1. Januar 1916. Bringt dieses Jahr den Frieden, einen Angriff von uns auf der Westfront, Angriff auf Egypten, Sonderfrieden mit Rußland, englischen Dienstzwang? Wir müssen es abwarten. Bei trübem Wetter, milder Luft und Regen saßen wir diese Nacht recht gemütlich bei Thanischs zusammen, Schönberg mit seiner Schwester und Oberförster Bauer waren dort. Der Hirsch, der ewig unvermeidliche, spielte eine Zeitlang eine große Rolle, des Krieges und des Friedens gedachten wir beim Anstoßen zum neuen Jahr.– Morgens meldete sich gleich wieder ein einäugiger Kriegsbeschädigter aus Hochwälderhof bei Rhaunen, ein junger Mann, dem ein Bruder gefallen ist. Ein anderer ist in Gefangenschaft, ein dritter kürzlich als Sanitäter ausgetauscht worden. Gestern aber hatte ich alle Hände voll zu tun und marschierte selbst nach Tisch sofort wieder aufs Amt, was schon lange nicht mehr vorgekommen ist. Eine Reihe Kriegsbeschädigter wurde verhandelt, darunter auch der 20jährige Kriegsblinde Aloys Wagner von Graach-Schäferei, der gottlob guten Mutes ist. Er wird bereits im Blindenheim in Düren ausgebildet. Morgens war ich bei dichtem Nebel

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schon früh zu einem sehr traurigen Fall einer Kriegsbeschädigung nach dem Dorfende von Cues hinausgepilgert. Dort traf ich im letzten Haus am Gestade den an Ischias und schwerer Hysterie meist zu Bett liegenden Brixius Friedrich an. Nachmittags 2 Uhr wieder ein Kriegsbeschädigter aus Gornhausen, dann kurzer Spaziergang mit Helene, Zahnplombierung beim Dentisten Ball, letzte eifrige Arbeit auf dem Amt mit Blankarbeiten aller Gerichts- und Kriegsbeschädigtensachen, dann konnte ich mich zu Hause 1 Stunde ruhen und um 8 mit Helene über die Brücke zum leckeren Abendessen gehen, bei dem wir auch herrlichen Graacher neuen (1915) probierten. – Heute morgen machten wir bei Wincklers einen Besuch. C. Winckler hat 14 Tage Urlaub, steht jetzt mit der Kolonne näher an der Front und ist Jäger geworden. Schaffte sich auch bereits eine belgische Jagdflinte an und erlegte manchen Hasen; brachte auch solchen mit. Er meint, es werde doch zu Wintersende oder Frühlingsanfang ein riesiger Angriff unsererseits auf der Westfront –und allenthalben anderswo– geplant. Munition für ein 5tägiges (!!) Trommelfeuer sei allenthalben in Menge vorhanden. Jetzt schieße man erst die noch mittelguten Geschosse aus der Anfangszeit der großen Munitionserzeugung auf. Er hatte seiner Frau sehr große Spitzentücher und Schals mitgebracht. Er meinte, in ¾ Jahren könnte der Krieg zu Ende sein.
2. Januar 1916. Ein Fäßchen Essig abzuzapfen, meine Kalender auf Pappe zu ziehen u.s.w. bildeten heute morgen meine Beschäftigung. Auf dem Amt war sehr seltsamer Weise keine Briefschaft eingegangen. Bruhns schreibt gestern, daß er u. U. Aussicht, in einem badischen Gefangenenlager als russischer Dolmetsch Dienste zu tun. Nun hoffentlich nicht vor dem Frühjahr. Mit Herta besuchten wir gestern Sieburgs, heute bekommt sie Besuch von Ruth Winckler, worauf sie sich schon sehr freut. Husten und Erkältung sind ganz weg und sie ißt wieder tüchtig. Gestern nahm ich noch mal Kamillendampf-Dusche.
3. Januar 1916. Nach einem feuchten Morgen jagen jetzt meist hell von der Sonne beschienene Wolken am blitzblauen Himmel hin und der Wald rauscht heftig wie im Frühjahrssturm. Meine Kriegsbeschädigten habe ich glücklich alle aufgearbeitet. So verlockend heute mittag eine Einladung von Thanisch war, mit ihm in die Monzelfelder Jagd zu gehen, so lehnte ich doch ab. Ich will mir erst den durch die Festtage stark angestrengten Magen ausruhen lassen und meine letzten Termine erst hinter mir haben. – Die gurkenartigen Kürbisfrüchte, die ich diesen Sommer zog, erwiesen sich jetzt als ein hochfeines „Obst“ und wurde gewürzt eingemacht. Sie schmecken in der Tat vorzüglich (Cococelleron Tripolis). Schade daß die Sonne hier nicht bleiben will, wie lange entbehrt man sie schon. Ein kleines Tauchent(ch)en treibt jetzt vor meiner Veranda mittags oft ihr munteres Wesen auf dem Wasser.

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4. Januar 16. Feucht kühl, mehr ein Herbst als Winter. Wie vor einem Jahr die „Formidable“ verloren die Engländer zu Silvester einen großen Panzerkreuzer: Natal. Aus dem von einem österr. Uboot aufgefischten Depeschensack der englischen Gesandtschaft in Athen werden tolle Briefe jetzt veröffentlicht, an denen die Griechen –“elende Köter“ ect.– ihre helle Freude haben werden. Die deutschen, österreichischen und bulgarischen Konsuln in Salonik hat man verhaftet; es wird dort wohl nächstens losgehen. Ich lese ein Buch, was mir Schönberg gab: Köhler, der neue Dreibund, Lohmann, München. Recht klare und weitschauende Pläne werden da entwickelt. Hätten wir nur erst Ägypten. Ohne dessen „Befreiung“ wird es wohl keinen Frieden geben.
5.I.16. Trüb, kühl, am Morgen verknaxt; nichts macht Spaß als die Arbeit. Hieran gottlob kein Mangel: Von 8-1 heute fest auf dem Amt geschafft. Gleich nach 4 wieder weiter. Die englischen Schiffsverluste im Mittelmeer mehren sich bedenklich und die zahlreichen Verhaftungen in Salonik scheinen einen Schluß auf starke Nervosität zuzulassen. Nach der Lektüre von Köhler, „der neue Dreibund“, scheint mir Saloniki für die Mittelmächte unentbehrlich, am besten wohl in bulgarischen Händen. Die Griechen werden schließlich froh sein müssen, es als Zankapfel zwischen zwei stärkeren Gewalten ganz zu räumen, um sich nicht die Hände an diesem glühenden Stück zu verbrennen, das für sich selbst zu behaupten, sie viel zu schwach sind. Wird der Angriff auf Salonik mit dem auf Egypten gleichzeitig erfolgen oder diesem vorgehen? In Westägypten hatten anscheinend die Engländer einen kleinen Erfolg.

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French, der abgesägte heißt jetzt nicht übel Lord French of Yprer. Leider widersteht uns England dort stets noch mit gutem Erfolg. Ohne den Besitz der ganzen flandrischen Küste einschließlich Calais dürfte es für uns auch noch keinen Frieden geben. In der Kölnischen Volkszeitung finde ich ein Gedicht des österreichischen Heerführers Bothmer (Bei dieser Seite eingeklebt), das ich mir aufheben will. Dort sind jetzt sehr heftige Angriffe der Russen (zur Verteidigung Süd-West-Rußlands oder zu wirklichem Angriff nach dem Balkan zu?)
9. Jan. 16. Gestern abend war Schönberg nach Tisch bei uns. Wir besprachen unsere Arbeit. Nachher unterhielten wir uns bei einem Glase Bier mit Helene bis Mitternacht aufs Beste. Wir sprachen von Walter F. (Forstmann, Walter) Uboot. Schönberg gab folgendes an, wie man sich die Tätikeit der Uboote vorstellt: „Sie fahren oft im Kielwasser oder gar an der Schlepptrosse eines befreundeten (z.B. schwedischen) Schiffes, dessen hochsitzender Auslugposten zeitig genug einen feindlichen Dampfer erspäht. Das Uboot taucht unter. Der Kreuzer ect. der den Neutralen revidieren will, läuft Gefahr, torpediert zu werden. Der Neutrale führt Brennstoffe und Munition für das Uboot in Unterwasserbehältern (?) mit, die man bei Durchsuchung des Schiffes nicht findet, und im äußersten Fall versenkt werden können. Derartige Behälter werden in seichten Gewässern verankert, kenntlich gemacht und durch herumgelegte Minen gesichert. Bei einer Verfolgung streut das Uboot eine maskierte Umschlauerboje mit Minenfüllung, deren Räumung den Feind in die Luft bläst u. a. m.“ Ich werde mich freuen, später mal feststellen zu können, was hieran wahr ist.

Zwischen Seite 116 und 117 ist noch ein Briefbogen eingefügt, mit der Handschrift von (vermutlich) Helene Reitmeister geb. Brügelmann mit folgendem Text:

Bitte nicht aus Händen zu geben.
am 18. Nov. an Bord
Tags vorher war die Einfahrt in den Hafen. Er hat mal wieder Glück gehabt. 9 Dampfer und ein Segelschiff  torpediert und erhielt bei seiner Ankunft den Orden der eisernen Krone III. Klasse mit der Kriegsdekoration. Das Schiff braucht nun 14 Tage zur Reparatur und da 5 Tage zur Reise nach Berlin gingen und 5 Tage zur Rückfahrt, sah er davon ab und bleib diesmal an Ort und Stelle. Anfangs Januar geht es dann wieder von neuem los und rechnete Clementine (Forstmann, Clementine) damit, wenn Alles gut geht, daß er am 25. Januar in Kiel sein kann. Sie selbst will den 10 Januar dorthin und kommt Guste Brügelmann zu ihr. Jetzt kommt noch einiges aus Walther’s (Forstmann, Walter) Brief. Da ich den griechischen Dampfer Ganteradris, der 2 Millionen Eier von Montevideo nach England bringen sollte abfaßte und ihn versenkte, hatten wir Eier genügend an Bord. Jeder Mann hatte wohl 300 frische Eier im Spind. Die Kerle aßen jeden Tag 15-20 Stück. Zu ulkig war es, daß die Besatzung des Griechen von einem Engländer aufgenommen wurde, den ich nachher versenkte. Den größten Dampfer, den dicksten, den ich bisher versenkte, griff ich an der afrikanischen Küste vor Golf von Bamka auf, dann nennt er die verschiedenen Dampfer mit Inhalt, viel Zucker, viel Baumwolle, so habe ich jetzt die Zahl 45 und den Nigger auf dem Gewissen. Ein Dampfer wollte mich absolut rammen, aber ich behielt meine Nerven und überschüttete ihn mit Schnellfeuer, das ihn auf 3000 m zum Stoppen brachte. Ich empfing fast täglich 12 Uhr Nachts Berichte, so daß ich etwas im Bilde bin. Ich glaube aber bestimmt, daß wir noch nach Aegypten pittern (gittern?) (muß vielleicht „pilgern“ heißen) werden. Jedenfalls kann ich nicht hier fort, als bis auch diese Sache gekärt ist. Nun bin ich sehr gespannt, was morgen die Post bringt. Soweit ich gehört habe, bin ich zu einem hohen österreichischen Orden eingereicht. Vielleicht liegt er unter dem Weihnachtsbaum. Auf der Reise erkrankte ein Mann an einem Bruch. Ich habe keinen Arzt mit und kann mir so schlecht helfen. Ich verordnete Liegen, Ruhe und Umschläge. Die Sache errief eine ziemliche Anschwellung. Na mal sehen, morgen kommt der Arzt. Kranke sind an Bord ziemlich aufgeschmissen. Nun freue ich mich bald auf einen Schlaf, ohne klar zum Sprung auf die Brücke zu sein. 23 Nächte schlief ich mal wieder in Unterzeug und Unterhose. Ihr könnt Euch das gar nicht vorstellen, wie übel das auf die Dauer ist. Ich erledigte soeben einen (K...?) (muß wohl „Kaliber“ heißen) 47 cm ausgerüsteten Bewachungsdampfer, der mir die Durchfahrt verwehren wollte. Nun liegt er bereits auf. Dann schreibt er noch, daß ihm der Orden verliehen ist.
Doch sehr interessant der Auszug aus seinem Brief. Was haben wir für einen bedeutenden Neffen und Vetter, er ist jetzt schon ein großer Held.

