehen hatte, holte ich um 502 am Bahnhof mit Herta ab. Er ist ein riesiger und stattlicher Kriegsmann von fast 2 Ctnern Gewicht
 
 

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geworden und eine neue feldgraue Montur stand dem Oberleutnant und Kompagnieführer vortrefflich. Helene war aufgestanden und so waren wir den Abend gemütlich beisammen. Josef ist sehr ruhig und gefiel uns sehr.
18.10.15. Gestern kam ich nicht weiter, heftige Kopfschmerzen am Hinterkopf hinderten mich; ich schreibe sie –auch nach Beobachtungen bei anderen– dem reichlichen Genuß von nikotingespritzten Trauben am Abend vorher zu. – Unentwegt ist heiteres Wetter, sogar Nachtfrost für Höhenlagen zu befürchten. Allenthalben Weinlese mit riesigen Erträgen. An Übertreibungen fehlts auch nicht; so will Fr. W. Erz 26 Bürden von 183 Stöcken im Gedert gelesen haben (28-30 Bürden = 25 Zt. rechnet man auf ein Fuder!) Gestern nachmittag ruhte ich mich zu Hause nach Tisch, Helene hatte sich müde gefühlt und war zu Bett gegangen. Gegen 3 holte mich Schönberg ab und ich ging mit ihm, seiner Schwester und Wedekind bei prächtigstem Wetter über Lieser nach Dusemond. Dort tranken wir bei Schönbergs Eltern Kaffee, lernten den Hauseigentümer Geh. R. Weinmann aus Marburg kennen, der übrigens auch Franz Bildhauers Hausherr ist. Ein prächtiger alter Herr. Dann gings durchs Feld bergan einen Waldhang entlang nach Waldhaus, der weltentlegenen Klause des hier so viel verschrieenen Dr. Ludwig, des Mannes, der da “Diamanten, Gold und Platin machen will”. Nach einem Leben voller Entbehrungen und Arbeiten hat er nunmehr von der D. Diskonto Ges. und anderen die Mittel bekommen, seine Versuche in Ruhe und mit genügenden technischen Hilfsmitteln machen zu können. Eine saubere luftige Werkstatt mit Werkzeugmaschinen,
 
 

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eine liliputartige kleine Wohnung und ein tief in den Berg getriebener Stollen mit Kleinbahn, Drehbühnen ect. geben einen ganz phantastischen Eindruck. Im Winkel des bequem zu begehenden Schachtes waren dann unheimliche kurz und dickbäuchische Apparate mit gewaltigen Stahlarmaturen zu sehen, die der Explosionsgefahren wegen hier tief im Felsenleib der Erde später tätig werden sollen. Zunächst sollen dort Edelmetalle und Kohlensäure unter ungeheurem Druck erhitzt zugleich aber an der Verdampfung gehindert und hierdurch gezwungen werden, sich selbst in ihren Atomen noch zerspalten zu lassen, so z. B. Platin in Chrom und Eisenstein! Gelingts –und es ist schon gelungen– so wird sich wohl ein Weg zur Synthese finden. Wir besprachen auf dem Heimweg nach Dusemond in der Abenddämmerung die gänzlich unabsehbare Umwälzung, die durch die Lösung dieser Frage über die ganze Wirtschaftswelt hereinbrechen müßte, eine Umwälzung, mit der verglichen, der jetzt zum Weltkrieg sich auswachsende europäische Krieg am Ende ein Kinderspiel werden könnte. Nach diesen reichen und durch geistreiche Bemerkungen Schönbergs und Wedekinds gewürzten Eindrücken, nahmen wir bei Schönbergs Eltern einen schmackhaften Abendimbiß. Es stellte sich dabei heraus, daß in Dusemond noch paradisische Zustände herrschen, indem die Butter dort 1,60 M per ½ kg kostet, während sie in Dänemark schon 2,25 Kr. kostet!– Bei scharfkühler Luft und Mondschein erwarteten wir eine lange Weile den Schaukelzug, der uns mit einer Reihe Bekannter darin heimbrachte. Helene war ausgewesen, hatte Bekannte getroffen und sich auch gut unterhalten.
 
 
 

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Josef hatte Erholungsurlaub mit ärztlichem Zeugnis für 3 Wochen für nur 2 Wochen beantragt, aber ohne es zu sehen, für 3 bewilligt erhalten. Er machte uns gute Schilderungen von seiner ganzen Tätigkeit. Er hat doch eine ganze Reihe und z.T. gefährliche Gefechte mitgemacht. Das schlimmste bei einem völlig aussichts- und erfolglosem Sturmangriff auf starke französische Befestigungen vor St. Geneviève, von wo sie schließlich in regelloser Flucht zurückgingen und jeden 4. Mann verloren. Ich werde nie seine Schilderung vergessen, die er mir hiervon am Samstagabend auf dem Wengerohrer Bahnhof macht, wo wir bei Mondschein in stillkalter Nacht auf und ab wanderten, um seinen Schnellzug abzuwarten, der ihn um 10 nach Trier brachte. Von dort bis 1230 in Metz, wo sein getreuer Bursche Sturm aus Blankenheim in der Eifel ihn mit einem Gefährt seit 10 erwartete. In 4 Stunden, ich wurde nachts um ½ 5 noch mal wach und dachte daran, wird er dann wieder auf seinem Gutshof Hautonnerie in einem nach Pont-Mouseron gekehrten Abschnitt von Metz angekommen sein. Besagten Sturm hatte er schon vor Jahren, als er in Berlin bei den Gardepionieren als Einj. Freiwilliger diente als Putzer; er ist bei allen Gefechten stets um ihn gewesen und hat sich in gefährlichen Augenblicken stets quer vor ihn als Deckung gelegt, wenn er es noch so oft verhindern wollte. Josef kamen die Tränen in die Augen, wenn er davon sprach. Jene Schilderung des Gefechts von Geneviève ist mir klarer eingegangen als alle bisherigen Kriegsschilderungen und ich will sie hier keineswegs wiederholen.– Der Krieg mit den Mitteln des Nahkampfs tobt auch in seinem Abschnitt ununterbrochen. Sein
 
 

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Standquartier liegt zwar hinter der Gefechtslinie, aber selbstredend im Bereich der französischen Artillerie.– Gerade sehe ich wie gegenüber in einer Lage Paul Thanisch mit seiner Mutter und zahlreichen Weibern bei der Weinlese ist und die als Bürdenträger neu eingetroffenen Russen erstmals mit den Bürden über eine Leiter an der Mauer zur Bütte auf die Straße hinuntersteigen. Ein merkwürdiges  . . . (nicht  zu entziffern) =Kriegsbild.– Der Hof gehört –auf deutschem Boden– einem Franzosen, der auch für sein Land kämpft. Die Pächtersleute stammen aus dem Orte, an dem die feindliche Artillerie gegenüber ihren Standort hat und diesem Umstand glaubt Josef es mit zuschreiben zu müssen, daß sein Quartier bisher noch recht auffällig von Beschießung freigeblieben ist. Der Pächter bekommt dort sogar Quartiergelder. Da er solche auch unbefugterweise für die Belegung eines Herrenhauses angenommen (das ihm nicht gehört und wie das ganze Besitztum unter deutscher Verwaltung steht) so hat er ihn ein wenig in der Hand. Hat auch die Absicht, später von ihm ein Schwein zu kaufen, schlachten und räuchern zu lassen. Empfahl ihm hieran meine Beteiligung zu ½.–
19. Okt.1915. Wieder ein sonniger Herbsttag, diesmal mit ziemlich kaltem Nordwind wie gestern. Auf dem Felde haben wir gestern Tomaten und Bohnen ausgerissen. Dann sagte sich Dr. Schmitz an und verabredete für heute früh mit Helene eine Untersuchung im Krankenhaus. Gestern abend trank ich mit ihm und Paul Th. an dem recht zusammengeschrumpften Stammtisch ein Gläschen Bier, das erstemal seit langer, langer Zeit.– Hier noch einiges von
 
 

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dem was Josef erzählte: Seine Kompagnie, 250 Mann stark mit 5 Offizieren ist keine einheitliche “Kampftruppe”. Sie steht selbständig innerhalb der Armeegruppe v. Schrantz (?) und sein Vorgesetzter ist der dieser Armeegruppe zugeteilte Pioniergeneral. Er hat also weder Major, Oberstlt. noch Oberst über sich. Er selbst liegt innerhalb des Bereichs eines Inf. Regiments, doch hat dieser Oberst nur in Notfällen auf eigene Verantwortung ihm dienstliche Befehle zu geben. Die Pioniere sind über die mit Infanterie besetzten Stellungen verteilt und unterweisen und unterstützen diese in der Anlage und im Ausbau der Stellungen. Sie beziehen ihre Posten nachts, wo auch meist gearbeitet wird. Von verschiedenen Punkten laufen Telefonleitungen bei ihm im Schlafzimmer zusammen, die namentlich auch nachts arbeiten. Kommt es zu größeren Gefechten, so wird die Compagnie in Gruppen verteilt und er kommt zum Stab.– Der frühere Führer der Kompagnie, ein alter Res. Hauptmann und Katasteronkel im Zivilberuf hat durch sein anschnauzendes Verhalten hinter der Kampffront und geringen Mut im Gefecht viel böses Blut gesetzt. Er bestand aus “Waffenrock und Widerspruch”.– Die Soldaten sind natürlich auf allerlei Nebenbeschäftigungen und Streiche bedacht. Es giebt sehr geschickte Handwerker unter ihnen, die hübsche Sachen in ihren Feierstunden anfertigen, so z.B. hübsche Fingerringe aus dem Aluminium eines erbeuteten Flugzeuges. Die Ringe werden eifrig begehrt und kosteten durchweg 2 M, bis ein sehr geschäftsgewandter Pionier sich solche gleich in Massen von einer Fabrik im Inland kommen ließ und dadurch den Preis auf 1,80 M drückte. Mir brachte Josef einen Brieföffer mit, aus dem Sprengstück einer Granate sauber gefertigt. Schon lange hätte ich gern einen kleinen Brandstempel für meine Bienenkästen und sonstiges Gartengerät
 
 

Zwischen Seite 56 und 57 eingeklebt: Tagesberichte vom 16.-18.10.1915

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gehabt. Er will mir gern einen schneiden lassen.– Sehr beliebt sind natürlich kleine und größere Raufereien der Truppen untereinander. Ein Pionier verschafft sich z.B. Heu auf diese Weise: Durch einen Hohlweg kommt regelmäßig eine Kolonne, die auch Heu in Ballen mitführt. An einer abschüssigen Stelle hat er an einem oben stehenden Baum einen Anker an einem Seil befestigt. So wie der letzte Wagen vorbeifährt, schleudert er den Anker als Harpune auf einen Heuballen und erbeutet ihn auch meist.– Ein Eisenbahntransport mit Liebesgaben hält an einer Stelle, an der die Pioniere einen neuen Weg bauen. Dem Transportfüher wird auf seinen Wunsch ein Öfchen für den Winter eingebaut. Währenddem hat man 1 Zt. Kiste Liebesschokolade entwendet.– Pioniere haben meist feste Brechstangen mit und sind daher allen Transporten gefährlich. – ||  Am Samstag, dem 16. holte ich morgens noch im Nebel  Josef aus Reineckes Wohnung ab. Dort war er von uns in Ermangelung eines Fremdenzimmers einquartiert worden. Wir hatten gemütlich zusammen gefrühstückt und kaum davon gesprochen, daß wir (wegen) des Petroleum- und Spiritusmangels den Kerzenkronleuchter im Wohnzimmer ab- und dort eine Gaslampe aufhängen wollten, als Josef schon keine Ruhe mehr hatte, bis er diesen Umhang mit starker und kundiger Hand fertiggebracht hatte. Zwischendurch gingen wir im Garten eine Rohrzange aus dem Häuschen holen. Josef besah sich Garten, Garten- und Bienenhaus mit größtem Interesse. Sein getr. Leibpionier Sturm aus Blankenheim ist auch Imker, hat ihm in Chambley kräftig Honig eingesammelt und will ihm Bienenkästen machen. Übrigens bekommt Emma (Rech, Emma) Kartoffeln und Butter von ihm. – Josef beneidet uns sehr und findet, daß der “Amtsrichter auf dem Lande” das Einzigwahre sei. –
 
 

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20.10.15. Es ist kühl, der Himmel eisengrau gewellt.Wir haben gestern bereits einen Teil der roten Beeten ausgegraben. Sie sollen bald eingeschlagen werden. Am Samstag aßen wir dann friedlich zusammen, nachdem Josef, Herta und ich einen Spaziergang in die Weinberge gemacht hatten. Der Nebel ging am Mittag langsam weg, eine warme Sonne schien. Wir trafen Paul Th., Josefs Schulgenossen. Er führte uns die steile Treppe zur Ley herunter, wo wir unter dem vorspringenden Fels köstliche Trauben aßen von einer unvergleichlichen Süße und Milde. Ich meine nie, etwas Schöneres gegessen zu haben.– Nach Tisch ruhten wir uns ein wenig und dann ging Helene zum erstenmal (seit wie langer Zeit) mit in den Weinberg. Zunächst die Graacher Straße entlang, dann die alte Straße durch die Weinberge zurück. [Keller und Kelterei hatte ich mit Josef schon vor Tisch bei Anton Tanisch’s besehen. Als wir dort im Hofe standen, grüßte uns Frau v. Nasse noch recht freundlich zu; gestern nacht bekam sie ihr 2. Kind, ein kleines Töchterchen] Auf dem Heimweg suchten wir dann noch Frau Sieburg auf, die eine alte, von Josef längst vergessene Tanzstundenflamme Josefs war. Vor vielen Jahren war sie in Bonn in einem Pensionat gewesen und hatte an einem Cassebohm-v.Nolte-schen Tanzkränzchen teilgenommen. – Natürlich gab es da allerlei Erinnerungen an alte Tage und Bekannte. Wir tranken dann daheim Tee, plauderten bis zum und über das etwas früher angesetzte Abendessen hinaus und dann fuhr ich 750 mit Josef nach Wengerohr. Schon auf der Strecke bis dahin machte sich Josefs Eisenbahn-Seekrankheit auf. Den 1½ stündigen Aufenthalt auf dem Bahnhof dort benutzten wir zu fleißigem Auf- und Abspazieren in der mondhellen und stillen Nacht. – Heute morgen kam ein Kartenbrief an, daß er gut angekommen und sich schon wieder eingelebt habe. Im Gedanken an einen
 
