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schon früh zu einem sehr traurigen Fall einer Kriegsbeschädigung
nach dem Dorfende von Cues hinausgepilgert. Dort traf ich im letzten Haus
am Gestade den an Ischias und schwerer Hysterie meist zu Bett liegenden
Brixius Friedrich an. Nachmittags 2 Uhr wieder ein Kriegsbeschädigter
aus Gornhausen, dann kurzer Spaziergang mit Helene, Zahnplombierung beim
Dentisten Ball, letzte eifrige Arbeit auf dem Amt mit Blankarbeiten aller
Gerichts- und Kriegsbeschädigtensachen, dann konnte ich mich zu Hause
1 Stunde ruhen und um 8 mit Helene über die Brücke zum leckeren
Abendessen gehen, bei dem wir auch herrlichen Graacher neuen (1915) probierten.
– Heute morgen machten wir bei Wincklers einen Besuch. C. Winckler hat
14 Tage Urlaub, steht jetzt mit der Kolonne näher an der Front und
ist Jäger geworden. Schaffte sich auch bereits eine belgische Jagdflinte
an und erlegte manchen Hasen; brachte auch solchen mit. Er meint, es werde
doch zu Wintersende oder Frühlingsanfang ein riesiger Angriff unsererseits
auf der Westfront –und allenthalben anderswo– geplant. Munition für
ein 5tägiges (!!) Trommelfeuer sei allenthalben in Menge vorhanden.
Jetzt schieße man erst die noch mittelguten Geschosse aus der Anfangszeit
der großen Munitionserzeugung auf. Er hatte seiner Frau sehr große
Spitzentücher und Schals mitgebracht. Er meinte, in ¾ Jahren
könnte der Krieg zu Ende sein.
2. Januar 1916. Ein Fäßchen Essig abzuzapfen, meine Kalender
auf Pappe zu ziehen u.s.w. bildeten heute morgen meine Beschäftigung.
Auf dem Amt war sehr seltsamer Weise keine Briefschaft eingegangen. Bruhns
schreibt gestern, daß er u. U. Aussicht, in einem badischen Gefangenenlager
als russischer Dolmetsch Dienste zu tun. Nun hoffentlich nicht vor dem
Frühjahr. Mit Herta besuchten wir gestern Sieburgs, heute bekommt
sie Besuch von Ruth Winckler, worauf sie sich schon sehr freut. Husten
und Erkältung sind ganz weg und sie ißt wieder tüchtig.
Gestern nahm ich noch mal Kamillendampf-Dusche.
3. Januar 1916. Nach einem feuchten Morgen jagen jetzt meist hell von
der Sonne beschienene Wolken am blitzblauen Himmel hin und der Wald rauscht
heftig wie im Frühjahrssturm. Meine Kriegsbeschädigten habe ich
glücklich alle aufgearbeitet. So verlockend heute mittag eine Einladung
von Thanisch war, mit ihm in die Monzelfelder Jagd zu gehen, so lehnte
ich doch ab. Ich will mir erst den durch die Festtage stark angestrengten
Magen ausruhen lassen und meine letzten Termine erst hinter mir haben.
– Die gurkenartigen Kürbisfrüchte, die ich diesen Sommer zog,
erwiesen sich jetzt als ein hochfeines „Obst“ und wurde gewürzt eingemacht.
Sie schmecken in der Tat vorzüglich (Cococelleron Tripolis). Schade
daß die Sonne hier nicht bleiben will, wie lange entbehrt man sie
schon. Ein kleines Tauchent(ch)en treibt jetzt vor meiner Veranda mittags
oft ihr munteres Wesen auf dem Wasser.
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4. Januar 16. Feucht kühl, mehr ein Herbst als Winter. Wie vor
einem Jahr die „Formidable“ verloren die Engländer zu Silvester einen
großen Panzerkreuzer: Natal. Aus dem von einem österr. Uboot
aufgefischten Depeschensack der englischen Gesandtschaft in Athen werden
tolle Briefe jetzt veröffentlicht, an denen die Griechen –“elende
Köter“ ect.– ihre helle Freude haben werden. Die deutschen, österreichischen
und bulgarischen Konsuln in Salonik hat man verhaftet; es wird dort wohl
nächstens losgehen. Ich lese ein Buch, was mir Schönberg gab:
Köhler, der neue Dreibund, Lohmann, München. Recht klare und
weitschauende Pläne werden da entwickelt. Hätten wir nur erst
Ägypten. Ohne dessen „Befreiung“ wird es wohl keinen Frieden geben.
5.I.16. Trüb, kühl, am Morgen verknaxt; nichts macht Spaß
als die Arbeit. Hieran gottlob kein Mangel: Von 8-1 heute fest auf dem
Amt geschafft. Gleich nach 4 wieder weiter. Die englischen Schiffsverluste
im Mittelmeer mehren sich bedenklich und die zahlreichen Verhaftungen in
Salonik scheinen einen Schluß auf starke Nervosität zuzulassen.
Nach der Lektüre von Köhler, „der neue Dreibund“, scheint mir
Saloniki für die Mittelmächte unentbehrlich, am besten wohl in
bulgarischen Händen. Die Griechen werden schließlich froh sein
müssen, es als Zankapfel zwischen zwei stärkeren Gewalten ganz
zu räumen, um sich nicht die Hände an diesem glühenden Stück
zu verbrennen, das für sich selbst zu behaupten, sie viel zu schwach
sind. Wird der Angriff auf Salonik mit dem auf Egypten gleichzeitig erfolgen
oder diesem vorgehen? In Westägypten hatten anscheinend die Engländer
einen kleinen Erfolg.
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French, der abgesägte heißt jetzt nicht übel Lord French
of Yprer. Leider widersteht uns England dort stets noch mit gutem Erfolg.
Ohne den Besitz der ganzen flandrischen Küste einschließlich
Calais dürfte es für uns auch noch keinen Frieden geben. In der
Kölnischen Volkszeitung finde ich ein Gedicht des österreichischen
Heerführers Bothmer (Bei dieser Seite eingeklebt), das ich mir aufheben
will. Dort sind jetzt sehr heftige Angriffe der Russen (zur Verteidigung
Süd-West-Rußlands oder zu wirklichem Angriff nach dem Balkan
zu?)
9. Jan. 16. Gestern abend war Schönberg nach Tisch bei uns. Wir
besprachen unsere Arbeit. Nachher unterhielten wir uns bei einem Glase
Bier mit Helene bis Mitternacht aufs Beste. Wir sprachen von Walter F.
(Forstmann, Walter) Uboot. Schönberg gab folgendes an, wie man sich
die Tätikeit der Uboote vorstellt: „Sie fahren oft im Kielwasser oder
gar an der Schlepptrosse eines befreundeten (z.B. schwedischen) Schiffes,
dessen hochsitzender Auslugposten zeitig genug einen feindlichen Dampfer
erspäht. Das Uboot taucht unter. Der Kreuzer ect. der den Neutralen
revidieren will, läuft Gefahr, torpediert zu werden. Der Neutrale
führt Brennstoffe und Munition für das Uboot in Unterwasserbehältern
(?) mit, die man bei Durchsuchung des Schiffes nicht findet, und im äußersten
Fall versenkt werden können. Derartige Behälter werden in seichten
Gewässern verankert, kenntlich gemacht und durch herumgelegte Minen
gesichert. Bei einer Verfolgung streut das Uboot eine maskierte Umschlauerboje
mit Minenfüllung, deren Räumung den Feind in die Luft bläst
u. a. m.“ Ich werde mich freuen, später mal feststellen zu können,
was hieran wahr ist.
Zwischen Seite 116 und 117 ist noch ein Briefbogen eingefügt, mit der Handschrift von (vermutlich) Helene Reitmeister geb. Brügelmann mit folgendem Text:
Bitte nicht aus Händen zu geben.
am 18. Nov. an Bord
Tags vorher war die Einfahrt in den Hafen. Er hat mal wieder Glück
gehabt. 9 Dampfer und ein Segelschiff torpediert und erhielt bei
seiner Ankunft den Orden der eisernen Krone III. Klasse mit der Kriegsdekoration.
Das Schiff braucht nun 14 Tage zur Reparatur und da 5 Tage zur Reise nach
Berlin gingen und 5 Tage zur Rückfahrt, sah er davon ab und bleib
diesmal an Ort und Stelle. Anfangs Januar geht es dann wieder von neuem
los und rechnete Clementine (Forstmann, Clementine) damit, wenn Alles gut
geht, daß er am 25. Januar in Kiel sein kann. Sie selbst will den
10 Januar dorthin und kommt Guste Brügelmann zu ihr. Jetzt kommt noch
einiges aus Walther’s (Forstmann, Walter) Brief. Da ich den griechischen
Dampfer Ganteradris, der 2 Millionen Eier von Montevideo nach England bringen
sollte abfaßte und ihn versenkte, hatten wir Eier genügend an
Bord. Jeder Mann hatte wohl 300 frische Eier im Spind. Die Kerle aßen
jeden Tag 15-20 Stück. Zu ulkig war es, daß die Besatzung des
Griechen von einem Engländer aufgenommen wurde, den ich nachher versenkte.
Den größten Dampfer, den dicksten, den ich bisher versenkte,
griff ich an der afrikanischen Küste vor Golf von Bamka auf, dann
nennt er die verschiedenen Dampfer mit Inhalt, viel Zucker, viel Baumwolle,
so habe ich jetzt die Zahl 45 und den Nigger auf dem Gewissen. Ein Dampfer
wollte mich absolut rammen, aber ich behielt meine Nerven und überschüttete
ihn mit Schnellfeuer, das ihn auf 3000 m zum Stoppen brachte. Ich empfing
fast täglich 12 Uhr Nachts Berichte, so daß ich etwas im Bilde
bin. Ich glaube aber bestimmt, daß wir noch nach Aegypten pittern
(gittern?) (muß vielleicht „pilgern“ heißen) werden. Jedenfalls
kann ich nicht hier fort, als bis auch diese Sache gekärt ist. Nun
bin ich sehr gespannt, was morgen die Post bringt. Soweit ich gehört
habe, bin ich zu einem hohen österreichischen Orden eingereicht. Vielleicht
liegt er unter dem Weihnachtsbaum. Auf der Reise erkrankte ein Mann an
einem Bruch. Ich habe keinen Arzt mit und kann mir so schlecht helfen.
Ich verordnete Liegen, Ruhe und Umschläge. Die Sache errief eine ziemliche
Anschwellung. Na mal sehen, morgen kommt der Arzt. Kranke sind an Bord
ziemlich aufgeschmissen. Nun freue ich mich bald auf einen Schlaf, ohne
klar zum Sprung auf die Brücke zu sein. 23 Nächte schlief ich
mal wieder in Unterzeug und Unterhose. Ihr könnt Euch das gar nicht
vorstellen, wie übel das auf die Dauer ist. Ich erledigte soeben einen
(K...?) (muß wohl „Kaliber“ heißen) 47 cm ausgerüsteten
Bewachungsdampfer, der mir die Durchfahrt verwehren wollte. Nun liegt er
bereits auf. Dann schreibt er noch, daß ihm der Orden verliehen ist.
Doch sehr interessant der Auszug aus seinem Brief. Was haben wir für
einen bedeutenden Neffen und Vetter, er ist jetzt schon ein großer
Held.
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Gestern hat mir ein Cueser Winzer (Denzer-Henkel) die Mistbeete zurecht
gemacht. Morgen sähe ich schon Salat aus. Heute machte ich ein Postpaket
mit Nagelstiefeln und Liegestuhl noch versandfertig. 2 weiße, 1 grüne
Zollnachweisung und Paketkarten gehen mit. Erst kommt es hier aufs Zollamt,
dann zur Post.
10. Jan. 1916. Es ist kühler geworden, die Luft naß und
empfindlich. Endlich mal wieder bunte Extrablätter angeklebt: Außer
dem gestrigen Tagesbericht über die völlige Rückgewinnung
der alten Stellungen am Hartmannsweilerkopf und Umgegend (über 1000
französische Gefangene) die erfreuliche Nachricht, daß Gallipoli
jetzt ganz „gesäubert“, also Engländer und Franzosen die Stellungen
auf der Südseite der Halbinsel Sed-ul-Bahr aufgegeben haben. Hoffentlich
gelang ihnen dort nicht solch günstiger Rückzug wie den Engländern
in der Suloa-Bucht. Vor einigen Tagen war schon etwas von dort eintreffender
schwerer deutscher Artillerie zu lesen. Da konnte die Räumung nicht
lange ausbleiben. = Schönberg meinte neulich witzig, das Erlebnis
des Krieges werde schließlich sein, daß die Streitenden „ihre
Bundesgenossen eroberten“, wir die Österreich-Ungarn und Türken,
die Engländer Frankreich. Für letzteres namentlich könnte
eine wirkliche englische Wehrpflicht auf die Dauer recht unbehaglich werden
und sie am Ende noch zu uns „Mitteleuropa“ hinübergehen. (?) Wer weiß,
was noch alles geschieht. Ich beginne langsam, mich mit Gedanken und Sachen
von hier „abzulösen“. Heute ging ein Postpaket glücklich und
unbeanstandet nach der Schweiz ab.
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Bruhns schrieb mir, daß man kürzlich für 100 M dort
nur 97 fr bekommen habe, jetzt wieder 100 M=100 fr! Er riet zu Banküberweisung
nach Basel. Paul Thanisch will das besorgen. Es war mir ein solcher Kurs
schon lange gerade nach der Schweiz nicht recht verständlich, weil
wir doch verhältnismäßig recht viel nach dort ausführen.
Jetzt finde ich in der Kölnischen Volkszeitung im Handelsteil eine
hierfür recht aufklärende Notiz. Nicht im Warenverkehr sondern
im Hinausdrängen deutschen Kapitals nach der Schweiz infolge der Steuerankündigungen
findet der seltsame Kurs seine Erklärung. Es giebt allerlei Vaterlandsfreunde!–
Heute meldete sich Aktuar Matschke wieder bei uns, als arbeitsverwendungsfähig
entlassen. Er ist noch genau derselbe wie früher, froh dem Kriege
entronnen zu sein. Er muß böse Sachen im Priesterwald erlebt
haben. Trotz allem beneide ich ihn darum. Er hat lediglich eine Episode
im Krieg mitgemacht und wir daheim? – Eins muß ich mir noch aufschreiben
hier: Italien hat sich England verschrieben (Beitritt zum Londoner Abkommen
über den gemeinsamen Friedensschluß) für den Judaslohn
von 2 Milliarden und die Zusicherung, daß die „römische Frage“
(= Selbständigmachung des Pabstes) als rein inneritalienische Angelegenheit
behandelt werden soll. Natürlich wendete sich hiergegen die katholische
Christenheit und es kann da später noch allerhand Verwicklungen geben.
– Wollen die Rumänen sich den Mittelmächten anschließen?
Samstag 15. Jan 1916. Statt übermorgen zu fahren, liege ich seit
Dienstag mit einer kleinen Lungenblutung mäuschenstill zu Bett und
pflege der Ruhe. Etwas langweilig, aber sonst ganz geruhsam nach der Hast
der letzten Wochen. Wir fahren dann eben etwas später. Währenddem
haben die Österreicher den Montenegrinen den Lowtschen und
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gestern die Hauptstadt Cettinje genommen. Mit dem Zaunkönig Nikita
wirds nun wohl endgiltig vorbei sein. Die Auslandpresse zumal in der Schweiz
ist mit Recht entrüstet, wie schmachvoll unsere Gegner mal wieder
einen kleinen Bundesgenossen im Stich gelassen haben. Den Schweizern kann
ich es gut nachfühlen. Die Griechen spüren es auch am Leibe:
Franzosen besetzen Corfu. Immer nur weiter so!– In einigen Wochen wird
es wohl kein Montenegro mehr geben. Was dann? Naumanns „Mitteleuropa“ habe
ich mal gründlich durchgesehen. Es steckt viel darin; namentlich übersieht
er nicht die notwendig kommenden endlosen Schwierigkeiten mit Österreich
und Ungarn. Nun, der Außendruck wird wohl schließlich alles
zusammenpressen.
Draußen schien es mal für einen Tag Winter werden zu wollen,
jetzt ist wieder nichts wie Regen.
Montag 17.1.1916. Heute beginnt mein Urlaub und heute hätten wir
reisen sollen: es ist ein prächtiger, mildsonniger Frühlingstag.
Leider hatte ich wieder etwas mehr blutgefärbten Auswurf und werde
mich noch einige Tage im Bett gedulden müssen. Nachher ist dann die
Welt draußen noch einmal so schön. Die Zeit vertreibe ich mir
so gut es geht, mit „blauen Büchern“ und habe eine herrliche Unterhaltung
mit deutschen Burgen und Barockbauten. Den ganzen Tag schon ist anhaltendes
Kanonendonnern leise und dumpf zu hören und deutlich im Kopf zu fühlen.
– Die Russen rennen seit Neujahr wie verzweifelt gegen einen österreichischen
Frontabschnitt bei Cernowitz an. Sie scheinen Montenegro
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entlasten und sich vielleicht die Bukowina zu Ostgalizien als Faustpfand
für einen nahen Frieden (?) sichern zu wollen. Eigentlich ist für
Rußland der Krieg zu Ende, nachdem mit Aufgabe der Dardanellenbezwingung
jede Hoffnung auf Konstantinopel geschwunden ist. Ganz richtig marschieren
sie daher jetzt nach Persien und drängen dort aufs Meer zu, was sie
längst hätten tun sollen. Möglich, daß sie dort noch
Früchte pflücken, solange die Engländer von uns in Vorderasien
beschäftigt werden. Mit deren Wehrpflicht scheint es mir kein rechter
Ernst zu sein. Verdächtig dafür ist der glatte Umfall der Iren
und der Arbeiterpartei für den Dienst-zwang: vermutlich sind ihre
Leute ausgenommen. Die englische Regierung betrügt damit sich selbst,
ihre Leute und vor allem die Bundesgenossen. Wie wird das noch enden? Unsere
Regierung kündigt jetzt Vergeltung wegen des Baralongmordes in Aussicht,
den die Briten nicht bestreiten. = Mit Montenegro geht es zu Ende. Daß
die Türken dessen Hauptstadt nie erobert hatten, wußte ich auch
noch nicht. Vermutlich ließen darum die Österreicher den letzten
Lowtschengipfel durch mohamedanische Truppen stürmen. Ob es jetzt
bei Salonik losgeht? Außer Korfu besetzen die Franzosen jetzt eine
Reihe griechischer Inseln. Die Griechen werden wohl schließlich mit
losschlagen müssen. Gestern war MR. Liell bei mir. Müller und
Gescher waren hier. Müller soll mich ja vertreten!–
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17.I.16. Montenegro bittet um Frieden! Also endlich einer! Nun, Österreich-Ungarn
wird nicht rachsüchtig sein und die edlen Brüder zu sich aufnehmen.
Dem Volk wird es vermutlich unter Österreich besser gehen als unter
seinem ehrsüchtigen Zaunkönig Nicita. Dieser ist vermutlich außer
Landes, und der Bonner General-Anzeiger, scharf-blickend wie er sich hat,
hatte ihm und seinem serbischen Genossen Peter bereits Genf als künftigen
Wohnsitz vorgeschlagen. Ehrliche Hülfe gebracht hat den Söhnen
der schwarzen Berge Keiner außer etwa den Russen durch deren Angriffe
an der Süd-Ostfront. Was machen jetzt die Italiani, die angeblich
in Albanien stehen? Die Franzosen und Engländer tüten denen nicht
schlecht in die Ohren. – Wer wird der nächste sein zum Frieden? Montenegro
war, glaube ich, dem famösen Londoner Abkommen über den gemeinsamen
Friedensschluß nicht beigetreten. Für die Russen dürfte
dieser Vertrag auch stark an Reizen eingebüßt haben.
20.1.17 (Muß heißen: 20.1.16) Ein Unglück kommt selten
allein: Die Nord- und Mordsee überschwemmte Holland und Friesland
mit einer Springflut, in Bergen wütete der größte Brand
Norwegens soweit man denken kann. Die edeldenkenden Engländer aber
halten bei den Neutralen die Zufuhr von Lebensmitteln an; wir werden damit
wohl sentimentale Reklame in Nordamerika machen.–
Zwischen den Seiten eingeklebt: 1. Zeiungsausschnitt. 2. Briefbogen
wie bei S. 177 mit folgendem Text:
Nicht aus Händen geben.
Von Walter (Forstmann, Walter) kam gestern Glückwunsch zum Geburtstag
(T. Jul-chen). (Forstmann, Julie) Er ist nun wieder auf Fahrt mit 3-4 Wochen
müsse man rechnen, dienstliche Umstände oder Maschinenpanne können
leicht Verzögerungen herbeiführen. So blieb neulich ein Kamerad
30 Tage aus. Der neue österreichische Orden (wunderschöne Karte
mit Abbildung) legte er bei, ist eine hohe Auszeichnung, die ich eben meiner
Stellung als Kommandanten eines Kriegsschiffes verdanke. Außer dem
Admiral hat hier von den Linienschiffskommandanten keiner diese Auszeichnung,
nur ein österreichischer U.Boots Kommandanten außer mir. Das
eingelegte Bild zeigte die naturgetreue Abbildung des Ordens, der im Übrigen
180 Kronen kostet, für mich natürlich nichts. Weiter am 28. Weihnachtspakete
hat es nicht gegeben, die Truppenbewegungen halten den Postverkehr auf.
Nur Feldpostsendungen, kleinere Sachen habe ich erhalten. Ich habe wirklich
so viel im Kopf, und will täglich Klem.(Forstmann, Clementine) schreiben,
damit ihr die Trennung nicht zu schwer fällt. Eier hätte ich
Euch gern eine Kiste von 1500 Stück zugehen lassen. Meine Leute haben
bis zum Platzen gestaut, selbst im Kaffee kippten sie ihr Ei. Ich bin braun
verbrannt, man geht ohne Mantel spazieren. In der Sonne 25° Celsius,
aber Nachts muß Heizung angemacht. Ende Januar gehe ich bestimmt
auf Urlaub, den ich in Kiel verleben werde. Von hier werdet Ihr durch die
Zeitungen hören, ich kann nicht schreiben, was ich hier von dem mittelländischen
Treiben an Land sehe. Der Aufstand in Egypten nimmt auch zu und wenn erst
mal die richtige Parole ausgegeben wird, werden wohl die Engländer
wenig Freude an ihren mohamedanischen Truppen erleben. Ich glaube, daß
die Eroberung Egyptens den Schluß des Krieges bilden wird. So endigt
das Interessanteste vom Brief für uns.
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22. Januar 1916. Der „Biedermann“ Nikita v. Montenegro ist jetzt bei
uns ein schlauer, braver, bei den Gegnern ein raffinierter böser Mann,
der sogar die Lowtschen-Erstürmung mit den Österreichern vorher
abgekartet hat. Ganz unmöglich ist das schließlich nicht. Eine
edle Brüderschaft überhaupt auf dem Balkan einschließlich
Italien, denn diese gehören mit zur Sippe: Italien verrät Österreich,
Bulgarien Rußland, Rumänien uns und demnächst vielleicht
Rußland, Griechenland die Serben, Montenegro die Serben, Russen,
Griechen ect. . . . Merkwürdig, daß die frischen Zitronen jetzt
wieder so viel kosten wie im Frieden, nämlich 10 Pf. das Stück.
Eier werden „billiger“ d.h. 23-25 Pf per Stück. Für 108 M soll
man jetzt 100 schw. fr. bekommen, mir höchst ungelegen! Heute war
ich vor Tisch kurz das erstemal mit Helene aus. Thanisch besuchte mich
und berichtete, daß man in Lörrach militärische Absolution
sich holen müsse. Schrieb dorthin. Gestern nachmittag sprach RA. Schönberg
vor. Es ist wie im Frühjahr: Rosen grünbelaubt, „Apfelquitten“
(?) blühen rot!