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Gestern hat mir ein Cueser Winzer (Denzer-Henkel) die Mistbeete zurecht gemacht. Morgen sähe ich schon Salat aus. Heute machte ich ein Postpaket mit Nagelstiefeln und Liegestuhl noch versandfertig. 2 weiße, 1 grüne Zollnachweisung und Paketkarten gehen mit. Erst kommt es hier aufs Zollamt, dann zur Post.
10. Jan. 1916. Es ist kühler geworden, die Luft naß und empfindlich. Endlich mal wieder bunte Extrablätter angeklebt: Außer dem gestrigen Tagesbericht über die völlige Rückgewinnung der alten Stellungen am Hartmannsweilerkopf und Umgegend (über 1000 französische Gefangene) die erfreuliche Nachricht, daß Gallipoli jetzt ganz „gesäubert“, also Engländer und Franzosen die Stellungen auf der Südseite der Halbinsel Sed-ul-Bahr aufgegeben haben. Hoffentlich gelang ihnen dort nicht solch günstiger Rückzug wie den Engländern in der Suloa-Bucht. Vor einigen Tagen war schon etwas von dort eintreffender schwerer deutscher Artillerie zu lesen. Da konnte die Räumung nicht lange ausbleiben. = Schönberg meinte neulich witzig, das Erlebnis des Krieges werde schließlich sein, daß die Streitenden „ihre Bundesgenossen eroberten“, wir die Österreich-Ungarn und Türken, die Engländer Frankreich. Für letzteres namentlich könnte eine wirkliche englische Wehrpflicht auf die Dauer recht unbehaglich werden und sie am Ende noch zu uns „Mitteleuropa“ hinübergehen. (?) Wer weiß, was noch alles geschieht. Ich beginne langsam, mich mit Gedanken und Sachen von hier „abzulösen“. Heute ging ein Postpaket glücklich und unbeanstandet nach der Schweiz ab.

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Bruhns schrieb mir, daß man kürzlich für 100 M dort nur 97 fr bekommen habe, jetzt wieder 100 M=100 fr! Er riet zu Banküberweisung nach Basel. Paul Thanisch will das besorgen. Es war mir ein solcher Kurs schon lange gerade nach der Schweiz nicht recht verständlich, weil wir doch verhältnismäßig recht viel nach dort ausführen. Jetzt finde ich in der Kölnischen Volkszeitung im Handelsteil eine hierfür recht aufklärende Notiz. Nicht im Warenverkehr sondern im Hinausdrängen deutschen Kapitals nach der Schweiz infolge der Steuerankündigungen findet der seltsame Kurs seine Erklärung. Es giebt allerlei Vaterlandsfreunde!–
Heute meldete sich Aktuar Matschke wieder bei uns, als arbeitsverwendungsfähig entlassen. Er ist noch genau derselbe wie früher, froh dem Kriege entronnen zu sein. Er muß böse Sachen im Priesterwald erlebt haben. Trotz allem beneide ich ihn darum. Er hat lediglich eine Episode im Krieg mitgemacht und wir daheim? – Eins muß ich mir noch aufschreiben hier: Italien hat sich England verschrieben (Beitritt zum Londoner Abkommen über den gemeinsamen Friedensschluß) für den Judaslohn von 2 Milliarden und die Zusicherung, daß die „römische Frage“ (= Selbständigmachung des Pabstes) als rein inneritalienische Angelegenheit behandelt werden soll. Natürlich wendete sich hiergegen die katholische Christenheit und es kann da später noch allerhand Verwicklungen geben. – Wollen die Rumänen sich den Mittelmächten anschließen?
Samstag 15. Jan 1916. Statt übermorgen zu fahren, liege ich seit Dienstag mit einer kleinen Lungenblutung mäuschenstill zu Bett und pflege der Ruhe. Etwas langweilig, aber sonst ganz geruhsam nach der Hast der letzten Wochen. Wir fahren dann eben etwas später. Währenddem haben die Österreicher den Montenegrinen den Lowtschen und

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gestern die Hauptstadt Cettinje genommen. Mit dem Zaunkönig Nikita wirds nun wohl endgiltig vorbei sein. Die Auslandpresse zumal in der Schweiz ist mit Recht entrüstet, wie schmachvoll unsere Gegner mal wieder einen kleinen Bundesgenossen im Stich gelassen haben. Den Schweizern kann ich es gut nachfühlen. Die Griechen spüren es auch am Leibe: Franzosen besetzen Corfu. Immer nur weiter so!– In einigen Wochen wird es wohl kein Montenegro mehr geben. Was dann? Naumanns „Mitteleuropa“ habe ich mal gründlich durchgesehen. Es steckt viel darin; namentlich übersieht er nicht die notwendig kommenden endlosen Schwierigkeiten mit Österreich und Ungarn. Nun, der Außendruck wird wohl schließlich alles zusammenpressen.
Draußen schien es mal für einen Tag Winter werden zu wollen, jetzt ist wieder nichts wie Regen.
Montag 17.1.1916. Heute beginnt mein Urlaub und heute hätten wir reisen sollen: es ist ein prächtiger, mildsonniger Frühlingstag. Leider hatte ich wieder etwas mehr blutgefärbten Auswurf und werde mich noch einige Tage im Bett gedulden müssen. Nachher ist dann die Welt draußen noch einmal so schön. Die Zeit vertreibe ich mir so gut es geht, mit „blauen Büchern“ und habe eine herrliche Unterhaltung mit deutschen Burgen und Barockbauten. Den ganzen Tag schon ist anhaltendes Kanonendonnern leise und dumpf zu hören und deutlich im Kopf zu fühlen. – Die Russen rennen seit Neujahr wie verzweifelt gegen einen österreichischen Frontabschnitt bei Cernowitz an. Sie scheinen Montenegro

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entlasten und sich vielleicht die Bukowina zu Ostgalizien als Faustpfand für einen nahen Frieden (?) sichern zu wollen. Eigentlich ist für Rußland der Krieg zu Ende, nachdem mit Aufgabe der Dardanellenbezwingung jede Hoffnung auf Konstantinopel geschwunden ist. Ganz richtig marschieren sie daher jetzt nach Persien und drängen dort aufs Meer zu, was sie längst hätten tun sollen. Möglich, daß sie dort noch Früchte pflücken, solange die Engländer von uns in Vorderasien beschäftigt werden. Mit deren Wehrpflicht scheint es mir kein rechter Ernst zu sein. Verdächtig dafür ist der glatte Umfall der Iren und der Arbeiterpartei für den Dienst-zwang: vermutlich sind ihre Leute ausgenommen. Die englische Regierung betrügt damit sich selbst, ihre Leute und vor allem die Bundesgenossen. Wie wird das noch enden? Unsere Regierung kündigt jetzt Vergeltung wegen des Baralongmordes in Aussicht, den die Briten nicht bestreiten. = Mit Montenegro geht es zu Ende. Daß die Türken dessen Hauptstadt nie erobert hatten, wußte ich auch noch nicht. Vermutlich ließen darum die Österreicher den letzten Lowtschengipfel durch mohamedanische Truppen stürmen. Ob es jetzt bei Salonik losgeht? Außer Korfu besetzen die Franzosen jetzt eine Reihe griechischer Inseln. Die Griechen werden wohl schließlich mit losschlagen müssen. Gestern war MR. Liell bei mir. Müller und Gescher waren hier. Müller soll mich ja vertreten!–
 

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17.I.16. Montenegro bittet um Frieden! Also endlich einer! Nun, Österreich-Ungarn wird nicht rachsüchtig sein und die edlen Brüder zu sich aufnehmen. Dem Volk wird es vermutlich unter Österreich besser gehen als unter seinem ehrsüchtigen Zaunkönig Nicita. Dieser ist vermutlich außer Landes, und der Bonner General-Anzeiger, scharf-blickend wie er sich hat, hatte ihm und seinem serbischen Genossen Peter bereits Genf als künftigen Wohnsitz vorgeschlagen. Ehrliche Hülfe gebracht hat den Söhnen der schwarzen Berge Keiner außer etwa den Russen durch deren Angriffe an der Süd-Ostfront. Was machen jetzt die Italiani, die angeblich in Albanien stehen? Die Franzosen und Engländer tüten denen nicht schlecht in die Ohren. – Wer wird der nächste sein zum Frieden? Montenegro war, glaube ich, dem famösen Londoner Abkommen über den gemeinsamen Friedensschluß nicht beigetreten. Für die Russen dürfte dieser Vertrag auch stark an Reizen eingebüßt haben.
20.1.17 (Muß heißen: 20.1.16) Ein Unglück kommt selten allein: Die Nord- und Mordsee überschwemmte Holland und Friesland mit einer Springflut, in Bergen wütete der größte Brand Norwegens soweit man denken kann. Die edeldenkenden Engländer aber halten bei den Neutralen die Zufuhr von Lebensmitteln an; wir werden damit wohl sentimentale Reklame in Nordamerika machen.–

Zwischen den Seiten eingeklebt: 1. Zeiungsausschnitt. 2. Briefbogen  wie bei S. 177 mit folgendem Text:
Nicht aus Händen geben.
Von Walter (Forstmann, Walter) kam gestern Glückwunsch zum Geburtstag (T. Jul-chen). (Forstmann, Julie) Er ist nun wieder auf Fahrt mit 3-4 Wochen müsse man rechnen, dienstliche Umstände oder Maschinenpanne können leicht Verzögerungen herbeiführen. So blieb neulich ein Kamerad 30 Tage aus. Der neue österreichische Orden (wunderschöne Karte mit Abbildung) legte er bei, ist eine hohe Auszeichnung, die ich eben meiner Stellung als Kommandanten eines Kriegsschiffes verdanke. Außer dem Admiral hat hier von den Linienschiffskommandanten keiner diese Auszeichnung, nur ein österreichischer U.Boots Kommandanten außer mir. Das eingelegte Bild zeigte die naturgetreue Abbildung des Ordens, der im Übrigen 180 Kronen kostet, für mich natürlich nichts. Weiter am 28. Weihnachtspakete hat es nicht gegeben, die Truppenbewegungen halten den Postverkehr auf. Nur Feldpostsendungen, kleinere Sachen habe ich erhalten. Ich habe wirklich so viel im Kopf, und will täglich Klem.(Forstmann, Clementine) schreiben, damit ihr die Trennung nicht zu schwer fällt. Eier hätte ich Euch gern eine Kiste von 1500 Stück zugehen lassen. Meine Leute haben bis zum Platzen gestaut, selbst im Kaffee kippten sie ihr Ei. Ich bin braun verbrannt, man geht ohne Mantel spazieren. In der Sonne 25° Celsius, aber Nachts muß Heizung angemacht. Ende Januar gehe ich bestimmt auf Urlaub, den ich in Kiel verleben werde. Von hier werdet Ihr durch die Zeitungen hören, ich kann nicht schreiben, was ich hier von dem mittelländischen Treiben an Land sehe. Der Aufstand in Egypten nimmt auch zu und wenn erst mal die richtige Parole ausgegeben wird, werden wohl die Engländer wenig Freude an ihren mohamedanischen Truppen erleben. Ich glaube, daß die Eroberung Egyptens den Schluß des Krieges bilden wird. So endigt das Interessanteste vom Brief für uns.