 

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Winter-Dauerfeldzug sei er unverzüglich an den Bau einer Kegelbahn gegangen. Ich fand heute früh auf dem Amt gleich Gelegenheit, ihm brieflich zu antworten.
Nachzuholen ist dieses:
Am Mittwoch, 13. war ich nachmittags mit Herta im Weinberg gewesen, hatte Paul Thanisch abgepaßt und etwas mitgelesen, wobei Herta eifrig mithalf. Auf dem Heimweg trafen wir Walter Thanisch, mit dem ich dann noch vor Tisch zu ihrer Kelter gehen mußte. Er wußte, daß auf Einladung Schönberg Frank Wedekind hierher kommen werde. Wir probierten 13er und 14er Weine und tranken einen wundervollen 11er Doktor aus der Flasche. Donnerstag lernte ich dann Wedekind in Anton Thanisch’s Kelterei kennen und denselben Abend trafen wir uns mit Schönberg, ihm und Walter Thanisch in dessen Keller, wo wir fidel bis gegen ½ 3 zusammen waren. Dies aber bekam mir schlecht. Freitag hatte ich von 11 Uhr morgens bis 5 nachm. den schönsten Kater. Gestern stellte ich fest, daß besagter Wedekind 24. Juli 1864 geboren ist. Also kann er es doch gewesen sein, muß sich aber stark verjüngt haben.
Alle sind sich darüber einig, daß man einen solchen Herbst seit 1865 nicht mehr erlebt habe und schwerlich wieder erleben werde. Rechtsanwalt Schönberg kaufte aus guter Erdener Lage Trauben, die ihm ein Ürziger Besitzer (Jean Zinmahl) keltern und einkellern wird. Es wird sich auf noch nicht 600 M das trinkfertige Fuder stellen. Ich möchte mich gern hieran beteiligen. Ich schneide einen Bericht aus der Kölnischen Volkszeitung aus, der sehr richtig ist.
Freitag, 22. X. 1915. Gestern abend, kurz nach Tisch, sagte sich Reinecke von der Lenchen aus an. Er sah sehr frisch und wohl aus und konnte nicht genug seiner Freude Ausdruck geben, nach 15 Monaten Kriegszeit mal wieder
 
 

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im Frieden und häuslichen Wohlbehagen zu sein. Er hatte seinen Hausgenossen Sauer versprochen, sie abends noch zu sprechen und ging also hin, kam ½10 zurück und unterhielt sich bis gen Mitternacht aufs Beste mit uns. Heute morgen suchte er mich bei Gericht auf und wir gingen zusammen zum Oberförster, wo wir uns bei zwei guten Flaschen bis gegen ½2 festschwatzten. Dann aß er bei uns zu Tisch, und Herta freute sich mächtig, die Trauben zum Nachtisch mit ihm essen zu dürfen, holte sein Bild aus dem Nebenzimmer und war recht fröhlich und schelmisch zu ihm. Eben begleitete er mich zum Garten und gleich werde ich zu ihm zu einer Tasse Kaffee gehen.– Bei der Unterhaltung mit R. namentlich auch beim Oberförster kam mancherlei Bemerkenswerte zu Tage: Sein Divisionär Hausmann verschwand (im März 1915?) über Nacht von seinem Posten. Kosch, v. Nasses Schwiegervater muß als Divisionsführer in einer Schlacht bei Serres (? 21/22 Aug 14) alles durcheinander gebracht haben, ebenso der Corpsführer v. Hausmann, so daß die Franzosen, hätten sie es genau gewußt, uns dort hätten “vernichten” können. Gehorsamsverweigerungen in der vordersten Linie kommen immer noch vor. usw.
23. Okt. 1915. Heute war es ein angenehm und reich bewegter Morgen. Pfarrer Storkebaum auf Wolf brachte Anleihe zur gerichtlichen Verwahrung und ich unterhielt mich mit ihm aufs Beste. Er meinte, aus Nachrichten unseres Freundes Kramm entnähme er dessen Enttäuschung über seine Tätigkeit in Charlottenburg. Auf der Brücke begegnete mir Reinecke, ich begleitete ihn zu Frau Thanisch, die ich schon vorher gesprochen hatte. Wir gingen nochmals ins Kelterhaus und in den Keller, wo es eifrig brodelte. Etliche Fässer waren schon “durch” und so wurde “Federweißer” probiert. Ich begleitete Reinecke zur Bahn, wo er 1235  abfuhr.

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Dort war auch Frau W. und brachte ihre Tochter Ellen, die als Frau Treß vorgestellt wurde zur Bahn. Es ist eine schlanke Person mit rassigem Profil, recht mager oder “dürr”, wie Rosa sagt. Gestern besprach ich mit Reinecke seine Familien- und Halbfamilien-Angelegenheiten ganz offen wie unter wackeren Freunden. Er ging dann noch mal zum Oberförster, mit dem er in der Doctorstube einen Hasen zu verzehren gedachte. Leider hatte Helene infolge des ungewohnten Weingenusses heftiges Kopfweh und so gingen wir nicht zur Doctorstube, wo Reinecke noch allerhand Bekannte, so auch Gescher getroffen hatte.– Am vorigen Sonntag waren Flieger in Trier und warfen Brandbomben, trafen aber nichts. Oberförster Bauer hatte auch dort in einen Keller gehen müssen. Husgen erzählte in der Bahn, daß sie einen Schutter Lang (?) verfolgten aber nicht erreicht hätten.
24.X.15. Sonntags nachmittag auf dem Liegestuhl, da schreibe ich jetzt durchgängig. Eben ruft mich Herta von der Graacherstraße aus an, und ich antworte durch einige Pfiffe. Die Sonne dringt durch dünnen Nebel und läßt alles in leicht verschleierten tiefen und bunten Herbsttönen aufleuchten. Zu Hause bin ich eifrig beschäftigt, alle Verbindlichkeiten –wir haben nur kleine– zu lösen, um freies Gesichtsfeld dafür zu bekommen, ob sich eine Winterkur in der Schweiz für mich ermöglichen läßt oder nicht. Etwas blutig gefärbter Auswurf heute früh war mir wieder ein rechter Mahner. Gleichwohl fühle ich mich recht frisch und wohl. Bruhns schrieb sehr niedergedrückt, daß sein Bruder Oskar zu 10 Jahren Zwangsansiedlung in Sibirien verurteilt worden sei und per Etappe wie ein Verbrecher und mit solchen dorthin gebracht werden solle. Fürchterlich. Ich habe mich der Kölnischen Zeitung unter Mitteilung des Sachverhaltes zur Verfügung gestellt, um solches und ähnliches Material zu Artikeln zu verarbeiten, in denen für eine spätere Berücksichtigung der Deutschrussen energisch Stimmung gemacht wird.
 
 

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Es sollte mich von Herzen freuen, wenn ich damit etwas nützen könnte. Welches Elend müssen gerade die Besten dort erdulden! Jetzt sind die Serben so recht in der Verzweiflung. Wenn dem mordsüchtigen Pack seiner Regierung und Drahtzieher dies  von Herzen gegönnt werden kann, so kann es einem um das Volk doch leid tun. Denn ohne Zweifel wird seitens der mit Recht erbitterten Bulgaren der Krieg dort als Rassenkampf mit Niedermetzelungen aller Art geführt. Das Volk geht dabei gewiß z.T. zu Grunde. Kein Wunder, daß sie daher jetzt angesichts der mangelnden Hülfe ihres Bundesgenossen mit dem Gedanken arbeiten, sich uns und den Österreichern auf Gnade und Ungnade auszuliefern. England ist anscheinend mit seinem Latein zu Ende: Zypern hat man den Griechen schon angeblich angeboten. Das will für England gewiß etwas heißen, wenn es auch für die Griechen u.U. nichts bedeutet. Rumänien ist jetzt glücklich abgeklemmt und die Schweizer reden bereits davon, in welcher Form die Mittelmächte Frieden zu machen gedenken, nämlich mit jedem ihrer Feinde getrennt und allein. Italiener scheinen nicht recht auf den Balkan zu wollen. In Saloniki muß es toll zugehen. Ich meine, die Sache ist bereits diplomatisch für uns entschieden, militärisch wohl auch bald. Hätten wir nur erst Riga und Calais noch. Mr. Casson, ich denke mir darunter den Führer der irischen Ulsterleute, der wirklich ein schneidiger und großdenkender Kopf zu sein scheint, ist aus dem hin und her schwankenden englischen Kabinett ausgetreten. Mit dem “freiwilligen” Rekrutierungssystem wird dort der letzte Verzweiflungsversuch gemacht.
 
 

Zwischen den Seiten 62 und 63 ist der Zeitungsausschnitt mit einer Karte der Ostfront eingeklebt.
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Reinecke wollte gehört haben, 18 (!) Armeekorps (einige ½ Million Soldaten) gegen die Serben auf den Beinen. Winckler sitzt, wie seine Frau erzählt, wie auf heißen Kohlen. Er wechselt mit seiner schweren Artillerie Kolonne mehrfach das Quartier und soll demnächst Proviant für 10 Tage fassen. Da andere  Kolonnen, die nach dem Osten kamen, für nur 6 Tage Proviant faßten, so “hofft” er, nach Serbien zu kommen. Was kann er dort und weiterhin im Orient noch alles erleben. Man möchte ihn schon recht darum beneiden.– In Warschau hat man nationalpolnische Theaterstücke aufgeführt, die bei den Russen stets verboten waren.
Gegenüber ist die Lese der Anton Thanisch’schen Weinberge in der Ley im Gange und auch heute wird dort eifrig gelesen. Gestern waren Helene und ich mit Herta dort in der steilsten Lage. Die Trauben waren im letzten Grad der Reife, die untersten an den reichbehangenen Stöcken bereits in edle Fäule übergegangen. Wir sprachen lang und unterhaltsam mit Frau Thanisch, die eifrig mit beschäftigt ist. Dann kletterten wir nach oben, saßen lange an dem erwärmten Felsen in der Spätnachmittagssonne, die dünn durch zarten Nebelschleier schien. Der Ausblick aus dem gelbbelaubten Weinberg aufs Städtchen war entzückend. Nie aber meine ich in meinem Leben köstlichere Trauben gegessen zu haben, als dort. Von jedem Stocke hatten sie einen anderen Geschmack edelster Würze und Süße. Die Hände freilich klebten einem heftig und Herta war nicht wenig unglücklich hierüber.– Russische Kriegsgefangene arbeiteten auch dort und junger Mann, den ich mit ein paar russischen Sprachbrocken bewarf, redete unaufhörlich, ohne daß ich etwas verstand. Er schien mir einen wohlgesetzten Vortrag über den Unterschied zwischen russischem und deutschem Brote zu halten.
 
 

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25.X.15: Regen, alles feuchtverhangen. Ich sprach Viktor Thanisch, der seinen Vollbart nicht mehr hatte. Er erzählte von unglaublichen Winterstrapazen und Märschen in den Ostseeprovinzen. Weihnachten feierte er noch in Frankreich in vorderster Linie. Bald darauf von Tilsit los, in Schneestürmen von 16-18° Kälte!–– Er hat was erlebt und überstanden. Jetzt vor Dünaburg, wohin er Ende der Woche zurückkehrt.
26. Ein blaues Sonderblatt bringt eine böse Nachricht: Unser großer Kreuzer Prinz Adalbert sank durch zwei englische Unterseebootschüsse in der Ostsee, wenige der Besatzung nur gerettet. Die Engländer haben also von uns gelernt. Mit Moltke hatte es vor einiger Zeit bei einem ähnlichen Angriff gut gegangen. Der Kreuzer wird einen schweren Verlust unserer Hochseestreitkräfte bedeuten, obgleich ich zu meiner Schande gestehen muß, daß ich ihn nicht einmal dem Namen nach kannte.– Die Italiener rennen gegen die österreichischen Stellungen seit einigen Tagen wieder in wahnsinnigen Angriffen an, ohne größeren Erfolg, wie es scheint. Gegen die Serben geht es blitzschnell vorwärts. Den Griechen, die selbst Cypern verschmähten, halten jetzt die Engländer die Faust drohend unter die Nase. Erfolg?– Nach dem trüben Regentag gestern –dem einzigen in der heurigen Weinlese– scheint heute die Sonne von einem blitzblanken Himmel, die Bergränder schimmern violettbraun, alle Hänge leuchtend gelb, die Mosel dunkelblau gekräuselt durch einen kalten scharfen Nordwind. Carl Liell sandte aus der Gegend von Ypern eine nette Karte; sie sehen dort dem Winter mit Ruhe entgegen, besser dazu gerüstet als voriges Jahr. Wann wird es enden?
 
 

Eingefügt ein Zeitungsausschnit mit der Frontlinie in Serbien.

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17. Zahlreiche Einberufungen sind hier wieder erfolgt, alle zum 3.11.15. so der Sohn Geller, Gerichtsdiener Grohn, Seiler Hundemer. . . Der Verlust des Kreuzers geht allen nahe, doch spricht man kaum davon. Heute ist nach feuchtem Nebel ein mildwarmer Tag geworden. Es soll noch “Adventsgemüse” auf dem Felde gepflanzt werden. Frau Thanisch begegnete mir heute und lud mich ein, zur Badstube zu kommen, wo heute gelesen wird. So werden wir heute nachmittag dorthin pilgern. Josef schrieb und sandte 2 hübsche Postkarten. Die Kegelbahn hat er bald fertig. Brenneisenstempel läßt er mir schneiden. Bildhauer hat er keinen, so daß es nichts mit einem Lüsterweibchen ist.– Es tobt immer noch ein wütender Angriff der Franzosen gegen unsere Westfront; jetzt in der Champagne am heftigsten. Wann endlich werden die Franzosen ein Einsehen haben? Jetzt werden die 18jährigen als letzte Reserve bei ihnen einberufen. Auf dem Balkan geht es mächtig voran. Die Bulgaren haben bereits Üsküb in Mazedonien und stehen im Nordosten auf 45 km den unsrigen nahe. Was wird es geben? Die Griechen lehnten ein Eingreifen zu gunsten unserer Gegner abermals ab.
27.X.15. Der Weinbergsbesuch in der Badstube gestern war sehr erfreulich. Es war lachender Sonnenschein, über Kallenfels standen breite Wolken und der Rebenhügel schimmerte goldgelb. Dazu prächtige Aussicht auf Altenwald, Burgkopf und Mosel mit dem Städtchen unten. Der Trauben war auch dort die reichste Fülle. Es war recht steil hinaufzuklettern, zumal hinter dem Ende der Bodentreppe quer über den dort sehr reichlich liegenden Schiefer. Helene kamen ihre Nagelschuhe, die sei erstmals seit unserer Schweizerfahrt anhatte, sehr gut. Sie kam gut hinauf. Herta fiel es sehr viel schwieriger. Wir unterhielten uns unten mit Paul, oben mit seiner Mutter und gingen den Pellesteg, dann über eine lange Treppe hinunter, fanden unterwegs auch noch “Mausohr”-salat zum Abendtisch.– Heute ist es wieder trüb. Viele glauben, der Krieg ginge doch noch vor dem Winter zu Ende. Ich glaube es nicht.
 