24. Jan. 16. Entweder hat Väterchen Nicita die Österreicher
bedümpelt, oder seine Leute haben ihm den Gehorsam versagt: sie wollen
weiter kämpfen und der schlaue Alte hat sich nach Lyon eingeschifft.
Eine tolle Sache, was soll man dazu sagen? – Ergo bibamus!– Ein 2. Paket
an Bruhns heute ab.
25.1.16. Hugo Thanisch weiß stets allerlei Neuigkeiten: Franzosen
haben neues (Kohlenoxyd!)gas gebraucht, gegen das unsere Masken versagten.
Große Truppen stehen an der Westfront schon lange für Durchbruch
bereit, der aber nicht erfolgen kann, da alles durchweicht und grundlos
sei. Antwort auf die Baralong-Note der Engländer soll ein Besuch von
20 (!) Zeppelinen über London sein.
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26.1.1916. Den 17/18 war der Kaiser in Nisch, traf dort den Bulgarenzar.
Anscheinend mit dem ersten Balkanzug gleich hingefahren. Nicht ungefährlich.
Nach Konstantinopel wohl erst später, wenn voller Erfolg im Orient.
Der Entsatz von Kut el Amara am Tigris scheint den Engländern nicht
zu gelingen. Gepäck ist weg. Morgen gehts ab.
Die Eintragungen für die Tage vom 27.1. bis in den März hinein wurden von Helene Rech geschrieben.
27.1.1916. Der II. Kaisergeburtstag im Krieg. Pfarrer Jachneke hielt
gute Kaiser-Predigt und hob besonders hervor, wie schwer der Kaiser seelisch
unter diesem schrecklichen Weltkrieg litte, er der nur den Frieden hätte
gewollt, aber jetzt hieße es durchhalten bis zum siegreichen Ende.
Abreise von Matthias.
29.1.1916 Rindfleisch kostet ab 1,40 bis 1,50 das Pfund, Schweinefleisch
1,60 bis 1,70 das Pfund. In Lausanne kam es zu einem heftigen Zwischenfall,
da deutsche Fahne an Kaisers Geburtstag auf deutschem Konsulat gehißt
war. Von Els. (Reitmeister, Elsbeth) schlimme Nachrichten.
31.1.16. Als Antwort auf den Luftangriff auf Freiburg am 27. Jan. (gerade
an dem Tag fuhr Matthias auch durch Freiburg) haben unsere Zeppeline in
den beiden letzten Nächten Paris mit gutem Erfolg angegriffen (der
erste Luftangriff auf Paris war am 21. März 1915). Die feindlichen
Flugzeuge konnten den Zeppelinen nichts anhaben. Am 16. Januar vernichtete
eins unserer U.B. einen englischen armierten Transportdampfer und am 23.
ein englisches Truppentransportschiff. In Leysin und Davos treffen
französische und deutsche erholungsbedürftige Soldaten ein. Heute
ein frischer kalter schöner Wintertag, von Matthias Karte aus Lausanne
und Leysin erhalten. „Reise ging glatt über die Grenze, nur Bädeker
mußte als Drucksache nach Leysin geschickt werden.
2. Febr. 1916. Also 3x sollen Zeppeline über Paris gewesen sein
und viel Schaden angerichtet. In der Nacht vom 31. Jan. - 1. Febr. sind
Marineluftschiffe in engl. Industriegebiet gewesen, (Liverpool, Birkenhead,
Manchester, Sheffield, Nottingham) mit vielem Erfolg.
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Eier werden viel angeboten und kosten „nur“ 20 Pf. Willy (Reitmeister,
Willi) hat Glück, 9 Ventile auf einmal verkauft und wieder waren Herren
da, um sie sich anzusehen und zu bestellen. Leider hat Willy viel Leid
und Sorgen um Elsbeth.
3.II.16. Von Siegburg kommen ruhigere Nachrichten. Walter Forstmann
(Forstmann, Walter) ist nach glücklicher erfolgreicher Fahrt am 2.
Februar in Kiel bei seiner Frau gelandet, den Tag vorher in Berlin, (ob
vielleicht mit dem neuen Balkanzug?). Ein deutsches Kriegsschiff brachte
den englischen Dampfer Appam auf, brachte Prisenmannschaft an Bord; die
deutsche Prisenmannschaft brachte das Schiff mit etwa 138 Personen an Bord,
die die „Möwe“ so soll das deutsch Kriegsschiff heißen vor Aufbringen
der Appam 5 englische Schiffe versenkt hätte, nach Amerika. Also der
zweite „Emdenfall“. Es sollen vier fleischlose Tage eingeführt werden.
Das schadet nichts. Unsere tapfere Flotte und unsere herrlichen Luftschiffe
arbeiten so heldenhaft und mit so gutem Erfolg, da kann und darf uns nichts
entmutigen, unser soll der Sieg sein. Wir essen morgen zum ersten Mal „Klippfisch“
ein getrockneter Kabeljau.
5. Febr. 1916. Ein Zeppelin versenkte den feindlichen Dampfer „Franz
Fischer“. Am 31. Jan. und 1. Febr. hat ein deutsches Uboot an der Themsemündung
einen englischen armierten Bewachungsdampfer, einen belgischen und 3 engl.
zur Bewachung dienende Fischdampfer versenkt, gewiß eine tadellose
Leistung! Leider ist das Marineluftschiff L19 nicht zurückgekehrt.
Englischer Fischerdampfer soll sich geradezu barbarisch gegen die Besatzung,
die sich, an die im Wasser schwimmenden Teile des Luftschiffes geklammert
hatte, benommen haben. Es ist gerade so schlimm wie dei Baralong Affäre,
einfach unmenschlich, kaum zu glauben und die Empörung ist groß.
Die Luisitaniasache scheint die Gemüter in Amerika noch nicht in Ruhe
zu lassen; immer kommen sie wieder darauf zurück und zwar scheint
die Sache nicht so glatt abgetan zu sein, wer weiß was noch komen
wird?
8.II.16. Prinz Oscar leicht verwundet am Kopf durch Granatsplitter
und Oberschenkel, hofft aber bald geheilt und wieder ins Feld zu kommen.
Karl Liell, Sohn von unserer Hauswirtin hat Kopfschuß vor einigen
Wochen, kann sich gar nicht erholen, leidet an Schwindel und ist müde,
wenn er eine kurze Strecke gegangen ist. Mit Amerika die Sache spitzt sich
sehr zu, wie mag es enden?
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Das Wetter ist wie im April. Wir haben warmen Regen und oft auch Hagel.
Aprikosen- und Prunusbäume stehen in voller Blüte. Veilchen,
Schneeglöckchen, Primel alles blüht. Die Wiesen sind grüner
wie im Sommer. Butter kann ich nirgends bekommen, die Leute schaffen leider
das Vieh ab und die überflüssige Butter wird ins Feld geschickt.
Matthias schreibt recht vergnügt von Leysin, sie sind Gott sei Dank
nur in deutscher Gesellschaft.
10. Febr. 16. Es ist miserables Wetter. Schnee, der gleich wieder schmilzt.
Ungesundes Wetter, ewige Feuchtigkeit, alle Leute sind krank. Heute legte
sich Herta und unser Dienstmädchen mit Fieber zu Bett. Anscheinend
scheint eine Verständigung mit Amerika erzielt zu werden, es wäre
wirklich zu wünschen. Außer dem einen kleinen Kreuzer Caroline
sollen zwei Zerstörer Eden und Nith durch einen Zeppelinangriff auf
dem Humber gesunken sein. Die Engländer wollen es bis jetzt noch nicht
zugeben.
12. Febr. 1916. Feuchtes nebliges Wetter. Therese im Krankenhaus. Hier
herrscht viel Krankheit, meist Influenza, alle Leute liegen im Bett. Unsere
Torpedoboote machten in der Nacht vom 10. zum 11. Februar einen Vorstoß
und stießen auf eine Menge englischer Kreuzer, die die Flucht ergriffen.
Sie wurden von den deutschen Torpedobooten verfolgt und
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versenkten diese den englischen neuen Kreuzer Arabis und erzielten
einen Volltreffer auf einen 2. englischen Kreuzer. Ein deutsches Uboot
hat am 8. Februar an der sirischen Küste südlich Beirut ein französisches
Linienschiff „Luffreu“ (oder Luffren) versenkt. Das Schiff sank in 2 Minuten.
16. Febr. 16. Es soll sich bei dem Gefecht an der Doggerbank, um ganz
neue englische Schiffe handeln, die besonders für Minen und Luftabwehrdienst
gebaut worden sind. Matthias schreibt aus Leysin, ob vielleicht Max Forstmann
(Forstmann, Max) dabei sein könnte. Ich glaube kaum. Kernseife
kostet hier jetzt 1,40 M. Els (Reitmeister, Elsbeth) geht es sehr
schlecht, wir sind auf das Schlimmste gefaßt. Wäre nicht mein
Dienstmädchen Therese und Herta so erkältet, wäre ich gleich
abgereist. Gestern und heute sprach ich ausgezeichnet telefonisch mit Blume.
Matthias schickte eine Zürcher Zeitung mit seinem Aufsatz über
„Kriegsfürsorge“. Ein französischer Kreuzer „Admiral Tharmer“
ist anscheinend auch torpediert worden. Näheres weiß man noch
nicht.
23. Februar 1916. Seit Sonntag, den 20. Februar hört man hier
Tag und Nacht eine Schießerei, kaum zu beschreiben. Es müssen
schwere Artilleriekämpfe im Gange sein. Nachts kann man oft vor Getöse
nicht einschlafen und denkt an die armen Soldaten, die da im Feuer sind.
Ob es wohl
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die große Offensive ist, die des schlechten Wetters wegen verschoben
wurde? Seit Sonntag haben wir schönes Frostwetter und Schneefall.
In Berlin sollen solche Unruhen unter der Bevölkerung sein, man hörte
schon öfter davon. Die Frauen wollen ihre Männer wiederhaben
und klagen über die knappen Lebensmittel. Kartoffel bekommt man dort
nur mit einem Pfund. Für alles giebt es Karten, Butterkarten, Fettkarte,
Brotkarten etc. Es muß viel Elend in den großen Städten
sein. Wir merken hier Gottlob noch wenig davon, haben noch unser eigenes
Gemüse, genug Kartoffeln und Brot, nur Butter und Fett ist für
uns auch recht knapp. Leider ist bei Revigny ein deutsches Luftschiff in
der Nacht durch feindliches Feuer zerstört worden. Ein seltener Fall
in der glorreichen Tätigkeit unserer Zeppeline!– Hier herrscht sehr
Influenza, unsere ganze Familie außer Frl. Hedwig war krank.
26. Febr. 1916. Großer Jubel, das Fort Douaumont ist gefallen,
das I. Fort von Verdun. Das Schießen hört man hier in Berncastel
an der Mosel ununterbrochen von dort aus Tag und Nacht. Unsere Artillerie
muß in reger Thätigkeit dort sein. Die Franzosen scheinen
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nun doch Angst zu bekommen. Sie haben eine große Verlustzahl,
aber auch auf unserer Seite gab es große Verluste. Unsere tapferen
Soldaten müssen noch tüchtig aushalten, jeder Einzelne ist ein
Held.
Am 2.-3. März war der Kanonendonner am schlimmsten. In der Nacht
hörte ich plötzlich einen furchtbaren Schlag, die Fenster zitterten,
es muß wohl eine Explosion stattgefunden haben. Unsere Marine entwickelt
eine rege Tätigkeit und der Ubootkrieg wird wohl jetzt in verstärktem
Maaße einsetzen. Unser Kartoffelvorrat im Keller wurde wieder aufgenommen
und wir mußten angeben, wie viel Centner wir ungefähr bis zur
nächsten Ernte noch nötig hätten. Alles wird aufs peinlichste
geregelt. Hoffentlich bekommen wir auch bald Butterkarten. Ich habe heute
½ Pfund Butter bekommen und habe mich lange nicht so reich gefühlt.
Die Kinder waren alle krank, Mädchen mußte ich entlassen, man
war in sehr gedrückter Stimmung, nur der Erfolg bei Verdun warf einen
Sonnenschein in unser trauriges Dasein. Josef (Rech, Josef) steht
in großer Gefahr und alle unsere braven Krieger sind so leid, draußen
zu sein und wünschen sehnlichst den siegreichen
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Frieden. Nun hoffentlich sind wir ihm ein Stück nähergerückt.
Johannes (Rech, Johannes) hat in Brüssel seine Frau bei sich, sie
arbeitet beim roten Kreuz und können nur abends zusammen sein.
Am 3. März. Abends gegen 11 Uhr als ich im Bett lag, hörte
ich einen furchtbaren dumpfen Knall, ich habe schon mal davon geschrieben.
Merkwürdigerweise erzählte mir Frau Geheimrat Schmitz dasselbe,
als ich heute bei ihr war, um ihren Mann zu Herta zu bitten. Sie hat schlimmen
Finger, der heute Morgen aufgeschnitten wurde, sie schrie natürlich
tüchtig.
12. März 16. Der Kampf um Verdun dauert fort. Das Fort Vaux wurde
nach heftigen Kämpfen von den Franzosen wieder genommen. Sonst wurden
die feindlichen Angriffe abgewiesen. 2 Kampfflieger schossen 2 englische
Flugzeuge ab bei Ypern und La Basseé. Die Teuerung wird größer.
In Hersel werden uns 50 Pfd. Kartoffeln aus dem Keller beschlagnahmt. Es
soll hier in Bonn, wo ich seit einigen Tagen mit Herta bin, Kartoffelmangel
herrschen. Es ist alles schlimmer, wie in Berncastel. Das Pfund Rindfleisch
kostet hier schon 2,40 M. Schinken das Pfund 4,80 M. Butter ist hier von
der Stadt aus geregelt.
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Das Wetter ist leider sehr unbeständig, so daß man noch
nichts draußen pflanzen kann. Ende der Eintragungen von Helene Rech.
Von hier an schreibt wieder Matthias Rech.
(Winckler geriet Charfreitag vor Verdun mit leichter Kolonne in Feuerüberfall)
Charfreitag, den 21.4.1916. Seit Dienstag nachmittag sind wir wieder
alle hier. Helene noch sehr angegriffen, muß unbedingt stark zunehmen,
da Niere bedenklich lose. Herta wohlauf, bei Tisch oft ungezogen, muß
wieder in strenge Zucht genommen werden. Alle Welt redet fast nur noch
vom Essen. Fleisch sehr knapp. Zucker z. Zt. (wegen Bestandsaufnahme) kaum
zu haben. Mit anderen Artikeln ist es ähnlich. Bei Verdun fast täglich
Fortschritte, die stets gegen die Franzosen behauptet werden. Die Engländer
werden die Franzosen allmählich an der nordfranzösischen Front
ablösen müssen. Frau Brinkmann (die auch Operation und böse
Erkrankung des Söhnchens hinter sich hat) hat Sorge: Ihr Mann soll
bald zur Front, schon 44 Jahre alt, Feldw. Lt.– Es hatte heute den Anschein,
bestes Wetter zu werden. Morgens ging ich mit Herta aus. Jetzt regnets
wieder, und der Himmel ist bedeckt und trüb. Gleichwohl ruft der Kukuk
eifrig drüben im Wald. Die Bienen benutzen jede regenfreie Pause des
Unwetters zu fleißiger Arbeit. Bruhns schreibt aus Leysin, daß
ich dort noch eben rechtzeitig einem scheußlichen Unwetter entwischt
sei: Föhn, Nebel und toller Schneefall wie kaum im Winter. Vom 28.
Januar - 10. April war ich in Leysin und erlebte dort allerlei: Vor allem
die großen Kämpfe vor Verdun und deren Reflexe auf französiche
und westschweizerische Blätter, manche angenehme Stunden mit Bekannten,
viel Schnee, Nebel und Föhn, schließlich prächtigen Vorfrühling
im April.
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Ostersonntag 23.IV.16. Endlich scheint es mit Regen aufhören zu
wollen; doch kommt die Sonne noch nicht aus dem zähen Wolkenschleier.
– Herta war gestern den ganzen Tag mit heftigem Fieber zu Bett, erbrach
auch anfangs alles. Heute wieder besser. Sie freute sich so auf den Osterhasen,
der nun hoffentlich noch morgen kommt. Das Barometer geht sprunghaft in
die Höhe und so haben wir die besten Aussichten. Ich höre heute
wieder –seit fast ¼ Jahr– leise den fernen Kanonendonner, dazwischen
Vogelgezwitscher, Krähenschreien und Kukuksrufe. Sonst feierliche
Stille. Ich wunderte mich, wie gut die Feder schreibt, die doch 3 Monate
unbenutzt hier auf offener Laube fast wie im Freien lag. Es wird mir diesmal
–ich weiß nicht warum– recht schwer, den getreuen Chronisten zu machen.
Doch solls weiter versucht werden. Zu Mittag gabs Fleisch, das wir die
ganze Woche nicht hatten. Ist es des Aufzeichnens wert? Marianne hat in
Sprache, Bewegungen und eigenen Spielen so viele drollige Züge und
ist dabei oft so naiv und schelmisch, daß man von Herzen über
sie lachen muß und sich freuen kann. Trotz aller Beschwerden, die
ihr 2 vorbrechende Backenzähne machen, ist sie fast stets guter Laune.
Herta ist leider viel zarter und empfindsamer. Im Garten blühen die
Äpfelbäume so schön wie nie. Um wenigstens etwas Nützliches
zu vollbringen, ordnete ich den Bücherschrank, der überfüllt
und voll Unordnung war. – Die Russen haben Trapezunt genommen, den Engländern
scheint es am Tigris ernstlich schlechter zu gehen. Ob sie eine wirkliche
Wehrpflicht einführen müssen, steht noch dahin; vorab versuchen
sie von den Holländern Schiffsraum zu erpressen. Der Fleisch-, Fett-
und Ölmangel aber bei uns scheint jetzt erst recht zu beginnen. Russische
–viel zu verfrühte– Friedensgerüchte werden amtlich für
nichtig erklärt.
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28.4.1916. Einen 16jährigen Fürsorgezögling hatte ich
heute wegen fortgesetzter Diebereien und Unterschlagungen zu verurteilen.
4 Wochen Gefängnis, da im Rückfall; warum: der Junge hatte kein
Taschengeld. Soll es aber nun bald bekommen. Es ist eine merkwürdige
Sache, so ohnmächtig gegen Leben und Gesetz sein zu müssen. –
Heller Himmel, Ostwind. Unsere Hochseeflotte beschießt die englische
Südostküste, Heeres- und Marineluftschiffe bombardieren von oben,
in Irland herrscht Aufstand (zu früh losgeschlagen?) und Wilson droht
mit Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Alles wartet gespannt.
29.4.1916. Wind, Wolken, Sonne. Mäßige Arbeit. Helene war
zum Einkaufen selbst in der Stadt mit dem Ergebnis: Rindfleisch giebts
noch mal, aber kein Waschmittel, Persil noch Seifenpulver. Was geschieht
nächstens mit der Wäsche? Friedrich war wohl mit Recht ein wenig
entrüstet, daß ein prächtiger Ochse, um den er sich 4 Wochen
lang bemüht und die Beine abgelaufen hatte für ihre Wehlener
Metzgerei
zu ½ einem Mainzer und ¼ einem anderen zugeteilt wurde, so
daß ihm nur ¼ blieb. Fett muß zum Einschmelzen von den
Metzgern abgeliefert werden, Hausschlachten ist vorab bis 1. Oktober 1916
ganz verboten. Haferflocken, Gerstengries nicht zu haben, noch weniger
Fett, nach dem alles giert. Wir werden den Leibriemen enger schnallen müssen.
– Abends: Auf dem Heimweg las ich ein Extrablat mit der Nachricht, die
Großes verspricht: Deutscher Vorstoß südöstlich des
Narotzsees (südl. Dünaburg) mit 5000 Gefangenen und großem
Material. Vormarsch auf Dünaburg? Die Engländer melden selbst
den Verlust eines Linienschiffes „Russel“ (14000 t) im Mittelmeer „durch
eine Mine“, es wird wohl ein Uboot gewesen sein, und man wird der deutschen
Meldung abschwächend zuvorkommen.
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Auffallender Weise reden die Engländer selbst viel von „ernsten
Unruhen“ in Irland. Ist’s Wahrheit oder nicht vielleicht stark übertrieben,
um die allgemeine Aufmerksamkeit im Lande und bei den Bundesgenossen von
der viel brennenderen Wehrpflichtgesetzesvorlage abzulenken? Die englische
Staatskunst bleibt stets zu bewundern. Jetzt will ein Holländer gesehen
haben, wie die Engländer in der Themsemündung mit einem eroberten
deutschen Uboot manövrierten. Natürlich liegt der Gedanke nahe,
daß sie am Ende die Tubantia (den holländischen Passagierdampfer)
und die „Sussex“ (einen englischen Kanaldampfer) versteckten, um Amerika
zu der unverschämten neuen Ubootnote zu pressen und uns indirekt damit
jene Waffe aus der Hand zu ringen, die ihren Lebensnerv, die Handelsschiffahrt
trifft. – Was wird die nächste Zukunft bringen? Ein selten schönes
saftiges Stück Ochsenfleisch von Friedrich und ein Kalbsbraten von
Dahm helfen uns über die nächste Fleischnot. Helene überlegt
schon, was sich davon sterilisieren läßt.
30.4.16. Wie schade, daß v. d. Goltz das nicht mehr erlebt hat:
Heute früh, als ich mit Herta um Garten ging, um die Beete zu lüften
und Salat zu holen, war eine neue kurze Depesche angeschlagen: Die
Engländer haben sich bei Kut el Amara bedingungslos ergeben müssen.
13000 Mann (noch übrig von 20000) das ist ein Schlag für England,
das z. Zt. die Anfänge eines irischen Aufstandes erlebt.
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Es ist ein würdiger Erfolg für v. d. Goltz’s Lebensarbeit.
Hoffentlich giebts einen Stoß durch die mohamedanische Welt bis Indien
und über Egypten bis Marroko und den Sudan. Es könnte sehr dazu
beitragen, den Islam wirklich auf die Beine zu bringen.– Mit Herta ging
ich nach dem Frühstück zum Amt und hatte vor, die Flagge aufziehen
zu lassen, aber – Verfügung über Beflaggen u.s.w. na, nun wirds
wohl später kommen! Die Bedeutung wird freilich noch lange nicht jedem
klar werden. Thanisch lud mich zum Spaziergang mit seiner Frau ein und
wir machten bei herrlicher Aussicht einen prächtigen Gang, Aufstieg
in der Brauerei, durch und über die Kreisweinberge, durch frischen
Buchenwald; sahen ein Reh über den Weg setzen, das „Mäxchen“
aufgestöbert hatte. Herta sah es mit Freude, wohl zum erstenmal und
meinte, es sei eine „Hirschkuh“, war aber eine Rehgeis.
1. Mai 1916. Wir sind um 1 volle Stunde vor – ostwärts gerückt.
Ob wir überhaupt in entsprechendem Verhältnis ostwärts rücken
werden? Einen Zentner (allerdings gemahlenen, andern gabs nicht mehr) Zucker
habe ich zu 30 M bei Dillinger erstanden, der überhaupt noch allerlei
gute Sachen hat und zu mäßigem Preise verkauft. Er ist ein origineller
Kauz und –falls ich Zeit habe– wüßte ich keinen Bernkastler,
mit dem ich mich lieber unterhielte, als mit ihm. Er weiß tausend
Dinge und ist überaus scharfsichtig.
Zu meiner Genugtuung lese ich in der Kölnischen Zeitung eine Depesche
vom 29., nach der S. M. auf den 30. die Beflaggung der öffentlichen
Gebäude angeordnet hatte. Also hätte ich doch flaggen lassen
sollen! (und hatte Recht!)
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5.5.1916 Bedeckt, schwüle Hitze, lähmend. Bienen eifrig beschäftigt,
haben gute Tracht. Hoffentlich giebts Honig, man kann ihn gebrauchen! Zu
Helenens großer Freude gab es heute wieder Eier und Butter. Nach
Mamas (Rech, Anna Maria) Brief wird in Bonn täglich alles knapper.