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22. Januar 1916. Der „Biedermann“ Nikita v. Montenegro ist jetzt bei uns ein schlauer, braver, bei den Gegnern ein raffinierter böser Mann, der sogar die Lowtschen-Erstürmung mit den Österreichern vorher abgekartet hat. Ganz unmöglich ist das schließlich nicht. Eine edle Brüderschaft überhaupt auf dem Balkan einschließlich Italien, denn diese gehören mit zur Sippe: Italien verrät Österreich, Bulgarien Rußland, Rumänien uns und demnächst vielleicht Rußland, Griechenland die Serben, Montenegro die Serben, Russen, Griechen ect. . . . Merkwürdig, daß die frischen Zitronen jetzt wieder so viel kosten wie im Frieden, nämlich 10 Pf. das Stück. Eier werden „billiger“ d.h. 23-25 Pf per Stück. Für 108 M soll man jetzt 100 schw. fr. bekommen, mir höchst ungelegen! Heute war ich vor Tisch kurz das erstemal mit Helene aus. Thanisch besuchte mich und berichtete, daß man in Lörrach militärische Absolution sich holen müsse. Schrieb dorthin. Gestern nachmittag sprach RA. Schönberg vor. Es ist wie im Frühjahr: Rosen grünbelaubt, „Apfelquitten“ (?) blühen rot!
24. Jan. 16. Entweder hat Väterchen Nicita die Österreicher bedümpelt, oder seine Leute haben ihm den Gehorsam versagt: sie wollen weiter kämpfen und der schlaue Alte hat sich nach Lyon eingeschifft. Eine tolle Sache, was soll man dazu sagen? – Ergo bibamus!– Ein 2. Paket an Bruhns heute ab.
25.1.16. Hugo Thanisch weiß stets allerlei Neuigkeiten: Franzosen haben neues (Kohlenoxyd!)gas gebraucht, gegen das unsere Masken versagten. Große Truppen stehen an der Westfront schon lange für Durchbruch bereit, der aber nicht erfolgen kann, da alles durchweicht und grundlos sei. Antwort auf die Baralong-Note der Engländer soll ein Besuch von 20 (!) Zeppelinen über London sein.

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26.1.1916. Den 17/18 war der Kaiser in Nisch, traf dort den Bulgarenzar. Anscheinend mit dem ersten Balkanzug gleich hingefahren. Nicht ungefährlich. Nach Konstantinopel wohl erst später, wenn voller Erfolg im Orient. Der Entsatz von Kut el Amara am Tigris scheint den Engländern nicht zu gelingen. Gepäck ist weg. Morgen gehts ab.

Die Eintragungen für die Tage vom 27.1. bis in den März hinein wurden von Helene Rech geschrieben.

27.1.1916. Der II. Kaisergeburtstag im Krieg. Pfarrer Jachneke hielt gute Kaiser-Predigt und hob besonders hervor, wie schwer der Kaiser seelisch unter diesem schrecklichen Weltkrieg litte, er der nur den Frieden hätte gewollt, aber jetzt hieße es durchhalten bis zum siegreichen Ende. Abreise von Matthias.
29.1.1916 Rindfleisch kostet ab 1,40 bis 1,50 das Pfund, Schweinefleisch 1,60 bis 1,70 das Pfund. In Lausanne kam es zu einem heftigen Zwischenfall, da deutsche Fahne an Kaisers Geburtstag auf deutschem Konsulat gehißt war. Von Els. (Reitmeister, Elsbeth) schlimme Nachrichten.
31.1.16. Als Antwort auf den Luftangriff auf Freiburg am 27. Jan. (gerade an dem Tag fuhr Matthias auch durch Freiburg) haben unsere Zeppeline in den beiden letzten Nächten Paris mit gutem Erfolg angegriffen (der erste Luftangriff auf Paris war am 21. März 1915). Die feindlichen Flugzeuge konnten den Zeppelinen nichts anhaben. Am 16. Januar vernichtete eins unserer U.B. einen englischen armierten Transportdampfer und am 23. ein  englisches Truppentransportschiff. In Leysin und Davos treffen französische und deutsche erholungsbedürftige Soldaten ein. Heute ein frischer kalter schöner Wintertag, von Matthias Karte aus Lausanne und Leysin erhalten. „Reise ging glatt über die Grenze, nur Bädeker mußte als Drucksache nach Leysin geschickt werden.
2. Febr. 1916. Also 3x sollen Zeppeline über Paris gewesen sein und viel Schaden angerichtet. In der Nacht vom 31. Jan. - 1. Febr. sind Marineluftschiffe in engl. Industriegebiet gewesen, (Liverpool, Birkenhead, Manchester, Sheffield, Nottingham) mit vielem Erfolg.

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Eier werden viel angeboten und kosten „nur“ 20 Pf. Willy (Reitmeister, Willi) hat Glück, 9 Ventile auf einmal verkauft und wieder waren Herren da, um sie sich anzusehen und zu bestellen. Leider hat Willy viel Leid und Sorgen um Elsbeth.
3.II.16. Von Siegburg kommen ruhigere Nachrichten. Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ist nach glücklicher erfolgreicher Fahrt am 2. Februar in Kiel bei seiner Frau gelandet, den Tag vorher in Berlin, (ob vielleicht mit dem neuen Balkanzug?). Ein deutsches Kriegsschiff brachte den englischen Dampfer Appam auf, brachte Prisenmannschaft an Bord; die deutsche Prisenmannschaft brachte das Schiff mit etwa 138 Personen an Bord, die die „Möwe“ so soll das deutsch Kriegsschiff heißen vor Aufbringen der Appam 5 englische Schiffe versenkt hätte, nach Amerika. Also der zweite „Emdenfall“. Es sollen vier fleischlose Tage eingeführt werden. Das schadet nichts. Unsere tapfere Flotte und unsere herrlichen Luftschiffe arbeiten so heldenhaft und mit so gutem Erfolg, da kann und darf uns nichts entmutigen, unser soll der Sieg sein. Wir essen morgen zum ersten Mal „Klippfisch“ ein getrockneter Kabeljau.
5. Febr. 1916. Ein Zeppelin versenkte den feindlichen Dampfer „Franz Fischer“. Am 31. Jan. und 1. Febr. hat ein deutsches Uboot an der Themsemündung einen englischen armierten Bewachungsdampfer, einen belgischen und 3 engl. zur Bewachung dienende Fischdampfer versenkt, gewiß eine tadellose Leistung! Leider ist das Marineluftschiff L19 nicht zurückgekehrt. Englischer Fischerdampfer soll sich geradezu barbarisch gegen die Besatzung, die sich, an die im Wasser schwimmenden Teile des Luftschiffes geklammert hatte, benommen haben. Es ist gerade so schlimm wie dei Baralong Affäre, einfach unmenschlich, kaum zu glauben und die Empörung ist groß. Die Luisitaniasache scheint die Gemüter in Amerika noch nicht in Ruhe zu lassen; immer kommen sie wieder darauf zurück und zwar scheint die Sache nicht so glatt abgetan zu sein, wer weiß was noch komen wird?
8.II.16. Prinz Oscar leicht verwundet am Kopf durch Granatsplitter und Oberschenkel, hofft aber bald geheilt und wieder ins Feld zu kommen. Karl Liell, Sohn von unserer Hauswirtin hat Kopfschuß vor einigen Wochen, kann sich gar nicht erholen, leidet an Schwindel und ist müde, wenn er eine kurze Strecke gegangen ist. Mit Amerika die Sache spitzt sich sehr zu, wie mag es enden?

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Das Wetter ist wie im April. Wir haben warmen Regen und oft auch Hagel. Aprikosen- und Prunusbäume stehen in voller Blüte. Veilchen, Schneeglöckchen, Primel alles blüht. Die Wiesen sind grüner wie im Sommer. Butter kann ich nirgends bekommen, die Leute schaffen leider das Vieh ab und die überflüssige Butter wird ins Feld geschickt. Matthias schreibt recht vergnügt von Leysin, sie sind Gott sei Dank nur in deutscher Gesellschaft.
10. Febr. 16. Es ist miserables Wetter. Schnee, der gleich wieder schmilzt. Ungesundes Wetter, ewige Feuchtigkeit, alle Leute sind krank. Heute legte sich Herta und unser Dienstmädchen mit Fieber zu Bett. Anscheinend scheint eine Verständigung mit Amerika erzielt zu werden, es wäre wirklich zu wünschen. Außer dem einen kleinen Kreuzer Caroline sollen zwei Zerstörer Eden und Nith durch einen Zeppelinangriff auf dem Humber gesunken sein. Die Engländer wollen es bis jetzt noch nicht zugeben.
12. Febr. 1916. Feuchtes nebliges Wetter. Therese im Krankenhaus. Hier herrscht viel Krankheit, meist Influenza, alle Leute liegen im Bett. Unsere Torpedoboote machten in der Nacht vom 10. zum 11. Februar einen Vorstoß und stießen auf eine Menge englischer Kreuzer, die die Flucht ergriffen. Sie wurden von den deutschen Torpedobooten verfolgt und