 

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29.X.1915. Der blaue Anschlag mit der bösen Nachricht über unseren Kreuzer Prinz Adalbert (er war 1901 erbaut und hatte 7000 t) ist heute abgelöst durch einen roten mit der erfreulichen Nachricht, daß die Bulgaren die serbische Festung Tiros genommen und sich damit wohl den Anmarsch vor Serbiens 2. Hauptstadt Nisch freigemacht haben. Im Nordosten trafen Österr.-Deutsche mit den Bulgaren bei Milutinowatz zusammen. Man wird sich das zu merken haben. Wird damit der Weg für eine neue Wirtschaftseinheit von der Nordsee nach dem Persischen Meer oder noch mehr, vielleicht der durch keine Seeübermacht mehr bestreitbare Landweg nach Afrika und dem äußersten Osten frei? Wer kann es wissen? Den Engländern schwant böses. Heute ist es ein stiller kühl trüber Novembertag. Gegenüber auf der Graacherstraße wird in einem Weinberg noch fleißig gelesen. Gestern machte ein Fischer mit dem Wurfnetz reiche Züge. Es sind drei strenge Fasttage von der kirchlichen Behörde angeordnet worden und da kommen die Fische gerade recht; denn Abstinenz und Fasten werden keineswegs getrennt. Helene war gestern bei Frau Kreisarzt Dr. Knoll auf einen “Kaffee” und erlebte dabei die Genugtuung, mit einer leichten weißen Seidenbluse und einem sehr chiken schwarzen oben stark gekräuselten Seidenrock einen unbestrittenen allseitig anerkannten “Sieg” davonzutragen, der ihr gar nicht im Sinn gelegen hatte. Im übrigen fand sie Ton und Unterhaltungsstoff des Kaffeeklatsches sehr beschränkt und kleinstädtisch-spießbürgerlich.– Na, sie ist wohl zu lange außerhalb derartiger Unterhaltungen gewesen, um sich so bald darauf wieder einschrauben zu können.
30.X.15. Wieder ein stilltrüber Tag. Nur mittags kam die Sonne etwas zum Vorschein. Es ist ein ununterbrochenes heftiges Trommelfeuer zu hören, bei dem sich verschiedene Geschützgrößen
 
 

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deutlich unterscheiden lassen. Auf dem Felde setzte ich schöne Rosen- Weißkohl- und auch Wirsingpflanzen, die ich von Gerichtsdiener Friedrich bekam. Die Händler kaufen bereits in Ortschaften wie Gornhausen das Wintergemüse auf. Weiskohl kostet dort 3,40 pro 50 kg. Ein Vormund von dort, der heute vorsprach, wird mir in nächster Woche solches von dort besorgen. Wir wollen dann Sauerkraut einlegen. Friedrich geht heute auf den Kuhhandel, der noch neue Gesichtspunkte erhielt durch das vorsprechen eines 20jährigen Lieserer Mündels, der am Mittwoch eintreten muß, während am Donnerstag Viehmarkt in Wittlich ist. Da er eine große trächtige Kuh daheim hat, gedenken die Viehjuden natürlich einen Schnitt zu machen, ich jedoch diesen ein Schnippchen zu schlagen. 540 M sollen sie ihm geboten haben, er verlangt 630 M!!– Paul Thanisch erzählte, daß der Bruder seiner Frau durch den Tod erlöst ist. Für die hart betroffene Familie eine wahre Erlösung.
Ich hatte heute Zahltag und manche Zahlungen zu besorgen. Ich überschlug, daß ichgut 2 Monate zur Kur nach der Schweiz gehen kann, ohne daß wir uns sonderlich einzuschränken brauchen. Von einem Collegen aus Saarlouis hat Scherer wieder allerlei gehört: Von 3 Lebacher Richtern sind 2 für unabkömmlich erklärte Felddienstfähig einberufen worden. (Meine Ahnung: schließlich bin ich der einzige hier) –
31.X.15 Die Russen verloren in den letzten Tagen zwei Linienschiffe vor Warna durch deutsche Tauchbootschüsse; den Engländern strandete ein Kreuzer Argyll und wir verloren den “Prinzen Adalbert”. Die Griechen werden –augenscheinlich infolge der Rückversicherung mit Bulgaren, Türken und uns– energisch und in Saloniki soll die Landungskomödie der Franzosen-Engländer mit der Wiedereinschiffung eine neue Wendung bekommen, die Serben scheint das Geschick zu ereilen, das man uns im Sommer 1914 freundlich zugedacht hatte: Von allen Seiten von der Übermacht angegriffen, wird es wohl überrannt.
 
 

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Im Osten haben die Bulgaren die Front bereits zerrissen, von Süden kommt keine rechte Hilfe. Vom Norden und Westen rücken Deutsche und Österreicher heran. Es sollen diese zusammen doch 15 Armeekorps dort haben, wie mir gestern v. Nasse nach Bericht seines Schwiegervaters Kosch bestätigte (womit also Reinecke recht gehabt hätte). Er wußte auch aus einem Einzelfall, daß schon deutsche Truppen von dort wieder weggezogen wurden. Im englischen Unterhaus drückte sich ein Minister merkwürdig um die Antwort auf eine Frage nach englisch-deutschen Friedensverhandlungen herum. Seltsam, daß gerade die Balkanvölker berufen zu sein scheinen, unseren Gegner entgültig zu beweisen, wer Sieger in diesem Kriege bleibt. Die Engländer werden wohl in echt englischer Selbstsucht ihre Stellung am Suez-Kanal möglichst stark zu machen suchen und ihre Truppen dorthin ziehen. “Dienst”pflicht ist bei ihnen nur noch eine Frage der Zeit. Daß ihr König bei einem Ritt auf der flandrischen Front vom Pferd fiel und sich erheblich verletzte, möchte einem fast als symbolisches Zeichen vorkommen.
1. Nov. 1915. Ein trüber Regentag mit halbwarm und halbkaltem West. Die Weinberge sind gelb mit violettem Schimmer. Dicht vor dem Gartenhaus tummelt sich eine Kette kleiner Duckenten lustig in der Mosel. Es ist sonst seltsam still – nur der Wald rauscht fern im Wind. Ab und zu hört man fernen Kanonendonner leise pochen. Ich las in des Knaben Wunderhorn.–
2.XI. 1915. Allerseelenstimmung, trüb, feucht, Wind und Wolken. Den Serben geht es schlecht. Krajusevac haben wir jetzt genommen. Fest sind sie allerseits umklammert. Ob sie denn kapitulieren? Die wackeren Emmenthaler Nachrichten, von denen Bruhns eben einige Nummern sandte,
 
 

Zwischen den Seiten 68 und 69 sind wieder Zeitungsausschnitte eingeklebt.
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bringen unter dem 26./X einige genaue Angaben, nach denen König Nikita bereits bestrebt sei, mit Wien sich in die serbische Erbschaft zu teilen. Alle Neutralen loben und bedauern die mutigen Serben, wohl alle in der Erwartung, daß sie baldigst Ruhe geben und mit dem Friedenschließen den Anfang machen. “Mindestens 150000! Mann” kostete die jetzt allmählich abflauende III. große italienische Offensive, so sagen die Österreicher.
3.11.1915. Höchstens ½ Jahr dürfte der Krieg dauern, sollte er in diesem Anschreibebuch noch zu Ende gehen. Eine wichtige Höhe bei Tahure, der Haupterfolg des letzten großen französischen Angriffs ist von uns zurückerobert worden. Joffre war in London, warum wohl? Heute sind die zuletzt einberufenen, ehemals Untauglichen eingetreten. Helene hat leider wieder unter heftigem Zahnweh an den Schneidezähnen zu leiden. Gestern abend besuchte ich Dr. Schmitz und unterhielt mich mit ihm und seinen Eltern bei einigen Gläschen federweißen “Rosenbergers” ausgezeichnet. Es stellte sich heraus, daß er von Freiburg her den Russen Petrutskewitsch (?) gut kennt, der dort sehr interessante mikroskopische Untersuchungen über Bieneneier machte und die alten Erfahrungen Dzierzon’s (?) bestätigt fand, natürlich Gegner von Dukel. Auch über Kriegsbeschädigte unterhielten wir uns des längeren. Die Ärzte hatten sehr viel gelernt im Kriege. Eine Reihe Frakturen, die anfangs noch zu Versteifungen der Gieder führten, behandle man heute dergestalt, daß die Leute wieder dienstfähig würden. Schließlich zeigte der Vater einige prächtig lila blühende Blumen, von denen bei Kesten ganze Felder jetzt in üppigster Blüte ständen und von den Bauern als Futter gehauen werden. Ich sprach sie als Phagelia Aenazetifolia an, Schmitz meinte, es sei eine Heliotrop-Art.
 
 

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4.XI.15. Heute gabs mal feste zu schaffen von 8 - 1 Uhr und noch nicht fertig. Ein Gornhausener Bauer brachte Gemüse. Der Zt. Weißkohl kostet 4 M statt 2,10 M Höchstpreis. Machte ich mich strafbar? Gestern abend hatte ich Herta zu Thanischs gebracht, wo sie mit der kleinen Ellinor von Anton Th. spielte. Im Keller wurde das Fuder N° 100 bei Blitzlicht aufgenommen mit der Kleinen obenauf. Sie werden wohl 103 bis 104 Fuder gelegt haben. Es will noch nicht recht hell heute werden. Bruhns sandte Brief mit ausführlicher Vorstellung des Prozesses seines Bruders; er ist wohl zu lebenslänglicher Zwangsansiedlung verurteilt.
5.XI.15. Aus der langatmigen Rede des englischen Ministerpräsidenten Asquith hat man den Eindruck, als ob dieser gerissene Advokat unter der Maske des Biedermanns sich von einem noch gerisseneren Fuchs für überrumpelt halte, nämlich jenem schlauen Kreter Weniselos, der so eng mit dem Viererbund befreundet war und diesem die Hilfe Griechenlands versprach –worauf die Engländer sich verließen– und dann –– stürzte, womit die Engländer auf dem Balkan blamiert waren. Den Serben geht es täglich schlimmer. Der Simplizissimus brachte bereits eine schwarz-weiß-rot bemalte Pyramide mit einem feldgrauen Musketier als Wache, der einen Geierkopf trägt, wie eine altägyptische Gottheit dargestellt wird. Das Ganze als “Alpdruck der Engländer”. England gerät immer mehr in die Defensive.
9.11.15. Unser kleiner Kreuzer Undine wurde in der Ostsee das Opfer eines englischen Tauchbootes, und unsere Tauchboote versenken im Mittelmeer immerzu feindliche Schiffe. Nun ist den Serben auch ihre 2. Hauptstadt Nisch genommen. Es bleibt ihnen schließlich nur noch der Rückzug nach Montenegro oder Albanien. Sie müssen fest büßen. Lord Kitschener aber –der englische Kriegsminister– verduftet plötzlich aus London. Was bedeutet das?
 
 

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Geht es doch mit der allgemeinen Dienstpflicht nicht recht voran? In Griechenland wird im Ministerium und Parlament mal wieder: “Bäumchen, Bäumchen, wechsle dich” gespielt. Der König aber und seine feste Hand bleiben. Eier, Hülsenfrüchte, Mais und andere nützliche Dinge sollen wir von den Bulgaren jetzt bekommen. Die “edlen” Bulgaren, die mit 3 Ernten über dem Hals im Getreide stecken, wollen jetzt den grotesken Versuch machen, es über – Rußland (!!) zu verkaufen. Bei ruhigem Abwarten fällt uns da wohl noch eine fette Beute in den Hals. Schweine-Höchstpreise sind ab 12. Nov. festgesetzt. Folge: Preissturz am Kölner Schweinemarkt und eifriges Anbringen auch fetter Schweine, blieben aber an 3000! Stück unverkauft. 2 fleischlose Tage machen sich bemerkbar. Mich interessiert der Höchstpreis von 90 M per 50 kg Lebendgewicht vom Schwein bis 80 kg Gewicht.– Der Butterkrieg tobt immer noch, die Behörden gehen jetzt stramm vor. (Siehe eingeklebte Zeitungsausschnitte). Wir bekamen wieder mal 5 kg, diesmal hochfeines weißes Weizenmehl zu 48 Pf per Kilo. (das 2. mal). Mit Helene besahen wir uns gestern das Haus Schnittgen am Wehlener Weg, das 1 Jahr leer steht. Hätte ich die Gewißheit, noch einige Jahre hier zu bleiben, so zöge ich hinein, hätte freigelegene Wohnung, Garten, Acker, alles wie ich es wünsche. Fehlt nur noch gedeckte Liegehalle. Von Bruhns hatte ich mehrere Briefe. Sein Vater, von Oskars Zwangsansiedlung bis ins Herz erschüttert, will sich zur Ruhe setzen. Einziger Lichtblick: Sie hatten vorzügliche Ernte.
10.XI.15. Den Serben geht es immer schlimmer. Auf Griechenland brauchen unsere Feinde schon nicht mehr zu rechnen.
 