Wir bekamen noch eine Portion Gerste aus Commen. Gestern wollte ich nach
Thalveldenz, 2 Kriegsbeschädigte besuchen, nach den Wetterapparaten
drohte Gewitter mit Hagel und so blieb ich zu Hause, übler Laune durch
den nicht ausgeführten Entschluß. Bei der Kreissparkasse, im
Garten des Rendanten, fing Kuntz heute vormittag einen guten Schwarm ein.
Von Scherer und mir scheint er nicht zu sein. Ich klebte 7 Kunstwaben ein,
bin froh, noch Mittelwände zu haben.
6.5. Luftschiffe über England, eines in Norwegen verloren gegangen.
12 ½ Pfund Speck (ausl.) von Krings zu 2,40 M bekommen, ausgelassen.
Den Amerikanern haben wir mal wieder, hoffentlich das letzte Mal, nachgegeben
in der Ubootfrage, doch nicht ohne Bedingung. Darüber wird wohl bald
wieder eine Notenschreiberei losgehen. Nachts Regen, schwaches Gewitter,
heute kühler. Seit 2 Tagen grünen die Weinberge. Gestern abend
kam Dr. Wolf zum Garten, es war alles hübsch sauber, da hier tags
zuvor „gehausputzt“.
7.5. Dr. Wolf bezeichnete vorgestern unsere gesamte innere Organisation
als eine „organisierte Hungersnot“. Na, so weit ists noch lange nicht,
wenn auch schon etwas daran ist. Heute gab es bei uns solche in dieser
Form: Ein faustgroßer Kalbsbraten, etwas über ½ kg 3
M, dazu Spargel, Bohnensalat, Fleisch- und Eiertunke, Kartoffeln und zum
Nachtisch köstliche Pfirsiche von vor 2 Jahren! –
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10.5. Auf dem linken Maasufer sind vor Verdun große Fortschritte
gemacht worden. Gestern kamen Verwundete hier ins Lazarett, die arge Brandwunden
haben. Auch die Anzüge sollen ganz verbrannt riechen. Angeblich hätten
wir bei Douaumont (?) 1500 Mann durch Brand (Mine?) verloren (??). Es ist
auffallend, wie allenthalben die Energien der Leute sich auf die Verproviantierung
mit Lebensmitteln richtet: Gerichtsdiener Friedrich fragte mich, ob Krings
(der den Kreis-Einkauf besorgt) nicht Öl habe. Ich wußte nichts
davon, es fiel mir aber wieder ein, als ich dort den neulich erhalten fetten
ausländischen Speck bezahlte. Auf meine Frage holte mir K. eine Literflasche
prächtigen Olivenöls zu 4 M (kostet sonst 8 M), die er noch „übrig“
hatte, obschon das Öl für Morbach bestimmt war. Ich denke, wir
behalten es zu ½, die andere Hälfte bekommt Fr. und wir dafür
vielleicht 2 kleine Kaninchen. Dr. Wolf ist so am verhungern, daß
seine Tochter schon zur Stachelbeerernte (an den Sträuchern hängen
höchstens 2-3 Pfd.!) hierher kommen soll. Für Kirschen und vielleicht
Pfirsische wäre es noch verständlich, aber Stachelbeeren! Ich
hoffe, Beerenfrüchte mit Kr. von Roisdorf zu beziehen. Daß ich
mir einige Säcke verwahrt habe, macht sich jetzt bezahlt: Zum Bezug
von Bienenzucker müssen wir die Säcke einsenden! – Eine Kindsmutter,
die ich heute über die Vaterschaft ihres Kindes zu vernehmen hatte,
vertraute sich mir an: Sie war in Trier bei einem Gymnasial-Direktor a.D.
bereits 2 ½ Jahre in Stellung. Obwohl sie einen hatte, mit dem sie
„ging“, aber keinen Geschlechtsverkehr hatte, hat ein aus dem Feld für
etliche Monate nach Trier zurückgekehrter Vizefeldwebel, Sohn einer
reichen Familie aus Du...(?), der bei der Herrschaft als Verwandter wohnt,
verführt und monatelang mit ihr
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im intimsten Verkehr gelebt. Der „andere“ hat, als er später hiervon
und von der Schwangerschaft hörte, vor Schmerz geschluchzt und sich
freiwillig gemeldet. Er steht schon im Felde. Die Mutter mußte nach
der Entbindung schmerzhafte Brustoperation durchmachen und ist noch ganz
schwach davon. Ihre frühere Herrschaft hätte sie gern wieder.
Ein hübsches und sympathisches Mädchen. Leichtsinn, Torheit.
Vielleicht auch dem „aus dem Felde kommenden Helden“ unterlegen. – Wir
aber jagen jetzt hinter ihm her.
13.5. Trotzdem ich einer Magenverrenkung wegen, 2 Tage fasten mußte,
ist stramm geschafft worden. Eben habe ich schweißtriefend 7 Bienenvölkern
die Honigkästen aufgesetzt. Jetzt giebt mir ein Gewitter eine erwünschte
Pause. Den endlich von Bonn erhaltenen Sonnenblumensamen setzte ich in
Töpfchen ins Mistbeet und deckte die Fenster ab, so daß der
befruchtende Gewitterregen frei einfällt. – Bei Verdun sind anscheinend
erhebliche Vorteile für uns errungen worden, und die Franzosen haben
mal wieder ihren Befehlshaber dort gewechselt. Mit Rechtsanwalt Schönberg
unterhielt ich mich heute morgen einige Zeit über Dr. Ludwig. Er war
mir neulich auf der Brücke begegnet und hatte mir strahlend erzählt,
die Diamantenherstellung nach seiner Methode sei gelungen. Schönberg
wußte näheres. Es war doch nicht ohne eine Explosion mit großer
Erschütterung abgegangen. Diamantstaub in größerer Menge,
stellt sich auf 1/5 der bisherigen Gewinnungskosten. Leider ein Hemmnis:
Die Diamanten bilden sich bereits an den Kohlen des elektrischen Ofens
(7000°?) und verhindern weiteren elektrischen Kontakt. Gold hat er
angeblich in reines Kupfer durch die Umlagerung der Moleküle umgewandelt.
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Die umgekehrte Möglichkeit eröffnet seltsame Ausblicke: Die
Entwertung des Goldes müßte notwendig einen Zusammenbruch unseres
ganzen Wirtschaftssystems und namentlich des heutigen Kapitalismus werden.
Die blitzschnell aufeinanderfolgenden wirtschaftlichen Versorgungsmaßnahmen
unserer „organisierten Hungersnot“ scheinen den Boden hierfür vorzubereiten.
Schönberg meinte trotz aller Fehler brächte uns diese Zeit Vorbedingungen
für künftiges Zusammenwirtschaften, die in anderen Ländern
auf dem Wege einer Revolution erkämpft werden müssen. Es geschehen
freilich seltsame Dinge. Landwirtschaftliche und industrielle Erzeugung
werden weiter Werte schaffen und irgendeiner kann an die Stelle des Goldes
treten. Die Erschütterung aber möchte ich sehen, wenn Gold auf
– Kupferwert sinkt!
17. Mai. Am Sonntag luden Th’ mich zur Jagd ein. Über Mittag wurde
schleunigst Jagdschein und sonstiges besorgt und ½ 4 fuhren wir
–Hugo Th. und ich– zur Römerstraße. Leider regnete es stark.
Zur Jagdhütte und abends auf die Birsch. Leider bald dichter Nebel.
7 Geißen, aber keinen Bock gesehen. Jagdhütte, getrocknet, geheizt,
gegessen. Bis 4 Uhr morgens geschlafen, wieder Pürschgang auf Böcke
und Sauen, nichts gesehen. Regen. Prachtvoller Blick von hoher Kanzel auf
Eiche. Hugo Th. ging aufs Postauto, Meyer nach Hause. Ich blieb über
Mittag auf der Hütte, kochte mir Essen, las und schlief. Draußen
Regen und Wind. 3 ¼ los, über Merscheid - Rapperath nach Morbach,
wo ich mir Kriegsbeschädigte hinbestellt hatte. Vor Rapperath wüster
Regen, Schutz in Heiligenhaus an malerischen Quarzitfelsen. Dort gewaltigen,
romanisch stilisierten Holz-Christus
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getroffen, ganz überrascht davon. Auf dem Wege nach Morbach einen
Bauer und Wollen (Tirtey (?)) Weber aus Gielert getroffen, den ich vor
Jahren mit Kreisarzt Lehmann als Vorsteher besuchte. Verabschiedeten uns
herzlich in Morbach. Dort zu Brauns. Mantel zum Trocknen. Kriegsbeschädigte
verhandelt. Bildschnitzerei Mattler besucht, dort originellen Tiroler Schnitzer
aus Grödental kennen gelernt, der angeblich noch „Kripperln“ in altem
Stil schnitzen kann. Er will demnächst einige Figuren mir zur Probe
anfertigen. – Zu müde, um noch Eduard Hauth und Viktor Thanisch auf
Morbacher Jagd aufzusuchen. Gut zu abend gegessen (Kalbskotelett mit Bratkartoffeln
und Salat). Ausgezeichnet mit „Pater“ Brauns, Frau Dietz, deren Kindern
unterhalten. Früh zu Bett, feste geschlafen. Gut gefrühstückt.
9 ¼, da schöne Sonne bei wolkigem Himmel dem Postauto vorausmarschiert
bis vor Longkamp am Commener Weg, wo es sich gut traf. Ich fuhr damit
heim, traf Paul Th. mit Frau gleich auf der Straße, ging mit und
lieferte Flinte ab. – Helene heute mal wegen ihrer großen Schwäche
Geheimrat Schmitz zurate gezogen. Blutarmut.
26. Mai 1916 (Freitag). Mit Paul Thanisch war ich von Montagabend bis
gestern nachmittag auf der Jagd. Es waren herrliche Tage, wenn auch nichts
geschossen wurde. Daß ich eines Abends bei einem Pürschgang
wegen gänzlicher Überschätzung der Entfernung nicht auf
ein Wildschwein geschossen habe, ärgert mich ein wenig. 2 Nächte
schliefen wir in Merscheid, die letzte auf der Hütte. Wir hatten reichlich
Forellen
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und ließen sie uns gekocht und gebraten gut schmecken. Ein selbstgebauter
kleiner Steinherd im Freien wurde tagsüber fleißig zum Kochen
und Braten benutzt. Auf der Matrazen machten wir Liegekur im Freien, daß
wir ordentlich braun brannten. 2 Eindrücke sind mir besonders eingeprägt:
In der „Baumhold“ d.h. der äußersten sehr malerisch über
dem Zusammenfluß von Holzbach (oder Hölzbach?) und Drohn gelegenen
felsigen Waldpartie saßen wir abends bis zum Dunkelwerden auf dem
Anstand. Von Fern her donnerten leise und ununterbrochen die Geschütze
aus Frankreich, über dem steilen Uferhang jenseits des Drohntals stand
die Hunolsteiner Kirche grau gegen den bleichen Abendhimmel und leises
Orgelspiel tönte dann und wann dorther. Auf einer weiten Bergkuppe
rief unermüdlich der Kukuk. Es war eine wundersame Stille in der warmen
Luft. – Dann gestern marschierten wir bei warmer Mittagssonne durch den
herrlichen, der Stadt Berncastel gehörigen Hinterwald, nachdem wir
auf der Jagdhütte gefrühstückt hatten, die ganz wunderschön
in einer Art Waldpark liegt. Es war prächtig dort. Schließlich
entwischte uns auf dem Heimweg hinter dem Burgkopf noch ein kapitaler Bock,
den „Mäxchen“, die Hirschbrake, dort aufgestöbert hatte. Er war
so klug, nicht auszutreten. – Während dem erheblichen Fortschritte
vor Verdun und ein zertrümmernder österreichischer Angriff auf
die Italiener zur Feier der Jahreswende deren frivoler
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Kriegserklärung. Im übrigen allenthalben Friedensgerede,
namentlich auch in America, vermutlich auf englisches Anstiften. Ob er
bald kommt? Das Reichs-Lebensmittelamt mit diktatorischer Gewalt hätten
wir jetzt glücklich. –
28.2. Regentage, schade für die Bienen und den Wein. Die Österreicher
dringen siegreich aus Tirol vor, die Franzosen reiben sich bei Verdun auf.
31. Mai. Gestern war ich nach Veldenz und Thalveldenz unterwegs, um
dort 2 Kriegsbeschädigte aufzusuchen. Der eine war mittlerweile an
der Schwindsucht gestorben, der andere trotz seiner Lähmung auf Krücken
in den Wald hinaus. Bis er endlich kam, unterhielt mich die Wirtin Schmitz
in Thalveldenz. 3 Söhne hat sie im Felde: der jüngste kriesgefangen
in Ostsibirien, den zweiten in Serbien, den 3. vor Verdun; zudem einen
Neffen und Pathensohn ohne Angehörige in französischer Gefangenschaft
in Afrika. Allen sendet sie unentwegt Pakete mit Nahrungsmitteln, Eiern,
Butter, Speck, Schinken u.s.w. Kein Wunder, wenn es im Lande knapp wird.
In Berlin beginnt jetzt die organisierte „Massenspeisung“. Was werden wir
bis August noch erleben? Aus den Zeitungen erfährt man lange nicht
alles. Helene hat heute nach böser schlafloser Nacht wieder neuen
nervösen Schwächezusammenbruch. Schlimm. . . Hausputz: Speicher,
Vorratskammer, Kinderzimmer. Alsdann zusammengeklappt. Durch den Tod der
früheren Hauslehrerin, Frl. Maria Kleinsteuber aus Darmstadt seelisch
sehr stark erregt.
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3. Juni 1916. Liegestuhl. Gestern war ein Tag unter den Tagen, so voller
kleiner und großer Eindrücke, daß ich sie noch lange nicht
alle verarbeitet habe. Helenens Geburtstag fing schlecht für uns an;
nach schlafarmer Nacht war sie morgens müde und schlapp, daher niedergeschlagen
und durch alle Briefe ect. rührselig gestimmt. Das ewige Schwächegefühl,
Schwindel ect. sind ja freilich niederziehend. Erst nachmittags erwacht
sie zu besserem Leben. Schont sich dabei nach Kräften. Ich kaufte
eine Metall-Reibemaschine und Holzstoffeimer, allzu materielle Geschenke.
Auf dem Amt natürlich ein Aufenthalt nach dem anderen, so daß
der sehnliche Wunsch, mal ausnahmsweise früh fertig zu werden und
zu Helene in den Garten zu können, vereitelt wurde. Reuter, unser
Aktuarius, stellte sich in schneidiger Leutnantsuniform vor. Vor Jahresfrist
befürwortete ich sein Gesuch um Versetzung in höher gelegenen
Ort wegen starker Kopfschmerzen hier. Er kam nach Kirchberg, wo ihn ein
anderes A.C. faßte und nach Berlin zur Garde sandte. Dort schließlich
dauernd garnisondienstfähig, plötzlich zum „militär“-zivilen
Friedensgericht bei Grodno in Littauen, als Gerichtsschreiber im Offiziersrang.
Dort seit März 1916 tätig. Geht ihm gut dort. – Größter
Eindruck: Depesche in der Kölnischen Zeitung von dem gewaltigen Seesieg
am 31. Mai an der Westküste Jütland (Zeitungsausschnitt
beigelegt). Die Engländer sind allem Anschein nach dort entscheidend
geschlagen worden. Ich war wie betäubt davon, fühlte eine sonderbare
Leere im Kopf und sah alle Dinge ganz weit entfernt um mich. Sollte das
nicht ein scharfer Schlag auf den Frieden zu gewesen sein? Um 12 Uhr endlich
auf dem Heimweg wurde ich bei Lauers aufgehalten: Anton Thanisch dort;
er hat einen Transport nach Breslau. Er gab einige ungemein plastische
und deutliche Erzählungen von Artilleriegefechten, die geradezu künstlerisch
abgerundet waren.
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Ich mußte ihn stets ansehen. Er bleibt ½ Tag hier und
geht nach Dörrberg zur Jagd. So gut er sich mit beiden Brüdern
steht, so wenig scheint es ihn zu seiner Frau zu ziehen. Er kann mir ordentlich
leid darum tun. Nachher lag ich im Garten, unser Plan, dort den Geburtstagskaffee
alle zusammen mit (verbotenem!) Kuchen einzunehmen, scheiterte wegen drohendem
Regen. Nachher ging ich mit Helene allein hin. Frau Thanisch, die von Helenen’s
Geburtstag gehört, brachte ihr prächtige Nelken. Unterhielt sich
so lebhaft mit ihr auf der Veranda über den Ausflug am Christi Himmelfahrtstag,
daß Frau Eduard Hauth, die vorbeikam, gerade hören konnte, wie
von ihr die Rede war. Sie kam dann auch herauf und es gab eine Zeitlang
eine lustige Unterhaltung. Helene war erfrischt davon. Abends und nachts
gabs Regen. Leider heute auch, so daß die Bienen mal wieder einen
Tag verlieren. – Heute sind alle Blätter voll vom deutschen Seesieg.
Die britische Admiralität giebt eine ganze Reihe ihrer Schiffe als
verloren bekannt. Nach 22 Kriegsmonaten die große Seeschlacht:
auf beiden Seiten die gesamte Schlachtflotte. Die Engländer trotz
großer Übermacht entscheidend geschlagen. Gestern auch im Tagesbericht
großer Fortschritt vor Verdun: Caillettewald erstürmt. 2000
Mann. Noch einige Kleinigkeiten: Aus Anton Th. Beschreibung weiß
ich nun auch, daß Kampfflieger wie Immelmann und Bölke stets
allein fliegen und zwar sozusagen auf einem geflügelten Maschinengewehr.
Der Lauf liegt starr in der Flugaxe, der Schuß geht durch den Propeller,
der mit dem Maschinengewehr so verkuppelt ist, daß er natürlich
nicht die eigenen Flügel abschießt. Also fliegen und schießen
ist eins bei
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diesen Lufttorpedobooten. – Heute machten wir die wenig anmutende Entdeckung,
daß unser Vorrat an Kartoffeln, dem wichtigsten Nahrungsmittel neben
Brot jetzt, zu Ende geht. Ehe unsere neugesetzten, die sich prächtig
entwickeln, reif sein werden, haben wir noch einen Doppelzentner nötig.
Also frisch auf die Kartoffeljagd! – Vizeadmiral Scheer, Sohn eines Hanauer
Gymnasiallehrers Dr. Scheer, führte das Kampfgeschwader. Vizeadmiral
Hipper die Spitze, anscheinend auf „Westfalen“, die allein 6 Torpedozerstörer
abschoß.
7.6. Kalte nasse Tage. Man beginnt die Weinberge zu spritzen. Die Engländer
haben Pech: sie meldeten den Untergang eines 11000 t Panzerkreuzers Hampshire,
der mit Mann und Maus bei den Orkney-Inseln durch Mine oder Torpedo unterging.
Lord Kitschener mit Stab war darauf, um nach Rußland zu fahren. –
Morgen wollte ich erstmals Honig schleudern, der Regen scheint dies zu
nichte zu machen.– Montag war ich mit Herta den Tag über in Morbach,
leider war es stürmisch rauh. Nach Erledigung der Kriegsbeschädigten
am Bahnhof aßen wir im Hochwaldhof, trieben uns nachmittags im Wald
und später in Morbach herum, fuhren ½ 6 mit Auto heim. Rückfahrt
leider recht kalt. Waren morgens mit Auto hingefahren. Abends begegnete
uns hinter Commen ein leerer bäuerlicher Leichenwagen. Ich wußte
sofort: er hatte Rosa Hermann’s Mutter als Tote aus dem Krankenhaus heimgebracht.
Und so war es. Die Nacht zuvor war sie gestorben. Helene gab Kranz mit.
Es ist eine böse Sache für die Familie mit kleinen Kindern. –
Der Regen dürfte allgemach aufhören. Helene hatte durch den Tod
der Frau Hermann allerlei Aufregung, doch hat sie diese leidlich bestanden.
Es geht ihr sichtlich besser.
Seite 146
Vorgestern bestellte ich mir in Berlin blauen Scheviot- und grünen
Lodenanzug, da mein Bestand sehr mangelhaft geworden. Gestern lese ich,
daß Kleiderkarten eingeführt werden. Neugierig, ob ich die Anzüge
noch bekomme. Mit Fleisch wirds stets weniger. In Bonn bekommen sie so
gut wie nichts mehr. In Morbach bekamen wir mittags noch Rehrücken
und Schweinebraten. Derzeit ist solche doppelte Fleischspeise für
Gasthöfe verboten. –
8.6. Heute morgen habe ich aus Winklers Stöcken die Honigwaben
entnommen und Frl. Martha hat geschleudert. Es war ein hübscher Posten
Honig, ohne die letzte Regenwoche wäre es ganz gewiß mehr gewesen.
Sehr verschieden verhielten sich die Völker: Das sonst so rabiate
Volk 6 war ganz sanftmütig; 4 hingegen böse und meine rechte
Hand und Unterarm sind stark geschwollen. Nachher und morgen in der Frühe
sollen meine Völker drankommen. Winkler kommt Samstag auf 3 Wochen
in Urlaub. Da kann er hoffentlich noch selbst mal schleudern. Seit 8 Tagen
höre ich den Pirol. – Endlich macht unser Tagesbericht die Einnahme
der Panzerfeste Vaux vor Verdun bekannt. Schon seit dem 2. Juni meldeten
die Franzosen, ihre Leute seien dort abgeschossen. Lt. Rakow mit dem Poure
le Merite tritt an die Seite des Von der Linden. Neuerdings wurden auch
neue Namen als Kampfflieger bekannt, die ihr 4. Flugzeug abgeschossen haben.
Pfingstmontag 1916. In Wolhynien haben die Russen unter Brussilow einen
bedeutenden Vorstoß mit bösem Erfolg gemacht: Über 60000
deutsche und österreichische Gefangene melden sie –von uns aus widersprochen–
in ihren Berichten. Hoffentlich kommt es dort nicht zu einem völligen
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Durchbruch. Ernste Pfingsten. Große Kartoffelnot in den rheinischen
Städten, auch in Bonn. Wir betteln morgen welche bei Thanischs, wo
wir gestern zum Thee waren. Meyer - Merscheid wird welche liefern, doch
war der Bierwagen gerade abgefahren, der sie mitbringen sollte. So schönes
Schweinefleisch, wie wir heute Mittag hatten, aß ich schon lange
nicht. 47 Pfd. Honig habe ich in Gläser gefüllt und damit gestern
und heute morgen die erste Honigschleuderung verschafft. Leider kann es
sich noch nicht zu schönem Wetter entschließen. Die Linden haben
schöne Blütenansätze und es könnte noch was schönes
geben.
15. Juni. Nun regnets schon den ganzen Monat Juni ununterbrochen und
selbst der Vollmond gestern hat den heißersehnten Witterungsumschlag
immer noch nicht gebracht. Es ist ein Elend. Namentlich Roggen und Kartoffeln
erscheinen durch den ewigen Regen gefährdet. Es ist zum auswachsen!
Gemüse geht nicht vorwärts. Dazu eine Temperatur, wie ein gelinder
Winter hier. Viele haben schon geheizt und auf meinem ungeheizten Amtszimmer
muß ich mir heftig Bewegung machen, um nicht zu frieren wie ein Schneider.
Außer den Engländern haben namentlich die Schnecken die größte
Freude an diesem Sauwetter. Die überreich angesetzten Erdbeeren reifen
unverdrossen weiter und täglich stelze ich 2mal mit Holzschuhen in
den Wasserlachen zwischen her, um sie dem gierigen Schneckenzeug zu entreißen.
= Zuckerkarte wird vom 1. Juli auch hier im Kreise in Schwung kommen. Der
Landrat bezeichnet die monatliche Ration. Wir haben hier jetzt Brot- fakultative
Butter- und demnächst obligatorische Zuckerkarte. Vom 1. August bekommt
man alle billigen Kleidungs- und Wäschestücke nur noch gegen
Bezugsschein.