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versenkten diese den englischen neuen Kreuzer Arabis und erzielten einen Volltreffer auf einen 2. englischen Kreuzer. Ein deutsches Uboot hat am 8. Februar an der sirischen Küste südlich Beirut ein französisches Linienschiff „Luffreu“ (oder Luffren) versenkt. Das Schiff sank in 2 Minuten.
16. Febr. 16. Es soll sich bei dem Gefecht an der Doggerbank, um ganz neue englische Schiffe handeln, die besonders für Minen und Luftabwehrdienst gebaut worden sind. Matthias schreibt aus Leysin, ob vielleicht Max Forstmann (Forstmann, Max)  dabei sein könnte. Ich glaube kaum. Kernseife kostet hier jetzt 1,40 M. Els (Reitmeister, Elsbeth)  geht es sehr schlecht, wir sind auf das Schlimmste gefaßt. Wäre nicht mein Dienstmädchen Therese und Herta so erkältet, wäre ich gleich abgereist. Gestern und heute sprach ich ausgezeichnet telefonisch mit Blume. Matthias schickte eine Zürcher Zeitung mit seinem Aufsatz über „Kriegsfürsorge“. Ein französischer Kreuzer „Admiral Tharmer“ ist anscheinend auch torpediert worden. Näheres weiß man noch nicht.
23. Februar 1916. Seit Sonntag, den 20. Februar hört man hier Tag und Nacht eine Schießerei, kaum zu beschreiben. Es müssen schwere Artilleriekämpfe im Gange sein. Nachts kann man oft vor Getöse nicht einschlafen und denkt an die armen Soldaten, die da im Feuer sind. Ob es wohl

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die große Offensive ist, die des schlechten Wetters wegen verschoben wurde? Seit Sonntag haben wir schönes Frostwetter und Schneefall. In Berlin sollen solche Unruhen unter der Bevölkerung sein, man hörte schon öfter davon. Die Frauen wollen ihre Männer wiederhaben und klagen über die knappen Lebensmittel. Kartoffel bekommt man dort nur mit einem Pfund. Für alles giebt es Karten, Butterkarten, Fettkarte, Brotkarten etc. Es muß viel Elend in den großen Städten sein. Wir merken hier Gottlob noch wenig davon, haben noch unser eigenes Gemüse, genug Kartoffeln und Brot, nur Butter und Fett ist für uns auch recht knapp. Leider ist bei Revigny ein deutsches Luftschiff in der Nacht durch feindliches Feuer zerstört worden. Ein seltener Fall in der glorreichen Tätigkeit unserer Zeppeline!– Hier herrscht sehr Influenza, unsere ganze Familie außer Frl. Hedwig war krank.
26. Febr. 1916. Großer Jubel, das Fort Douaumont ist gefallen, das I. Fort von Verdun. Das Schießen hört man hier in Berncastel an der Mosel ununterbrochen von dort aus Tag und Nacht. Unsere Artillerie muß in reger Thätigkeit dort sein. Die Franzosen scheinen

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nun doch Angst zu bekommen. Sie haben eine große Verlustzahl, aber auch auf unserer Seite gab es große Verluste. Unsere tapferen Soldaten müssen noch tüchtig aushalten, jeder Einzelne ist ein Held.
Am 2.-3. März war der Kanonendonner am schlimmsten. In der Nacht hörte ich plötzlich einen furchtbaren Schlag, die Fenster zitterten, es muß wohl eine Explosion stattgefunden haben. Unsere Marine entwickelt eine rege Tätigkeit und der Ubootkrieg wird wohl jetzt in verstärktem Maaße einsetzen. Unser Kartoffelvorrat im Keller wurde wieder aufgenommen und wir mußten angeben, wie viel Centner wir ungefähr bis zur nächsten Ernte noch nötig hätten. Alles wird aufs peinlichste geregelt. Hoffentlich bekommen wir auch bald Butterkarten. Ich habe heute ½ Pfund Butter bekommen und habe mich lange nicht so reich gefühlt. Die Kinder waren alle krank, Mädchen mußte ich entlassen, man war in sehr gedrückter Stimmung, nur der Erfolg bei Verdun warf einen Sonnenschein in unser trauriges Dasein. Josef (Rech, Josef)  steht in großer Gefahr und alle unsere braven Krieger sind so leid, draußen zu sein und wünschen sehnlichst den siegreichen

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Frieden. Nun hoffentlich sind wir ihm ein Stück nähergerückt. Johannes (Rech, Johannes) hat in Brüssel seine Frau bei sich, sie arbeitet beim roten Kreuz und können nur abends zusammen sein.
Am 3. März. Abends gegen 11 Uhr als ich im Bett lag, hörte ich einen furchtbaren dumpfen Knall, ich habe schon mal davon geschrieben. Merkwürdigerweise erzählte mir Frau Geheimrat Schmitz dasselbe, als ich heute bei ihr war, um ihren Mann zu Herta zu bitten. Sie hat schlimmen Finger, der heute Morgen aufgeschnitten wurde, sie schrie natürlich tüchtig.
12. März 16. Der Kampf um Verdun dauert fort. Das Fort Vaux wurde nach heftigen Kämpfen von den Franzosen wieder genommen. Sonst wurden die feindlichen Angriffe abgewiesen. 2 Kampfflieger schossen 2 englische Flugzeuge ab bei Ypern und La Basseé. Die Teuerung wird größer. In Hersel werden uns 50 Pfd. Kartoffeln aus dem Keller beschlagnahmt. Es soll hier in Bonn, wo ich seit einigen Tagen mit Herta bin, Kartoffelmangel herrschen. Es ist alles schlimmer, wie in Berncastel. Das Pfund Rindfleisch kostet hier schon 2,40 M. Schinken das Pfund 4,80 M. Butter ist hier von der Stadt aus geregelt.

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Das Wetter ist leider sehr unbeständig, so daß man noch nichts draußen pflanzen kann. Ende der Eintragungen von Helene Rech. Von hier an schreibt wieder Matthias Rech.
(Winckler geriet Charfreitag vor Verdun mit leichter Kolonne in Feuerüberfall)
Charfreitag, den 21.4.1916. Seit Dienstag nachmittag sind wir wieder alle hier. Helene noch sehr angegriffen, muß unbedingt stark zunehmen, da Niere bedenklich lose. Herta wohlauf, bei Tisch oft ungezogen, muß wieder in strenge Zucht genommen werden. Alle Welt redet fast nur noch vom Essen. Fleisch sehr knapp. Zucker z. Zt. (wegen Bestandsaufnahme) kaum zu haben. Mit anderen Artikeln ist es ähnlich. Bei Verdun fast täglich Fortschritte, die stets gegen die Franzosen behauptet werden. Die Engländer werden die Franzosen allmählich an der nordfranzösischen Front ablösen müssen. Frau Brinkmann (die auch Operation und böse Erkrankung des Söhnchens hinter sich hat) hat Sorge: Ihr Mann soll bald zur Front, schon 44 Jahre alt, Feldw. Lt.– Es hatte heute den Anschein, bestes Wetter zu werden. Morgens ging ich mit Herta aus. Jetzt regnets wieder, und der Himmel ist bedeckt und trüb. Gleichwohl ruft der Kukuk eifrig drüben im Wald. Die Bienen benutzen jede regenfreie Pause des Unwetters zu fleißiger Arbeit. Bruhns schreibt aus Leysin, daß ich dort noch eben rechtzeitig einem scheußlichen Unwetter entwischt sei: Föhn, Nebel und toller Schneefall wie kaum im Winter. Vom 28. Januar - 10. April war ich in Leysin und erlebte dort allerlei: Vor allem die großen Kämpfe vor Verdun und deren Reflexe auf französiche und westschweizerische Blätter, manche angenehme Stunden mit Bekannten, viel Schnee, Nebel und Föhn, schließlich prächtigen Vorfrühling im April.

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Ostersonntag 23.IV.16. Endlich scheint es mit Regen aufhören zu wollen; doch kommt die Sonne noch nicht aus dem zähen Wolkenschleier. – Herta war gestern den ganzen Tag mit heftigem Fieber zu Bett, erbrach auch anfangs alles. Heute wieder besser. Sie freute sich so auf den Osterhasen, der nun hoffentlich noch morgen kommt. Das Barometer geht sprunghaft in die Höhe und so haben wir die besten Aussichten. Ich höre heute wieder –seit fast ¼ Jahr– leise den fernen Kanonendonner, dazwischen Vogelgezwitscher, Krähenschreien und Kukuksrufe. Sonst feierliche Stille. Ich wunderte mich, wie gut die Feder schreibt, die doch 3 Monate unbenutzt hier auf offener Laube fast wie im Freien lag. Es wird mir diesmal –ich weiß nicht warum– recht schwer, den getreuen Chronisten zu machen. Doch solls weiter versucht werden. Zu Mittag gabs Fleisch, das wir die ganze Woche nicht hatten. Ist es des Aufzeichnens wert? Marianne hat in Sprache, Bewegungen und eigenen Spielen so viele drollige Züge und ist dabei oft so naiv und schelmisch, daß man von Herzen über sie lachen muß und sich freuen kann. Trotz aller Beschwerden, die ihr 2 vorbrechende Backenzähne machen, ist sie fast stets guter Laune. Herta ist leider viel zarter und empfindsamer. Im Garten blühen die Äpfelbäume so schön wie nie. Um wenigstens etwas Nützliches zu vollbringen, ordnete ich den Bücherschrank, der überfüllt und voll Unordnung war. – Die Russen haben Trapezunt genommen, den Engländern scheint es am Tigris ernstlich schlechter zu gehen. Ob sie eine wirkliche Wehrpflicht einführen müssen, steht noch dahin; vorab versuchen sie von den Holländern Schiffsraum zu erpressen. Der Fleisch-, Fett- und Ölmangel aber bei uns scheint jetzt erst recht zu beginnen. Russische –viel zu verfrühte– Friedensgerüchte werden amtlich für nichtig erklärt.

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28.4.1916. Einen 16jährigen Fürsorgezögling hatte ich heute wegen fortgesetzter Diebereien und Unterschlagungen zu verurteilen. 4 Wochen Gefängnis, da im Rückfall; warum: der Junge hatte kein Taschengeld. Soll es aber nun bald bekommen. Es ist eine merkwürdige Sache, so ohnmächtig gegen Leben und Gesetz sein zu müssen. – Heller Himmel, Ostwind. Unsere Hochseeflotte beschießt die englische Südostküste, Heeres- und Marineluftschiffe bombardieren von oben, in Irland herrscht Aufstand (zu früh losgeschlagen?) und Wilson droht mit Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Alles wartet gespannt.
29.4.1916. Wind, Wolken, Sonne. Mäßige Arbeit. Helene war zum Einkaufen selbst in der Stadt mit dem Ergebnis: Rindfleisch giebts noch mal, aber kein Waschmittel, Persil noch Seifenpulver. Was geschieht nächstens mit der Wäsche? Friedrich war wohl mit Recht ein wenig entrüstet, daß ein prächtiger Ochse, um den er sich 4 Wochen lang bemüht und die Beine abgelaufen hatte für ihre Wehlener Metzgerei zu ½ einem Mainzer und ¼ einem anderen zugeteilt wurde, so daß ihm nur ¼ blieb. Fett muß zum Einschmelzen von den Metzgern abgeliefert werden, Hausschlachten ist vorab bis 1. Oktober 1916 ganz verboten. Haferflocken, Gerstengries nicht zu haben, noch weniger Fett, nach dem alles giert. Wir werden den Leibriemen enger schnallen müssen. – Abends: Auf dem Heimweg las ich ein Extrablat mit der Nachricht, die Großes verspricht: Deutscher Vorstoß südöstlich des Narotzsees (südl. Dünaburg) mit 5000 Gefangenen und großem Material. Vormarsch auf Dünaburg? Die Engländer melden selbst den Verlust eines Linienschiffes „Russel“ (14000 t) im Mittelmeer „durch eine Mine“, es wird wohl ein Uboot gewesen sein, und man wird der deutschen Meldung abschwächend zuvorkommen.