 
 

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12.XI.15. Seit zwei Tagen sitze ich wie eine kranke Eule mit gesträubtem Gefieder mit heftiger Erkältung zu Hause und erfreue mich an scheußlichen Zahnneuralgien; draußen toben nasse Novemberstürme. Es ist abscheulich. Das einzig Erhebende ist die Zertrümmerung Serbiens und die anscheinend nunmehr recht ernstliche Bedrohung des englischen Weltreiches: Kitchener soll also jetzt nach – Indien! Da wäre ja mehr als man zu hoffen wagt: ein allgemeiner Aufstand? Die Nachricht kommt aus Amerika. Dort hat man vielleicht (ähnlich wie wir es 1866 es gern sahen, daß Österreich von Italien geschwächt wurde) seine heimliche Freude daran, daß England politisch kleiner wird. Finanziell hat man es ja schon recht fest in der Hand. Also könnte es mal der kleinere angelsächsische Bruder des Amerikaners werden. – Jetzt verstehe ich den Jammer erst recht, den 2 englische Lords kürzlich im Oberhaus anstimmten über die Greuel der Verwüstung des Krieges und die Schönheit des Friedens. Nur müßten sich die Deutschen noch an den Gedanken gewöhnen, daß sie von England keine Kriegsentschädigung erwarten könnten (aha!) und auch aus Belgien und Frankreich zurückgehen müßten. – Seltsam trifft sich hiermit die Nachricht, daß die Eingeborenen in Tripolis den Italienern schwere Schlappen beibrachten. Sollte wirklich die Welt des Islams allgemach in Bewegung geraten? Dann wäre es bald zu Ende mit Frankreich und – England! Na, so schnell wird es ja wohl noch nicht kommen. Aber sorgenschwere (Wort fehlt) haben die Engländer jetzt schon, das merkt man an manchem.
Reinecke fuhr gestern mittag aus seinem Urlaub  zur Front zurück. Tags zuvor war er nachmittags hier angekommen, hatte mich bei Gericht aufgesucht, mich abermals zum Oberförster und dann zu Schönberg geschleppt. Hier blieben wir beide zum Abendbrot und unterhielten uns aufs beste. Den notwendig kommenden großen Wirtschafts- und Staatenverband: Deutschland - Österreich - Türkei - Bulgarien (vielleicht auch Holland, Schweiz und sonstige Neutrale mitsamt den Skandinaviern) konnten wir R. nur sehr schwer in den Kopf kriegen: Er wollte hartnäckig wissen, in welcher “staatsrechtlichen Form” irgendwelche Angliederungen stattfinden sollten. Als wenn es bei der jetzt allgemein üblichen Verkrustung und Kartellierung der ganzen Erde auch noch sehr auf “Form” ankäme. Einzig die Einverleibung Kurlands als neue Provinz in Preußen schien ihm ganz und ein halbsouveränes Königreich Polen halbwegs klar zu sein. Ob Polen an die Habsburger Krone kommt? Mir will es nicht so scheinen.––
18.11.15. Heute schneits bereits den ganzen Tag. Wir hatten schon etliche Nachtfröste und auch schon einmal geringen Schneefall. Natürlich schmilzt in der warmen Talsohle alles bald wieder weg. Eben aber bleibt er liegen. Vor Tisch sah ich Anton Thanisch, der infolge Verschiebung seines Regiments einige Tage Erholungsurlaub hat. Er sieht sehr viel weniger gut aus als bei letztem Hiersein.– Seit 1 Woche ist wieder besonders starker ununterbrochener Kanonendonner zu hören. Während die Kinder und ich den Schnupfen so ziemlich los sind, leidet Helene immer noch stark an einer Erkältung und Husten.
19.XI.15. Es ist trotz recht hohen Barometerstandes trübes Wetter, der Himmel
 
 

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mit Wolken und Dunst grauverhangen. Der Schnee scheint oben fest und hoch zu liegen. Sämtliche Weinhänge sind durchaus schneefrei. Helene geht es besser, doch hat sie noch empfindliche Rückenschmerzen und bleibt vernünftigerweise zu Bett. Herta fuhr heute früh mit Frl. Hedwig nach Cues, das Mehl zur Bäckerin bringen. Das brachte sie natürlich darauf, daß sie vielleicht nächstens mit mir nach Bonn fahren soll: Ich meldete mich zu einem 3tägigen Kursus der Kriegsbeschädigten-Fürsorge nach Düsseldorf. Antwort steht noch aus. Ich würde dann gleichzeitig einige Tage nach Bonn gehen.– Das Schießen ist unaufhörlich zu hören. Die Serben scheinen bald festgedrängt zu sein. Die Saloniker Expeditionstruppen haben augenscheinlich gar nicht den Zweck, ihnen zu Hilfe zu kommen, sondern sollen vermutlich nur unsere Verbindung zum Orient stören. Im englischen Unterhause hat man auch mal vom Frieden geredet und die “Rückgabe Elsaß-Lothringens und Polens” als “Kriegsziel” bezeichnet. Ob Russen und Franzosen noch lange auf solchen Köder zubeißen? In Persien vollzieht sich augenscheinlich eine allgemeine Schwenkung gegen Rußland und England, zu unseren Gunsten. In Indien soll es stellenweise bös aussehen und den Japanern mißtrauen dort auch die englischen Bundesgenossen. Griechenland wird durch allerlei Erpressungen allmählich anscheinend auf unsere Seite gedrängt. Schon beschlagnahmen die Engländer griechische Schiffe. Könnten wir nur erst mal an Egypten heran. Churchill, der Luftikus, ist abgegangen.

Zwische Seite 74 und 75 eingeklebt: Zeitungsausschnitt “Unsere Kriegsbeute”

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20.XI.15. Jetzt hats auch in unserem Hause eingeschlagen: Frau Alf teilte mir gestern abend, heftig erregt, mit, daß Carl’s (Liell) Bursche geschrieben habe, er sei verwundet. Mehr wisse er nicht. Natürlich sind Mutter und Tante sehr aufgeregt. Ich schrieb gleich an Johannes (Rech, Johannes), der ja Verwundeten-Transportwesen in Brüssel leitet, er möge Feststellungen versuchen und drahten. Auch schrieb ich Formularkarten an die Zentralauskunftsstelle Berlin und sandte beides den Frauen gestern abend.
Trotzdem sie wegen Rückenschmerzen keine gute Nacht hatte, ist Helene heute doch aufgestanden. Über Frau Balma’s Tod schrieb ich gestern an Hemi van Felde in Amsterdam. Nachdem der 3. große Angriff der Italiener abgeschlagen ist, versuchen sie jetzt einen (letzten?) Angriff, vermutlich um der äußerst zugespitzten Lage auf dem Balkan auch ihrerseits gerecht zu werden. Auf dem Balkan selbst einzugreifen, scheint ihnen noch immer die Lust zu fehlen. Im Mittelmeer sind unsere Uboote jetzt wieder sehr rührig. Eins versenkte einen größeren englischen Hilfskreuzer, versenkte durch Geschützfeuer im Hafen von Sollum (Egypten - Tripolis) 2 Boote und erbeutete Geschütze von feindl. Handelsdampfer. Wie mag letzteres hergegangen sein? Die Americaner haben wieder Gelegenheit zum Notenwechsel, da ein österr. Uboot einen großen italienischen Personendampfer Ancona mit Passagieren versenkte, natürlich auch 1 Dtz der unvermeidlichen Americaner. (2 Mill. Lire in Gold nach Frisco!)
22.XI. Seit gestern haben wir strahlend blauen wolkenlosen Himmel. College Liell ist heute nach Trier zum Bezirkskommando befohlen, hoffentlich findet
 
 

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man ihn nicht felddienstfähig. Unser Landgerichtspräsident ist abgegangen; schade, er war ein recht angenehmer Vorgesetzter. Heute ist Kontrollversammlung hier, das Gestade stand voller Menschen, viele Bekannte darunter. Paul Thanisch und ich sind fast die einzigen mit graden Gliedern, die die nicht dabei waren. Nach einer Äußerung unseres Landtagsabgeordneten Veltin soll dem künftig zusammentretenden Reichstag die Erweiterung der Landsturmpflicht bis 52 (50?) Jahre vorgelegt werden. Ohm Gottfried behält also schließlich recht damit: “Salls sehn, me komme noch all dran, dä Preuß jit net noh!” Ja, so wirds wohl noch kommen. Selbst in Rußland werden die D.U. gemustert und das letzte Aufgebot ist schon erfolgt. Die D.U. Musterung scheint dort namentlich in industriellen Kreisen stark einzuschneiden. Die Serben sind jetzt aus ihrem eigentlichen Vaterlande herausgedängt und nur 3erlei steht ihnen offen: Endkampf auf dem berühmten Amselfeld, Flucht nach Montenegro, wo der Hunger grinst, oder Übertritt nach Griechenland, wo man entwaffnet wird, wie die wackeren Griechen allen Viererbunddrohungen zum Trotz neulich nochmals versichert haben. – Aus einem (vom Compagnieführer wie stets zensierten) Brief eines Wehrmannes Müller an Helene spricht außer großer Kriegsmüdigkeit und grenzenloser Sehnsucht nach Heimat, Frau und Kind auch starke Erbitterung gegen die, die am Krieg verdienen. 8 Monate liegt er jetzt schon vor Verdun im Schützengraben. Daß das die Leute aushalten! In Wolhynien ist ein Druchbruchsversuch der Russen abgeschlagen worden.

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24.XI. Leider sind die schönen strahlenden Tage mal wieder vorbei und vom trüben Himmel tröpfelt es in kaltem Regen. Helene hatte wieder eine sehr schlechte Nacht und ist durch mehrtägige erneute Anfälle ihres nervenaufreibenden Leidens wieder arg geschwächt und mutlos. Sie hat sich entschlossen, übermorgen mit mir nach Bonn zu fahren und den dort in Urlaub weilenden Dr. Trebes zu Rat zu ziehen. Gestern besuchte ich Frau P. Th. und ich holte sie abends dort ab. Schade, daß es ewig nicht besser mit ihr werden soll. Der Himmel ist trostlos. Wie muß es jetzt einem Serben zu mut sein? Allerseits schmählich im Stich gelassen kämpfen sie bis zum Äußersten mit heftigen täglichen Verlusten. Die Engländer führen gegen die Griechen schon sozusagen Krieg.– Unter dem grauen Himmel liegen die Berge jetzt in dunklem Braunviolett. Alles trübe und traurig.
25.XI. Wieder alles trüb, am Himmel jagen sich die Regenwolken, eintönig rauscht oben der Thanischwald auf der Höhe und aus den Wingerten hört man das ununterbrochene Knipsen der Rebenscheren, mit denen die Stöcke beschnitten werden. Alles aber übertönt –selbst das entfernte Lärmen der Straßenjugend– das dumpf erschütternde Gepolter der fernen Geschütze und Minenfeuers an der Grenze. Dr. Brockes aus Zeltingen untersuchte mich heute morgen und fand ganz richtig die linke Seite als den Hauptsitz meiner Lungenkrankheit. Mit Paul Th. sprach ich gestern abend beim Billardspielen nach Tisch auch über Winterkur. Er will halben Januar bis Mitte März weggehen. Ich finde das auch noch am besten. Heute morgen hatte ich es mit einigen Kriegsbeschädigten zu tun, denen leicht zu helfen war. Dagegen geht mir ein sehr abgemagerter ganz gelber leberkranker Unteroffizier nahe, der kaum mehr etwas tun kann und
 
 

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begonnen hat, seine Musestunden mit Sticken auszufüllen. Leider ist er noch körperlich viel zu schwach, als daß er darin besonders ausgebildet werden könnte.
4. Dezember 1915. Eine ganze Woche waren Helene, Herta und ich weg. Heute bin ich erstmals wieder auf dem Gartenliegestuhl. Fast unheimlich dumpfe und feuchte Wärme, die Mosel geht hoch und lautlos schnell, breit, dunkelbraun gänzend. Am Himmel jagend silberglänzende weiche schwere Regenwolken, die Berge schillern vom leuchtenden Braun bis zum samtartigen tiefdunklen Purpur. Was haben wir in den Tagen vieles erlebt, gesehen und gehört. Wir sind noch so voller Eindrücke, daß sich alles ungeordnet durcheinanderschiebt. Nur das Gefühl einer großen geistigen und körperlichen Erfrischung ist noch sehr lebendig, wenn auch schon durch das unnatürlich warme erschlaffende Wetter bedroht. Vor allem ist Serbien jetzt völlig erledigt. Gestern sah ich in Bonn in schneller Fahrt einen Zug durchfahren, der ein Regiment oder einen Teil desselben zu befördern schien. Ich hatte die bestimmte Vorstellung, es seien Truppen, die aus Serbien nach Flandern fuhren. In Flandern soll nämlich wieder allerlei im Gange sein. Selbst – Bulgaren sollen auf dem Wege nach dort sein!– Ich war 3 Tage in Cöln und fuhr täglich nach Düsseldorf. Stets waren beide Bahnhöfe mitunter ganz dicht mit Feldgrauen besetzt. Es war mir erschütternd, eine neu ausgebildete Kompagnie in guter voller Ausrüstung mit Musik zum Bahnhof marschieren zu sehen, lauter Leute gesetzten Alters. Ich war eine Zeitlang mitten unter ihnen und kam mir doch recht wenig achtenswert vor. In Düsseldorf tagten wir
 
 

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in dem prächtigen Ständehaus in einem schönen langen Saale mit etwas weichlichen aber angenehm wohllautenden Wandbildern von Adolf Münze (?) (1911 gemalt), die ich mir als Ruhepunkt der Augen oft lange betrachtete. Ich lernte verschiedene Menschen und manches Neue kennen, das mir für die Berufung der Kriegsbschädigten vorteilhaft sein wird. Bei Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) wohnte ich fürstlich, alles kommt mir jetzt ganz traumhaft vor. Hier gab es gleich wieder feste zu tun und das ist gut. Denn das Wetter ist trostlos. Unaufhörlich gießt ein weich-warmer Segen herunter.
Sonntag, den 5.XII. Die dumpfe Schwüle von gestern löste sich diese Nacht in einem kurzen heftigen Gewitter. Heute ist ein leuchtend schöner, milder Frühlingstag, der die Bienen aus den Stöcken lockt, keineswegs zu ihrem Vorteil. Ich habe alle Sachen auf dem Amt in der Kriegsbeschädigten-Fürsorge –K.B. lehnte in Düsseldorf ein Crefelder Dr. Horst mit Recht ab– Kartoffel-Brei liegt zu nahe und man wird es nicht mehr los– beigearbeitet und fühle mich wieder freier. Heute vor 8 Tagen besuchten Helene und ich Freund Heinrich Schneiders, den wir zu Vaters Reitmeisters Geburtstag am 9. März 1915 im Urlaub zuletzt gesehen hatten. Wenige Tage nachher wurde er bei jener schweren Minensprengung im Priesterwalde verletzt. Von seinem 45st. Zuge waren noch 8 Mann übrig. Über diese Sprengung hat man schon viel geredet und am Dienstag sprachen wir in Düseldorf im Restaurant Lennartz mittags wieder bei Tisch davon. Heinrich sah zwar
 
 