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Heute nachmittag soll noch einiges Unterzeug für mich und für
die Kinder hiervor gekauft werden. Ein Zeichen der Zeit und Kinderart:
Herta schnitt sich heute Mittag einen kleinen grünen Zettel und brachte
ihn Marianne als „Suppenkarte“, als diese gerade Suppe aß. – Der
russische Angriff in Wolhynien – es soll mal wieder sehr viel österreichische
Überläufer gegeben haben – scheint zum Stehen gebracht zu sein,
anscheinend durch deutsche Truppen unter Graf Bothmer. Die Engländer
ziehen angeblich schon Kriegsschiffe aus dem Atlantischen und Marinemannschaften
aus dem Indischen Ozean zur Auffüllung ihrer am Skagerak arg mitgenommenen
Flotte zurück. Japan und Amerika hat letzten Endes die Früchte
auch unseres Seesieges in der Hand! – Die Verfütterung von Kartoffeln
ist mit harter Strafandrohung (bis 1 Jahr Gefängnis oder 10000 M !!
Geldstrafe) verboten. Dieses Verbot läßt sich gottlob nicht
scharf durchführen, sonst ist unsere Schweinezucht hin. Der passive
Widerstand der Bauern wird schließlich eine gewisse Ausgleichung
herbeiführen, wie in Rußland die Bestechung namentlich der Bahnbeamten.
Von Winkler, der auf 3 Wochen in Urlaub ist und der uns mit Frau gestern
morgen besuchte, hörte ich nachmittags etwas, was mir neu war: Die
russischen Friedensverhandlungen seien vor einiger Zeit daran gescheitert,
daß wir u. a. verlangt hätten, Rußland müsse den
Staatsbankerott erklären (damit wir erste Hypothek bekämen) Auf
alles hatten die Russen eingehen wollen, nur nicht hierauf. Die Franzosen
würden damit finanziell ruiniert. || Bei Ypern haben uns die Engländer
wieder einen Teil der kürzlichen Eroberungen abgenommen. Walter
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Forstmann (Forstmann, Walter) hat seit einiger Zeit wieder 17 Schiffe
versenkt. Max Forstmann war mit in der Seeschlacht am Skagerrak. – Der
s. Zt. torpedierte holländische Schnelldampfer Tubantin ist durch
ein deutsches Torpedo versenkt worden, das von einem Uboot als Fehlschuß
auf einen englischen Zerstörer an der flandrischen Küste früher
abgeschossen worden war. Die freundlichen Engländer haben es also
vielleicht aufgefischt und dem biederen Holländer an den Bauch geschossen,
um ihn gegen die „Moffen“ aufzuhetzen! Nettes Stückchen! Vielleicht
ist er auch selbständig geschwommen und hat getroffen. Eine lange
sachliche Veröffentlichung unseres Admiralstabs bringt genau Feststellung
über den verdächtigen „Fisch“.
18.6. Gestern war ein heller sonniger Tag, heute bald kalt, bald warm,
dunstig bei Nordwind. Ein herrliches dunkelgraues Luftschiff mit 4 Propellern
flog gestern abend über unseren Garten, die Mossel nordwärts.
Wohin? Nach England? Es war ein prächtiger Anblick. Der Tag wurde
eifrig benützt zum Kartoffeln-häufeln und Gemüsepflanzen.
22.6. Fronleichnam. Endlich mal ein warmer schöner Sommertag.
Die Bienen benützen ihn fleißig zum Fliegen. Die Linden haben
zu blühen begonnen und glücklicherweise sind noch nicht alle
Wiesen gemäht. Freund Erkleben berichtete uns heute freudestrahlend,
daß sein kürzlich von Scherer erworbener Schwarm bereits 5 Pfd.
Honig gegeben habe. Er hat ihn gestern geschleudert. Gestern las jedermann
zu seinem Schmerz die Nachricht vom Todessturz des Oberleutnant Immelmann.
16 feindliche Flugzeuge hatte er vernichtet. (Zeitungsausschnitte eingeklebt.)
Im Gegensatz zu dem heldenhaft-schön und allenthalben hoch gefeierten
Bölke stellte er den Typus des körperlich nicht blendenden, geistig
verarbeiteten Deutschen dar. Auf dem Bilde sah er trocken aus, er soll
kurz angebunden in der Rede gewesen sein. Eine größere Zahl
Nachfolger auf diesem Gebiete werden jetzt schon wiederholt in den Tagesberichten
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genannt: Wintgens u. a. – Heute morgen sprachen mich Herr Mü(ü...)ller
und Jacob Thanisch auf der Brücke an mit der neuesten Nachricht: Fliegerüberfall
im ersten Morgengrauen auf Trier. Tolle Gerüchte, wie: Maximinskasernen
brännten, 70 Tote u.s.w. wurden schon vor Tisch berichtigt. Ich erinnerte
mich der maßlosen Übertreibungen im September 1915, wo uns in
Hersel Gerüchte über einen Fliegerüberfall in Trier erreichten.
28.6.1916. Am Sonntag sprach ich den seit Jahren stark lungenleidenden
Feldnachbar, Schuster und Winzer Schlosser aus der Stadt. Ihm ist am 5.
ds. der 4.älteste Sohn im Alter von 19 Jahren bei Cumières
am toten Mann gefallen. Granate zerriß ihn. Er lebte noch 4 Stunden.
Montag setzte ich ihm ein Gesuch um Kriegselterngeld auf. Der brave Junge
schickte seinen Eltern den gesamten Sold (5,30 M alle 10 Tage) nach Hause!
29.6. Nach einer Schilderung, die Bankdirektor Brüning von der
Deutschen Bank heute vormittag bei Paul Thanisch machte (wir waren dort
zum Namenstaggratulieren) hat der letzte Fliegerüberfall doch viele
Menschenleben gekostet. Vor allem wurde ein Schuppen getroffen, in dem
neueingezogene Mannschaften schliefen, die starke Verluste hatten und durch
scharfe Abschließung dem ausbrechenden Brand nicht entgehen konnten.
Auch hat es in viele Häuser eingeschlagen, ohne daß dabei viele
zu grunde gingen. – Die Sonne bleibt wieder aus, der Sommer scheint kühl
und regenreich zu bleiben.
2. Juli. Seit gestern –Beginn meiner Ferien– ist das herrlichste Wetter,
der Himmel leuchtend im schönsten Blau und weißschimmernde Wolken
segeln stolz einher. Die Luft zittert vom flirrenden Sonnenlicht. Alles
genieße ich aus vollem Herzen. Es geht mir gesundheitlich
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besser und Helene ist gottlob wieder recht frisch auf, so daß
sie von ihrer Morbacher Sommerfrische –von Donnerstag ab 1 Woche– wohl
allerlei haben wird. Gestern schleuderten Winckler, ich mit Käthchen
heute morgen. Es gab lange nicht so viel als das erste mal, man spürt
die Regenzeit. Hoffentlich bringen die jetzt blühenden Linden noch
etwas. Händler wollten hier schon jedes Quantum zu – sage und schreibe
2,20 M per ½ kg kaufen. Es ist schandhaft, diese Spekulationswut.
Freilich eine natürliche Folge der allgemeinen Lebensmittelknappheit.
Gestern abend aßen wir in Rüböl geschmorte Kartoffeln,
die mir prächtig schmeckten. Derlei ist zur Zeit ein Leckerbissen.
– Bruhns schreibt, daß er dort (in Leysin) geistig verkomme und sehnlichst
hofft, bald bayrischer Staatsangehöriger zu werden und nach Würzburg
zur Arbeit zu kommen. Ich möchte es ihm von Herzen gönnen. Eben
fahren die Bauern tüchtig ins Heu. Es giebts das heuer eine schwere
Menge. – Herta hatte heute morgen ein kleines Unglück mit Mutters
Tintenfaß, das aber noch gut ablief. Wie das Kind stillzitternd im
Schlafzimmer erschien, um sein Versehen selbst zu melden, ging mir sehr
zu Herzen. Sie bekam dann auch keine Schläge, vor denen sie eine wahnsinnige
Angst hat. Auch in den schlimmsten Lagen bleibt sie stets ehrlich, ohne
daß wir sie hierauf irgendwie dressiert hätten. Das gefällt
mir am besten an ihr. Im übrigen wird sie jetzt eine wilde Hummel
und wenn sie Ostern in die Schule kommt, ists für Mutter eine Erholung.
– Trotz allen leuchtenden Sommers denkt man stets an den Krieg. Die Engländer
scheinen sich jetzt an
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der Westfront zu rühren. Die Heeresgruppe Linsingen hält
die Russen in Wolhynien fest. Es wird wohl ewig mit dem Namen des Generals
Brussilow dort die Erinnerung an eine grauenhafte Barbarisierung der modernen
Gefechtsart verknüpft bleiben: Um sich mit aller Gewalt einen toten
Raum durch die österreichischen Mittel zu erzwingen, wandte er erstmals
folgende teufliche Technik an: Während nach gründlichem Trommelfeuer
auf die feindlichen Linien, die Infanterie beiderseits ins Handgemenge
kommt, deckt er abermals die ganzen Kampflinien mit Trommelfeuer zu, so
daß Freund und Feind gleichmäßig vernichtet werden. Alsdann
gehen neue Infanteriemassen vor und durch den „toten Raum“. Der Erfolg
wird wohl nur einmal gewesen sein. So was können aber kalten Mutes
wohl nur Russen. Sie sollen ca ½ Million Menschen dort verloren
haben.!! – Den Franzosen ist es jetzt ernstlich bange um Verdun. Schon
wird bei ihnen die Frage gestellt: „Wozu das alles, wenn wir ohnehin in
100 Jahren als Nation nicht mehr bestehen werden?“ – Bruhns Bruder Oskar
geht es in Sibirien, 5 Tagereisen südlich Krasnojarsk verhältnismäßig
gut. Er kaufte sich einige Hektar Land und Häuschen für 100 Rubel!
und beginnt Bienenzucht.
4. Juli. An der Post las ich heute morgen den erschütternden Tagesbericht
von gestern. Am 2. Tage des großen englisch-französischen Angriffs
(nach 7 ! Tagen Trommelfeuer) hat man unsererseits südwestlich der
Somme auch die zwischen 1. und 2. Linie liegende
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Zwischenstellung (Riegelstellung) geräumt. Hoffentlich giebt es
keine wesentlichen Erfolge der Gegner dort. Fort Damloup vor Verdun genommen.
Es sind entsetzliche Kämpfe. –Die neblige Kühle des Morgens hat
heute mittag einer schwülen Hitze platzgemacht. Mit dem letzten Sonntag
geschleuderten Honig habe ich heute 28 Gläser zu je ½ kg gefüllt.
Insgesamt bis jetzt 75 Pfund Honig. Rechnet man 2 - 2,20 M pro ½
kg, so macht dies 150 - 165 M, eine prächtig rentierende Anlage, trotz
aller Arbeit, Stiche und Verdrießlichkeiten.
5.7. Regen, Regen, Regen! Was soll das noch werden? Gottlob steigt
das Barometer und wir hoffen wenigstens für morgen auf gutes Wetter.
Gestern abend waren wir bei Thanischs zu einem leckeren Abendessen, das
ich mir –der Seltenheit dieses Genusses entsprechend– ganz besonders gut
schmecken ließ. Es gab da noch einen vorzüglichen Spargel-Schinken-Eierkuchen,
köstlichen Rehbraten (Anton hatte auf der Dörrbacher Jagd einen
prächtigen Rehbock geschossen) mit famosen Gemüsen. Wir unterhielten
uns aufs beste bis lang nach Mitternacht. Nasses und Oberförster Bauer
waren dort. Den Landrat habe ich noch selten so aufgedreht gesehen. Ein
wunderbarer 1910er Bernkasteler Ley (auch 08er gleicher Lage) schmeckten
prächtig. Kurz zuvor machte ich damit noch 2 Litergläser Kirschen
ein. Heute hoffentlich desgleichen. Morgen will Helene nun nach Morbach.
Ich fahre mit und bleibe vielleicht die Nacht über oben.
13.6. Am 6. Helene nach Morbach gebracht und über Nacht dortgeblieben.
Arge Beschwerden an Nase: Montag Dr. Schmitz zugezogen: Wegen Schwärer
gepappt. Abscheulich. Dienstag wieder munter. Dillinger’s Bruder, der große
schlanke gefallen. Fracht-Uboot nach Amerika gekommen. Große Angriffe
der Engländer und Franzosen an der Somme.
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18.7.1916. Am 9. Juli 1916 kam in Baltimore die „Deutschland“, das
erste deutsche Untersee-Frachtboot mit 800-1000 t kostbarer Farbladung
an und machte sich bereits durch die erste Reise bezahlt. Das Geheul der
Franzosen und Engländer hierüber war vergnüglich zu hören.
– Ununterbrochen tobt der schwere Kampf jetzt auf beiden Fronten. Vor Verdun
soll demnächst Größeres angeblich zu erwarten sein. Selbst
jetzt hört man in stillen Nächten ein schweres Schießen,
was man sonst im Sommer nie gehört. Leider will es nicht aufhören
mit endlosem Regen. Unter tausend Mühen nur bekommen die Leute das
Heu herein, hier im Moseltal teilweise freilich schon zweiten Schnitt.
Heute sticht mal endlich die Sonne wieder. Alles, namentlich das Unkraut,
wächst wie toll. Heute pflückte ich den ersten hochgefüllten
Korb von zarten grünen Strauchbohnen. Donnerstag nachmittag war ich
nach Morbach gefahren, hatte Helene sehr gut und angeregt durch interessante
Bekanntschaft mit angenehmen Gästen dort angetroffen. Freitag wurden
Kriegsbeschädigte dort behandelt und nachmittags fuhren wir bei leichtem
Regen wieder heim. Weil oben Keuchhusten und Mumms herrschten, nahm Helene
erst ein Bad und begrüßte dann erst die frohen Kinder. Jedes
bekam eine grüne Umhängetrommel für Frühstück
und Blumen ect. geschenkt, die jetzt bei jedem Ausgang mitwandern. Samstagnachmittag
besuchte uns Frau Rechtsanwalt Stolte, die 4 Urlaubstage ihres Mannes mit
ihm am Rhein, Boppard, zugebracht und ihn bis Wengerohr zurückgebracht
hatte. Stolte kämpft bereits seit Februar
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in schwierigsten Gefechten vor Verdun. Liegt jetzt auf Souville und
Tarannes zu, wo gewiß die ersten Schläge nächstens fallen.
Stets 4 Tage im vordersten Graben, ohne warme Verpflegung. Er sehnt sich
ungemein nach Ruhe. Dazu die Sorge um die Existenz nach dem Kriege. Er
plant jetzt, sich in Boppard niederzulassen. Ich möchte ihm gern helfen,
wenn ich es könnte. – Endlich erfahren nun die Engländer, wenigstens
die Heerespflichtigen die vollen Schrecken dieses grausigen Krieges: Bei
den wenig erfolgreichen Angriffen an der Somme haben sie geradezu ungeheuerliche
Verluste. – In der Stadt und im Dorfteil Cues hat eine Geschichte der Frau
Oberlehrer Matthias einiges Aufsehen gemacht: Cueser Burschen entdeckten
bei einem russischen Gefangenen Liebesbriefe von ihr, vervielfältigten
sie und verteilten sie allenthalben. Vorgestern bekam ich auch eine Abschrift
zu Gesicht und damit bald eine recht harmlose Beurteilung der Sache. Die
Frau hatte großes Leid gehabt, einen Bruder, die Mutter und ein Kind
verloren. In vielleicht krankhafter Weise macht sich ihre Glückssehnsucht
durch eine ganz und gar unreale (nach dem Briefinhalt „rein ideale“) Liebe
zu einem – Russen! Luft. Es kommt mir nicht viel anders vor, als ob jemand
den Mond andichtet. Durch die Begleitumstände: Krieg, Russe, verheiratete
Frau mit 3-4 Kindern u.s.w. gewinnt die Sache ja scheinbar ernstes Gepräge,
das sie sachlich nicht hat. Angeblich ist sie vom Kriegsgericht Trier von
der Anklage wegen unerlaubten Verkehrs mit Kriegsgefangenen freigesprochen
worden. Und ich konnte das wohl verstehen. – Es freute mich, gestern abend
bei Frau Kreisarzt Dr. Knoll die gleiche Auffassung dieser Sache zu finden.
Sonst sind die Damen natürlich „entrüstet“.
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22. Juli 16. Endlich 2 schöne Tage hintereinander; man kann es
fast nicht glauben. Dem Amtsgerichts- und Geheimrat Horster ist ein 2ter
Sohn gefallen. Ich denke dabei an den alten Bollenbeck. Gestern berichtet
der Tagesbericht, daß Engländer und Russen abermals abgeschlagen
sind. Ob es nicht in diesem Jahre noch ein Ende giebt? Viele glauben es.
Jetzt sind Butter und Milch unter Generalverteilung genommen.
25. Juli 1916. Meine Ferien gehen dem Ende zu. Ich habe solche noch
nie erlebt wie dieses Jahr. Von dem Nasengeschwür und seinen trüben
Tagen abgesehen, war ich fast die ganze Zeit über im Garten und habe
mich körperlich recht gut erholt. Aber seltsam und angreifend ist
die Zeit. Es hat mir lange widerstanden, hierüber etwas aufzuzeichnen.
Man lebt fast wie in einem Traum. Gierig liest man abends noch den Tagesbericht.
Die Kämpfe an der Westfront, namentlich bei Verdun und an der Somme
sind fürchterlich, auf, unter und über der Erde. Viele Todesanzeigen
sieht man wieder in der Zeitung. Daß ein starker Verbrauch an Ersatz-Mannschaften
herrscht, merkt man allenthalben. Als ich Sonntag morgen ein (59,4 l) Fäßchen
Weinessig abzapfte, kam Metzger Dahm und frug wegen der Hinterbliebenen
seines Schwagers Dillinger um Rat. Dabei erzählte er, er sei noch
als „garnisonsdiensfähig“ in der Garnisonsschlächterei in Trier
beschäftigt. Doch seine die Kompagnien (der Ersatztruppen) so leer,
die mit ihm Ausgebildeten längst weg ins Feld und bald würde
wohl auch die Reihe an ihn kommen. Ein älterer Bruder des gefallenen
Dillinger,
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den ich mit seinem ältesten Bruder neulich hier im Garten sah
(er ist Ingenieur oder ähnliches und Familienvater in Aachen) bekam
gerade in den Tagen seines Hierseins (da man das Totenamt für den
Gefallenen hielt) Gestellungsbefehl zum 1. August. Dasselbe bekam, wie
ich heute zufällig bei Gericht erfuhr, unser Sekretär Laufenberg.
Ob wir für ihn Ersatz bekommen werden? Karl Liell, der vor 2 Tagen
noch einen Nachurlaub von 10 Tagen bekommen und sich darüber nicht
wenig gefreut hatte, wurde gestern telegrafisch nach Andernach zurückberufen.
Heute depeschierte er: „Versetzt, Brief folgt.“ Die Mutter ist zur Kur
nach Wiesbaden. Eine böse Unterbrechung. Er wird wohl wieder ins Feld
müssen. Frau Alf, seine Tante, war gestern abend sehr bewegt. Hoffentlich
hat er weiterhin gleiches Glück wie bei den Fährnissen seines
2maligen Felddienstes in Flandern. Er selbst war die Zeit seines Urlaubs
über hier selbst für seine auch sonst recht ernste Art überaus
schweigsam und ernsthaft. Er arbeitete wie ein Wilder in Keller, Halle,
Garten und Kontor und hat vieles mit aufräumender Hand in gute Ordnung
gebracht. Ich möchte es nicht erleben, daß ihn ein schweres
Kriegsunglück träfe. Das ist so einiges aus dem nächsten
Kreis. Ich selbst schlafe fest mit unendlichen Träumen, bei denen
ich immer noch andauernd auf geheimnisvolle Weise englische Großkampfschiffe
zerstöre und dafür ungezählte Prisengelder bekomme. Neuerdings
aber plagt mich im Halbschlaf dieses: Selbst das dichteste Sperrfeuer vor
vorstürmende Truppen gelegt, vermag deren Ansturm nicht stets zu brechen,
wie die Engländer jetzt an der Somme
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beweisen. Man müßte es auf folgende Weise ergänzen:
Der Angreifer hat stets, auch des Nachts, das Sehvermögen nötig,
will er etwas erreichen. Man müßte versuchen, durch eine Ausstrahlung
von Farbwellen oder einer sonstigen Energie, deren Wirksamkeit das gesamte
Frontgelände in voller Breite und in der Tiefe von einigen Kilometern
unterläge, den Gegener völlig blenden, so daß er wenigstens
für eine gewisse Dauer das Sehen ganz verliert. Womit läßt
sich das machen? Wie viele Deutsche mögen wohl von ähnlichen
phantastischen Gedanken geplagt werden? = Gehe ich an solch stillen sonnigen
Tagen, wie es heute einer ist, in den Garten und sehe dort die friedlich
schaffenden Bienen, das reifende Obst und das gedeihende Gemüse, so
könnte ich mich in den tiefsten Frieden versetzt fühlen. Aber
außer dem äußerlichen Leben, wie man es hier und heute
lebt, lebt man ein zweites inneres und fernab sich betätigendes, das
man nur dann und wann mit einer dünnen Schicht Vergessensstaub bedecken
kann, die aber jeden Augenblick wieder davon fliegt. Am besten hilft mir
noch körperliche Arbeit und sei es auch nur irgend eine Bastelei an
Pflanzen, Tomaten, Salat und Endivien u.s.w. oder an Korbflicken mit Weiden
und sonstigen Späßen. Dabei sucht man sich ganz auf die Sache
zu beschränken. Ob die Leute an der Front auch solch ein doppeltes
Leben führen? Heute morgen holte ich mir auf der Kreissparkasse eine
kleine Summe für am 1. August fällig werdende Zinsabschnitte
und bezahlte damit alle rückständigen Schulden. Es giebt das
ein Gefühl, als ob man etwas getan hätte. –
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27. Juli 1916. Gestern brachte ich Herta im Postauto nach Commen. Der
Hunsrück war wunderschön bei prächtigem Sonnenschein und
weiter Sicht. Wir wurden erwartet und bei Hermanns mit Freuden empfangen.
Rosa hatte alles fein gemacht. Herta blieb mit Freuden da. 2 Kriegsbeschädigte
konnte ich dort beraten. Abends marschierte ich mit Buttermilch und Kirschen
bepackt, durch die warme Abendsonne wieder heim.
3. Aug. Der Ausflug ist Herta leider schlecht bekommen: Samstag (dem
bisher 2.heißesten Tag (+29°)) bringt Rosa sie mittags von 2
- 4 Uhr !!! von Commen nach hier zurück: Heiserkeit, Husten, Schwäche,
Bronchitis mit Fieber, dessen Höhepunkt jetzt vorbei. Diese Nacht
Marianne (davon angesteckt) ähnliche Krisis. Heute Herta wieder auf,
Marianne zu Bett. Nettes Vergnügen! – Es gehen allerlei Dinge vor:
Der Kaiser ist an der Ostfront. Ein Anschlag heute meldet von dort Kommando
- Veränderungen, anscheinend ganze Front einschließlich der
Österreicher unter deutschem Oberbefehl Hindenburgs. Ob die Rumänen,
die sich etwas abgekühlt zu haben scheinen, neuerdings doch wieder
gegen uns los wollen? Auf 350000 Mann Verlust berechnet unsere Heeresleitung
die Einbuße der Engländer und Franzosen an der Somme.
13. August 16. Trüber Himmel, trübe Tage: Die Italiener haben
Görg genommen und schnappen vor Siegesfreude beinahe über, an
der Somme und vor Verdun wogt und steht die ungeheure Schlacht, doch halten
unsere Feldgrauen dort wie im Osten stand, während in der Bukowina
und den Karpathen die Österreicher wieder mit Deutschen durchsetzt
werden müssen, um nicht andauernd zurückgedrängt zu werden.