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Auffallender Weise reden die Engländer selbst viel von „ernsten Unruhen“ in Irland. Ist’s Wahrheit oder nicht vielleicht stark übertrieben, um die allgemeine Aufmerksamkeit im Lande und bei den Bundesgenossen von der viel brennenderen Wehrpflichtgesetzesvorlage abzulenken? Die englische Staatskunst bleibt stets zu bewundern. Jetzt will ein Holländer gesehen haben, wie die Engländer in der Themsemündung mit einem eroberten deutschen Uboot manövrierten. Natürlich liegt der Gedanke nahe, daß sie am Ende die Tubantia (den holländischen Passagierdampfer) und die „Sussex“ (einen englischen Kanaldampfer) versteckten, um Amerika zu der unverschämten neuen Ubootnote zu pressen und uns indirekt damit jene Waffe aus der Hand zu ringen, die ihren Lebensnerv, die Handelsschiffahrt trifft. – Was wird die nächste Zukunft bringen? Ein selten schönes saftiges Stück Ochsenfleisch von Friedrich und ein Kalbsbraten von Dahm helfen uns über die nächste Fleischnot. Helene überlegt schon, was sich davon sterilisieren läßt.
30.4.16. Wie schade, daß v. d. Goltz das nicht mehr erlebt hat: Heute früh, als ich mit Herta um Garten ging, um die Beete zu lüften und Salat zu holen, war eine neue  kurze Depesche angeschlagen: Die Engländer haben sich bei Kut el Amara bedingungslos ergeben müssen. 13000 Mann (noch übrig von 20000) das ist ein Schlag für England, das z. Zt. die Anfänge eines irischen Aufstandes erlebt.

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Es ist ein würdiger Erfolg für v. d. Goltz’s Lebensarbeit. Hoffentlich giebts einen Stoß durch die mohamedanische Welt bis Indien und über Egypten bis Marroko und den Sudan. Es könnte sehr dazu beitragen, den Islam wirklich auf die Beine zu bringen.– Mit Herta ging ich nach dem Frühstück zum Amt und hatte vor, die Flagge aufziehen zu lassen, aber – Verfügung über Beflaggen u.s.w. na, nun wirds wohl später kommen! Die Bedeutung wird freilich noch lange nicht jedem klar werden. Thanisch lud mich zum Spaziergang mit seiner Frau ein und wir machten bei herrlicher Aussicht einen prächtigen Gang, Aufstieg in der Brauerei, durch und über die Kreisweinberge, durch frischen Buchenwald; sahen ein Reh über den Weg setzen, das „Mäxchen“ aufgestöbert hatte. Herta sah es mit Freude, wohl zum erstenmal und meinte, es sei eine „Hirschkuh“, war aber eine Rehgeis.
1. Mai 1916. Wir sind um 1 volle Stunde vor – ostwärts gerückt. Ob wir überhaupt in entsprechendem Verhältnis ostwärts rücken werden? Einen Zentner (allerdings gemahlenen, andern gabs nicht mehr) Zucker habe ich zu 30 M bei Dillinger erstanden, der überhaupt noch allerlei gute Sachen hat und zu mäßigem Preise verkauft. Er ist ein origineller Kauz und –falls ich Zeit habe– wüßte ich keinen Bernkastler, mit dem ich mich lieber unterhielte, als mit ihm. Er weiß tausend Dinge und ist überaus scharfsichtig.
Zu meiner Genugtuung lese ich in der Kölnischen Zeitung eine Depesche vom 29., nach der S. M. auf den 30. die Beflaggung der öffentlichen Gebäude angeordnet hatte. Also hätte ich doch flaggen lassen sollen! (und hatte Recht!)

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5.5.1916 Bedeckt, schwüle Hitze, lähmend. Bienen eifrig beschäftigt, haben gute Tracht. Hoffentlich giebts Honig, man kann ihn gebrauchen! Zu Helenens großer Freude gab es heute wieder Eier und Butter. Nach Mamas (Rech, Anna Maria) Brief wird in Bonn täglich alles knapper. Wir bekamen noch eine Portion Gerste aus Commen. Gestern wollte ich nach Thalveldenz, 2 Kriegsbeschädigte besuchen, nach den Wetterapparaten drohte Gewitter mit Hagel und so blieb ich zu Hause, übler Laune durch den nicht ausgeführten Entschluß. Bei der Kreissparkasse, im Garten des Rendanten, fing Kuntz heute vormittag einen guten Schwarm ein. Von Scherer und mir scheint er nicht zu sein. Ich klebte 7 Kunstwaben ein, bin froh, noch Mittelwände zu haben.
6.5. Luftschiffe über England, eines in Norwegen verloren gegangen. 12 ½ Pfund Speck (ausl.) von Krings zu 2,40 M bekommen, ausgelassen. Den Amerikanern haben wir mal wieder, hoffentlich das letzte Mal, nachgegeben in der Ubootfrage, doch nicht ohne Bedingung. Darüber wird wohl bald wieder eine Notenschreiberei losgehen. Nachts Regen, schwaches Gewitter, heute kühler. Seit 2 Tagen grünen die Weinberge. Gestern abend kam Dr. Wolf zum Garten, es war alles hübsch sauber, da hier tags zuvor „gehausputzt“.
7.5. Dr. Wolf bezeichnete vorgestern unsere gesamte innere Organisation als eine „organisierte Hungersnot“. Na, so weit ists noch lange nicht, wenn auch schon etwas daran ist. Heute gab es bei uns solche in dieser Form: Ein faustgroßer Kalbsbraten, etwas über ½ kg 3 M, dazu Spargel, Bohnensalat, Fleisch- und Eiertunke, Kartoffeln und zum Nachtisch köstliche Pfirsiche von vor 2 Jahren! –

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10.5. Auf dem linken Maasufer sind vor Verdun große Fortschritte gemacht worden. Gestern kamen Verwundete hier ins Lazarett, die arge Brandwunden haben. Auch die Anzüge sollen ganz verbrannt riechen. Angeblich hätten wir bei Douaumont (?) 1500 Mann durch Brand (Mine?) verloren (??). Es ist auffallend, wie allenthalben die Energien der Leute sich auf die Verproviantierung mit Lebensmitteln richtet: Gerichtsdiener Friedrich fragte mich, ob Krings (der den Kreis-Einkauf besorgt) nicht Öl habe. Ich wußte nichts davon, es fiel mir aber wieder ein, als ich dort den neulich erhalten fetten ausländischen Speck bezahlte. Auf meine Frage holte mir K. eine Literflasche prächtigen Olivenöls zu 4 M (kostet sonst 8 M), die er noch „übrig“ hatte, obschon das Öl für Morbach bestimmt war. Ich denke, wir behalten es zu ½, die andere Hälfte bekommt Fr. und wir dafür vielleicht 2 kleine Kaninchen. Dr. Wolf ist so am verhungern, daß seine Tochter schon zur Stachelbeerernte (an den Sträuchern hängen höchstens 2-3 Pfd.!) hierher kommen soll. Für Kirschen und vielleicht Pfirsische wäre es noch verständlich, aber Stachelbeeren! Ich hoffe, Beerenfrüchte mit Kr. von Roisdorf zu beziehen. Daß ich mir einige Säcke verwahrt habe, macht sich jetzt bezahlt: Zum Bezug von Bienenzucker müssen wir die Säcke einsenden! – Eine Kindsmutter, die ich heute über die Vaterschaft ihres Kindes zu vernehmen hatte, vertraute sich mir an: Sie war in Trier bei einem Gymnasial-Direktor a.D. bereits 2 ½ Jahre in Stellung. Obwohl sie einen hatte, mit dem sie „ging“, aber keinen Geschlechtsverkehr hatte, hat ein aus dem Feld für etliche Monate nach Trier zurückgekehrter Vizefeldwebel, Sohn einer reichen Familie aus Du...(?), der bei der Herrschaft als Verwandter wohnt, verführt und monatelang mit ihr

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im intimsten Verkehr gelebt. Der „andere“ hat, als er später hiervon und von der Schwangerschaft hörte, vor Schmerz geschluchzt und sich freiwillig gemeldet. Er steht schon im Felde. Die Mutter mußte nach der Entbindung schmerzhafte Brustoperation durchmachen und ist noch ganz schwach davon. Ihre frühere Herrschaft hätte sie gern wieder. Ein hübsches und sympathisches Mädchen. Leichtsinn, Torheit. Vielleicht auch dem „aus dem Felde kommenden Helden“ unterlegen. – Wir aber jagen jetzt hinter ihm her.
13.5. Trotzdem ich einer Magenverrenkung wegen, 2 Tage fasten mußte, ist stramm geschafft worden. Eben habe ich schweißtriefend 7 Bienenvölkern die Honigkästen aufgesetzt. Jetzt giebt mir ein Gewitter eine erwünschte Pause. Den endlich von Bonn erhaltenen Sonnenblumensamen setzte ich in Töpfchen ins Mistbeet und deckte die Fenster ab, so daß der befruchtende Gewitterregen frei einfällt. – Bei Verdun sind anscheinend erhebliche Vorteile für uns errungen worden, und die Franzosen haben mal wieder ihren Befehlshaber dort gewechselt. Mit Rechtsanwalt Schönberg unterhielt ich mich heute morgen einige Zeit über Dr. Ludwig. Er war mir neulich auf der Brücke begegnet und hatte mir strahlend erzählt, die Diamantenherstellung nach seiner Methode sei gelungen. Schönberg wußte näheres. Es war doch nicht ohne eine Explosion mit großer Erschütterung abgegangen. Diamantstaub in größerer Menge, stellt sich auf 1/5 der bisherigen Gewinnungskosten. Leider ein Hemmnis: Die Diamanten bilden sich bereits an den Kohlen des elektrischen Ofens (7000°?) und verhindern weiteren elektrischen Kontakt. Gold hat er angeblich in reines Kupfer durch die Umlagerung der Moleküle umgewandelt.