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wohlbeleibt, aber doch sehr angegriffen aus: Er hat öfters und meist nachts heftige Fieberanfälle bis 41°C, die mehrere Stunden dauern und ihn sehr erschöpfen. Dann wieder 36,7°! Die riesige Wunde am Oberschenkel, Gesäß und Darm, die er uns zeigte, war bis auf ein kleines Ende gut verheilt. Es muß ein riesiger Schnitt und Stoß in das Bajonett gewesen sein; von dem mitverletzten Darm aus wurde die Wunde stets verunreinigt und so hat er jetzt wohl auch noch allerhand fiebererregende Bacterien im Leibe. Nun ist sein Bruder Wilhelm so plötzlich ein Opfer seines Berufes geworden. Ein diphteriekrankes Kind hustete ihn an, seine empfindlichen Schleimhäute infizierten sich und trotz baldiger Serumbehandlung erkannte er die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes. Liesel Schn. war schon bei ihrer Schwägerin, als “Wilhelmchen”, wie wir ihn so gern nannten, noch nicht ganz hin war. Das 1jährige Töchterchen brachten sie für die ersten Tage in ein Säuglingsheim. Montag wurde er dann bei halsbrechendem Glatteis auf dem Poppelsdorfer Friedhof, ohne daß einer seiner Brüder dabei sein konnte; denn Franz liegt seit der D.U.-Musterung mit schmerzhaftem Rheuma zu Bett. Trotz der wahrlich trüben
 

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und traurigen Stimmung sollen die wunderlichen Bewegungen der nicht wenigen Teilnehmer auf den ansteigenden vereisten Wegen stark zum Lachen gereizt haben. Weinen und Lachen wohnen oft sehr nahe beieinander.– Wir hatten uns noch nicht sehr lange mit Heinrich an jenem frostigen Wintermorgen = wir waren in schneidend eisigem Wind zu Fuß über die Rheinbrücke dorthin gepilgert = unterhalten, da kam ihn sein gerade beurlaubter Hauptmann Ruhr besuchen, der jetzt eine “hohe Hausummer” zeigte (346?) Die früher selbständigen Landwehr Bataillone sind neuerdings zu Regimentern zusammengestellt worden. Dieser recht jugendlich aussehende Herr erzählte mancherlei Interessantes. Sie hätten jetzt 6 m unter der Erde geräumige Unterstände, in denen sie gegen normale Artillerie ganz gesichert sich aufhalten und schlafen könnten. In Artillerie seien wir jetzt dort –im Priesterwald– den Franzosen stark überlegen. Wie man es dort vorigen Winter dort 3 Monate lang in offenen schmalen Gräben habe aushalten können, sei jetzt jedermann schleierhaft und doch habe man damals eine sehr viel gehobenere Stimmung gehabt als heute. Der jahrelange Stellungskrieg zerre und zehre gewaltig an den Nerven. Freund Reinecke, den K.G. Rat, kannte er natürlich gut und jener General Junk, den er wegen vorsätzlicher
 
 

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Körperverletzung vor ein Kriegsgericht ziehen wollte (das S. M. der Kaiser erst hätte zusammenberufen müssen) ist sein Vorgesetzter. Prächtig war eine Schilderung, wie in seiner Gegend an einem hellen klaren Tage auf einem Abschnitt ein glänzender Sturmangriff auf die überraschten französischen Stellungen über mehrere Linien vorgetragen wurde, bei dem der französische Bataillonsstab und viele Leute gefangen wurden. Unsere Leute aus dem benachbarten Abschnitt hätten sich diesen Angriff von Brüstungen ihrer Gräben pfeifeschmauchend in aller Ruhe angesehen, ohne von feindlicher Artillerie oder Infanterie dabei gestört zu werden. – Hiervon morgen mehr. Heute vormittag erlebte ich eine rechte Freude: einmal das frohe Leuchten bei Frau Thanisch, als ich ihr erzählte, wie ich mehrmals ihre Heimat, Fabrik, Wohnhaus und Garten in Langenfeld gesehen hätte, und zum zweiten, als Herr Koch mir erzählte, daß sein Sohn Rudi, Frau Louis Hauth’s Halbbruder das Referendarexamen glücklich bestanden habe. Nota bene: Die Engländer haben eine anscheinend recht kräftige Niederlage einen Tagemarsch vor Bagdad erhalten, bis wohin sie sich so allmählich im Laufe eines Jahres beiderseits des Tigris und Euphrat heraufgearbeitet hatten. Diese Niederlage von Ktesiphon scheint ihnen schwer in den Knochen zu liegen. Der Rückzug ist dort
 
 

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bedenklich, denn die Araber und sonstige Eingeborene schließen sich den siegreichen Türken gewiß an, schon um Beute zu machen und hieran scheint’s diesmal nicht zu fehlen. Vermutlich bringen deutsche Offiziere die Sache dort in Schwung. Hoffen wir das Beste aus dieser günstigen Verbindung für den großen Angrif auf Egypten. Wie hieß der französische General, der für eine von ihm frei zu bildende Armee unbedenklich preußische Offiziere und nach kurzem Bedenken als Leute türkische Soldaten wählte? (aus der französischen Armee: die Regimentsmusik!) = Hier will man wissen, daß schon Bulgaren zur Westfront – (Offensive in Flandern?)
7.XII.15. Gottlob ist es etwas kühler und frischer, freilich immer noch reichlich warm für die Jahreszeit. Gestern war ich so schlapp, daß mir die kleinste Arbeit große Mühe machten. Die Bienen flogen ebenso eifrig als unnütz umher.– Um auf Schneiders und den Hauptmann Ruhr zurückzukommen: Er hatte große Zweifel, ob wir mit den Lebensmitteln auskommen würden. Die gleichen Bedenken äußerte auf der Bahnfahrt Düsseldorf-Cöln ein augenscheinlich recht intelligenter älterer Herr. Beiden hielt ich Polen und den Balkan, auch den jetzt erreichten Anschluß an Vorderasien vor, ohne daß sie hierauf erwas besonderes zu erwidern wußten, aber ohne auch von ihrer Ansicht abzulassen. Hoffen wir, daß
 
 

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sie nicht recht behalten.– Gestern wurde für uns und Rechnungsrat Faber ein prächtiges fettes Schwein in des Gerichtsdieners Wohnung geschlachtet. Es soll eins der schönsten Schweine sein, die seit langem hier geschlachtet wurden. Wir lassen viel Schmalz auch aus Speck aus, auch giebt viel Wurst, von der Helene einen Teil in Gläsern einmachen will. In Bonn und Cöln ist jetzt keine Butter zu haben. Vielleicht Übergangserscheinung infolge der Zentralisierung des Butterverkehrs in Berlin; wir senden Mama Rr. welche von hier. =Leider sah ich Liesel Schneiders nur sehr flüchtig bei unserer Abfahrt.= Heute vor 8 Tagen lud Onkel Dietrich Freund Sondag zum Abendessen ein: Wir unterhielten uns vortrefflich. Er ist Adjudant bei der Kraftfahrertruppe in Cöln, richtete vor einiger Zeit auch ein Kraftwagen-Depot in Kowno ein. Er will auch bald zur Front. Sehr bezeichnend klang mir eine Bemerkung aus seinem Munde, da er doch Geschichte mit als Hauptfach studiert hat: Es sind gewiß noch nie so viel Aufzeichnungen über große Ereignisse gemacht worden, und wenn man nun bedenkt, wie jemand bei vorsichtigster Benutzung des ganzen riesigen Materials später doch in vielen Punkten zu ganz falschen Ergebnissen kommen kann und wird, so sollte man überhaupt an der Möglichkeit einer absolut richtigen Geschichtsforschung
 
 

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verzweifeln!– Nichts richtiger wie das: alle Wahrheit ist beschränkt, relativ, vergänglich. Quid est veritas?– Selbst die Möglichkeit eines Druchbruchs Suezkanallinie vorausgesetzt, muß ein Marsch nach Ägypten doch allerlei Bedenken unterliegen. Unser nächstes Ziel wird wohl die Lösung der Frage der Landungstruppen in Salonik, die Bezwingung Montenegro’s und vielleicht der Vormarsch auf Bessarabien sein. Gewiß aber geschieht diesen Winter noch etwas. Unser Kaiser besuchte den österreichischen in Wien, bei welcher Gelegenheit 3 österr. Minister flogen, ohne daß daran in unserer Presse Commentare geknüpft werden durften. Es muß doch etwas wie Vereinheitlichung im Gange sein. Mackensen ist Oberbefehlshaber aller auf dem Balkan fechtender deutscher, österreichischer, bulgarischer und türkischer Truppen. So was haben die Gegner nicht. Joffre hat man jetzt zum Oberbefehlshaber aller französischer Truppen in und außer Frankreich gemacht. Hierüber giebts viele erregte Nachfragen bei den Franzosen.= In Cöln und Düsseldorf sah ich schon viele weibliche Postbriefträger. Auf der Elektrischen sind nur die Fahrer männlich. Bei den Kriegsbeschädigten - Erörterungen bemerkte ein Lt. v. Zengeler aus dem VIII AC. Komm., daß noch viel mehr felddienstfähige Arbeiter aus der Industrie, insbesondere Schwerindustrie
 
 
 

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und selbst aus den Munitionsfabriken herausgezogen werden müßten, die dann möglichst durch Kriegsbeschädigte ersetzt werden sollen. Böse Aussichten.
8.XII. Mit Brinkmann, den ich schon gestern sah, sprach ich heute länger. Er liegt jetzt nördlicher, bei Coutrai oder Kortryk und Tournai. Anscheinend seien dort jetzt heftige Kämpfe im Gange, jedenfalls höre man heftiges Artilleriefeuer. Er ist dort jetzt näher an der Front (bei Lille) und da hören sie natürlich mehr; so z.B. sei die letzte große Offensive im September an vielen Stellen ganz überraschend für uns gekommen, die Bevölkerung habe zu der Zeit alle Leitungen zerschnitten, so seien manche Truppenteile vorn ganz abgeschnitten gewesen und verloren gegangen. Trotzdem das Volk dort halbverhungert sei, würde es, sobald ein feindlicher Angriff in Sicht sei, stets unglaublich frech. Es regne oft Strafen.Auch jetzt herrscht wieder ein allgemeiner Geist aufsetzlicher Widerspenstigkeit. Br. ist z. Zt. Compagnieführer. Sein Hauptmann häufig krank, namentlich wenn es wie neulich, den Anschein habe, als ginge es zur Front. – Heute morgen ließen wir einen Teil Speck sowie Schmalzfeder und sonstiges Fett des geschlachteten Schweines aus. Zu Tisch aber gab es herrlichen feisten Wildschweinbraten. Fettnot hätten wir einstweilen überwunden. Helene machte Leberwurst in Gläser ein. Ich ging 2 Stunden mit den Kindern aus. Marianne erlebt so was selten und freut sich sehr.
 
 

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9. Dezember 1915. Brinckmann erzählte, was man öfters und von verschiedener Seite hört, daß ältere Mannschaften zum Sturm nicht vorgehen, wenn der Offizier nicht mit vorgeht. Hieran solls mitunter hapern, zumal das Gegenteil mehrfach befohlen wird.– Heute ist es ein trüber nasser dunstiger Tag gegen die Voranzeige aller Wetterapparate, nach denen schönes Wetter sein müßte. Von großen Gefechten in Flandern redet man jetzt allgemein. Ich ging heute morgen daran, einen Artikel für die Zukunft der Balten zu schreiben. Ich muß mich dazu mit Gewalt aufrütteln, da mich eine drückende Faulheit die letzten Tage befallen hat. Helene hat die letzte Zeit mit großem Eifer vormittags in der Küche geschafft. Hoffentlich bekommt ihr das gut. Sie sterilisiert allerlei von dem geschlachteten Schwein, dessen frische Leber- und Blutwurst uns jetzt mächtig gut schmeckt. – Gestern war Fr. Th. zum Kaffee bei uns, ihr Mann, der sich entschlossen hat, mit mir nach Leysin zu gehen, war zur Weinversteigerung nach Trier. Nachher gingen wir, wie stets auf der Graacher Straße spazieren und unterhielten uns auch noch eine Zeitlang zu Hause. Ich begleitete sie dann heim. Helene versteht sich so gut mit ihr, daß ich es sehr bedauere, daß sie die meiste Zeit der Kur ihres Mannes nach Hause (Langenfeld) geht.
10.XII.15. Heute ist wieder reines Hochwasserwetter, schwül warm, Wind, Wolken, Regen. Die Mosel geht hoch und lehmgelb. Gestern abend begegnete mir auf dem Heimweg vom Amt Ant. Schmitz, er ist nach St. Quentin beordert, was ihm gerade jetzt keine besondere Freude macht, da er eine Reihe schwerer
 
 

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Fälle in Trier lieber gern selbst weiter behandelt hätte. Es scheint auch seine neue Beorderung mit dem erwarteten Angriff im Westen zusammenzuhängen. Heute abend setzt er “sich in Marsch”. Sein Vetter Paul Th. war sehr befriedigt über die bei der Weinversteigerung in Trier erzielten Preise. Die kleinen städtischen Besitzer hier, die den 1913er inzwischen schon meist unter der Hand verkauft hatten, sind schlecht auf ihn und Hüsgen zu sprechen. Brinkmann, mit dem es heute amtlich zu verhandeln gab, bedauert, daß er mir nicht die Schreibarbeit in der Kriegsbeschädigten-Fürsorge machen kann. Ich bedauere es noch viel mehr. Heute morgen bestellte ich mir Aktendeckel. Dann wird alles darin eingesargt und läuft Gefahr, wie Bürgermeister Keßler es hübsch ausdrückte: “im Formalismus bald zu erstarren”. Hoffentlich werde ich das für unseren Kreis verhindern. – Rosa aus Commen war heute da zur großen Freude der Kinder, denen sie natürlich Nüsse mitbrachte. Sie rühmte, daß die Winterfrucht so gut und dicht herausgekommen sei und vorzüglich stünde. Das ist schon mal recht erfreulich. Hier habe ich beobachtet, daß vor meiner Abreise nach Bonn –heute vor 14 Tagen– noch nichts herausgekommen war; jetzt steht der Roggen dicht und 4-5 Fingerbreit  hoch.– Es ist ein seltsam aufregender Zustand jetzt.– Der Reichskanzler hat gestern sachlich und knapp gesprochen. Es schien, als ob er vieles mit Absicht ungesagt ließ. In Amerika zieht Wilson gegen die Deutsch-Amerikaner los.
 