Die rheinischen Städte, namentlich Köln erstickt in Frühkartoffeln,
die von gewinnsüchtigen Züchtern vorzeitig ausgerissen und zu
tollen Preisen –
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die Höchstpreise waren viel zu hoch – mit Gewalt abgesetzt wurden.
Schwüle Regenfälle haben die lange Trockenzeit abgelöst
und unsere Gemüsezucht steht im höchsten Flor. Helene hat sich
mit Einmachen fast übernommen und heute morgen kam ein Brief von Papa,
daß Mama an Lungen- und Rippenfellentzündung erkrankt sei. Diese
Aufregung fehlte gerade noch. Ein Ferngespräch kurz vor Tisch mit
Papa brachte bessere Nachrichten. Die Krankheit hat scheinbar gleich mit
der Krisis begonnen. Gefahr vorüber, Fieber gering. Herta geht es
vorzüglich, Marianne hat den Schnupfen als Ausläufer einer heftigen
Erkältungs-Infektion durch Herta noch nicht ganz los. Heute kommen
Thanischs mit Besuch (Schwägerin Müller aus Köln mit Kind
in Hertas Alter) zum Thee.
17. Aug. 1916. Ohne Unterbrechung tobt der englisch-französische
Ansturm im Westen an der Somme und der russische im Osten. Aus allerlei
Anzeichen sieht man, daß es jetzt vor allem darum geht, Rumänien
auf unsere Gegenseite zu zwingen. Der Gegenschachzug unsererseits scheint
die „Befreiung Polens“ zu sein. Mit Österreich ist anscheinend eine
Verständigung über das Schicksal Polens erzielt und so wird es
wohl nicht mehr lange dauern, bis ein Königreich Polen ausgerufen
wird. Dieses wird sich dann alsbald den Mittelmächten anschließen
und eine Menge Soldatenersatz hergeben. Es sollen noch 1 Million (?) ungefähr
an waffenfähigen Männern dort auszuheben sein. Den Franzosen
bricht ob dieser Aussicht der Angstschweiß aus allen Poren. England
hat ähnliches wohl längst vorausgesehen und daher keine Unterstützung
der Polen durch Lebensmittelzufuhr gestattet. Den Russen, die wohl Polen
für verloren
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geben, scheint es weniger Sorge zu machen. Manche Erscheinungen (namentlich
im Regierungswechsel) möchte man dort gern im Sinne einer allmählichen
Neigung zu einer friedlichen Verständigung mit Deutschland deuten,
aber wer weiß heute, wie lang der Weg noch bis zu einer solchen ist.
– Im Städtchen hier tobt der Kleinkrieg und die Bernkastler Zeitung
bringt die letzten Tage sogar stets „Eingesandtes“, in denen man (sich),
übrigens auf beiden Seiten recht weichherzig, über die mangelnde
Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln unterhält. Die Artikel sind
ein Ausfluß der hier allenthalben vertretenen starken Verstimmung
gegen unseren Landrat v. Nasse, den man für alles mögliche verantwortlich
macht. Er scheint auch selbst oder durch einen Strohmann zu antworten.
Ich fühle mich für beide Teile unbeeinflußt, meine aber,
wenn ich auf einer –gleich welcher– tätig würde, in den Zeitungsartikeln
die Fetzen nur so wirbeln sollten. Es muß tatsächlich von neuen
Kartoffeln ein großer Mangel hier gewesen sein, der jetzt behoben
ist. An Butter desgleichen und ohne absehbares Ende. Wir bekommen Butter
noch regelmäßig ½ kg von Commen und ca alle 14 Tage in
unregelmäßiger Folge ¾ - 1 kg von Gornhausen (einem Mündel
Zirbes) geliefert. Kartoffeln wollten wir, da wir fast 50 kg neue ernteten,
an 20 kg an Nachbar Wilbert verkaufen; da er ob des Preises noch Bedenken
zu haben scheint, schenkt sie Helene einer in Cues wohnenden bedürftigen
Hauptmannswitwe Hardt. Unser Gemüse ist so gut und reichlich geraten,
daß wir darin geradezu schwelgen und noch fortgesetzt
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einmachen und dörren. An Stangenbohnen, die bisher – und nur zu
2/3 einmal gepflückt wurden, gewannen wir schon 35 Pfd. Heute früh
ging ein Eilgutpaket an Neitzer’s in Crefeld ab, das 3 Kohlköpfe und
Bohnen enthielt. Wir kommen uns schon wie „Großbauern“ vor. Ich habe
mir berechnet, daß für uns, reichlich gerechnet, 6 ar Gemüse
und 6 ar Obstland völlig ausreichend sein würden, falls wir nicht
noch unseren ganzen Kartoffelbedarf auch selbst bauen wollen. Mit Wiese
und etwas Ziergarten einschließlich bequemen Hauses wäre also
1 Morgen Land hinreichend. Das schwebt mir als Lebensschlußziel vor.
Nun, auch das wird zu erreichen sein. – Wenig befriedigt war ich heute
morgen vom (3. und wohl letzten) Honigschleudern. Aus sehr vielen Waben
gab es wohl knapp 15 M (muß wohl Pfd heißen) (so daß
wir an 90 Pfd. Honigernte im ganzen zu verzeichnen hätten). Es machte
uns große Freude, an Mutter Reitmeister, die noch ziemlich schwach
von einer schnell und anscheinend gut überstandenen Lungen- und Rippenfellentzündung
in Bonn liegt, einige Honiggläser wohlgefüllt zusenden zu können.
– Mancherlei Aufregung verursacht die nunmehr durch Assessor (Scherer)
als Tatsache festgestellte, in ca 3 Wochen zu erwartende erneute Musterung
aller Wehrpflichtigen, angeblich mit Ausnahme der D-U-Leute (Dauernd Untauglichen).
Ich würde also nichts damit zu tun haben. Bleibt abzuwarten. – Walter
Forstmann (Forstmann, Walter) ist glücklich wieder von einer großen
U-boot-Ausfahrt heim und in Urlaub gekommen. Auch an der afrikanischen
Küste soll er gewesen sein und der Kaiser neben eine Stelle seines
Berichtes „bravo“ geschrieben haben. Jedenfalls hat er den Pour le merite
verliehen bekommen, und die Familie ist nicht wenig stolz darauf. Onkel
Dietrich (Brügelmann, Dietrich) hat ihn als
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Paradepferd natürlich auch zur Ausstellungseröffnung nach
Cöln geladen und dort werde ich ihn vielleicht zu sehen bekommen,
was mir großen Spaß machen würde. Heute bekam ich Bescheid
vom Landrat, daß der Kreis die Reisekosten ersetzt und vom Landgerichtspräsidenten
Urlaub vom 20. - 27. (ich hatte nur vom 21. - 26. gesprochen) und so werde
ich Samstag nach Bonn und Sonntag nach Cöln segeln zur Tagung des
„Kongresses für Kriegsbeschädigten-Fürsorge“ mir großer
Ausstellung in Onkel Brügelmanns neuer großer Strumpffabrik.
= Ununterbrochen dröhnt seit gestern mittag das eintönige Geräusch
der Dampfdreschmaschine, die unter der Brücke am Hospital Roggen drischt.
Den zahlreichen Sommergästen im Hotel Gassen gewiß eine wenn
nicht liebliche, so doch recht eindringliche Musik. = Täglich wird
nicht nur geerntet, sondern auch neugepflanzt: so gestern Spinat gesät
und heute vielleicht noch einmal desgleichen. – Heute morgen hatte ich
mit einem Trierer Baurat (= Bau-Mandarin hätte der selige Reichensperger
gesagt) Besichtigung der Dienstgebäude. Über sein verdutztes
Gesicht freue ich mich jetzt noch, das er machte, als ich ihm vorschlug,
für den Gerichtsdiener einen – Kuhstall! bauen zu lassen. Erst die
Feststellung, daß bereits ein Schweinestall dienstlich vorhanden
sei, brachte ihn wieder einigermaßen zu sich. Friedrich will sich
nämlich gern eine Kuh einstellen und ich unterstütze ihn gern
dabei. Beide Gendarmeriewachtmeister haben hier solchen gebaut erhalten.
Warum nicht auch ein Justizbeamter? Auf die weiteren Schreibereien in der
Sache freue ich mich schon diebisch.
Die folgenden Eintragungen sind wieder von Helene Rech verfaßt:
Heute am 22. August ist ein herrlicher Abend nach einigen trüben
regnerischen Tagen. Ich habe
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Kinder mit Frl. nach Hause geschickt und genieße die herrliche
Sonnenbeleuchtung mit Genuß auf dem Liegestuhl. Tante Julchen und
Onkel Gustav Forstmann dankten für den Glückwunsch zu Walters
„pour le merite“. Er hat 45 Tage Urlaub. Matthias schreibt gute Nachrichten
von Bonn über Mama (Reitmeister, Helene). Wahrscheinlich entschließt
sich Mutter Rech (Rech, Anna Maria) und kommt mit Matthias hierher, das
wäre fein! In der Bachstraße 60 herrscht allerdings Einquartierung
durch Leny (Rech, Leny) mit Horst (Rech, Horst) und Wärterin.
Leny erwartet N° 2 (Rech, Jan Gerrit) und soll sich deshalb etwas ausspannen
in Bonn. Die Kölnische, General Anzeiger von Bonn und selbst die Bernkasteler
bringt Artikel über Walter Forstmann. (Ausschnitte sind eingeklebt.)
Außer 4 Kapitänleutnants ist er jetzt der 5. der den hohen Orden
bekommen hat. Mama freut sich sehr über Matthias, sie findet ihn gut
aussehend. Willy (Reitmeister, Willi) sähe dagegen schlecht aus und
hätte zu viel Arbeit und Ärger in seinem Werk. Er hätte
eine Ausspannung unbedingt nötig gehabt. Tante Henriette (Neitzer,
Henriette), der wir Gemüse schickten, schreibt, von Alfred (Neitzer,
Alfred) hörten sie, daß ungeheuer viel Munition bei ihnen aufgestapelt
würde, alles deute auf einen Winterfeldzug. Karl Kimmler schreibt
ziemlich traurig aus der französischen Gefangenschaft. Zwei nutzlose
Jahre lägen hinter ihm. Am 25. August 14 wurde er in Gebweiler als
Geisel gefangen genommen.
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Jetzt schreibt wieder Matthias Rech:
1. September 1916. Es regnet neue Kriegserklärungen: Italien an
uns, Rumänien an Österreich, wir an Rumänien, die Bulgaren
und Türken an diese u.s.fort!– Scherer, zum 5. ds. nach Trier zum
Inf.Reg. 69 einberufen, macht mich nervös durch seine übermäßige
Nervosität. Arbeit in Hülle und Fülle; dazu meine Mutter
(Rech, Anna Maria), von Bonn mitgebracht hier. Kaum Zeit, sich gehörig
auszuruhen, viel weniger seine Eindrücke zu verarbeiten. –
6. Sept. 16. An der Somme ist abermals ein heftiger Angriff der Engländer
und Franzosen entbrannt. Die Rumänen marschieren nach Siebenbürgen,
die Bulgaren nach Rumänien. In Griechenland zettelten die Engländer
eine Revolution an und der Kriegsbeitritt der „edlen“ Griechen gegen uns
dürfte wohl bald erfolgen. London wurde mehrfach „zeppeliniert“, leider
stürzte ein Luftschiff dabei im Feuer ab. – Herta lag 2 Tage mit Fieber
zu Bett, heute wieder fieberfrei und besser. Helene wird mit meiner Mutter,
die nun schon seit Montag über 8 Tage hier ist, morgen nach Bonn reisen.
Gerichtsdiener Friedrich und Assessor Scherer, die beide einberufen waren,
standen gestern einen Tag in Trier herum, wurden abermals untersucht und
als Beamte schließlich ohne weiters wieder umgeschickt. Friedrich
hatte man zur Kavallerie nehmen wollen, schließlich aber wieder als
Inf. G(arnisonsdienstfähig) geschrieben, Scherer hingegen ist diesmal
„u“, welches Geheimzeichen niemand mit Sicherheit zu erklären wußte.
Ich nahm die Gelegenheit der allseitig
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wieder stark belebten Arbeitsfreude wahr und gab mir für heute
Urlaub. Ich konnte so bei prächtigem Sonnenschein heute morgen mit
Mama und Mariannchen der Mosel entlang zum Garten spazieren. Die letzten
Tage war es trübe und hin und wieder regnerisch. Trotzdem waren wir
täglich aus. Meine Mutter hat sehr schöne Tage hier erlebt. Sonntag
nachmittag saßen wir in warmer Sonne sehr nett auf Schoemann’s Terrasse.
Mama wird den ganzen Winter noch von den vielfältigen Eindrücken
hier zu erzählen haben. Vor allem imponieren ihr die vielen hohen
grünen Berge und der reiche Weinbau. Gestern nachmittag besahen wir
nur das Geburtshaus des Nikolaus Cusanus am Gestade. Da wir mit Sicherheit
noch reinen Bienenzucker bekommen werden, bestellte ich mir mit Scheidter
(der Krankenkassenrendanten, der neuerdings auch Bienen züchtet) ein
nacktes Heidbienenvolk und gedenke es mit 15 Pfd. Zucker aufzufüttern.
Im Übrigen bin ich jetzt mit dem Füttern im Gange. Von den langen
Kürbissen (Cococelle von Tripolis) schnitt ich gestern und heute 5
schöne Früchte ab, die den Winter über ausreifen können.
Herta verlangte gestern, als sie sonst nichts essen wollte, „eingemachte
Kürbisse“. – Am linken Ohr habe ich einen stark eiternden Karbunkel,
der mir nachts beim Liegen lästig ist. Helene, so hoffe ich, werden
die Tage in Bonn gut tun, wenn sie auch Mutter Rr. (Reitmeister, Helene)
vermutlich noch sehr schwach antreffen wird. An Kappes, Frühkartoffeln,
Möhren, Bohnen und roten Beeten haben wir fortlaufend schöne
Ernte.
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Nun ein wenig von den Kölner Eindrücken. Um gleich mit dem
Schluß anzufangen:
Am Samstag (27. Aug.) hat ich einen freien Morgen und benutzte ihn
zu einem erquickenden zweck- und ziellosen Bummel durch das alte hillige
Cöln. Ich besuchte Groß St. Martin und St. Aposteln, besah mir
den seltsamen festen, fast römisch - antiken Neubau Tietz an der Schildergasse,
flog auf dem Neumarkt vor Wind fast fort, fand in einer alten Gasse einen
dreifüßigen Schusteramboß, anderswo 1 Pfd. Karamellen,
am alten Markt bei Gebrüder Sinn weiche Kamelhaarwolle (noch „reine
Friedensware“) zu 1,85 die 100 gr = 1 Strang erstehenswert und schleppte
alle diese Sachen zum Portier in die Mühlengasse, von wo ich ein Frei-Frachtstück
expediert erhalten soll. Mit Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich)
wurde dann noch eine Anfuhr riesiger Steinzeug- und Zinnachttöpfe
sowie die große Küche für Angestellte und Arbeiter besichtigt.
Auch hier fand ich, wie einige Tage zuvor in der großen Messenküche
am Klingelpütz ein vorzügliches Essen. Nachmittags machte ich
ein Postpaket mit Anzug und Wäsche nach Bernkastel fertig und ruhte
mich im Hinblick auf das Kommende gründlich aus. Halt: Vor Tisch gings
mit Onkel D. noch zu Tante Klara (Brügelmann, Clara, geb. Wirth, Frau
Albert B.), die im großen Kreise ihrer sämtlichen Kinder ect.
ihren 50. Geburtstag feierte. Ich lernte den Schwiegersohn, Dr. Partenheimer
dort kennen, auch das kleine Enkelmädchen, sein und der Martha kleines
Töcherchen. Es waren auch sonst noch eine Reihe Leute dort und der
Radau daher nicht gering. Tante Klara muß tüchtige Vorräte
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haben. Man spürte an nichts im geringsten Mangel. Onkel Albert
(Brügelmann, Albert) hat jetzt riesig zu tun, u. a. auch mit dem Druck
der mannichfachen Lebensmittelbezugskarten. Ein junger Kaiser, ehedem Corpsstudent,
aß mittags mit bei Onkel D. und entpuppte sich als ein recht angenehmer
junger Mann, der im Kriege bei dem 44. Trierer Art. Reg. aktiver Leutnant
mit reichlicher Vorpatentierung gewesen ist. Nach Kaffee brachte ich mit
Kurt (Brügelmann, Kurt) noch die beiden netten und bescheidenen Lucas-Töchter
aus Elberfeld zur Bahn, beide künftige Schwägerinnen von Werner
(Brügelmann, Werner). Sie hatten einen recht einfachen Handkoffer
von „Großmutter Lucas“ und eine alte blaue Hutschachtel mit und fuhren
hübsch III. Klasse (Margarete 11 und Irma 16/17 Jahre alt). Dann ging
ich Onkel D. (Brügelmann, Dietrich) in der Mühlengasse abholen
und wir trafen an der Rheinuferbahn mit Tante Emma (Brügelmann, Emma)
und Kurt zusammen und holten so den mit „Pour le Mérite“ geschmückten
Uboot - Vetter Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ab, der mit seinen
Eltern ankam. Leider regnete es bei der Ankunft stark und wir mußten
uns eine längere Weile unter einen Brückenbogen flüchten.
Walter war glattrasiert, dunkelbraun gebrannt, ziemlich mager mit ungemein
hart und scharf modellierten Gesichtszügen, zu denen ein ins Weite
gerichteter fester und etwas starrer Ausdruck der Augen gut paßte.
Er hielt sich vorzüglich und trug seine Ehrenzeichen mit Stolz. Dabei
war er ganz der bescheidene und ruhige Mensch wie früher. Er wurde
natürlich schon dort bald erkannt und von allen Seiten besehen, doch
ohne das dies lästig wurde. Es war eben eine neue „Woche“ mit seinem
(freilich recht unähnlichen Bild mit Schnurr- und Kinnbart und jüngeren
weicheren Zügen) Bild erschienen und alle Zeitungen brachten Artikel
(Solche sind eingeklebt)
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über ihn. Gleich brachte auch ein Buchverkäufer diese Woche,
in der übrigens noch ein 2. „Pour le Mérite“ - Mann, der Fliegerleutnant
Frankl (von jüdischer Abstammung) zu sehen war. (Nb. Bölke schoß
gestern sein 20. Flugzeug ab!) Endlich hatte Onkel D. ein Auto erwischt,
Kurt und ich gingen zur Elektrischen und wir trafen uns später in
der Ausstellung wieder. Auf dem Heimweg gingen Onkel D. und ich mit dem
„Jubilar“ zu Onkel D.’s Stammtisch „Laube“, wo die meisten Herren Walter
bereits kannten. Er erzählte dort einiges recht Interessante: Wie
man nach erfolgtem Anruf den angerufenen Dampfer unausgesetzt scharf beobachten
müsse, um an seinem ganzen Gehaben, seinem Manövern und schließlich
auch an dem Aufschlag herübergesandter Geschosse beurteilen zu können,
mit welchem Kaliber er ausgerüstet ist und ob man sich mit ihm in
ein weiteres Gefecht einläßt oder abdreht und untertaucht. Vom
Stammtisch brachte uns das Auto eben rechtzeitig zum recht soliden und
festlichen Abendesssen, an dem auch der junge Kaiser, Max Brügelmann’s
Frau Helene (Leny genannt [Tschirnt]) und Änne (Brügelmann, Änne)
– auch Frau junior (= Wilhelm Br. jr.) genannt, teilnahmen. Wir aßen
ganz vorzüglich, u. a. einen riesigen (Dosen) Schinken, frisch, an
dem von Fleischnot nichts zu spüren war. Walter, „der Tagesheld“ gab
wiederum allerlei zum Besten, zeigte u. a. auch einige seiner sonstigen
Orden. Angelegt trug er nur das Eiserne Kreuz I. Klasse, den Pour le Mérite
(zum „Heldenhals“ heraus, wie er sagte) und den Hohenzollern Hausorden
mit Schwertern. Er zeigte einen sehr schön gearbeiteten österreichischen
Orden der eisernen Krone, den eisernen
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Halbmond, den er sich der sehr schlechten Ausführung des überreichten
Stückes (wegen) in besserer Ausführung auf eigene Kosten (44
M) hatte neufertigen lassen sowie einen österreichischen Verdienstorden,
den nur Offiziere im Felde erhalten. Da er außerdem aus Friedenszeiten
noch außer der Rettungsmedaille am Bande noch allerlei Orden besitzt,
so kann er sich schon putzen. In der Marine hat er – von den Admiralen
abgesehen – nur 4 Vormänner im Pour le Mérite: Weddigen, Hersing
und 2 andere. – Nach dem Essen, bei dem namentlich Kurt, der tüchtige
Tertianer sich fast übernahm, erholten wir uns im Herrenzimmer etwas,
ich brachte einige Knittelverse im Gästebuch zu Papier, die alle unterschrieben,
(auf einem Zettel eingefügt):
„Der Held“
Wie erhebend ists und schön
einen Ubootsmann zu sehn.
Da derselbe Kommandant,
Man auch tief Respekt empfand.
Wer ihn gar als Neffen grüßt,
Fühlt sein Dasein stark versüßt.
Erquickend ists bei jedem Wetter,
Spricht man von seinem Uboot-Vetter
Erzählt man seine großen Taten
So kann man außer sich geraten.
Doch alle Grenzen überschritt
Der Jubel ob des „Pour le mérite“
Nun birst vor Stolz ein jedermann
Der sich ihm irgend nahen kann.
Es strömt herbei in eilgem Lauf
Der Familie großer Hauf.
Ein jeder will für sich ihn haben,
Sie hacken ein auf ihn wie Raben.
Beschützt’ ihn nicht die treue Mutter
Er wär zerdrückt zu Milch und Butter.
So ist er uns noch glücklich da.
Hurrah!
und Walter zeigte manche bemerkenswerte Photobilder, auf denen man torpedierte Dampfer versinken sah. Er erzählte ganz Amüsantes von seinem diplomatischen Verkehr mit nordafrikanischen Araberscheichs, denen er Türken und Geschenke brachten. Über die militärische Lage in Tripolis, Senussen ect. sprach er sich nicht aus. Zum Angriff auf den Suez- Kanal hätte man noch 1 - 1 ½ jährige Ausbildung der rückwärtigen Verbindungen durch Sinai, Syrien und Kleinasien nötig. Von den Schwierigkeiten dort mache man sich nur einen sehr schwachen Begriff. – Allmählich fanden sich noch Albert Brügelmann (Brügelmann, Albert) mit Familie, Gustav Br. (Brügelmann, Gustav) mit Frau ect. ein, so daß wir schließlich wieder zu etwa 18 Leuten im stattlich getäfelten Eßzimmer hinter großen Gläsern mit Sekt und Pfirsichen saßen. Von Onkel A. gewaltsam dazu gepreßt, mußte ich eine völlig unbedachte Rede halten
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und ließ den „Heldenvetter“ hochleben. Bald redeten noch mehrere.
Es gab einen soliden Suff bis Mitternacht, wo Walter von Onkel D. nach
Abschied von seinen Eltern zur Bahn gebracht wurde. Er hatte nach Tisch
von Onkel D. und Tante Emma ein prächtiges Silbertablett mit eingravierter
Widmung geschenkt erhalten, das ich tags zuvor bei „Goldschmidt“ mit hatte
aussuchen helfen. Um 1 Uhr gingen wir zu Bett und ich verabschiedete mich
bereits von allen, weil ich Sonntag früh nach Bonn zurückfuhr.
– Dies hatte ich bis 4 Uhr glücklich niedergekritzelt, da kam ½
5 zu Hause eine Postkarte von Walter, die ich zum Andenken hier einfüge.
7. Sept. 1916. Heute früh ist Helene mit meiner Mutter (Rech,
Anna Maria) nach Bonn gereist; Assessor Scherer hatte auf dem Amt bereits
meine Sachen in Angriff genommen, so daß ich jetzt bequem Zeit habe.