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Die umgekehrte Möglichkeit eröffnet seltsame Ausblicke: Die Entwertung des Goldes müßte notwendig einen Zusammenbruch unseres ganzen Wirtschaftssystems und namentlich des heutigen Kapitalismus werden. Die blitzschnell aufeinanderfolgenden wirtschaftlichen Versorgungsmaßnahmen unserer „organisierten Hungersnot“ scheinen den Boden hierfür vorzubereiten. Schönberg meinte trotz aller Fehler brächte uns diese Zeit Vorbedingungen für künftiges Zusammenwirtschaften, die in anderen Ländern auf dem Wege einer Revolution erkämpft werden müssen. Es geschehen freilich seltsame Dinge. Landwirtschaftliche und industrielle Erzeugung werden weiter Werte schaffen und irgendeiner kann an die Stelle des Goldes treten. Die Erschütterung aber möchte ich sehen, wenn Gold auf – Kupferwert sinkt!
17. Mai. Am Sonntag luden Th’ mich zur Jagd ein. Über Mittag wurde schleunigst Jagdschein und sonstiges besorgt und ½ 4 fuhren wir –Hugo Th. und ich– zur Römerstraße. Leider regnete es stark. Zur Jagdhütte und abends auf die Birsch. Leider bald dichter Nebel. 7 Geißen, aber keinen Bock gesehen. Jagdhütte, getrocknet, geheizt, gegessen. Bis 4 Uhr morgens geschlafen, wieder Pürschgang auf Böcke und Sauen, nichts gesehen. Regen. Prachtvoller Blick von hoher Kanzel auf Eiche. Hugo Th. ging aufs Postauto, Meyer nach Hause. Ich blieb über Mittag auf der Hütte, kochte mir Essen, las und schlief. Draußen Regen und Wind. 3 ¼ los, über Merscheid - Rapperath nach Morbach, wo ich mir Kriegsbeschädigte hinbestellt hatte. Vor Rapperath wüster Regen, Schutz in Heiligenhaus an malerischen Quarzitfelsen. Dort gewaltigen, romanisch stilisierten Holz-Christus

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getroffen, ganz überrascht davon. Auf dem Wege nach Morbach einen Bauer und Wollen (Tirtey (?)) Weber aus Gielert getroffen, den ich vor Jahren mit Kreisarzt Lehmann als Vorsteher besuchte. Verabschiedeten uns herzlich in Morbach. Dort zu Brauns. Mantel zum Trocknen. Kriegsbeschädigte verhandelt. Bildschnitzerei Mattler besucht, dort originellen Tiroler Schnitzer aus Grödental kennen gelernt, der angeblich noch „Kripperln“ in altem Stil schnitzen kann. Er will demnächst einige Figuren mir zur Probe anfertigen. – Zu müde, um noch Eduard Hauth und Viktor Thanisch auf Morbacher Jagd aufzusuchen. Gut zu abend gegessen (Kalbskotelett mit Bratkartoffeln und Salat). Ausgezeichnet mit „Pater“ Brauns, Frau Dietz, deren Kindern unterhalten. Früh zu Bett, feste geschlafen. Gut gefrühstückt. 9 ¼, da schöne Sonne bei wolkigem Himmel dem Postauto vorausmarschiert bis vor Longkamp am Commener Weg, wo es sich gut traf.  Ich fuhr damit heim, traf Paul Th. mit Frau gleich auf der Straße, ging mit und lieferte Flinte ab. – Helene heute mal wegen ihrer großen Schwäche Geheimrat Schmitz zurate gezogen. Blutarmut.
26. Mai 1916 (Freitag). Mit Paul Thanisch war ich von Montagabend bis gestern nachmittag auf der Jagd. Es waren herrliche Tage, wenn auch nichts geschossen wurde. Daß ich eines Abends bei einem Pürschgang wegen gänzlicher Überschätzung der Entfernung nicht auf ein Wildschwein geschossen habe, ärgert mich ein wenig. 2 Nächte schliefen wir in Merscheid, die letzte auf der Hütte. Wir hatten reichlich Forellen

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und ließen sie uns gekocht und gebraten gut schmecken. Ein selbstgebauter kleiner Steinherd im Freien wurde tagsüber fleißig zum Kochen und Braten benutzt. Auf der Matrazen machten wir Liegekur im Freien, daß wir ordentlich braun brannten. 2 Eindrücke sind mir besonders eingeprägt: In der „Baumhold“ d.h. der äußersten sehr malerisch über dem Zusammenfluß von Holzbach (oder Hölzbach?) und Drohn gelegenen felsigen Waldpartie saßen wir abends bis zum Dunkelwerden auf dem Anstand. Von Fern her donnerten leise und ununterbrochen die Geschütze aus Frankreich, über dem steilen Uferhang jenseits des Drohntals stand die Hunolsteiner Kirche grau gegen den bleichen Abendhimmel und leises Orgelspiel tönte dann und wann dorther. Auf einer weiten Bergkuppe rief unermüdlich der Kukuk. Es war eine wundersame Stille in der warmen Luft. – Dann gestern marschierten wir bei warmer Mittagssonne durch den herrlichen, der Stadt Berncastel gehörigen Hinterwald, nachdem wir auf der Jagdhütte gefrühstückt hatten, die ganz wunderschön in einer Art Waldpark liegt. Es war prächtig dort. Schließlich entwischte uns auf dem Heimweg hinter dem Burgkopf noch ein kapitaler Bock, den „Mäxchen“, die Hirschbrake, dort aufgestöbert hatte. Er war so klug, nicht auszutreten. – Während dem erheblichen Fortschritte vor Verdun und ein zertrümmernder österreichischer Angriff auf die Italiener zur Feier der Jahreswende deren frivoler
 

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Kriegserklärung. Im übrigen allenthalben Friedensgerede, namentlich auch in America, vermutlich auf englisches Anstiften. Ob er bald kommt? Das Reichs-Lebensmittelamt mit diktatorischer Gewalt hätten wir jetzt glücklich. –
28.2. Regentage, schade für die Bienen und den Wein. Die Österreicher dringen siegreich aus Tirol vor, die Franzosen reiben sich bei Verdun auf.
31. Mai. Gestern war ich nach Veldenz und Thalveldenz unterwegs, um dort 2 Kriegsbeschädigte aufzusuchen. Der eine war mittlerweile an der Schwindsucht gestorben, der andere trotz seiner Lähmung auf Krücken in den Wald hinaus. Bis er endlich kam, unterhielt mich die Wirtin Schmitz in Thalveldenz. 3 Söhne hat sie im Felde: der jüngste kriesgefangen in Ostsibirien, den zweiten in Serbien, den 3. vor Verdun; zudem einen Neffen und Pathensohn ohne Angehörige in französischer Gefangenschaft in Afrika. Allen sendet sie unentwegt Pakete mit Nahrungsmitteln, Eiern, Butter, Speck, Schinken u.s.w. Kein Wunder, wenn es im Lande knapp wird. In Berlin beginnt jetzt die organisierte „Massenspeisung“. Was werden wir bis August noch erleben? Aus den Zeitungen erfährt man lange nicht alles. Helene hat heute nach böser schlafloser Nacht wieder neuen nervösen Schwächezusammenbruch. Schlimm. . . Hausputz: Speicher, Vorratskammer, Kinderzimmer. Alsdann zusammengeklappt. Durch den Tod der früheren Hauslehrerin, Frl. Maria Kleinsteuber aus Darmstadt seelisch sehr stark erregt.

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3. Juni 1916. Liegestuhl. Gestern war ein Tag unter den Tagen, so voller kleiner und großer Eindrücke, daß ich sie noch lange nicht alle verarbeitet habe. Helenens Geburtstag fing schlecht für uns an; nach schlafarmer Nacht war sie morgens müde und schlapp, daher niedergeschlagen und durch alle Briefe ect. rührselig gestimmt. Das ewige Schwächegefühl, Schwindel ect. sind ja freilich niederziehend. Erst nachmittags erwacht sie zu besserem Leben. Schont sich dabei nach Kräften. Ich kaufte eine Metall-Reibemaschine und Holzstoffeimer, allzu materielle Geschenke. Auf dem Amt natürlich ein Aufenthalt nach dem anderen, so daß der sehnliche Wunsch, mal ausnahmsweise früh fertig zu werden und zu Helene in den Garten zu können, vereitelt wurde. Reuter, unser Aktuarius, stellte sich in schneidiger Leutnantsuniform vor. Vor Jahresfrist befürwortete ich sein Gesuch um Versetzung in höher gelegenen Ort wegen starker Kopfschmerzen hier. Er kam nach Kirchberg, wo ihn ein anderes A.C. faßte und nach Berlin zur Garde sandte. Dort schließlich dauernd garnisondienstfähig, plötzlich zum „militär“-zivilen Friedensgericht bei Grodno in Littauen, als Gerichtsschreiber im Offiziersrang. Dort seit März 1916 tätig. Geht ihm gut dort. – Größter Eindruck: Depesche in der Kölnischen Zeitung von dem gewaltigen Seesieg am 31. Mai  an der Westküste Jütland (Zeitungsausschnitt beigelegt). Die Engländer sind allem Anschein nach dort entscheidend geschlagen worden. Ich war wie betäubt davon, fühlte eine sonderbare Leere im Kopf und sah alle Dinge ganz weit entfernt um mich. Sollte das nicht ein scharfer Schlag auf den Frieden zu gewesen sein? Um 12 Uhr endlich auf dem Heimweg wurde ich bei Lauers aufgehalten: Anton Thanisch dort; er hat einen Transport nach Breslau. Er gab einige ungemein plastische und deutliche Erzählungen von Artilleriegefechten, die geradezu künstlerisch abgerundet waren.

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Ich mußte ihn stets ansehen. Er bleibt ½ Tag hier und geht nach Dörrberg zur Jagd. So gut er sich mit beiden Brüdern steht, so wenig scheint es ihn zu seiner Frau zu ziehen. Er kann mir ordentlich leid darum tun. Nachher lag ich im Garten, unser Plan, dort den Geburtstagskaffee alle zusammen mit (verbotenem!) Kuchen einzunehmen, scheiterte wegen drohendem Regen. Nachher ging ich mit Helene allein hin. Frau Thanisch, die von Helenen’s Geburtstag gehört, brachte ihr prächtige Nelken. Unterhielt sich so lebhaft mit ihr auf der Veranda über den Ausflug am Christi Himmelfahrtstag, daß Frau Eduard Hauth, die vorbeikam, gerade hören konnte, wie von ihr die Rede war. Sie kam dann auch herauf und es gab eine Zeitlang eine lustige Unterhaltung. Helene war erfrischt davon. Abends und nachts gabs Regen. Leider heute auch, so daß die Bienen mal wieder einen Tag verlieren. – Heute sind alle Blätter voll vom deutschen Seesieg. Die britische Admiralität giebt eine ganze Reihe ihrer Schiffe als verloren bekannt. Nach 22  Kriegsmonaten die große Seeschlacht: auf beiden Seiten die gesamte Schlachtflotte. Die Engländer trotz großer Übermacht entscheidend geschlagen. Gestern auch im Tagesbericht großer Fortschritt vor Verdun: Caillettewald erstürmt. 2000 Mann. Noch einige Kleinigkeiten: Aus Anton Th. Beschreibung weiß ich nun auch, daß Kampfflieger wie Immelmann und Bölke stets allein fliegen und zwar sozusagen auf einem geflügelten Maschinengewehr. Der Lauf liegt starr in der Flugaxe, der Schuß geht durch den Propeller, der mit dem Maschinengewehr so verkuppelt ist, daß er natürlich nicht die eigenen Flügel abschießt. Also fliegen und schießen ist eins bei