 

Zwischen den Seiten eingeklebt: Karte mit der Balkanfornt

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11.XII.1915. Heute nacht ist die Mosel beängstigend gestiegen. Sie stand schon heute früh über dem Bahngeleise der Moselbahn und stieg den Morgen über noch weiter, wie ich von meiner Amtsstube aus nicht ohne Besorgnis beobachtete. Es kommen nämlich allmählich unsere Äpfel und die große Pökelbütte im Gerichtskeller in Gefahr. Äpfel sollen unsere Mädchen nach Kaffee holen gehen. Der Wind braust unaufhörlich und schwere Regenwolken ziehen ohne Unterlaß am Himmel dahin. Eine Regenschauer folgt der anderen. Hier draußen im Garten, wo ich dies auf dem Liegestuhl schreibe, habe ich die Mosel noch nicht so hoch gesehen, sie spült am Rand des Moselweges. (1910, wo wir zwei Überschwemmungen im Winter erlebten, hatten wir den Garten noch nicht) In den Keller hier kommt es aber so bald noch nicht.– Heute morgen hörte ich aus dem Munde eines Kriegsbeschädigten wieder das von ihm –einem recht klugen jungen Mann– sicherlich ehrlich gemeinte Wort, jedermann an der Front, insbesondere aber alle Kriegsbeschädigte seien Sozialdemokraten. Ich sagte ihm, daß vor mir als Richter, alle Menschen gleich seien, soweit ihr Verhalten nicht gegen das Gesetz verstieße. Ich habe den Eindruck, daß in der Sucht, Sozialdemokraten zu werden, eine gewisse Hilflosigkeit gegen veränderte Lebensbedingungen liegt; positives wird damit wenig geleistet werden, auch nicht für eine künftig etwa “regierungsfähige” geschlossene Partei aller Arbeiter und deren Interessen.
 
 

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Der wirtschaftliche Aneinanderschluß der Mittelmächte und ihrer Anhänger beginnt einsichtigen Engländern allmählich böse Sorgen zu machen, zumal das alte Ränkespiel mit der gegenseitigen Aufhetzung wohl auf die Dauer nicht mehr verfangen wird. Der Reichskanzler hat Tatsachen berichtet und damit gut geredet. Gut auch die Sozialdemokraten. Friedensanfrage beantwortet. Wir sind gern zum Frieden bereit, wenn uns die hierzu nötigen Garantien einschl. der hierzu erforderlichen Gebietsabtretungen geboten werden. Je länger der Krieg fortgesetzt wird, desto größer werden diese Garantien werden müssen. Gut.–
13.XII.15. Unsere sanfte Mosel hat sich in einen reißenden Strom verwandelt; breit und gelb gehts mit Macht daher. Hier unter dem Balcon leckt das Wasser an den Mauern. Gestern hatte ich schon befürchtet, es würde hier in den Keller kommen und hatte das Gemüse daraus weggeschafft. Trotzdem es diese Nacht noch erheblich gestiegen ist, steht es fast noch 1/3 - ½ m unter der Kellersohle. Astor und Paul Thanisch dagegen sind gehörig drin; schon gestern morgen stand’s in den Küchen und die Heizung bei Th. ist aus. Abscheulich. Gerichtsdiener Friedrich, der Samstag noch nicht dran glauben wollte, hat in der Nacht bis 1 Uhr im Keller schaffen müssen und so ging es manchem. Jetzt war diese Nacht Frost. Das Barometer steht hoch
 
 

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und so hofft man auf baldiges Sinken. Viel Tannenholz ist hier angeschwemmt, wie man hört von einem  Holzlager in Mülheim, dessen Eigentümer im Felde steht. Gestern regnete es Bindfäden, mittags sank die Luftwärme stark und es schneite kräftig. Oben liegt der Schnee jetzt noch. Heute mittag ist heftig rollendes Geschützfeuer zu hören. – America scheint jetzt Rußland in der Deutschen-Hetze nachahmen zu wollen.– Franzosen und Engländer erlitten durch Bulgaren (und Deutsche?) eine empfindliche Niederlage am Wardar, nicht allzu weit von der griechischen Grenze. Was wird Griechenland demnächst machen? fragt jeder. = Ich erinnere mich, daß Sondag in Cöln von einem Offizier sprach, der 43 Gefechte mitgemacht hatte und stets heil davongekommen war.
14.12.15. Die Mosel hat sich ausgetobt. Heute morgen war sie erheblich gesunken; die Keller zeigten wieder trockenen Boden, hier draußen spült sie schon wieder ½ Fuß tief unterhalb des Wegrandes. Leider scheint auch das schöne Wetter nur von kurzer Dauer zu sein, allzu schnell stieg das Barometer, um jetzt schon wieder zu fallen. Ein milchig-trüber Himmel verspricht baldigen Schnee. Allgemein redet man von einer deutschen Offensive im Westen. Brinckmann verabschiedete sich heute. P. Th. wird heute der Rostocker jur. Fakultät wegen Doktorarbeit schreiben. – Helene ist leider
 
 

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stark erkältet, diese Nacht war es mit außerordentlich heftigen Kopfschmerzen besonders schlimm. Das Klima taugt hier nichts. Brinckmann meinte heute das Gleiche. Er wird, wenn ich weggehe, auch Versetzung anstreben. Die “Friedens”-rede unseres Kanzlers wird im ganzen Ausland eifrig kommentiert, ein Zeichen für ihre Bedeutung; der Berner Bund meint, der Krieg müsse, so wie er jetzt stehe, ausgehen oder eine ganz neue Kriegsperiode beginnen. Jedenfalls haben wir die Engländer insofern an der Nase gefaßt, als sie unseren Angriff auf Egypten schon jetzt für nahe bevorstehend hielten und sich dorthin konzentrierten, während wir zunächst mal mit den Türken auf die Bagdad-Mesopotamien-Expedition uns stürzten und sie anscheinend gründlich zu Fall brachten. Das könnte starke Einwirkungen auf den Orient einschließlich Indien haben. – In China scheint Juankischai sich zum Kaiser gemacht zu haben, was natürlich für dieses Land das einzig Richtige ist; schon der japanische Widerspruch beweist es. Schönberg, mit dem ich mich gestern unterhielt, setzte mir auf grund eines Artikels der Zürcher N. N. auseinander, welche Nachteile ein Eingreifen Griechenlands an unserer Seite mit Rücksicht auf den Gegensatz zu Bulgarien und die künftigen Verpflichtungen gegen Griechenland

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selbst habe. Bulgarien wird wohl erst mit ganz Macedonien zufrieden sein und dann vielleicht zur Türkei in ein Verhältnis, wie Deutschland zu Österreich zu kommen wünschen.
15.12.15. Heute endlich mal klarer kalter Wintertag. Auf dem Amt gabs mancherlei Arbeit. Leider ist Helene gar nicht gut; stark erkältet. Es schwirren wieder alle möglichen Gerüchte: Hartnäckig das von einem großen Angriff unserseits auf der Westfront, der heute beginnen soll. 6 Millionen neuer verbesserter Rauchmasken, neue Munition mit neuen, noch schlimmeren Gasen sei bereit, Bulgaren und Türken(!) will man in Wengerohr haben durchfahren sehen, in Saarlouis(?) seien  allein in letzter Zeit 400000 (!!) frische Truppen durchgekommen, die Untauglichen werde man im Januar abermals mustern, im 21. A.C. beginne man schon damit usw. Tatsachen: Ober-Stabsarzt Dr. Sally Döblin hat die “ledige” Angelika Stöck geheiratet, ob auch getauft, ist ungewiß. Damit hört manches Gerede auf und beginnt manches neu. Eben fuhr die Moselbahn wieder, die Mosel steht schon fast 1 ½ m unter dem Geleise. Das halbe Schwein, (es wog lebend 121 kg) kostete mich fertig mit zugekauftem Fleisch, Wurst, Sülze, Metzger ect. 148,10 M und wurde heute bezahlt. Wir schwelgen noch in Blut- und Leberwürsten. Der junge Geller ist als DA (dauernd arbeitsunfähig, sehr nahe verwandt mit dem DU) von Mörchinger Rekruten Depot wieder entlassen worden, nachdem er anfangs Holz gehackt, später einem Feldwebel bei der Schreibarbeit geholfen, nie aber die Waffe geführt hat. Von 310 sollen 250 als DA entlassen sein.
 
 

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Die Anzeichen für den großen Eindruck der Reden unseres Kanzlers im Ausland mehren sich. Die Bulgaren scheinen den Franzosen und Engländern auch ins griechische Macedonien hinein zu folgen.– Für Mutter und Brüder bearbeitete ich Steuersache. Für die Kriegsbeschädigten lege ich jetzt regelrechte Akten mit Registratur an. Heute kamen die Aktendeckel. Ich hoffe, in 4 Wochen damit fertig zu werden, um alsdann die Sachen wohlgeordnet dem Vertreter –Amtsbruder Liell hat sich hierzu erboten– zu hinterlassen. Des Schreibwerks wird leider immer mehr dabei.
16.XII.15. Die Butterfrau aus dem Hunsrück und die Milchfrau aus der Stadt berichteten heute früh übereinstimmend, daß heute ein besonders starkes Schießen zu hören sei. Eben höre ich in der Tat gegen 3 Uhr ein ununterbrochenes hin und herrollendes dumpfes Donnern., zu dem das lebhafte ferne Rufen der am Gestade spielenden Schulkinder in seltsamem Gegensatz steht.– Eine zeitlang redeten die Engländer von Wiederherstellung der mittelafrikanischen Neutralität, die sie doch sofort zu Beginn des Krieges brachen. Ob sie eine Beunruhigung der muhamedanischen Bevölkerung im Süden und in Südegypten befürchten? Es scheint, daß der Islam nicht umsonst sich der besonderen Aufmerksamkeit unserer ostafrikanischen Kolonialbehörden erfreut hat. Am Suez und bei Kairo müssen sich die Engländer bis an den Hals bewaffnet haben.– Frau Emmi Th. klagte gestern Helene ihr Leid ob des Zwistes mit ihrer Schwiegermutter. Wir haben s. Zt. noch schöneres erlebt.––
 
 

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Mit Schönberg unterhielt ich mich gestern sehr angeregt über Namenschutz für Sachen, worüber er viel Material angesammelt hat. Die Fülle des Materials war blendend. Vielleicht gehe ich mal an eine gemeinschaftliche Ausarbeitung.
17.XII.1915. Heute war es auf dem Amt ein vielbewegter Morgen: ich war schon rechtzeitig hin, um einen Artikel für die Trierer Zeitung “Zukunft der Balten” mit der Wiedergabe eines sehr interessanten Teiles eines Breifes von Bruhns zu fertigen, der gestern nachmittag ankam und auch die erwünschte Auskunft über die im Januar 16 zu eröffnende “Bruhns’sche Pension” gab. Eben war ich fertig mit ihm, war schon der erste K.b. (Kriegsbeschädigte) da, einer aus Wehlen, der bisher immer noch nicht gekommen war. Er war verwundet in französische Gefangenschaft geraten und nach 5 Monaten ausgetauscht worden. Er klagte nicht über schlechte Behandlung. Zwischendurch erschienen verschiedene Leute, die dazwischen abgefertigt werden konnten, u.a. gab Pfarrer Mörchen eine so saftige Schilderung über eine Veldenzer Säuferin, daß ich diese dort unmöglich belassen kann. Eine nicht allzu geistesstarke Frau wollte von einer Pflegschaft nichts wissen und ihr Sparbuch “frei” haben. Ich warnte sie genügend, senkte den Samen des Mißtrauens in ihren seichten Verstandesgrund und gab ihr das Buch (mit 2900 M!) frei. Sie kam bald nachher wieder damit zurück und gab es uns “in Verwahr”, nur 90 M hatte sie erhoben. Dann wieder andere Leute, darunter einer, der seiner Schwester bestand, an dessen linker Hand ich eine starke Beschädigung sah: Es fehlten ihm 3 Finger, Daumen

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kleiner Finger aber bildeten eine feste arbeitsfähige Zange. Er hatte in seiner Jugend Unglück an einer Dreschmaschine gehabt. Jetzt war er bei der D.U. Musterung als arbeitswendungsfähig geschrieben. Wieder ein K.B., den kenne ich schon, er will eine fahrende Briefpost Thalfang Berglicht übernehmen und das Pferd selbst dazu stellen. Er soll vom Ers. Batl. den Ausstellungsschein bekommen, wenn die Postbehörde diesen verlangt. Ich rücke ihm einen Tisch zurecht und er ist noch am schreiben, als ich mittlerweile bis kurz vor 1 Uhr mit allen sonstigen Akten fertig werde. Immerhin habe ich doch alles, was ich vorhatte, fertig bekommen, wenn es mir auch etwas bunt im Kopfe davon ist. Leider ist Helene nicht nur erkältet, sondern auch seelisch arg niedergedrückt, indem sie Ursache zu dem Glauben zu haben behauptet, es käme wieder zu neuer Operation u.s.w. Schade; hoffentlich ist sie diese Gedanken los, ehe ich zur Kur weggehe. Dank der gütigen Fürsorge des Beamtenvereins aßen wir heute mittag prachtvollen gebackenen Kabeljau (... 0,60 M per ½ kg)
18.XII.15. Heute morgen –es gab wieder befriedigend viel zu schaffen– vernahm ich einen jungen Kanonier im Urlaub, der mit neuen 10 cm Feldgeschützen (weittragende Geschütze) in den Tiroler Bergen auf die Italiener schießt, in deutscher Uniform. Seine seltsame Feldadresse brachte mich auf die Frage darnach (...   Willy Brügelmann (Brügelmann, Wilhelm) ist zur Zeit in Cöln, er macht ja ähnliches im Pustertal (?) Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) ist als Liebesgabentransport bis zur Batterie - Feuerstellung vorgedrungen und konnte durchs
 
 