Herta ist auf, hat allmählich wieder Hunger, muß aber noch das
Zimmer hüten. Mir geht es ebenso, da der Hals noch immer recht rauh
und kitzlich, das Wetter draußen aber wenig freundlich ist. –
Am Freitag, den 25. August, war ich nach den Gürzenich-Vorträgen
gegen 12 Uhr Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) in der Mühlengasse
abholen gegangen und hatte auch Tante Emma dort angetroffen. Es wurde da
hübsche silberne Tablett für Walter F. gekauft und die Widmung
darauf bestellt. (Kostete an 190 M) Nach Tisch rief „Frau junior“, die
schon früher nach mir telefonisch gefragt hatte, mich nochmals an,
und wir verabredeten, daß ich nach dem Nachmittagsvortrag zu ihr
nach Rodenkirchen herausfahren und zu Abend essen sollte. Der Vortrag des
trefflichen Bochumer Lazarettarztes war
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ebenso wie die Vorführung seiner Prothesenträger in Naturwaren
sehr fesselnd, aber schließlich waren es 740 und erst 820 konnte
ich mich bei Änne (Brügelmann, Änne) melden. Das hübsche
kleine Wohnhaus liegt sehr luftig am Rhein, weidiges Ufer und schöne
Fernsicht. Nur die Schnaken belästigten ein wenig. Sonst war es wunderschön
dort. Mit einem ausgiebigen Gemüsegarten möchte ich schon gerne
so draußen wohnen. Wir unterhielten uns vorzüglich. Leider waren
die Kinder schon zu Bett und so sah ich sie nicht. Änne zeigt einen
gut entwickelten Geschmack, hatte einen recht farbigen, aber wohltönenden
neuen Salon und eine Reihe angenehm auffallender alter Steingutstücke,
die mit Geschick im Eßzimmer verteilt, diesem eine erfreuliche und
etwas persönliche Note geben. Sehr im Gegensatz zu den technisch vollendeten,
im spät Louis XVI Stil gehaltenen neuen Saloneinrichtung von Tante
Emma (Brügelmann, Emma), in der ein mit einer verdeckten elektrischen
Birne zu beleuchtendes Nippesschränkchen einen leisen Stich ins Vornehm
- Kitschige gab. Änne hingegen hatte einen solchen Schrank in rotem
Lackschliff mit handbreitem schwarzen Holzschnitzwerk, der recht geschmackvoll
und erfreulich war und in dem auch wenige gute Sachen zu sehen waren. Unter
diesen war das beste ein altes Notiz - Taschenbuch ihres Vaters mit einer
großen Reihe zarter Portraitskizzen in Blei in jener Steindruckart,
wie sie bis in die 60er und 70er Jahre vorherrschte. Ein Umschlag darum
zeigte eine feine alte
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Perlenstickerei ihrer Mutter. Mir kam der Gedanke, ob gerade durch
die starke rote Farbe das hübsche Möbel einem nach 15 - 20 Jahren
nicht etwas schal vorkommen wird. Durch das angenehme Plaudern im Garten
nach Tisch versäumte ich die Elektrische, hatte aber dadurch das Glück,
vom Dom ab mit Walter Gerhardt und seiner Frau zu sprechen. Er kommt, wie
mir am Sonntag zuvor schon seine Mutter angedeutet hat, nun bestimmt nach
Hönnigen zur Leitung eines Werkes, das Ersatzmetall für Zünder
ect. anfertigt. Bis jetzt war er in der Garnison Cöln meist als Gerichtsoffizier
und ähnliches beschäftigt. Als ich bei Onkel D. gegen 11 Uhr
eintraf, war schon alles zu Bett.
II. 8. Sept. 16. Gestern blieb ich Vorsichts halber den ganzen Tag
nach kurzem Amtsbesuch zu Hause. Dabei wurde mit Hülfe einer Tabelle
das kleine Anschreibebüchlein bis zum 31.XII.1920 durchkalendriert.
Wie oft habe ich bei weitentfernten Tagen denken müssen: Was mag bis
dahin alles geschehen sein und was sich alles verändert haben. Unmöglich
aber wird der Weltkrieg diesen Kalender überdauern. (?) Das Abendblatt
brachte eine erfreuliche Siegesmeldung und heute morgen sah ich sogar beim
Kaufmann Astor die Fahne herausgesteckt. Im Hause ist es, seit Mama und
Helene zusammen weg sind, ordentlich leer und so sehr viel ruhiger geworden.
Gestern machten die Mädchen nochmals Kartoffeln auf dem Felde aus.
Heute verkaufte ich –erstmals!– 5 Pfd. Honig (á 1,80) zu 9 M an
Krings, womit 3 Zentner Küchenkohlen bezahlt waren und ich noch 4,20
herausbekam. Vorgestern beantwortete ich eine Frage des Bezirkskommandos
I in Trier dahin, daß der Referendar Rud. Koch nach seinem außerdienstlichen
Verhalten und den Verhältnissen seiner Familie zur Offiziersbeförderung
geeignet sei. Seltsam: würde ich einmal
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berufen, so könnte ich leicht als Gemeiner zu ihm kommen, den
ich mit zum Offizier habe befördern helfen. Unser Sekretär Laufenberg
war kürzlich hier in Urlaub, recht mager. Freilich war er auch früher
keineswegs dick. Scherer hatte wieder eine Alarm-nachricht über ihn:
Er wöge nur 104 Pfd käme jetzt von Dietz zur Carthause in Coblenz
und – alsbald zur Front. Das glaube ich noch nicht (s. unten). = Seitdem
für die Hauspflaumen ein gesetzlicher Höchstpreis von 10 M pro
50 kg festgesetzt ist, sind keine mehr zu haben.
9.9.16. Eben höre ich, daß dem Baumeister Meyer aus Graach,
der seit langen Jahren bei Frau Liell in Diensten steht, am 1. Sept. 16
in den Karpathen ein Sohn gefallen ist. Wo das deutsche Blut nicht überall
fließen muß! Helene schreibt von Bonn, daß ihre Mutter
(Reitmeister, Helene) noch sehr schonungsbedürftig sei. Wie ich es
mir wohl dachte.–
13.9.16. Mittlerweile ist auch schon Silistria gefallen und wer weiß,
ob nicht Deutsche und Bulgaren unter Mackensen heute schon über die
Donau sind. In Bukarest soll große Bestürzung sein. Bei uns
ist der Mannschaftsbedarf anscheinend sehr dringend. Sekretär Laufenberg
ist nach 5-6 Wochen Ausbildungszeit schon nach dem Westen ins Feld gerückt;
er soll 2 x scharfe Schießübung gehabt haben. Brinckmann (mein
tüchtiger Büro-Assistent und Feld-Lt.), der kurz auf Urlaub hier
war und telegrafisch zurückgerufen wurde: einige 30 Landsturmbataillone
seien nach Rußland (Galizien) gezogen worden und dort alsbald ins
Gefecht gekommen. Ihr Bataillon bestehe längst (nicht) nur aus
den gedienten alten Landstürmern, sondern meist kaum ausgebildeten,
ungedienten Landsturmleuten, größtenteils garnisonsdienstfähigen.
– Wann werden unsere Extrareserven erschöpft sein? || Heute ist ein
trüber kühl feuchter
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sehr melancholischer Tag. Lisbeth Macke (Erdmann-Macke, Elisabeth)
hat sich mit einem Lothar Erdmann, Leutnant im Felde, kriegsvermählt.
August Macke (Macke, August) ist nun 2 Jahre tot. Das Leben behält
Recht. Den Kindern, namentlich dem älteren, tut die erziehende Hand
eines Vaters gut. Ich werde ihr Glück wünschen. –
Helene will Montag wiederkommen, Dienstag sollen wir dann Hertas 6.
Geburtstag feiern (5 Jahre alt). Gestern war sie mit mir in Machern bei
Grach und in Wehlen bei Hauth. Recht ermüdet kam sie um 9 nach Hause,
ist heute aber sehr munter danach. Mama (Reitmeister, Helene) geht es besser,
jetzt werden sie wohl endlich in Hersel sein.– An die Ausstellung für
Kriegsbeschädigten-Fürsorge in Cöln denke ich nur noch mit
gemischten Gefühlen. Was ich tatsächlich hinzugelernt habe, ist:
Die „Kellerhand“ für armamputierte Landwirte mit 3 eisernen Fingern
und 2fach geschlungener Lederschlaufe und – wie eine Schützengrabenanlage
aussieht. Im übrigen gab es (eine) Menge für den Chirurgen, Orthopäden
und Hygieniker zu sehen, was teilweise auch dem Laienpublikum einigermaßen
mundgerecht gemacht war. Aus Papier habe ich nicht nur recht stark gefertigte
Garne, sondern auch sehr solide gewebte Treibriemen, in der Mühlengasse
auch einen recht zuverlässig aussehenden blaugefärbten Arbeitsrock
gesehen. – Auf dem Kongreß habe ich eine Menge Vorträge gehört,
die ich ebenso hätte ungehört sein lassen können. Im Flur
des Gürzenich hatte ich durch eine kurze Unterhaltung mit dem in Hamborn
in gleicher Sache beschäftigten Herrn eine Menge praktischer Fingerzeige.
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Ein von der Stadt Cöln veranstalteter Begrüßungsabend
im Gürzenich war recht imposant. Man sah da allerlei Leute. Onkel
Dietrich war mit, wir saßen mit einem Oberstabsarzt Schmick, Bruder
der „Frau junior“ einem Korpsarzt und einem jungen Dr. med Savels zusammen.
Letzterer kannte Johannes in Brüssel, wo er auch arbeitete.
Heute abend beglückwünschte ich Lisbeth Macke (Erdmann-Macke,
Elisabeth) zu ihrer Kriegstrauung mit Lothar Erdmann (Erdmann, Lothar),
morgen Werner Brügelmann (Brügelmann, Werner) zur gleichen mit
Erna Lukas. (S. unten den eingefügten Text.) Auch gehe ich den alten
Heinz – ein echter Kleinstädter sehr sympatischer Art, der fleißig
bis in seine letzten Wochen im Gärtchen schaffte, mitbeerdigen: das
Leben überwiegt den Tod. Auch giebts morgen neue Brotkarten und Karte
für den II. Einmachzucker. Dazu sind heute abend schon Fische für
morgen mittag, abend und übermorgen Mittag gekommen und sogar 4 Schweine
giebts für diese Woche in die Stadt: „Also üppiges Wohlleben!“
Wegen Butter habe ich aber doch einmal nach Gornhausen geschrieben.
16.9.16. Friedrich, der Gerichtsdiener, bringt heute morgen die angeblich
vom Bürgermeisteramt stammende böse Kunde, daß unser II.
Gerichtsdiener Grohn in Wolhynien gefallen sei. Er war zwar ein dienstwilliger
und auch sonst arbeitbereiter Mensch, mir jedoch im Grunde wenig sympathisch,
wenn ich auch nicht die große Verachtung des Collegen Reinecke gegen
ihn hatte. Ich sehe ihn noch bei der Musterung vor jetzt gerade 1 Jahre;
er wurde gleich für felddienstfähig befunden und etwa im November
eingezogen. – Die Frau mit einigen Kindern wird ihn noch sehr entbehren.
Denn er sorgte sehr gut und sie machte einen wenig haushälterischen
Eindruck.
Zwischen den Seiten eingeklebtes Blättchen:
Den Kriegs- und Eheleuten
Werner Brügelmann und Erna
geb. Lukas ins Stammbuch.
––––––––
Die Lieb’ im Krieg ist alter Brauch.
Es liebten sich Mars und Venus auch.
Jedoch im größten aller Kriege
Mit Aussicht noch auf viele Siege
Tapfer zum Altar zu schreiten
Und ein eigenes Nest bereiten,
Dazu gehört nun – kurz und gut.–
Doch ein ganz besondrer Mut.
Dieser Mut, den Ihr gefunden,
Soll Euch bleiben aller Stunden.
Auch wenn trüb und nebelschwer
Kommt manch böser Tag daher.
Und wenn nach langen Friedenszeiten
Des Kriegs Gedanken uns entgleiten:
In Eurer Enkel froher Runde
Gedenket dann der ernsten Stunde!
Matthias Rech, Doctor iuris utriusque
derzeit Amtsrichter in Berncastel-Cues.
Im September 1916.
Telegrammtext:
Donnerstag, den 14. September 1916
Lukas Elberfeld
Göbenstraße 21
Dem mutigen Kriegsehepaar
Viel Glück auf lange Friedensjahr.
Der Berncastler Amstrichter und Frau Helene.
18 W. á 7 Pf = 1,26 M
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Gestern mittag sprach mich Hugo Thanisch auf dem Heimweg an und wir
kamen auf Wild und Jagd zu sprechen. Schnell wurde eine Treibjagd im Hinterwald
verabredet, zu der wir ½ 2 abmarschierten und –ohne Ergebnis– gegen
9 heimkehrten. Es waren außer uns Paul Th., Jos. Wehr, ein junger
Erz, Kaufmann Thomas und Mager aus Merscheid als Schützen, einige
Jungens als Treiber und eine Menge Hunde mit. Ich bekam 2 x einen Fuchs
zu Gesicht, kam aber nicht zu Schuß. Auf eine Geiß war nicht
zu schießen. Das Köstlichste war der Wald im Frühherbst,
übervoll von Pilzen aller Art. Dazu herrlich klare und weitsichtige
Luft. Es ist mir bei großer Ermüdung anscheinend gut bekommen.
Heute ist es feucht und trüb. Der Landrat hatte geflaggt, Nachfrage
ergab: Der Kaiser hat selbst dem Wolf-Tel.-Büro einen entscheidenden
Sieg Mackensen’s über Rumänen und Russen mitgeteilt. Der kann
große Erfolge haben: Äußersten Falls wird Südrußland
bedroht und die ganze Ostfront kommt ins Wackeln. Sollte es doch noch,
woran so viele glauben, in diesem Jahr zu einem Abschluß kommen?
Ich kann es mir nicht recht denken. –
Eins der seltsamsten Ereignisse ist jetzt im hart bedrängten Griechenland
eingetreten: Das IV. griechische Armeekorps, von den Franzosen und Engländern
von der Verpflegung abgschnitten und vergeblich gedrängt, auf ihrer
Seite zu kämpfen, hat sich mit Waffen und Troß
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(selbst Frauen und Familienanhang ist dabei) uns anvertraut, wird nach
Deutschland gebracht und dort interniert.! Dagegen ist selbst die Konvention
von Tauroggen ein Kinderspiel. Etwas Verworreneres als das heutige Griechenland
kann man sich nicht leicht vorstellen. König und der größere
Teil des Heeres scheint aber entschlossen, allem stand zu halten. – Gegen
die lumpigen Rumänen gehen die Bulgaren wie die Berserker vor.
17.9.16. Heute meldete sich der junge Zirbes aus Gornhausen, dem ich
wegen Butter geschrieben hatte. Wir hatten nämlich schon seit 14 Tagen
keine mehr. Er hatte schon 1 ½ Pfd zu Hause abgeliefert und suchte
mich im Garten auf. Es ist eine Freude, sich mit dem klugen und angenehmen
jungen Menschen zu unterhalten. Er wird Dienstag in 8 Tagen auch wieder
gemustert. Ist eine weitere Zurückstellung möglich, so werde
ich bei ihr gerne behülflich sein. Bringt Helene nun auch noch 1 Pfd
Butter mit, so haben wir diesen vielbegehrten Artikel mal wieder. Es ist
ein stiller warmer Tag heute, an dem man wieder etwas auftaut von den letzten
naß-kalten Tagen. Die Kinder machen nachher mit den Mädchen
einen „Ausflug“ nach Mülheim - Lieser und zurück. Morgen kommt
Helene zurück, worauf wir uns alle sehr freuen. – Aus den „Basler
Nachrichten“, die ich heute von Freund Bruhns erhalte, ist zu ersehen,
daß die Armenier von den Türken systematisch ausgerottet werden.
Es scheinen da auch entsetzliche Greuel zu geschehen. Die Emmenthaler Nachrichten
berichteten schon ähnliches. Es ist schlimm, solche Bundesgenossen
daran nicht hindern zu können.
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18.9. Ein trüber naß-kalter Tag. An der Somme muß
es entsetzlich zugehen. Durch einige Briefe, die mir der alte Heinrich
Kieren III in Graach von seinem seit 3. ds. vermißten 2. Sohn (der
ältere ist gefallen) vorlas, wurde mir das gestern ganz unheimlich
anschaulich. Es ist, so schreibt der junge Mann, der schon allerlei mitgemacht
hat, der reine Menschenmord und heute lese ich in der Kölnischen Zeitung
aus der Feder des Dr. Wegener den gleichen Ausdruck. Ob denn die Engländer
damit wirklich dieses Jahr noch an ein Ende zu kommen gedenken? Ein junger
Dick aus Bonn, der seit dem 18. Aug. vermißt wurde, ist erst am 15.
September als englischer Gefangener gemeldet, ähnlich ein Neffe von
Dr. Astor, namens Eich. Ich schrieb es Kieren gleich zu seiner Beruhigung.
Die Pachtparzelle kann ich auch nächstes Jahr von ihm haben. Das ist
für unsere Versorgung mit Frühkartoffeln und Gemüse sehr
wertvoll. Auch gedenke ich dort nächstes Jahr eine Tomatenhecke anzulegen.
Leider wollte er keinen Raps oder sonstige Ölpflanze bauen, da er
genug Walnüsse hat. Schade. Ich hätte gern mit Ölfrucht
gebaut, am liebsten Schließmohn. Ich muß sehen, hierfür
eine Parzelle zu bekommen, schließlich auch auf dem Cueser Plateau.
Dieserhalb sprach ich gestern abend nach Tisch mit Schönberg. Das
zur Flugzeughalle gehörige Land könnte gut dafür ausgenützt
werden. Kieren bot mir die Hälfte einer neu zu vermessenden Parzelle
an, die ich mir heute morgen ansah. Ich werde sie nicht gut nehmen können,
es ist die, welche der Gärtner Haas schon lange bewirtschaftet und
die er auch wohl sehr nötig hat.
20. September 1916. Trüber, wolkenverhangener Himmel, leiser schwacher
Regen. Ich ruhe im Gartenhäuschen auf dem
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Liegestuhl und glaube – zum erstenmal in diesem Herbst – die fernen
Geschützdonner- Geräusche wieder zu hören. Jetzt sind –zu
Recht?– Äpfel und Pflaumen beschlagnahmt. Trotzdem hoffe ich, von
beiden noch zu bekommen. Frau Pfarrer Kramm schreibt aus Charlottenburg
an Helene einen langen Brief und klagt sehr über die jetzt mal wieder
dort herrschenden Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung. Da wird
sich Dr. Wolf wohl auch wieder bald wegen des Obstes melden. Es gilt für
den einzelnen, zu „hamstern“, um die bösen Übergänge bis
zu einer geregelten Neuverteilung zu überwinden. Ohne Frage wird die
Anspannung der Nahrungsmittel noch stärker werden. Mit Erkleben, der
sehr für gemeinschaftlichen Anbau von Ölfrüchten ist, besahen
Helene und ich uns gestern an der Flugzeughalle Neurodungen. Leider sind
es aber andere Stellen, die noch recht wüst liegen, wo wir ein Los
zu 1 M (!) haben können. Der Feldhüter will sehen, mitten auf
dem Cueser Berg für uns eine Parzelle ausfindig zu machen. Etwas Öl
hoffe ich von einer Deuselbacher Ölmühle jetzt zu bekommen und
sende leere Ölkanne jetzt hin. – Gleich wollen wir versuchen, für
Frau Kramm Birnen ausfindig zu machen. Aufs Obst stürzt sich jetzt
alles. Ob’s mit dem Schweineschlachten etwas wird, will mir fraglich erscheinen.
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21. Sept. 1916. Wir sind anscheinend in eine gewisse Krisis eingetreten.
Was mir nicht gefallen will, ist dieses: Nachdem in den öffentlichen
Anzeigen über die neuerliche Nachmusterung von dieser die D.U. Leute
von 76 und früher ausdrücklich ausgenommen waren, sind sie nunmehr
– angeblich von 76 - 69 – auf telegrafische Anweisung doch zu dieser Nachmusterung
herangezogen worden. Ebenso angeblich die 1898 geborenen. – In Frankreich
scheint man jetzt die Untauglichen zum II. mal nachzumustern und hierzu
wird es dann wohl in einigen Monaten auch bei uns kommen. – Frl. und Herta
sollen heute in Machern 20 Pfd Zwetschen holen. Grach telefonierte mir
heute morgen, daß er mir besonders schöne ausgesucht und bereits
gepackt habe.
23.9. Ehses Geller, unseren kurzsichtigen Referendarius, hat das Bezirkskommando
alsbald wieder zurückgeschickt. Aktuar Wachendorf muß Montag
hier zur Musterung und Amtsrichter Liell soll in Morbach für kriegsverwendungsfähig
erklärt worden sein. Das wäre recht fatal. Am Ende bekämen
wir dann den alten Cornelius Müller von Trarbach wieder nach hier.
27.9.16. Vorgestern überfiel uns abends auf dem Ende unseres Heimwegs
Frau Alf mit der niederdrückenden Meldung, daß Anton Thanisch
an der Somme gefallen sei. Er hat kurz vorher nach Hause in völlig
hoffnungslosem Ton geschrieben: sie ständen mit der Batterie ungedeckt
auf offenem Felde, dem ärgsten Feuer ausgesetzt. Die Champagneschlacht
sei ein leichtes gegen das mörderische Rasen an der Somme. Ich hatte
kurz vorher die Todesanzeige eines Vizefeldwebel Knecht aus dem gleichen
44. Feld. Art. Reg. gelesen. Dieser fiel
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am 18., Thanisch vermutlich am 20/21. Er war von unseren sämtlichen
Mitschülern und einigen 56 Abiturienten gewiß der befähigste
und tüchtigste. Eine glänzende Laufbahn lag noch gewiß
vor ihm. Eben ruft mich RA Schönberg an, der zu Fuß von Wengerohr
nach Hause kommt. Nach ihm ist Thanisch am Samstag, (dem 23.) durch Granatsplitter
in Kopf und Leib sofort tödlich getroffen und am Montag, den 25. begraben
worden. – Schade, daß er in seiner Ehe wohl nicht das gefunden hatte,
was er zu finden hoffen konnte. Wie viele unserer Mitschüler mögen
schon gefallen sein? – Hugo Thanisch hat sich heute bei den 69ern in Trier
als Garnisonsdienstfähiger zu stellen, Reklamation ist befürwortet.
27.9. abends: Frau Alf mausert sich zu einer echten Unglücks-Cassandra:
Heute abend empfing sie mich mit der Nachricht, daß ein Vetter von
Helene, sie meinte Alfred Neitzer (Neitzer, Alfred), gefallen. Ein Granatsplitter
traf ihn tödlich in Oberschenkel und Leib am 16. Sept. 1917 (muß
1916 heißen). Für Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) ist
es eine schwere Sache; für den Vater, Onkel Oskar (Neitzer, Oskar)
muß man Schlimmes befürchten. Es ist ein rasender Mord an der
Somme. An Erbitterung ist der allgemeine Kampf jetzt wohl auf dem Siedepunkt
angelangt. Eine Steigerung erscheint kaum mehr möglich und wer weiß,
was noch kommt. Unsere Zeppeline – zwei gingen kürzlich in England
verloren, von einem wurde die Besatzung gerettet – wüten in grausiger
Weise mit Brandbomben in England. Jetzt waren sie auch in Südengland.
Es ist ganz offenbar ein auf gegenseitige Vernichtung zugespitzter Kampf,
Zwischen den Seiten eingeklebt: Postkarte von Helene Reitmeister an
Helene Rech mit Einzelheiten über den Tod von Alfred Neitzer; außerdem
die 1. Seite der Kölnischen Zeitung vom 25.9.1916.