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diesen Lufttorpedobooten. – Heute machten wir die wenig anmutende Entdeckung, daß unser Vorrat an Kartoffeln, dem wichtigsten Nahrungsmittel neben Brot jetzt, zu Ende geht. Ehe unsere neugesetzten, die sich prächtig entwickeln, reif sein werden, haben wir noch einen Doppelzentner nötig. Also frisch auf die Kartoffeljagd! – Vizeadmiral Scheer, Sohn eines Hanauer Gymnasiallehrers Dr. Scheer, führte das Kampfgeschwader. Vizeadmiral Hipper die Spitze, anscheinend auf „Westfalen“, die allein 6 Torpedozerstörer abschoß.
7.6. Kalte nasse Tage. Man beginnt die Weinberge zu spritzen. Die Engländer haben Pech: sie meldeten den Untergang eines 11000 t Panzerkreuzers Hampshire, der mit Mann und Maus bei den Orkney-Inseln durch Mine oder Torpedo unterging. Lord Kitschener mit Stab war darauf, um nach Rußland zu fahren. – Morgen wollte ich erstmals Honig schleudern, der Regen scheint dies zu nichte zu machen.– Montag war ich mit Herta den Tag über in Morbach, leider war es stürmisch rauh. Nach Erledigung der Kriegsbeschädigten am Bahnhof aßen wir im Hochwaldhof, trieben uns nachmittags im Wald und später in Morbach herum, fuhren ½ 6 mit Auto heim. Rückfahrt leider recht kalt. Waren morgens mit Auto hingefahren. Abends begegnete uns hinter Commen ein leerer bäuerlicher Leichenwagen. Ich wußte sofort: er hatte Rosa Hermann’s Mutter als Tote aus dem Krankenhaus heimgebracht. Und so war es. Die Nacht zuvor war sie gestorben. Helene gab Kranz mit. Es ist eine böse Sache für die Familie mit kleinen Kindern. – Der Regen dürfte allgemach aufhören. Helene hatte durch den Tod der Frau Hermann allerlei Aufregung, doch hat sie diese leidlich bestanden. Es geht ihr sichtlich besser.

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Vorgestern bestellte ich mir in Berlin blauen Scheviot- und grünen Lodenanzug, da mein Bestand sehr mangelhaft geworden. Gestern lese ich, daß Kleiderkarten eingeführt werden. Neugierig, ob ich die Anzüge noch bekomme. Mit Fleisch wirds stets weniger. In Bonn bekommen sie so gut wie nichts mehr. In Morbach bekamen wir mittags noch Rehrücken und Schweinebraten. Derzeit ist solche doppelte Fleischspeise für Gasthöfe verboten. –
8.6. Heute morgen habe ich aus Winklers Stöcken die Honigwaben entnommen und Frl. Martha hat geschleudert. Es war ein hübscher Posten Honig, ohne die letzte Regenwoche wäre es ganz gewiß mehr gewesen. Sehr verschieden verhielten sich die Völker: Das sonst so rabiate Volk 6 war ganz sanftmütig; 4 hingegen böse und meine rechte Hand und Unterarm sind stark geschwollen. Nachher und morgen in der Frühe sollen meine Völker drankommen. Winkler kommt Samstag auf 3 Wochen in Urlaub. Da kann er hoffentlich noch selbst mal schleudern. Seit 8 Tagen höre ich den Pirol. – Endlich macht unser Tagesbericht die Einnahme der Panzerfeste Vaux vor Verdun bekannt. Schon seit dem 2. Juni meldeten die Franzosen, ihre Leute seien dort abgeschossen. Lt. Rakow mit dem Poure le Merite tritt an die Seite des Von der Linden. Neuerdings wurden auch neue Namen als Kampfflieger bekannt, die ihr 4. Flugzeug abgeschossen haben.
Pfingstmontag 1916. In Wolhynien haben die Russen unter Brussilow einen bedeutenden Vorstoß mit bösem Erfolg gemacht: Über 60000 deutsche und österreichische Gefangene melden sie –von uns aus widersprochen– in ihren Berichten. Hoffentlich kommt es dort nicht zu einem völligen

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Durchbruch. Ernste Pfingsten. Große Kartoffelnot in den rheinischen Städten, auch in Bonn. Wir betteln morgen welche bei Thanischs, wo wir gestern zum Thee waren. Meyer - Merscheid wird welche liefern, doch war der Bierwagen gerade abgefahren, der sie mitbringen sollte. So schönes Schweinefleisch, wie wir heute Mittag hatten, aß ich schon lange nicht. 47 Pfd. Honig habe ich in Gläser gefüllt und damit gestern und heute morgen die erste Honigschleuderung verschafft. Leider kann es sich noch nicht zu schönem Wetter entschließen. Die Linden haben schöne Blütenansätze und es könnte noch was schönes geben.
15. Juni. Nun regnets schon den ganzen Monat Juni ununterbrochen und selbst der Vollmond gestern hat den heißersehnten Witterungsumschlag immer noch nicht gebracht. Es ist ein Elend. Namentlich Roggen und Kartoffeln erscheinen durch den ewigen Regen gefährdet. Es ist zum auswachsen! Gemüse geht nicht vorwärts. Dazu eine Temperatur, wie ein gelinder Winter hier. Viele haben schon geheizt und auf meinem ungeheizten Amtszimmer muß ich mir heftig Bewegung machen, um nicht zu frieren wie ein Schneider. Außer den Engländern haben namentlich die Schnecken die größte Freude an diesem Sauwetter. Die überreich angesetzten Erdbeeren reifen unverdrossen weiter und täglich stelze ich 2mal mit Holzschuhen in den Wasserlachen zwischen her, um sie dem gierigen Schneckenzeug zu entreißen. = Zuckerkarte wird vom 1. Juli auch hier im Kreise in Schwung kommen. Der Landrat bezeichnet die monatliche Ration. Wir haben hier jetzt Brot- fakultative Butter- und demnächst obligatorische Zuckerkarte. Vom 1. August bekommt man alle billigen Kleidungs- und Wäschestücke nur noch gegen Bezugsschein.

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Heute nachmittag soll noch einiges Unterzeug für mich und für die Kinder hiervor gekauft werden. Ein Zeichen der Zeit und Kinderart: Herta schnitt sich heute Mittag einen kleinen grünen Zettel und brachte ihn Marianne als „Suppenkarte“, als diese gerade Suppe aß. – Der russische Angriff in Wolhynien – es soll mal wieder sehr viel österreichische Überläufer gegeben haben – scheint zum Stehen gebracht zu sein, anscheinend durch deutsche Truppen unter Graf Bothmer. Die Engländer ziehen angeblich schon Kriegsschiffe aus dem Atlantischen und Marinemannschaften aus dem Indischen Ozean zur Auffüllung ihrer am Skagerak arg mitgenommenen Flotte zurück. Japan und Amerika hat letzten Endes die Früchte auch unseres Seesieges in der Hand! – Die Verfütterung von Kartoffeln ist mit harter Strafandrohung (bis 1 Jahr Gefängnis oder 10000 M !! Geldstrafe) verboten. Dieses Verbot läßt sich gottlob nicht scharf durchführen, sonst ist unsere Schweinezucht hin. Der passive Widerstand der Bauern wird schließlich eine gewisse Ausgleichung herbeiführen, wie in Rußland die Bestechung namentlich der Bahnbeamten. Von Winkler, der auf 3 Wochen in Urlaub ist und der uns mit Frau gestern morgen besuchte, hörte ich nachmittags etwas, was mir neu war: Die russischen Friedensverhandlungen seien vor einiger Zeit daran gescheitert, daß wir u. a. verlangt hätten, Rußland müsse den Staatsbankerott erklären (damit wir erste Hypothek bekämen) Auf alles hatten die Russen eingehen wollen, nur nicht hierauf. Die Franzosen würden damit finanziell ruiniert. || Bei Ypern haben uns die Engländer wieder einen Teil der kürzlichen Eroberungen abgenommen. Walter

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Forstmann (Forstmann, Walter) hat seit einiger Zeit wieder 17 Schiffe versenkt. Max Forstmann war mit in der Seeschlacht am Skagerrak. – Der s. Zt. torpedierte holländische Schnelldampfer Tubantin ist durch ein deutsches Torpedo versenkt worden, das von einem Uboot als Fehlschuß auf einen englischen Zerstörer an der flandrischen Küste früher abgeschossen worden war. Die freundlichen Engländer haben es also vielleicht aufgefischt und dem biederen Holländer an den Bauch geschossen, um ihn gegen die „Moffen“ aufzuhetzen! Nettes Stückchen! Vielleicht ist er auch selbständig geschwommen und hat getroffen. Eine lange sachliche Veröffentlichung unseres Admiralstabs bringt genau Feststellung über den verdächtigen „Fisch“.
18.6. Gestern war ein heller sonniger Tag, heute bald kalt, bald warm, dunstig bei Nordwind. Ein herrliches dunkelgraues Luftschiff mit 4 Propellern flog gestern abend über unseren Garten, die Mossel nordwärts. Wohin? Nach England? Es war ein prächtiger Anblick. Der Tag wurde eifrig benützt zum Kartoffeln-häufeln und Gemüsepflanzen.
22.6. Fronleichnam. Endlich mal ein warmer schöner Sommertag. Die Bienen benützen ihn fleißig zum Fliegen. Die Linden haben zu blühen begonnen und glücklicherweise sind noch nicht alle Wiesen gemäht. Freund Erkleben berichtete uns heute freudestrahlend, daß sein kürzlich von Scherer erworbener Schwarm bereits 5 Pfd. Honig gegeben habe. Er hat ihn gestern geschleudert. Gestern las jedermann zu seinem Schmerz die Nachricht vom Todessturz des Oberleutnant Immelmann. 16 feindliche Flugzeuge hatte er vernichtet. (Zeitungsausschnitte eingeklebt.) Im Gegensatz zu dem heldenhaft-schön und allenthalben hoch gefeierten Bölke stellte er den Typus des körperlich nicht blendenden, geistig verarbeiteten Deutschen dar. Auf dem Bilde sah er trocken aus, er soll kurz angebunden in der Rede gewesen sein. Eine größere Zahl Nachfolger auf diesem Gebiete werden jetzt schon wiederholt in den Tagesberichten