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Scherenfernrohr in die italienischen Stellungen sehen. Dort soll man jüngst einen Posten mit Offizier  abgefaßt haben, alle in deutscher Uniform. Was geschieht mit ihnen bei den Italienern, mit denen wir doch “keinen Krieg” haben? Baiern sollen ja sehr zahlreich dort in österr. Uniform stehen und mit einer Bescheinigung versehen sein, “daß sie aus dem deutschen Heere aus und ins italienische (muß wohl heißen: österreichische) Heer eingetreten” seien. Sonderbare Dinge. Den Italienern dürfte dies alles aber keineswegs unbekannt sein. Ich erinnere mich auch einer Erzählung von Freund Sondag neulich in Cöln: Ein Teil einer Kraftwagenkolonne, den man lange vermißt habe, sei zufällig bei unseren Bundesgenossen an der Isonzofront aufgefunden worden. Aus Galizien sei sie nach dort verschlagen und von den Bundesgenossen kurzerhand mitbenutzt worden. = Herta hustete heute morgen. Als ich mittags nach Hause kam, lag sie still und brav im Bett und erzählte mir, sie sei krank “gewesen” und hätte arges Kopfweh gehabt. Sie hat ein heißes Köpfchen. Erkältung oder verdorbenen Magen. Marianne bemüht sich jetzt etwas mehr sprechen zu lernen. Sie ist durchweg stets fidel und unternehmungslustig. Am Suezkanal scheint es los zu gehen. Angeblich kamen holländische und englische Schiffe nicht mehr hindurch.
19.XII. Herta hat gut geschlafen und stand heute morgen auf, bekam gegen Mittag wieder etwas Fieber und ging gern wieder zu Bett. Sie hatte auch wieder Lust, zu essen. Wir meinen, es geht ihr besser. Sie hatte einen Teil (Bronchialkatarrh)-Schleim verschluckt und erbrach
 
 

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ihn heute morgen. Leider beginnt Mariannchen auch weinerlich zu werden, hoffentlich kriegen wir nicht den Keuchhusten.– Wie es gemacht wird, sieht man an Kleinigkeiten: Für 1 l Spiritus, dessen Verkaufspreis für den Kleinverkauf vom Spiritusring fest auf 45 Pf bestimmt und auf allen Flaschenverschlüssen aufgedruckt ist, verlangt man gestern 50 Pf wegen “Frachtspesen”. Obwohl wir gestern froh sein konnten, ihn zu haben, denn kurz vor 8 versagte die Gasleitung, schrieb ich heute doch eine Karte an die Spirituszentrale. Angeblich sollten gestern feindliche Flieger gemeldet sein, Frau L. wollte sich schon im Keller einquartieren und unser Kinderfräulein hatte alles ausmarschbereit zurecht gelegt. Ich hatte es bis zum Einschlafen längst vergessen. Heute streicht ein kalter Ostwind über den fast wolkenlosen Himmel und beim Schreiben auf dem Liegestuhl frieren mir elend die Finger.= Für die Schweizer Kur ist die Quartierfrage für mich und Thanisch bei Freund Bruhns gelöst. Hoffentlich kommt nun bald der Urlaub. Wider Erwarten schnell haben wir einen neuen Landgerichts-Präsidenten in Trier bekommen, heißt Knapp, war Director in Elberfeld und soll im Felde sein. Thanisch’s Billard schraubten wir gestern wieder zusammen und spielten gleich eine kleine Partie. Er will diese Woche zur Jagdhütte; vielleicht, daß ich einmal mitgehe.
Weihnachten 1915. Anfang dieser Woche ging ich mit Paul Th. nach Merscheid. Wir erlebten dort einige herrliche Wintertage im Schnee, von denen ich später noch ein wenig berichten muß. Den Hartmannsweilerkopf haben die Unsrigen den Franzosen wieder abgenommen. Eben lese ich in der Kölnischen Zeitung den Abdruck des Briefes von Oskar Bruhns über seinen politischen Prozeß in Petersburg. Leider mit

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Namen. Hoffentlich hat das keine Rückwirkung auf die Eltern! Die Kinder haben Husten, ich im Halse, auch Helene erkältet. Heute lauwarm, Wind, Regen, Mosel steigt wieder. Die Engländer räumen die Dardanellen, schöner Erfolg für die Türken, uns und den Orient.
26.XII.1915. Die Mosel geht wieder gewaltig hoch und lehmgelb. Bahngeleise sind überschwemmt. Wir bescherten erst gestern, da vorgestern Herta noch im Bettchen lag. Die Freude der Kinder war echt, rein und groß. Wer beneidet sie nicht heute? An die Kölnische Zeitung sandte ich gestern eine Plauderei über Erfahrungen in der Kriegsbeschädigten-Fürsorge. Bin neugierig, obs angenommen wird. Mit Helene begann ich gestern abend die Lektüre von Naumann “Mitteleuropa” Es ist zur Zeit das Buch.– Der junge Robert Koch machte heute vormittag Besuch bei uns. Er bedankte sich nochmals für meine Mithülfe –ich hatte ihm nur etl. Gesuchschreiben überprüft– bei seinem glücklich bestandenem Examen. Er hat den Feldzug in Ostpreußen, Samogitien und Kurland hinter sich und hofft, zur Westfront zu kommen. Auf meine Anregung hat er auch dafür gesorgt, daß er als Referendar vereidigt wurde. Er war so froh und aufgeweckt, daß es einem ordentlich Freude machte. Als Offiziersaspirant hofft er wieder in einen Regimentsverband zu kommen, um auch Gelegenheit zu haben, Leutnant zu werden. – Sehe ich den trostllosen feuchtwarmen Regenhimmel, so scheinen mir die beiden (oder 3) Schnee- und Jagdtage auf dem Hunsrück schon in weiter Ferne zu liegen. Montag nachmittag fuhren wir mit
 
 

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dem “Postauto” (Heiden nimmt jetzt wilkürliche Preise, so 1,90 M bis zur Römerstraße) hinauf. Bereits im Hinterbachtal begann es zu schneien. Oben auf der Römerstraße hatten wir einen ganz herrlichen Gang durch den schon abenddunklen Winterwald mit verschneiten Wegen. Wir marschierten nach Merscheid, aßen Brot und Suppe zu abend und legten uns nach einigem Wirtshausbesuch halb angekleidet ins Bett. 12 Uhr holte uns der Jagdaufseher, der Vollmond stand am Himmel und es war ein unvergleichlich schöner Marsch über verschneite Fluren zum dunklen Wald. Ich ging mit Mayer, Th. für sich. Leider kamen wir an der Elzerather Flur einem Rudel Hirsche mit dem Wind zu nahe. Sie spürten uns, als wir sie umgehen wollten und wir hörten bald an dem Krachen des gefrorenen Laubes, daß uns eine gute Gesellschaft ausriß. Am großen Schlag, den ich sofort vom Sommer her wiedererkannte, hörte ich ein leises helles Zetern: junges Schwarzwild trieb sich dort munter in einer Dickung herum. Auch hier wurde nichts daraus, die Tiere herauszubekommen. Wir waren gegen ½ 4 noch nicht lange “daheim”, als Th. zurückkam. Er hatte ein starkes Rudel Rotwild getroffen, davon hatten 2 “Geweihte” (nur am Bau hatte er sie als solche erkannt, denn das Geweih ist selbst in heller Mondscheinnacht nicht zu erkennen) sich abgezweigt und waren auf ihn zu gekommen. Er hatte gemeint, sie lieber noch näher und mit der breiten Körperseite vorkommen zu lassen und nicht auf sie gefeuert. Plötzlich waren sie seitab in der Heide verschwunden. Er war hinterher schlecht auf sich selbst zu sprechen. Mit Mayer ging er
 
 

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nochmals auf diese Hirsche in der selbigen Nacht aus. Ohne Erfolg. Das Kanonenschießen hörten wir unheimlich genau in dieser hellen Winternacht. Andern Tags wurde bis 10 Uhr gehörig ausgeschlafen und nach einem tüchtigen Frühstück –Butter und Brot gabs in Fülle, Käse hatten wir mit– gings mit 2 jungen Treibern, die mit Schellen bewaffnet auszogen, auf die Jagd. Gleich im ersten Treiben, man hatte mir eine leichte handliche Schrotflinte mitgegeben, bemerkte ich ein munteres Häschen aus dem Tannendickicht kommen. Ich ließ es gemächlich seitwärts traben und gab dann aus kurzer Entfernung meinen ersten Schuß aus einer Flinte ab. Ich bin mittlerweile 36 Jahre alt und schon 5 ½ Jahr Amtsrichter in einem Nest, in dem nur von Wein und Jagd die Rede ist und hatte bis dato noch nie aus etwas anderem als einem 6 mm Flobert geschossen. Ich hatte Dusel: der Schuß saß so, daß der Hase nicht mal mehr sich überschlagen konnte, er schlug wie ein nasser Sack gleich mausetot zu Boden. Man brachte mir einen großen Bruchteil einer jungen Fichte als Bruch und ich mußte wirklich lachen über diese wohlgelungene erste Betätigung als Jäger. Dabei war mir mein rechtliches Herz nicht ohne Bedrücken, denn einen Jagdschein hatte ich nicht. Bei einem späteren Treiben saß ich im Schneegeriesel gegen kalten Wind recht hübsch gedeckt in einer Talmulde und hätte in aller Bequemlichkeit ein prächtiges Stück Wild schießen können, das ich für eine Rehgeiß ansah, nach meiner genauen Beschreibung aber ein Hirschkalb gewesen sein muß. Das Tier sprang so munter am Waldrand auf der Flur herum, daß ichs nicht schießen mochte, zumal nachher auch noch ein junger unkundiger Hund hinter ihm
 
 

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her sprang. Zudem hatte ich vorher auf einen Hasen allerdings auf weite Entfernung vorbei gewischt und mir vorgenommen, jede unnütze Schießerei zu vermeiden. Beim Sichern des Gewehrs gab ich nicht genau genug beim Abspannen eines Hahnes mit dem etwas verklamten rechten Daumen acht und rabums sauste der Postenschuß steil nach oben in den Schneehimmel. Das passiert mir auch so bald nicht wieder. Zum Schlusse stand ich lang bei heftigem Schneegeriesel zwischen prächtigen Felsecken unten im Drohntal, um eines Fuchses zu warten, der dort gejagt und dann bei mir vorbeikommen sollte. Es war ein prächtiges Bild. Rechts rauschte der Wildbach in einem schäumenden Strudel, links und rechts schlossen steilragende Felsen das kleine Wiesental ab, die felsigen Hänge dicht mit Gestrüpp und Dornhecken aller Art bewachsen. Nichts zu hören außer dem Wasserrauschen und dem leisen Zirpen kleinen Gevögels, das sich in den Hecken munter herumtrieb und das vergnügt des stillstehenden Schützen nicht achtete, der allgemach im Schneegeriesel langsam einzuschneien begann. Schließlich mußte ich den hochaufliegenden Schnee vom Gewehrlauf streifen. Rechts trat gleichzeitig ein Reh aus und äugte mich an, sprang dann alsbald an der anderen Bach- und Felsseite steilauf den Hang hinan. Verschiedentlich glaubte ich links oben über den Felsen die auf dem Flurrand jagenden Hunde zu hören. Auch von links kam ein Stück Rehwild, sprang von oben gerade auf mich zu , blieb aber völlig jedem Blick verborgen, in Felsgeklüft und Dornenhecke stehen. Der erwartete Meister
 
 

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Reinecke blieb aus. Fern oben am Horizont erschien als kleiner blasser aber sehr deutlicher Schattenumriß die Gestalt des Jagdhüters auf einer Felsenplatte und ich konnte verstehen, daß es einen reizen könnte, eine solche Figur mit einem Kugelschuß hinunterzuputzen. Schließlich erschien auch einer der Treiber mit den Hunden. Ich stapfte durch den hochbeschneiten Weg bergan und traf vor dem Dorf mit Th. zusammen. Seltsamerweise war mein Häschen die einzige Strecke geblieben. | Daheim, bei Kaufmann (Warenhausinhaber, Junggeselle und Postagent) schätzte ich es sehr, daß ich meine Hausschuhe mitgenommen hatte. Wir bestellten auf 8 Uhr eine kräftige Suppe mit Bauernschinken und vertrieben uns die Zeit im Wirtshaus mit der Unterhaltung mit einem klugen älteren Bauern (Petry), dessen Sohn im Feld steht. Ihm fehlten beim Ausrücken ins Feld gerade noch 3 Arbeitstage (an 3 Monaten), sonst hätter der Vater von dem Dillinger Werk Unterstützung bekommen. Nach einigem Gespräch holte er die Papiere hierüber und ich konnte ihm noch den Rat geben, sich auf die Fortdauer des ungekündigten Arbeitsdienstvertrages zu berufen. Ob es freilich nutzen wird, bleibt dahingestellt. Nach frugalem Abendmahl gingen wir kurz noch mal in eine andere Kneipe, damit keine zu kurz käme; dann wieder halbangezogen bis 12 ins Bett. Um Mitternacht erschien abermals der tüchtige Mayer, wir machten uns jagdfertig und zogen diesmal über den Mantel ein weißes Nachthemd, sowie eine Zeitung um den Hut. Wir sahen
 
 

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recht phantastisch aus, als wir zwar ohne Mondlicht aber doch bei heller Schneenacht abzogen. Wer uns begegnete, hätte uns für Winterkämpfer in den Karpathen, wenn nicht für Gespenster halten müssen. Der Wind blies nicht schlecht und der Schnee sauste in kurzen Flöckchen. Wir trennten uns; ich zog mit M. zunächst quer über die Flur, der fast fußtiefe Schnee erschwerte das Marschieren und man konnte den Weg schlecht inne halten. Wir waren noch nicht weit heraus – diesmal hatte ich eine Flinte mit Büchsenlauf mit – als sehr schnell aufeinander einige Schüsse fielen. M. und ich trennten uns dann auch mit der Abrede: ich sollte erst links am Walde entlang über die Heide, dann zum Wald zurück, durch einen Fichtenstand hindurch und auf dem großen Freischlag mich in einem Art Unterstand (Schirm) bereitstellen. M. wollte dann versuchen, Sauen hierauf zuzutreiben. Das allein stampfen durch den hohen Schnee im totenstillen Winterwald, wo auch kein Windhauch zu spüren war und der Schneefall aufgehört hatte, machte mir eine besondere Freude. Er erinnerte mich an einsame Gänge, die ich im graubündener Winter auch gelegentlich gern für mich seitab im Schneegeriesel machte. Jenseit der breiten Heide fiel ein Schuß – M. meinte später, ich hätte ihn abgegeben, was aber nicht der Fall war, er blieb eigentlich unaufgeklärt – fern bellte ein Hund, daß es durch den Wald hallte. Als ich auf der Blöße stand und
 
 