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zumal zwischen uns und England. Ein etwas komisch gefärbter Zwischenfall
beschließt den Tag: Assessor kommt nach Tisch mit einer Depesche
an, in der ihn der Oberstaatsanwalt, dem er sich mit ausdrücklicher
Ausnahme von Trier und Saarbrücken zur Verfügung gestellt hatte,
sofort nach – Saarbrücken beordert. Nun ist Holland in Not! Dort ist
heidenmäßige Arbeit, schlechte Verpflegung, Briefsperre mit
Zensur, Fliegergefahr und was nicht alles. „Bonn“ hat man ihm als Köder
vorgehalten und jetzt ist er richtig „geleimt“. Dazu ist dort Bezirk des
XXI. Armeekorps, also evtl. Neu- und anders -musterung als hier, wo er
glücklich für fast untauglich gemustert ist. Er erhoffte dabei
bei der Staatsanwaltschaft erhöhten Schutz, da diese ihre Leute in
kräftigster Weise zu reklamieren dringend gezwungen ist. Ich sehe
dem ganzen mit einer Art fröhlichen Behagen zu, werde morgen sofort
Hilfsrichter beantragen, da ich zwecks Vermeidung eines Zusammenbruchs
mit meinen Kräften ökonomisch umzugehen bedacht sein muß.
Scherer aber wird auf alle Fälle versuchen, von Saarbrücken wieder
abzukommen. Auf weiteres bin ich neugierig. – An Onkel Oskar und Tante
Henriette Neitzer schrieben wir gleich heute abend. Er hinterläßt
Frau mit 2 halbwüchsigen Söhnen aus I. Ehe und einem kleinen
Söhnchen von ihm. Böse, böse Zeiten. Eine bezeichnende Nummer
der Kölnischen Zeitung klebe ich hier ein.
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28.9. Paul Thanisch berichtete, daß sie jetzt offizielle Bestätigung
bekommen haben. Hiernach ist Anton Th. am Freitag, 22.9., nachmittags 3
¼ Uhr tötlich getroffen und am Samstag beerdigt worden. Scherer
war heute noch auf dem Gericht, hatte bereits nach Saarbrücken telefoniert.
Er hat einen erkrankten Assessor Lunkenheimer dort zu vertreten. Er ist
ebenso wie Gerichtsdiener Friedrich, 20. Jan. 1917 zurückgestellt.
Von Bruhns kam Karte bereits aus Würzburg. Er hat ein seltsames Gefühl,
mit Frau endlich im deutschen Vaterland zu sein. In Lindau holten sie Dr.
Renner und Frau ab.
30.9.16. Vater Scherer spricht mich sehr bekümmert heute morgen
auf der Brücke an: Kaum ist sein tüchtiger Sohn Bernhard als
„Staatsanwalt“ nach Saarbrücken, so bekommt er gestern nach hier einen
neuen Gestellungsbefehl nach Trier zum 4. Okt.; vermutlich eine Verwechselung
auf Grund einer nicht berichtigten älteren Liste. Bei Gericht ist
genug zu tun, Paul Thanisch helfe ich an einer Zeitungsanzeige der „Arbeiter“,
für Anton und entwerfe heute nachmittag auf dem Liegestuhl dessen
Totenzettel (Der Totenzettel ist in das Tagebuch eingeklebt). Ein seltsames
Gefühl hat man dabei. Den Landrat habe ich gestern mit mehreren Eingaben
bombardiert: Für Dr. Wolf Gartenbesitzbescheinigung zwecks Ausführung
eigenen Obstes (beschlagnahmte Äpfel) nach Düsseldorf, für
Frl. Hedwig Verlängerung der Weizenmehlbezugskarte, für mich
erhöhte Fettkarte und Anfrage wegen Erlaubnis zur Hausschlachtung;
schließlich noch Schreiben an 2. Landsturm Infanterie Bataillon Trier
wegen Unteroffizier Velten als Schreiber bei der Kriegsbeschädigten-Fürsorge.
Zur Zeit herrscht in der Stadt Kartoffelnot. Heute früh wurden solche
schon um 7 Uhr ausgeschellt, um 9 Uhr war schon nichts mehr zu haben. Wir
gaben Sack ab, der hoffentlich Montag nachmittag wohlgefüllt aus dem
Kirchspiel sich hier auf dem Hofe des Hospitals wieder
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einstellt. Heute giebts zur Versorgung bis in den August 1917 Kartoffelbezugsscheine,
1 ½ Pfd pro Kopf und Tag, = 2,7 Zentner pro Monat für uns.
Werden sie wohl schwerlich alle brauchen. Aber wer weiß?
Sonntag, 8. Okt. 1916. Vor Tisch schreibe ich einen Brief an Stabsasrzt
Dr. Lehmann, dessen Adresse –er ist z. Zt. an einem Lazarett in Douai–
ich gesteen von einem jungen Cueser Verwundeten erfuhr, der mir seine Grüße
überbrachte, da kommt Reinecke. Er hat 4 Wochen Urlaub und sieht aus
wie vor einem Jahre. Auf dem Weg zum Amt nach 12 Uhr begegnen mir außer
dem Stadtoberhaupt und Frau Winckler, die sich um ihren Mann an der Somme
sorgt, Sieburg, Felix Schmitz (jetzt wieder Amtsrichter in Bitburg) und
Stolte. Allgemeines Wiedersehen. = Leider sind wir heute nicht, wie beabsichtigt,
nach Commen gekommen. Helene hatte Magenattake und war noch ganz schwach
davon, auch das Wetter zu schlecht. Im Garten ist die reiche Apfelernte
endlich völlig eingebracht. Dr. Wolf hat ca 80 kg in 4 Körben
zugesandt erhalten. Jetzt kommt die Schweine - Frage. Friedrich bemüüht
sich um solches. 1 ½ Zt. geschrotene Gerste wird Mitte dieser Woche
kommen, ebenso 1 Zt. Weißkohl zum Einmachen. Beides von dem netten
Mündel Zirbes in Gornhausen. Er war heute hier, sein Bruder steht
jetzt in den Karpathen gegen die täglich oft 3 x angreifenden Russen.
Er fühlt sich einsam zu Hause und erwartet Einberufung. Ist als 19jähriger
zur Infanterie I gemustert. – Der tüchtige Bürgermeister versprach
mir 3 - 4 Pfund Speck á 4,30 M heute auf der Brücke. Dies ist
Helene sehr gelegen. Im Garten ist ein von einem Untersuchungsgefangenen
aus einer Kiste
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hübsch gezimmerter neuer Kaninchenstall aufgestellt. Der erste
Wurf wird allmählich flügge. Futter ist in Fülle da. Reife
Bohnen haben wir viel an den Stangenbohnen ausgepellt. Vorgestern sprach
Stolte (Leutnant und Compagnieführer Inf. Rg. 65) um ½ 4 bei
mir im Garten vor, hat 3 Wochen Urlaub und sieht gut aus. Er blieb bei
uns zum Thee, fährt morgen zur Frau nach Paderborn. Er liegt bei St.
Mihiel, betonierte, sehr ausgebaute Stellungen in gewachsenem Fels, teilweise
sehr nahe den Franzosen (bis auf 8 m). Er hat vor Verdun große Angriffe
mitgemacht. Thiaumont. = Donnerstag gehe ich mit Refr. Weins nach Morbach,
14 Kriegsbeschädigte zu beraten. Morgen nachmittag mit Sieburg auf
Hasenjagd. – Ich habe mir bei Buchhändler Krebs eine russische Grammatik
zu 90 Pf (Göschen) gekauft und übe jetzt kyrillische Schrift.
10. X. Den Rumänen wird jetzt das ernste Kriegführen beigebracht.
In Siebenbürgen ist eine Heeresgruppe von ihnen durch Falkenhagen
gründlich geschlagen worden; eine andere durch Mackensen in der Dobrudscha.
Ein Versuch der Rumänen, die Donau zu überschreiten und den Bulgaren
in den Rücken zu fallen, ist kläglich gescheitert. Ununterbrochen
höre ich leisen fernen Kanonendonner. – Gegen den Reichskanzler scheint
jetzt Generalsturm geblasen zu werden, selbst die Kölnische Zeitung
bringt einen Artikel: Entweder – oder, und der allwissende Bonner General-Anzeiger
hat schon seinen Nachfolger genannt: Tirpitz mit der Losung: Nieder mit
England. Es wäre keineswegs unmöglich. Ein Uboot unserer Kriegsmarine
war jetzt in Amerika. Der scharfe Uboot-Krieg wird und muß bald kommen.
England, dessen gegenwärtig, scheint sich gewaltig zu verproviantieren.
Es handelt sich darum, daß bewaffnete Handelsschiffe ohne Anruf torpediert
werden. – Der allgemeine Kriegsplan zu Lande scheint dahin zu gehen, von
der Dobrudscha aus den Einbruch in Südrußland zu erzwingen.
10 ½ Milliarden zur 5. Kriegsanleihe gezeichnet. – Reinecke besuchte
ich vor Tisch. Er freut sich stets über seine Wohnung. Der Untersuchungsgefangene
zimmert mir zu Obsthürden ein Gestell mit Schüben, von Reinecke
giebts alte Latten dazu. Gerade fertigt er für Scherer einen Kaninchenstall,
für Friedrich Kinderspielzeug. Mir soll er noch 2ten Stall machen.
Er wird wohl über Freitag bleiben müssen.
11.10. Große Aufregung in N. Amerika: Unsere Uboote wirken jetzt
dort gegen die Engländer. Damit beginnt wohl ein neuer Abschnitt des
Seekriegs. – Unser Schulkamerad Max Müller ist gefallen. (Selbach,
Huicking, Müller, Thanisch sind die mir bekannt gewordenen Kriegsopfer).
Die letzten Tage fühle ich mich recht müde und möchte stets
schlafen. Vermehrter Auswurf scheint auf stärkeren Prozeß in
der Lunge zu deuten. Gottlob kann ich mich jetzt ziemlich schonen. Es ist
ein trüb rauher Herbsttag heute. Gestern wurden die jungen Kaninchen
aus dem zu engen Kasten geholt und in freies Nest im Stall gebracht, wobei
der sachverständige Schreinermeister Scherr half. Wir haben 8 Junge.
Also erster Zuchterfolg für künftige Fleischversorgung! – Ein
Sittenbild: Heute hatte ich in Gegenwart eines der Notzucht angeschuldigten
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russischen Kriegsgefangenen, eines Polen Sedlitzki, Tuchfabrikvorarbeiter
aus Lodsch, eines dto. Dolmetschers Philipp Neugebauer (gleichfalls russischer
Kriegsgefangener) den „Prozeß“-Port aus Cues, dessen Frau und den
Pfarrer Schmitt zu vernehmen. Die Tochter Port hat ein Kind geboren, zu
dem der Pole Vater ist. Er ist heute noch Arbeiter im Hause des Port. Nachher
wir Notzucht behauptet, während es sich ganz einfach um ein Liebesverhältnis
handelt. Vater Port hat sich auch schon gründlich nach den Verhältnissen
seines „Schwiegersohns“ erkundigt.
13.10. Es war ein schöner Tag gestern auf dem rauhen Hunsrück,
über den ein kalter Wind grauen Nebel und formlose Wolken trieb. Im
Hochwaldhof trafen wir mittags und nachher zum Kaffee nach getaner Arbeit
eine gute und höchst unterhaltsame Gesellschaft von 9 Kurgästen;
Schlösser, den Kapitän aus Köln mit Frau dazwischen – die
uns gleich einer Familie aufnahmen. Wir hatten uns schriftlich angesagt
und waren jedenfalls gründlich vorbesprochen worden. Dem Referendar
Weinz machte die Sache großen Spaß trotz seines heftigen Schnupfens.
Bei der Hinfahrt im Auto hatte er höchst unvorsichtig den vom nächtlichen
Zechen erhitzten Kopf unbedeckt durch die frische Höhenluft fahren
lassen und sich mit Frl. Bottler, Gastwirtstochter aus Mülheim gut
angefreundet. Nach Kaffee (wir hatten mittags bei 2 Fleischgängen
und nachmittags bei guter Butter feste eingehauen) zogen wir noch zum „Pater“
Braun und erschwindelten 2 derbe Sauerbratenschnittchen. An einer mitgenommenen
Hälfte hatten die Kinder gestern abend und noch heute morgen ihre
große Freude.
(Eingeklebte Zeitungsausschnitte)
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Herta war unterdessen den Nachmittag über mit Käthchen und
Friedrichs Kindern nach Mülheim gewesen, hatten ein Wägelchen
mitgehabt und 1 ½ Zt. Gerste und 1 Zt. Weißkohl dort geholt,
der von Gornhausen her dort abgesetzt worden war. Helene hatte ein paar
Damen zum Kaffee gehabt.
14.10. College Winckler ist nun auch an der Somme. Vielleicht nicht
mehr Kommandeur seiner Art. Mun. Kolonne, vielleicht Artill. oder Infant.
Hauptmann. Letzteres soll Clemens sein. Die Frau sorgt sich sehr. Der Vater
in Kreuznach wurde jetzt 90 Jahre alt und Winckler konnte den hierzu längst
bewilligten Urlaub nicht antreten.
23.X. Wir hatten einige Nachtfröste, Kürbisse und Tomaten
sind hin, hoffentlich hat es dem Wein nicht allzu viel geschadet. Winckler,
nach Mars la Tour verschoben, ist nun doch in Urlaub und nach Oppenheim
zur Weinlese. An der Somme haben wir jetzt reichlichere schwere Artillerie
und können wirksames Sperrfeuer vor die Angreifer legen. Jedes Feldgeschütz
hat nach Wincklers Mitteilung eine Fläche von 20 m Breite abzustreuen.
In Rumänien geht es anscheinend sehr günstig für uns weiter.
In England beginnt sich die allgemeine Lebensmittelteuerung schärfer
bemerkbar zu machen. – Auf ärztl. Gutachten erhalte ich als Lungenkranker
jetzt wöchentlich 1 Pfd Butter (2,50 M) außerhalb der Butterkarte.
Am meisten freut sich wohl Mariannchen (oder wie sie sagt B’jannchen) darüber,
denn auf Butterbrot ist sie als seltene Delikatesse jetzt besonders versessen.
Heute haben wir nach mehrfachen Bemühungen
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endlich auch Seifenkarten bekommen. Die Kartoffelmenge von 1 ½
Pfd ist auf 1 Pfd pro Tag und Kopf verringert worden und unser Kartoffelbezugsschein
ist auf 28,74 Zentner und heute auf 19,20 Zentner (für 6 Personen
vom 1. Okt. 16 bis 15. Aug. 1917) berichtigt. 12 Zentner haben wir von
Joh. Hermann in Commen, 3 Zentner bringt er wohl diese Woche noch, den
Rest besorgt uns die Stadt oder Bürgermeister Reidenbach von Bernkastel-Land
Naturgemäß ißt jedermann jetzt viel mehr Kartoffeln und
es gilt, sich sein Quantum zu sichern. Mit Faber will ich zusammen 2 Schweine
6 Wochen zur Hausschlachtung halten, dafür sind Futterkartoffeln,
Gerste und Gerstenschrot schon im Gericht eingelagert. Hoffentlich bekommen
wir die Schweine dieser Tage, sonst kann die Geschichte am Ende noch Essig
werden, da neuerdings der Ansturm auf die fast schlachtreifen Schweine
für die 6 Wochen - Haltung und Hausschlachtung ins Uferlose gewachsen
ist. Ich sitze mit einer hustenden Halserkältung seit 2 Tagen daheim
in Stubenhaft und bastle alles mögliche. Lese dazu die ganz ungewöhnlich
guten Schilderungen in Kügelgens Erinnerungen eines alten Mannes.
Dieses prächtige Buch hatte ich seltsamer Weise bis heute noch nie
gelesen. Wer doch auch so seine Erlebnisse schildern könnte! Es steckt
eine künstlerische Kraft darin.
Zwischen den Seiten eingeklebt ist ein Zeitungsausschnitt mit dem Bildbericht von der „Größten Explosion der Welt“
Seite 191
24.X.16. Ein hervorragender Tagesbericht von gestern: Während
an der Somme der Riesengeschützkampf tobt, nehmen die unsrigen Bulgaren
die Stellungen und Bahnlinie, auch die Stadt Constanza in der Dobrutscha.
Damit ist Rumänien ohne Bahn zur See, und große Vorräte,
auch wohl (dringend benötigte) Ölquellen in unserer Hand. Anscheinend
schieben die Rumänen bald gegen die Karpathen, bald gegen die Donau
ihre Truppen ziemlich ratlos hin und her und sofort erfolgt von unserer
Seite ein prompter Einbruch. Hoffentlich gelangt das reiche Land noch vor
Wintersbeginn in unsere Hand. Der Herbst soll dort lang und mild sein.
– Mit Helene und den Kindern ging ich vor Tisch bei milder Sonne (das Wetter
ist wieder zur Wärme umgeschlagen) zum Garten und auf der Wehlener
Straße spazieren. Marianne ist ein allerliebster Wildfang, unermüdlich
in drolligen Einfällen. – Bei Gericht wird heute der Schweinestall
gebaut, und Samstag sollen die Schweine kommen. – Literarisch glaube ich
folgendes zu bemerken: Die Kriegslyrik verklingt allgemach. Vielleicht
kommt bald der eigentliche Kriegsdichter, der alles zusammenfassend in
irgendeiner Form künstlerisch meistern kann. Neuerdings macht sich
allenthalben in feinerem und gröberem Kaliber erotisch angehauchte
Schriftstellerei wieder breiter. Aktalbums werden in den Wochenschriften
nicht zu knapp angeboten. Zeitungsromane haben wieder mehr Liebesgeschichten
zum Gegenstande u.s.w. Ist es bewußte oder unbewußte Rückwirkung
gegen das große Männersterben? Im einzelnen könnte ich
die vorstehenden Behauptungen nicht genauestens nachweisen, der Gesamteindruck
ist aber wohl schon richtig.
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31. Okt. 1916. Referendar Weins verabschiedet sich heute. Er kommt
ans Amtsgericht Berlin-Pankow und lernt am orientalischen Seminar Türkisch.
Wer weiß wohin er noch kommt. – Bölke, der Fliegerhauptmann
und Held des Volkes, der seinen 40. Gegner bezwang, ist verunglückt.
Es schmerzt einen jeden. Er war 1891 geboren. – Samstag sind dann endlich
auch die langersehnten Schweine, zwei prächtige Speckträger in
dem neuhergerichteten Gerichts-Schweinestall eingetroffen. Gottlob fressen
sie tüchtig und scheinen seuchenfrei. Die Schweineseuche aber grassiert
bei Gartenbauinspektor Neumann, Pfarrer Jänicke, Kaufleuten Koch und
Lord u.s.w. Es war übrigens die höchste Zeit, denn die Einstellung
auf 6 Wochen zur Hausschlachterei hat derart überhand genommen, daß
das preußische Fleischamt den freihändigen Verkauf von Schweinen
von mehr als 120 Pfd an Private verbot. Gestern hat unsere Käthe ¼
Ztr. Eicheln im Wehlener Wald gesucht. Faber hat Rummeln (=Runkelrüben)
und sonstiges bestellt. Gerste haben wir reichlich, Kartoffeln leidlich.
Wir wiegen die Kartoffeln jetzt täglich, denn es heißt bis zur
nächsten Ernte streng haushalten damit. – Bruder Joseph (Rech, Josef)
schrieb kürzlich und hoffte, am 29. ds. Hauptmann zu werden. Sie hätten
gepackt und erwarteten täglich den Befehl zum Abmarsch, unbekannt,
wohin. Reinecke hielt es mit seinem Urlaub nicht bis zum Ende dieses Monats
aus und verabschiedete sich Sonntag nachmittag ziemlich plötzlich,
nachdem er noch zuvor bei Thanischs eine Einladung zum Abendessen angenommen
hat. – Die im Frieden
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und vor September 1915 als untauglich ausgemusterten werden jetzt abermals
gemustert. Alle eingezogenen Garnisonsdienstfähigen werden, wie man
jetzt allgemein hört, nicht mehr nach ärztlichen Gesichtspunkten,
sondern anscheinend lediglich nach der Bedürfnisregel ins Feld geschickt.
– Wann werden die Doppel- D.U.- leuten abermals gemustert werden? In Frankreich
ist es genauso.
Allerheiligen 1916. Leuchtend klarer Herbsthimmel, milde Sonne wie
im Frühjahr, schimmernde Farben. Vor Tisch mit Helene und seit langem
erstmals mit den Kindern aus. Zum 9. November wieder an 40 aus der Stadt
einberufen, darunter auch Notar Sieburg. Ob man ihn als Einäugigen
nicht wieder heim schickt? Trotz der ernsten und schweren Zeit und bei
allem Mitgefühl mit dem bedauernswerten Armen machte mir heute morgen
eine helle Freude dieser Brief unseres Freundes Bildhauer, eines wegen
Geistesschwäche entmündigten früheren Stadtsekretärs,
eines unermüdlichen Querulanten:
Berncastel, den 31. Okt. 1916
Kgl. Vormundschaftsgericht
Hier
Infolge des von dem dortigen Amtsgerichte unter dem Drucke des Stadtbürgermeisters
Simonis hier begangenen Justizverbrechens, um die nachgewiesenen Meineide,
Hurerei und Verbrechen des letzteren zu unterdrücken, bin ich jeglichen
Erwerbes beraubt. Eine Beseitigung des Justizverbrechens war bislang unmöglich,
da der Staatsanwalt und Richter den Meineiden des p. Simonis Beihülfe
leisten, durch den, mir in so verbrecherischer Weise entzogenen Arbeitsverdienst
befindet sich meine Familie in einer äußersten Notlage. Von
der ihr seitens des meineidigen Simonis gewährten monatlichen Unterstützung
von 20 M können nicht einmal die Huren oder das uneheliche Kind des
p. Simonis leben, geschweige meine Familie.
Ich ersuche daher für den sofortigen standesgemäßen
Unterhalt meiner Familie zu sorgen, andernfalls ist Gegenwärtiges
als Beschwerde im Instanzenzuge Seiner Exzellenz dem Herrn Justizminister
vorzulegen, während ich mir weitere Maßnahmen zur Beseitigung
der dort betriebenen Klassen- und Verbrecherjustiz vorbehalte.
Es liegt außer Zweifel, daß die dortige Stelle infolge
ihres verbrecherischen jeder Rechtsnorm Hohn sprechenden Treibens zum standesgemäßen
Unterhalt meiner Familie eo ipso verpflichtet ist.
Hochachtungsvoll!
Bildhauer, Stadtsekretär
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4. Nov. 1915. Douaumont und Vaux haben die Franzosen wieder, 2 Forts
von Verdun. Die Engländer haben zähneknirschend einen Vorstoß
unserer Torpedoboote durch den Kanal ertragen müssen, wobei den unsrigen
nichts, ihnen aber mancher Schaden geschah. Die U-Deutschland ist zum 2.
mal in Amerika. Norwegen, dessen Handelsflotte von unseren Ubooten stark
ramponiert wird, hat diesen die Küstengewässer verboten. Darob
scharfes Geschrei unsererseits, das in Norwegen Eindruck zu machen scheint.
Im Reichstag trat der 3. neue Kriegsminister auf, diesmal v. Stein, frisch
aus der Sommeschlacht angekommen. – Gestern pflanzten wir 25 Weißkohl
und 25 Wirsingpflanzen, prächtige pikierte und wohlgewachsene Pflanzen.
Hoffentlich
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helfen sie uns im Frühjahr. Es wird dann vermutlich böse
aussehen. Fast alle Websachen sind neuerdings von der Freiliste gestrichen,
also nur noch gegen Bezugschein zu kaufen. Z.B. für ein Taschentuch
ist Bezugschein nötig. – Im Gartenkeller habe ich die eingelagerten
3 Zt. Kartoffeln selbst gründlich gemustert und dabei eine Menge Beschädigte,
etl. Faule und manche Verdächtige ausgemerzt.
6. Nov. 16. Ein neues Königreich Polen! Wie man es lange erwartet.
Das giebt neue Mannschaften. An 2 Millionen wehrfähige Männer
soll es dort noch geben. Wird Rußland bald nachgeben?