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noch nach dem Schirm suchte, hörte ich nahebei einen leisen Pfiff, der Jagdhüter M. war wieder zurück, da Nebel einfiel und alle weiteren Jagdversuche vergeblich machte. Wir sahen uns erst auf ganz nahe Entfernung und merkten so erst, welch großen Schutz die weiße Maskerade auf dem Schnee bietet. Kurz vor dem Dorfeingang bemerkten wir an der Spur, daß Th. schon wieder heim war, gleich darauf tauchte er dicht vor uns auf, dicht hinter ihm kam ein Junge und die Frau von M. mit einem kleinen Leiterwagen, die er schon herangeholt hatte. Er war gleich hinter dem Dorf einem ganzen Rudel Rotwild begegnet und hatte noch von einem kleinen Hohlweg über die Flur darauf gefeuert, insbesondere auf das stärkste Tier. Er konnte es verfolgen und ihm nach kurzer Zeit den Fangschuß geben. Nun wurde eine mitgebrachte Carbidlaterne angezündet, die trotz des Windzuges nicht erlosch und auf der Schneefläche hell leuchtete. Während der kleine Wagen im weiten Bogen durch den Schnee mühsam herangebracht wurde, untersuchten Th. und M. die zahlreichen Fährten. Ich hielt den Hund fest. Die beiden wandelnden Gestalten mit den weißen Hemden und dem hellen Licht, die sich bald zur Erde beugten, bald wieder aufrichteten und weitergingen, boten ein ganz seltsames spukartiges Bild. Der Nebel vedichtete sich und als sie sich eine Strecke entfernt hatten, schimmerte die helle Lampe nur noch ganz klein und schwach auf der trübmilchigen Fläche, von der man den Eindruck weitester Unendlichkeit hatte. Anderen morgens sah ich sie grau
 
 

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und nüchtern im Tageslicht aus. Das verendete Rotwild fand sich bald, eine riesige alte Hirschkuh, ein Gelttier, das nicht mehr trächtig war. Diese alte Tante war gewiß das Leittier des Rudels gewesen und hatte 2 tötliche Kugeln erhalten, sich gleichwohl mit einem nachschleppenden Lauf noch einige hundert Meter weitergeschleppt und dann den Fangschuß bekommen. M. zog alsbald seinen blauen Wollfriesrock aus und brach das Tier auf. Der Wanst war gefüllt mit einer Menge Äsung von Winterfrucht. Auf dem Wägelchen war es heimgebracht und das Jagdergebnis bei einer Flasche Rotwein besprochen. Gar zu gerne hätte ich mal auf ein Stück Schwarzwild geschossen. Diesmal schliefen wir wieder feste. Morgens wurde ich von der lärmenden Schuljugend geweckt, die augenscheinlich eine große Schneeballschlacht lieferte. Später halb eingeduselt, sehe ich plötzlich einen frischen jungen Mann in mein Zimmer stürmen. Ich begrüßte ihn mit guten Moregn, was er kurz erwiderte mit der verwunderten Frage: Wer ist denn da zu Besuch? Außer der Nase mag aber von mir in dem hohen Bauernfederbett nichts zu sehen gewesen sein. Ohne sich aufzuhalten ist er mit einem Satze bei dem Harmonium am Fenster und läßt dies aus allen Fugen und Registern arbeiten. Ich hätte gar nicht gedacht, daß in dem kleinen Kasten eine solche Tonfülle sitzen könnte. Er spielte gar micht schlecht und ich merkte sofort, er war mit ganzer Seele dabei. Choräle, Kirchenlieder, Vorspiele und Stücke aus
 
 

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alten Messen rauschten daher. Ich schloß die Augen und hörte mit Behagen zu, schließlich träumte ich wieder wie im Halbschlaf und glaubte mich in einen großen Dom versetzt und eine riesige Kirchenorgel zu hören. Schließlich sang der Unbekannte auch einige Responsorien, holte sich Notenhefte und ruhte nicht, bis er alles durchgespielt hatte. Mit einer entschuldigenden Wendung, er habe mich wohl wackerich gemacht, war er wieder hinaus. Ich versicherte der Wahrheit entsprechend, daß ich gern zugehört hätte. Meine Vermutung, daß es vielleicht ein Urlauber war, bestätigte sich. Es war der junge Küster, der nachts erst aus dem Felde nach Hause auf Urlaub gekommen war und morgens gleich zu seines Freundes Kaufmann Harmonium stürmte, um die langersehnte Möglichkeit, Musik zu spielen, sofort auszunutzen. Ich sah später den blonden jungen Mann auf der Straße stehen, er gefiel mir recht gut. – Wir packten unsere Sachen, frühstückten noch mal kräftig und ließen –der gastliche Hausherr nimmt nichts für solchen Besuch– einen kleinen Beitrag (ausgemacht ist 1 M pro Nacht, ich gab 2,50 M) auf dem Schlafzimmer fürs Mädchen liegen. Die sehr zahlreichen Rotwildfährten auf der Flur wurden nochmals genau untersucht. Anfangs schien es, als ob vielleicht noch ein Hirsch angschossen worden sei, doch erwiesen sich die vermeintlichen Schweißspuren als trügerisch. Wie genau festgestellt werden konnte, hatten zahlreiche Krähen sich

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blutige Stücke des Ausbruchs zum Verzehren geholt und waren damit an Rasenschollen, die aus dem Schnee hervorstanden geflogen, dort ihre Beute zu verschlingen. Hierbei waren Blutspuren an verschiedenen Stellen auf die Hirschfährten gekommen und daraus hatte man falsche Schlüsse gezogen. Während fernweg auf etlichen beschneiten Hoch- und Talflächen noch blasser Sonnenschein lag, zog von Norden und Westen her eine gewaltige dunkle Wolkenbank über den Hardt-Hochwald heran und verfinsterte bald den Himmel. Wir machten noch am Waldsaum mit dem wackeren Mäxchen –so heißt die Hirschbrake, die wir mit hatten– (...) dann erhielt ich von M. meinen Rucksack zurück und los gings durch den Wald der Heimat zu. Es war z.T. ein recht beschwerlicher Marsch, zur Stärkung wurde unterwegs gehörig gefrühstückt. In einem Buchenbestand schnitt mir Th. eine etwa 6 cm große kreisförmige Marke an eine Buche an und aus ca 40 m Entfernung gab ich darauf meine ersten Büchsenkugel ab: Ich hatte ganz unglaublichen Dusel und traf genau in die Mitte: In der Wellersbach war der Schnee schon fortgeschmolzen, auf der Höhe am Monzelfeld lief das Schmelzwasser bachartig über Feldwege und im Moseltal empfingen uns durch und durch aufgeweichte Wege und milde Luft. Zu Hause traf ich noch Assessor Meynen, der von der Champagnefront – wo er die 2. Landw.Comp. früher VIII. jetzt VII. A.C. führt – nach Ediger zu seiner Braut fuhr. Er hatte sich mit Helene schon lange unterhalten. Wir fanden beide, daß er sich sehr zu seinem Vorteil verändert hatte. – Die Merscheider hatten an dem
 
 

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Gelttier einen billigen Wehnachtsbraten, denn Th. ließ es M. zu 55 Pf pro ½ kg.
27.12.15. Ein seltsames Weihnachtswetter: Hochwasser, dessen Steigen nach heute mittag ausgeschellter Bekanntmachung noch zu erwarten ist, milde Luft, daß mittags die Bienen fliegen; eben ein Stück blauen Himmels. Bruhns schrieb von Neuschnee dort. Thanischs kamen gestern von ihren Schwiegereltern zurück und aßen bei uns zu Abend. Der Waldhase schmeckte ganz köstlich. Wir unterhielten uns bis 11 Uhr unterm Weihnachtsbaum aufs Beste. Leider ist ihr Haus wieder vom Hochwasser bedroht. Sein Schwager hatte schon einen schönen Fahrplan bis Leysin ausgeschrieben.
In der Christnacht hörten wir heftigen Kanonendonner, vom Hartmannsweilerkopf??–
28.XII.1915. Heute endlich lese ich die erste Nachricht der Türken über erfolgreiches Vorgehen der Senussi, einer tripolitanischen Arabersekte gegen die Westgrenze Ägyptens. Anscheinend haben die Engländer dort eine nicht unbedeutende Schlappe erhalten, die sicher nicht unbedenklich ist, zumal sie in Mesopotamien auch arg ins Gedränge geraten sind. Dergleichen kann den Orient schießlich doch auf die Beine bringen. Die Mosel ist gut um 1 Fuß gefallen, die Hochwassergefahr also wohl mal wieder vorbei. Mildes Wetter und Sonnenschein lockt die Bienen in Massen heraus. Herta wird täglich besser, das Spazierengehen bekommt ihr sehr gut. In Albanien schlagen die Bulgaren die letzten Serbenreste nieder, die Russen leugnen heftig Absichten zu Sonderfrieden ab und über Schweden hört man

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verdächtig wenn (?). Von Rumänien kommen jetzt 50000 Waggon Getreide. Die hellen Sachsen führen serbische Schweine ein. || Mit Thanisch sah ich heute eine prächtige junge Wuz, die Mayer an der Blöße geschossen hat, wohin wir öfters vergeblich gingen.
29.XII. 15. Kühl, trüb, neblig. Eben ein Karnickel durch Genickschläge geschlachtet. Unangenehmes Gefühl, das stumme Todeszucken und die großen offenen Augen zu sehen. Ich schlachtete noch nie eins. Vor meiner Reise müssen beide weg, damit sie nicht vergessen werden, hungern und frieren müssen. Helene hat Lust, mit einen Hunsrückmarsch zu machen, um in Büchenbeuren mit Kriegsbeschädigten Besprechung zu halten. Gestern hörte ich, daß Alois Wagner Graacher Schäferei als Kriegsblinder in Urlaub gekommen sei. Ein Bruder unseres ersten Mädchens Johanna hier. Ich bestellte ihn heute auf Samstag. Die Aktenregistratur der Kriegsbeschädigten wird zur Zeit eifrig bearbeitet, ich hoffe mit nächster Woche sie zu beendigen und dann alles auf den Laufenden zu haben.– An Freund Sonnenburg, mit dem seit meiner Verheiratung aller Verkehr aufgehört hatte, schrieb ich heute. Neugierig, ob und was er antwortet.– Mit Schönberg, den Th. und ich gestern wegen Besprechung eines geeigneten Themas aufsuchten, entstand bei einem guten Tropfen “Ürziger Würzgartens” eine recht unterhaltsame Besprechung. Er hatte die Abschrift eines sehr merkwürdigen österr. Tagesbefehls, durch den das K. K. Inf. Reg. 28 vollkommen aufgelöst wird, weil es mit Mann und Maus zu den Russen desertieren wollte und dabei

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irrtümlicherweise an Baiern geraten war. 50 Offiziere und entsprechende Anzahl Leute wurden erschossen. Das ganze in allen Schulen der Doppelmonarchie bekannt gegeben. Toll! In einem neuen Briefe Schnitzers klagt dieser sehr über brutal schnodderiges Auftreten unserer Offiziere bei den Türken. Selbst Liman Sanders sei so –?– v. d. Goltz müsse dann stets wieder vermitteln. Die Türken würden froh sein, wenn sie unsere dort sehr herrisch (?) auftretenden Offiziere wieder los würden. (Na, das wird wohl nicht ganz so schlimm sein.) Übrigens habe die Türkei noch einen großen Teil guter Leute, die sie uns gern zur Verfügung stellte. – Über die Pabstansprache vom 21. Nov. 1915 (gegen die methodistischen Bestrebungen in Rom: Soldaten des Satans, Pestkanzeln, Lehren Luthers, Calvins und dergleichen) bringt jetzt auch die Kölnische Zeitung ein Wolfftelegramm, wonach Kardinal Hartmann die deutschen Protestanten als nicht damit gemeint besänftigt.– Draußen tobt der Weltkrieg. Hier glimmt und glost unter scheinbar friedlicher Hülle ein Jägerstreit: Vor Wochen ward auf der Veldenzer Jagd –Oberförster Bauer, Thappisch– ein selten schöner 12-Ender erlegt. Es schossen darauf: der alte Herr Müller (auch Müüler genannt), Geller und Thappich. Das Schiedsgericht, Oberförster, Sieburg, Louis Hauth tagt und tagt, ohne zum Spruch zu kommen. Der Hirsch hing am Baum beim Metzger, als allerlei Unberufene daran “herumbügelten”, Kugeln herausschnitten und dergleichen Scherze mehr. Was noch alles draus werden kann, bleibt abzuwarten.
 

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30.12.15. Anl. Wiedergabe einer nach der Schweiz dirigierten deutschen Friedensstimme ist doch zu merkwürdig um verschwiegen zu werden. Schönberg will gehört haben, daß unsere Zensur die Wiedergabe der ganzen Nachricht (Der Zeitungsausschnitt ist eingeklebt), jedoch keinerlei Kommentar dazu will. Die Broschüre des in Sicherheitshaft nach Deutschland gebrachten Prüm in Luxemburg enthält manches Interessante; u. a. scheint ein Doppeltext der Kriegserklärung an Rußland vorhanden gewesen und versehentlich mit abgeschrieben und den Russen überrreicht worden zu sein. England sieht sich jetzt ernstlich bedroht und scheint den Dienstzwang einführen zu wollen, nicht nur wie er tatsächlich schon besteht, sondern auch gesetzlich. Für den Paß ließ ich mich heute photografieren. Beim Zahnarzt wurde unerfreulicher Weise eine höchstwahrscheinliche Entzündung der linken Backenhöhle (im Kiefer über den Backzähnen) festgestellt. Ich habe dort schon vor einiger Zeit einen heftigen Katarrh mit gelb-eitrig-schleimigem Exsudet gehabt. Hoffentlich bedarf es keines operativen Eingriffs. Ich habe derzeit auf dem Amt und mit Aufarbeitung der Berufsberatungsakten so viel zu tun, daß ich einen Vortrag zum 7.1. für die Verwundeten ablehnte. Vielleicht ist Schönberg hierzu zu haben. Von ihm hörte ich allerlei recht interessante Urteile über nähere Bekannte hier.
Vor einigen Tagen brachten die Zeitungen eine Notiz, daß der Kaiser an einer “Zellgewebe-Entzündung” erkrankt sei. Hoffentlich ists nichts Schlimmes; man munkelt allerlei von Carcinom und einer früheren Entfernung einer “Wucherung”
 
 

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im Halse. Der Kronprinz, der sonst noch nie seine Front verlassen hat, soll in Berlin (gewesen?) sein und man betrachte die Sache nicht als unbedenklich. Ich meine, selbst das Schlimmste würden wir auch hier ertragen können.–