7.11. Bruder Joseph (Rech, Josef) schreibt vom 4. ds. daß er
seit einigen Tagen vor Douaumont liege. Heftiges und schweres Artilleriefeuer
dort.
Eingeklebter Feldpostbrief:
Lieber Mathias!
Wir liegen nun schon mehrere Tage vor Douaumont und haben schon mehr
in der kurzen Zeit erlebt, als in de nganzen übrigen Kriegsjahren.
Es wird nur mit 15 - 31,5 ctm Kalieber von beiden Seiten geschossen. Stollen,
5,30 m unter der Erde im Kalkstein werden glatt durchschlagen. Die Wege
stehen ½ m unter Wasser, da sie durch das Ausfahren unter den Chausseegräben
liegen. Vor jedem Wagen geht ein Mann mit einem Stock, der im Wasser nach
Granatlöchern „peilt“, damit die Wagen nicht so oft umschlagen. Wir
hatten schon Tote und Verwundete, ehe wir hier waren. Schunk und Koblenzer
sind auch als Mun.Kol.Führer hier, sie haben es sehr böse, da
alle Wege ständig, tags und nachts unter dem dollsten Feuer liegen.
Trotzdem muß die Munition vor. Sie liegt aber auch überall zerstreut,
abgeworfen, wenn die Kolonne Feuer bekommt oder nicht vorwärts kann.
Man kann 50 - 100 Schuß 21 ctm im Schlamm liegen sehen. Vorgestern
gingen etwa 5 Minuten von uns 1300 Schuß 21 ctm durch eine französische
Granate in die Luft. Das war ein Knall und Splittergezisch. Hoffentlich
kommen wir noch mal aus den Hexenkessel heraus.
Es grüßt Euch alle herzlich
Euer Josef.
8.11.16. Gestern wurde durch öffentliches Ausschellen zum sparsamen
Gebrauch der Kartoffel ermahnt, auch solle man sie mit anderen Feldfrüchten
strecken. Heute be-stellten wir 2 Zt. Erdkohlrabi zu je 2,90 M. Auch probierten
wir eine „Pflanzenfleisch-masse“ (Ersatz für Fleisch) mit gutem Erfolg.
Der Beamtenverein will solche zu 1,25 pro ½ kg liefern.
9.11. Von Mutter Reitmeister, die sich über etwas Rehbraten, den
Helene geschickt, sehr gefreut hat, kam mit einem Paket die böse Nachricht,
daß Walter Forstmanns Frau ernstlich krank ist. Gelegentlich der
Operation wurden Tuberkulosebazillen in der Bauchhöhle festgestellt.
Evtl. soll sie nach Leysin. Ich schrieb sofort an Walter, empfahl Dr. Gerhartz,
Bonn und Frl. Willich’s Pension in Leysin, erbot mich auch, sie selbst
nach dort zu bringen. Hoffentlich teilt sie nicht das
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verhängnisvolle Geschick von Elsbeth Reitmeister. Das Kind, einen
erst einige Monate alten Knaben wollen die alten Forstmanns nach Godesberg
nehmen. – Die Mosel geht lehmgelb und hoch. Die beiden letzten Nächte
konnten Helene und ich kaum Schlaf finden. Es ist, als ob etwas Widriges
in der Luft hinge.
16.XI.16. In einem offenen Briefe an den Reichskanzler verlangt Hindenburg
Fett für die Munitionsarbeiter, darob sind alle Hausschlachter und
„Pensionschweinebesitzer“ tief betrübt und dem ewig neuen und ganz
und gar unvermeidbaren Mittelpunkt des Gespräches wird damit eine
neue Wendung gegeben. Beruhigend wirkt, daß man nicht etwa die Hälfte
oder gar das ganze Fett, sondern nur einige Prozente wird voraussichtlich
abzugeben haben. So im Kreuznacher Bezirk: 5%. Nun, das tut man schließlich
gern. Ja, während draußen der Krieg tobt, hat man hier schwere
Schweinesorgen. – Aus einem Aktenstück bei Gericht ersah ich gestern,
daß Pfarrer Mörchen, der Biedermann aus Veldenz, eine große
Schrift an das Kriegsernährungsamt abgelassen hat. U.a. wird da auch
der von den Bauern der (Veldenzer) Grafschaft allenthalben erhobene Vorwurf
zur Anzeige gebracht, die Frh. v. Schorlemer’sche Gutsverwaltung habe dort
allenthalben die Gerste (als Hühnerfutter) für 16,50 M (also
2,50 über dem Höchstpreis von 14 Mark) aufkaufen lassen. Das
stimmt, denn unter der gleichen Begründung verlangte mir ein Gornhausener
Mündel das gleiche ab und – ich mußte es zahlen. Ich fühlte
mich als reumütiger Sünder und hoffe nicht angezeigt zu werden.
Wer aber kann wohl
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diese Zeiten überleben, ohne sich einer Gesetzesübertretung
schuldig zu machen? Ha –
Im Gericht habe ich auf dem Flur stets ein schlechtes Gewissen: Es
stinkt dort abscheulich nach dem Schweinestall, trotzdem Faber, der schweinemitbesitzende
Rechnungsrat eifrig die Korridorfenster zur steten Lüftung offen hält.
23. Nov. 1916. Buß- und Bettag, seinem Wesen entsprechend kühl,
trüb und melancholisch. Das seit einigen Tagen namentlich auch nachts
stark hörbare ferne Geschützdonnern war heute nachmittag ein
andauerndes leises Schüttern, das man oft zu vergessen oder zu überhören
trachtet, das einem aber stets durch Mark und Bein geht. – Bruder Johannes
(Rech, Johannes) hat am 17. ds. einen zweiten strammen Kriegsjungen bekommen,
der wohl Jan-Gerrit (Rech, Jan Gerrit) heißen soll. Hoffentlich braucht
er keinen Krieg zu erleben. Der Vater arbeitet z. Zt. am Krankenhaus St.
Gilles in Brüssel. – Helene hat wieder fortgesetzt solche tolle Kieferneiterung,
daß es nicht zum Aushalten ist. Schließlich wird eine goldene
Zahnbrücke abgerissen und der schlimmste Zahn entfernt werden müssen.
– Die Engländer toben immer noch mit Massenangriffen an der Somme
vor und hier und da etwas weiter. Kostete ihnen früher der Kilometer
15000 Mann, so kostet er jetzt bereits 46000 Mann. Es ist ein entsetzliches
Morden. Bruder Josef (Rech, Josef) liegt vor Verdun und sieht von seinem
Fenster aus das 6 ½ km entfernte Douaumont, ein Fort, das wir wieder
haben räumen müssen, fortgesetzt aber unter schwerstem Feuer
halten. In Rumänien ist die westliche Front der rumänischen Armee
durchbrochen und der Einmarsch in
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die Ebene der Wallachei erzwungen. In Archangel war eine fürchterliche
Munitions - Entladung im Hafen. Monastir haben wir räumen müssen.
Gestern starb der Kaiser von Österreich, was hat der Mann nicht alles
erlebt. „Daß ihm nichts erspart geblieben sei“, konnte er wohl gelegentlich
der Ermordung des Thronfolgers im Juni 1914 mit Recht von sich sagen. Norwegen
wird von unseren Ubooten förmlich blokiert und zugleich heftig in
unserer Presse angegriffen. Die Norweger ergeben sich allmählich darein.
Das Handels-Uboot Deutschland ist bei der Abfahrt in Amerika beschädigt
worden, wo die „Bremen“ geblieben ist, weiß man nicht recht. Die
Polen sollen militärisch ausschließlich durch uns, nicht durch
Österreich ausgebildet werden. Das läßt tief blicken. Was
werden wir noch mit dem neuen jungen und anscheinend etwas „vertschechten“
Kaiser zu erleben haben? Die Engländer scheinen eine Beendigung des
Krieges durch die Entscheidung in Rumänien zu erhoffen. | Neuerdings
bin ich auch Ortsvertreter des Baltischen Vertrauensrats und mache mich
mit dem Inhalt eines Postpakets bekannt, das dieser mir kürzlich zusandte,
alles Literatur über die Ostseeprovinzen. Allmählich gewinne
ich ein geschlossenes Bild von diesen alten deutschen Koloniallanden, deren
völlige Rückeroberung und Wiedereingliederung in unser Reich
hoffentlich ein Kriegsziel ist, was wirklich erreicht wird. Neuerdings
spricht wieder vieles dafür, daß man bei uns sehr bedacht ist,
die alte Reichsgrenze, wie sie
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bis 1539 war (Narowa und Narwas, Peizussee, Dünaburg) wiederherzustellen.
|| Allerlei Leute sind neuerdings eingezogen worden, so Willy Schnittgen.
Auch die DU Leute von 1879 - 1870 sind nachgemustert. Alle nicht recht
beschäftigten Zivilisten sehen sich jetzt nach Kriegsbedarfs - Beschäftigung
um, denn der Zivildienst kommt jetzt bald. Meine amtliche und Kriegsbeschädigten-
Fürsorge- Tätigkeit wird wohl genügen. Kriegsdienst, Kriegsbedarfserzeugung
und Landwirtschaft, sowie alles, was damit zusammenhängt, sind jetzt
die 3 Daseinszwecke, auf die sich unsere Volkskraft für die nächste
Zukunft zusammenzieht. – Das allabendliche gegenseitige Vorlesen befriedigt
uns jetzt sehr. Kügelgens „Jugenderinnerungen“ erbauen uns am meisten,
ferner Naturschilderungen von Löns, etwas Wilhelm Busch. Es ist eine
schwere Zeit und trotz aller Friedensschalmeien, die hier und da geblasen
werden, habe ich längst die Hoffnung aufgeben müssen, auf diesen
Blättern etwas vom Frieden schreiben zu können. Durch schlechte
Ernte allenthalben und fortgesetzten Abgang von Schiffraum durch unsere
Uboote sind die Engländer jetzt gezwungen, ihre Lebensmittel zu rationieren,
die Franzosen desgleichen. Schweden richtet sich auf völlige Seeabsperrung
ein. Ob es wohl noch gegen Rußland losgeht? – Morgen fahre ich einen
Tag nach Morbach, um 1 Dutzend Kriegsbeschädigte dort zu beraten.
24.XI.16. Ein schöner Tag gestern, auf dem Hunsrück klare
Luft und strahlende Sonne.
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Trotz vieler Arbeit mit den Kriegsbeschädigten – einigen hoffe
ich, helfen zu können – fand ich nach Tisch Zeit zu einem Spaziergang
zur Schmausenmühle. Ich besuchte dort die gegenüber liegende
kleine Ölmühle und fand den Ölmüller, der aus Rußland
reklamiert worden war, bei voller Arbeit. Ich besah mir eingehend das ganze,
nur aus Holz gefertigte schöne alte Mühlwerk, wohl an 150 Jahre,
wie der Müller meinte. Er wird mir nächstes Jahr auch Mohnöl
pressen können. Decker heißt er. Mittags hatte ich bei Tisch
eine recht anregende Unterhaltung mit einer schwerhörigen Pastorsfrau
aus der Gegend zwischen Simmern und Castellaun mit einem jungen Mädchen
aus Düsseldorf als Dolmetscherin. – Bruder Josef (Rech, Josef) schreibt
heute, daß er Hauptmann sei und an Ruhr krank im Lazarett liege.
Ich schrieb ihm sofort. Das Schießen ist hier jetzt wieder stark
zu hören. Helene war gestern abend (endlich von ihren peinigenden
Zahnschmerzen befreit) wieder mal recht munter und von einem kurzen Besuch
bei Frau Thanisch ganz erfrischt. Der Zivildienst steht jetzt im Vordergrund
allen Interesses. Heute morgen meldete sich bei mir auf dem Gericht bereits
eine Frau Busch, deren Mann (Kolonialpolizeibeamter) zur Zeit im Felde
steht, um gegebenenfalls der Behörde ihres Mannes ihre hiesige Zuverfügungstellung
melden und für sich eine Vormerkung auf Dienst am Platze hier zu sichern.
Nicht übel. Weiblicher Dienst soll aber nur „freiwillig“ vorab in
Frage kommen. Im übrigen möge der Wortlaut des jetzt zur Beratung
stehenden Gesetzes dieses Heft schließen. Den Feinden ist dieser
neue „Trieb“ der Deutschen schon sehr in die Glieder gefahren.
Berncastel Cues im 3. Kriegsjahr
24. November 1916
Dr. Rech, Amtsrichter und
Berufsberater für Kriegsbeschädigte
(Zeitungsausschnitt eingeklebt)
Die Engländer haben ihr größtes Handelsschiff, ein Schwesterschiff
der untergegangenen Titanic, in griechischen Gewässer als „Hospitalschiff“
verloren.
Torpedo? Mine?
Immer feste droff!
(In die Innenseite des rückwärtigen Deckels sind noch verschiedene
Zeitungsausschnitte eingeklebt)
Ende des Tagebuches von 1915/1916 (II. Heft des Kriegstagebuchs)
Auf dem Vorblatt:
Aufzeichnungen des Amtsrichters Dr. Rech zu Berncastel Cues a/Mosel
in Kriegszeiten vom 28. November 1916 bis zum 30. Dezember 1917
3. Bd.
Im ganzen Band sind zahreiche Zeitungsausschnitte mit den Nachrichten wichtiger Ereignisse eingeklebt oder eingelegt.
Die Seitenzahlen numerieren jede zweite Seite.
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Berncastel Cues
Sonntag 3. Dezember 1916. Winterwetter. Seit zwei Tagen ist ununterbrochenes,
rollendes oft richtig trommelndes Geschützfeuer zu hören. In
Rumänien sind täglich große Fortschritte, fast 50 km bei
Bukarest stehen schon unsere Truppen. 2 Zeppeline fielen kürzlich
dem anscheinend sehr verbesserten englischen Abwehrsystem zum Opfer. Ob
der Sieg in Rumänien ein baldiges Ende herbeiführen wird? Alle
hoffen es, aber keiner glaubt es recht. Das große allgemeine Hilfsdienstgesetz
ist nun bald fertig. Es wird manche Umwälzung bringen. – Bruder Josef
(Rech, Josef), kürzlich Hauptmann geworden, liegt an Ruhr krank im
10. Feldlazarett im Westen. – Die Engländer haben Jellcoe, den Verlierer
am Skagerak, abgesetzt. Beatty ist jetzt Flottenbefehlshaber dort. – Die
biederen Bernkastler sind vermutlich ob einer neueren Zuschrift in der
Kölnischen Zeitung an Jagdhamster anknüpfend erneut beunruhigt,
zumal in gleicher Zeitung unter dem Strich ein „aus einem Moselstädtchen“
stammender längerer Artikel zur Naturgeschichte des Pensionsschweins
erschien. Selbigen habe ich verbrochen. Gestern Abend war ich mit Kreisarzt
Dr. Knoll, der von der Front auf Urlaub hier ist, in der Wirtschaft Geis
(ehemals Lenchen Liell) und dort legte mir Geppert, der alte Junggeselle,
die Zeitung vor. Er hatte sie selbst geliehen.
4. Dez.: Schnee, leider bald getaut, dann nasser Nebel und weicher
Schlackerschnee in Menge. Zum 1. Januar ist mit Herausnahme aller Militärpersonen
zu rechnen, auch aus Kriegsbeschädigten Fürsorge, sogar Kriegsbeschädigte
selbst! Also Velten wird ca halben Januar wohl verschwinden. Schweine sollen
beide diese Wochen vielleicht noch, geschlachtet werden. Hoffentlich Frost
bis dahin. Weiblicher Hilfsgerichtsdiener bringt irrige Nachricht, daß
Bukarest gefallen. Es ist aber erst mal die große Schlacht vor Bukarest
am Argesul gewonnen worden. Also meine Vermutung aus französischen
und schweizer Nachrichten richtig. Wird großen Eindruck machen und
manche Erleichterung schaffen.
4. Dez. 16. 5 Uhr nachm. Eben läuten die Glocken ob des entscheidenden
Sieges, der Bukarest der Belagerung freigiebt. Der Dezemberanfang verspricht
eine gewisse vielleicht entscheidende Wendung zu bringen: Ministerwechsel
in England? Erschöpfung Rußands? Bulgarien niedergeworfen, die
Griechen schießen auf ihre Unterdrücker, die ihnen die Waffen
herausverlangten, und werden so vielleicht zum Krieg auf unserer Seite
gezwungen. Wer weiß?
6. Dez. Ein grünes (Farbe der Hoffnung?) Extrablatt zeigt heute
an, daß der geriebene Advokat und Schwätzer Asquith als englischer
Premierminister sein Ende gefunden hat. Das kann nichts, wenig oder auch
viel für uns bedeuten.
7. Dez. Früh, noch im Bett, durch Böllerschüsse und
Glockengeläute überrascht. Kinder kommen schulfrei voller Freude
zurück: Bukarest gefallen, vermutlich wohl geräumt. Mariannchen
meinte, „alles wurde totgeschossen“ und war eifrig bei der Sache. Herta
hat das schwierige Wort und auch gelernt, daß es bis dort so weit
sei, daß man 2 x im Zuge schlafen müsse.
16. Dez. 1916. Die Ereignisse draußen und drinnen haben sich
so atemlos überstürzt, daß keine Zeit zu Notizen blieb.
Heute habe ich wohl für mehrere Tage einr quälenden Bronchitis
wegen Stubenarrest. Da kann ich mich ein wenig sammeln. Das Wichigste zuerst:
Kaum haben die Engländer unter dem Walliser Schreihals ein ganz neues
Ministerium, da – bietet der deutsche Kaiser Friedensverhandlungen an.
Darob ist zunächst mal aller Welt der Atem versetzt; allgemach aber
gewinnen die Kriegsschreier ihre Sprache wieder. Ob und was es giebt, wer
weiß es? Die ganze Walachei bis Buzen einschließlich haben
wir jetzt auch. Es bedeutet eine große Macht und Bestandsverstärkung.
Wie wir heute erst erfahren, erhielt Bruder Josef (Rech, Josef) doch einen
bedenklichen Bauchschuß durch Maschinengewehrgeschoß
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und lag damit im Lazarett vor Verdun. Jetzt hat er sich, ohne rechten
Urlaub, nach Hause gepfuscht und ist seit dem 8. ds. in Bonn. Ohm in Olsdorf
wurde 75 Jahre alt. Am 11. mußten unsere Schweine das Leben lassen,
am 12. morgen halfen Helene und ich eifrig sie verewigen. Denselben Nachmittag
lag ich mit Schüttelfrost und 38,9° Fieber zu Bett und schwitzte.
Anderen Tags konnte ich schon wieder aufstehen, während nun Helene
gründlich festlag; sie hat die meiste Leberwurst noch eben in Gläser
sterilisieren können. Die übrige und die Sülze mußte
ich im Wesentlichen besorgen. Dazu die Kinder und Mädchen erkältet,
Husten und Schnupfen, kurz eine rechte Familienfreude. Herta lag hin und
wieder einen halben Tag zu Bett. Trotzdem fand ich am 14. Zeit zur Kriegsbeschädigten
Beratung nach Morbach. Oben prächtige schneebedeckte Winterlandschaft.
Jetzt aber gilt es, Bronchitis mit bösem Husten zu kurieren. Helene
ist leider mal wieder stark zurückgesetzt und schwach. Doch hoffen
wir auf besseres Wetter und allgemeine Familiengenesung. v. Kintzel ist
kriegsgtraut mit einer Streit. Ich muß ihm noch schreiben.
18. Dez. Seit gestern hat die furchtbare Schießerei abgeflaut:
Ergebnis: Fortschritte der Franzosen nördlich Verdun, angeblich ca
9000 Mann Gefangene (250 Off.) an sie verloren. An der reißend schnellen
Eroberung des nördlichen Teils der Walachei vermag das nichts zu ändern.
19. Dez. Die Ruhe nach den langen Tagen unaufhörlichen Trommelfeuers
ist fast ein wenig unheimlich. Wir sind nach wie vor alle erkältet,
ich sitze mit heftigem Husten noch im Stubenarrest. Morgen soll Anton Thanisch,
den gestern Hugo und Toni Schmitz heimbrachten, beerdigt werden. Leider
werde ich nicht mitgehen können. Es hat gottlob mal was gefroren.
20. Dez. Hocke noch stets mit festem Husten und ziemlicher Schlappheit
zu Hause auf der Stube herum. Herta gestern abend sehr schlecht mit heftigem
Fieber und Erbrechen, so daß wir Lungenentzündung befürchteten.
Nasser Wickel half. Gute Nacht, während wir uns auf schlimmes gefaßt
gemacht hatten. Tagsüber im Bett recht wohl, fieberfrei und munter.
Gottlob. Anton Thanisch bei klarem Winterwetter hier beerdigt, konnte leider
nicht mit.
24.12.16. Endlich sind wir mal wieder alle auf den Beinen. Der junge
Schmitz was gestern abend und heute morgen bei mir, untersuchte mich auch
gründlich und fand nur reines Atmen. Die letzten Tage hatte ich stets
zu Bett gelegen. Die Kinder sind voller Freude über die erwartenden
Weihnachtsfreuden. Trotzdem Wilson sich auch mit seiner „Friedensnote“
hat hören lassen, glaubt so recht niemand an „Friedensaus-bruch“.
30.12. Das Wetter ist andauernd scheußlich geblieben und von
einem Tage abgesehen, an dem ich mittags mit Helene etwas spazieren und
nachmittags auf dem Amt war, bin ich die ganze Woche weiter zu Hause in
Stubenarrest gesessen. Merkwürdig still sind die Engländer geworden,
während die Russen merkwürdig dicke Töne in einem „Armeebefehl
des Zaren“ von den ihnen versprochenen Dardanellen u.s.w. reden; ähnlich
auch die Franzosen. Die Friedensnote Wilsons wird vielfach so gedeutet,
daß er als Schrittmacher Englands uns gern „feste Bedingungen“ ablocken
möchte. Da ist ihm von uns deutlich abgewunken worden. Allerlei sonstige
Neutrale bemühen sich ebenfalls um den Frieden. Vielleicht ist er
also doch auf dem Marsche und das Benehmen der Russen und Franzosen ließe
sich ließe sich vielleicht dahin erklären, daß sie sich
von England ein bißchen verraten sehen? Man wird nicht recht klug
aus allem. Jedenfalls wird die englische Essensration täglich knapper
durch die Uboote. Walter (Forstmann, Walter) ist am 28. wieder abgefahren,
er schrieb
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mir vorher, daß er noch tüchtig wirken müsse, ehe der
Frieden da sei, der diesmal sicher im Flusse sei. Er hat freilich wichtigen
Dienst im Mittelmeer. Der australische Weizen, auf den England jetzt in
der Hauptsache angewiesen ist, muß dort her.
31.XII. Winckler, der überraschend auf einige tage nach Hause
kam, ließ mich vor Tisch rufen: ich traf Schönberg dort und
wir sprachen über alles mögliche. Schönberg gab u. a. zum
Besten, daß er allerseits noch für den Verfasser der „Pensionschweinar-tikel“
gehalten werde und ihm z. B. der Metzger Engel deswegen Vorwürfe gemacht
habe. (Er tritt im ersteren als Metzger Bengel auf, dessen ganzer Schweinetransport
nachher die Rotläufe hat). Es ist zu putzig, wie die Leute es nicht
leiden mögen, sichmal öffentlich im Spiegel zu sehen. Es erinnert
mich an die Schilderung eines gebildeten politischen russischen Sträflings
in Sibiriens Zuchthäusern: Die Insassen hegten alle einen alten Groll
auf Dostojewski, daß er mit seinen Darstellungen des Sträflingslebens
im „Totenhaus“ „alles von den Sträflingen der Regierung verraten habe“.
Heute hatte ich nach Tisch, wiewohl ich bei Winckler an zwei Glas Wein
nur sozusagen genippt hatte, einen duseligen Kopf und träumte allerlei
durcheinander von den Erlebnissen eines Fortunatus Rex.
Fortsetzung im Dokument MRTB1917