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genannt: Wintgens u. a. – Heute morgen sprachen mich Herr Mü(ü...)ller und Jacob Thanisch auf der Brücke an mit der neuesten Nachricht: Fliegerüberfall im ersten Morgengrauen auf Trier. Tolle Gerüchte, wie: Maximinskasernen brännten, 70 Tote u.s.w. wurden schon vor Tisch berichtigt. Ich erinnerte mich der maßlosen Übertreibungen im September 1915, wo uns in Hersel Gerüchte über einen Fliegerüberfall in Trier erreichten.
28.6.1916. Am Sonntag sprach ich den seit Jahren stark lungenleidenden Feldnachbar, Schuster und Winzer Schlosser aus der Stadt. Ihm ist am 5. ds. der 4.älteste Sohn im Alter von 19 Jahren bei Cumières am toten Mann gefallen. Granate zerriß ihn. Er lebte noch 4 Stunden. Montag setzte ich ihm ein Gesuch um Kriegselterngeld auf. Der brave Junge schickte seinen Eltern den gesamten Sold (5,30 M alle 10 Tage) nach Hause!
29.6. Nach einer Schilderung, die Bankdirektor Brüning von der Deutschen Bank heute vormittag bei Paul Thanisch machte (wir waren dort zum Namenstaggratulieren) hat der letzte Fliegerüberfall doch viele Menschenleben gekostet. Vor allem wurde ein Schuppen getroffen, in dem neueingezogene Mannschaften schliefen, die starke Verluste hatten und durch scharfe Abschließung dem ausbrechenden Brand nicht entgehen konnten. Auch hat es in viele Häuser eingeschlagen, ohne daß dabei viele zu grunde gingen. – Die Sonne bleibt wieder aus, der Sommer scheint kühl und regenreich zu bleiben.
2. Juli. Seit gestern –Beginn meiner Ferien– ist das herrlichste Wetter, der Himmel leuchtend im schönsten Blau und weißschimmernde Wolken segeln stolz einher. Die Luft zittert vom flirrenden Sonnenlicht. Alles genieße ich aus vollem Herzen. Es geht mir gesundheitlich

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besser und Helene ist gottlob wieder recht frisch auf, so daß sie von ihrer Morbacher Sommerfrische –von Donnerstag ab 1 Woche– wohl allerlei haben wird. Gestern schleuderten Winckler, ich mit Käthchen heute morgen. Es gab lange nicht so viel als das erste mal, man spürt die Regenzeit. Hoffentlich bringen die jetzt blühenden Linden noch etwas. Händler wollten hier schon jedes Quantum zu – sage und schreibe 2,20 M per ½ kg kaufen. Es ist schandhaft, diese Spekulationswut. Freilich eine natürliche Folge der allgemeinen Lebensmittelknappheit. Gestern abend aßen wir in Rüböl geschmorte Kartoffeln, die mir prächtig schmeckten. Derlei ist zur Zeit ein Leckerbissen. – Bruhns schreibt, daß er dort (in Leysin) geistig verkomme und sehnlichst hofft, bald bayrischer Staatsangehöriger zu werden und nach Würzburg zur Arbeit zu kommen. Ich möchte es ihm von Herzen gönnen. Eben fahren die Bauern tüchtig ins Heu. Es giebts das heuer eine schwere Menge. – Herta hatte heute morgen ein kleines Unglück mit Mutters Tintenfaß, das aber noch gut ablief. Wie das Kind stillzitternd im Schlafzimmer erschien, um sein Versehen selbst zu melden, ging mir sehr zu Herzen. Sie bekam dann auch keine Schläge, vor denen sie eine wahnsinnige Angst hat. Auch in den schlimmsten Lagen bleibt sie stets ehrlich, ohne daß wir sie hierauf irgendwie dressiert hätten. Das gefällt mir am besten an ihr. Im übrigen wird sie jetzt eine wilde Hummel und wenn sie Ostern in die Schule kommt, ists für Mutter eine Erholung. – Trotz allen leuchtenden Sommers denkt man stets an den Krieg. Die Engländer scheinen sich jetzt an

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der Westfront zu rühren. Die Heeresgruppe Linsingen hält die Russen in Wolhynien fest. Es wird wohl ewig mit dem Namen des Generals Brussilow dort die Erinnerung an eine grauenhafte Barbarisierung der modernen Gefechtsart verknüpft bleiben: Um sich mit aller Gewalt einen toten Raum durch die österreichischen Mittel zu erzwingen, wandte er erstmals folgende teufliche Technik an: Während nach gründlichem Trommelfeuer auf die feindlichen Linien, die Infanterie beiderseits ins Handgemenge kommt, deckt er abermals die ganzen Kampflinien mit Trommelfeuer zu, so daß Freund und Feind gleichmäßig vernichtet werden. Alsdann gehen neue Infanteriemassen vor und durch den „toten Raum“. Der Erfolg wird wohl nur einmal gewesen sein. So was können aber kalten Mutes wohl nur Russen. Sie sollen ca ½ Million Menschen dort verloren haben.!! – Den Franzosen ist es jetzt ernstlich bange um Verdun. Schon wird bei ihnen die Frage gestellt: „Wozu das alles, wenn wir ohnehin in 100 Jahren als Nation nicht mehr bestehen werden?“ – Bruhns Bruder Oskar geht es in Sibirien, 5 Tagereisen südlich Krasnojarsk verhältnismäßig gut. Er kaufte sich einige Hektar Land und Häuschen für 100 Rubel! und beginnt Bienenzucht.
4. Juli. An der Post las ich heute morgen den erschütternden Tagesbericht von gestern. Am 2. Tage des großen englisch-französischen Angriffs (nach 7 ! Tagen Trommelfeuer) hat man unsererseits südwestlich der Somme auch die zwischen 1. und 2. Linie liegende

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Zwischenstellung (Riegelstellung) geräumt. Hoffentlich giebt es keine wesentlichen Erfolge der Gegner dort. Fort Damloup vor Verdun genommen. Es sind entsetzliche Kämpfe. –Die neblige Kühle des Morgens hat heute mittag einer schwülen Hitze platzgemacht. Mit dem letzten Sonntag geschleuderten Honig habe ich heute 28 Gläser zu je ½ kg gefüllt. Insgesamt bis jetzt 75 Pfund Honig. Rechnet man 2 - 2,20 M pro ½ kg, so macht dies 150 - 165 M, eine prächtig rentierende Anlage, trotz aller Arbeit, Stiche und Verdrießlichkeiten.
5.7. Regen, Regen, Regen! Was soll das noch werden? Gottlob steigt das Barometer und wir hoffen wenigstens für morgen auf gutes Wetter. Gestern abend waren wir bei Thanischs zu einem leckeren Abendessen, das ich mir –der Seltenheit dieses Genusses entsprechend– ganz besonders gut schmecken ließ. Es gab da noch einen vorzüglichen Spargel-Schinken-Eierkuchen, köstlichen Rehbraten (Anton hatte auf der Dörrbacher Jagd einen prächtigen Rehbock geschossen) mit famosen Gemüsen. Wir unterhielten uns aufs beste bis lang nach Mitternacht. Nasses und Oberförster Bauer waren dort. Den Landrat habe ich noch selten so aufgedreht gesehen. Ein wunderbarer 1910er Bernkasteler Ley (auch 08er gleicher Lage) schmeckten prächtig. Kurz zuvor machte ich damit noch 2 Litergläser Kirschen ein. Heute hoffentlich desgleichen. Morgen will Helene nun nach Morbach. Ich fahre mit und bleibe vielleicht die Nacht über oben.
13.6. Am 6. Helene nach Morbach gebracht und über Nacht dortgeblieben. Arge Beschwerden an Nase: Montag Dr. Schmitz zugezogen: Wegen Schwärer gepappt. Abscheulich. Dienstag wieder munter. Dillinger’s Bruder, der große schlanke gefallen. Fracht-Uboot nach Amerika gekommen. Große Angriffe der Engländer und Franzosen an der Somme.

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18.7.1916. Am 9. Juli 1916 kam in Baltimore die „Deutschland“, das erste deutsche Untersee-Frachtboot mit 800-1000 t kostbarer Farbladung an und machte sich bereits durch die erste Reise bezahlt. Das Geheul der Franzosen und Engländer hierüber war vergnüglich zu hören. – Ununterbrochen tobt der schwere Kampf jetzt auf beiden Fronten. Vor Verdun soll demnächst Größeres angeblich zu erwarten sein. Selbst jetzt hört man in stillen Nächten ein schweres Schießen, was man sonst im Sommer nie gehört. Leider will es nicht aufhören mit endlosem Regen. Unter tausend Mühen nur bekommen die Leute das Heu herein, hier im Moseltal teilweise freilich schon zweiten Schnitt. Heute sticht mal endlich die Sonne wieder. Alles, namentlich das Unkraut, wächst wie toll. Heute pflückte ich den ersten hochgefüllten Korb von zarten grünen Strauchbohnen. Donnerstag nachmittag war ich nach Morbach gefahren, hatte Helene sehr gut und angeregt durch interessante Bekanntschaft mit angenehmen Gästen dort angetroffen. Freitag wurden Kriegsbeschädigte dort behandelt und nachmittags fuhren wir bei leichtem Regen wieder heim. Weil oben Keuchhusten und Mumms herrschten, nahm Helene erst ein Bad und begrüßte dann erst die frohen Kinder. Jedes bekam eine grüne Umhängetrommel für Frühstück und Blumen ect. geschenkt, die jetzt bei jedem Ausgang mitwandern. Samstagnachmittag besuchte uns Frau Rechtsanwalt Stolte, die 4 Urlaubstage ihres Mannes mit ihm am Rhein, Boppard, zugebracht und ihn bis Wengerohr zurückgebracht hatte. Stolte kämpft bereits seit Februar

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in schwierigsten Gefechten vor Verdun. Liegt jetzt auf Souville und Tarannes zu, wo gewiß die ersten Schläge nächstens fallen. Stets 4 Tage im vordersten Graben, ohne warme Verpflegung. Er sehnt sich ungemein nach Ruhe. Dazu die Sorge um die Existenz nach dem Kriege. Er plant jetzt, sich in Boppard niederzulassen. Ich möchte ihm gern helfen, wenn ich es könnte. – Endlich erfahren nun die Engländer, wenigstens die Heerespflichtigen die vollen Schrecken dieses grausigen Krieges: Bei den wenig erfolgreichen Angriffen an der Somme haben sie geradezu ungeheuerliche Verluste. – In der Stadt und im Dorfteil Cues hat eine Geschichte der Frau Oberlehrer Matthias einiges Aufsehen gemacht: Cueser Burschen entdeckten bei einem russischen Gefangenen Liebesbriefe von ihr, vervielfältigten sie und verteilten sie allenthalben. Vorgestern bekam ich auch eine Abschrift zu Gesicht und damit bald eine recht harmlose Beurteilung der Sache. Die Frau hatte großes Leid gehabt, einen Bruder, die Mutter und ein Kind verloren. In vielleicht krankhafter Weise macht sich ihre Glückssehnsucht durch eine ganz und gar unreale (nach dem Briefinhalt „rein ideale“) Liebe zu einem – Russen! Luft. Es kommt mir nicht viel anders vor, als ob jemand den Mond andichtet. Durch die Begleitumstände: Krieg, Russe, verheiratete Frau mit 3-4 Kindern u.s.w. gewinnt die Sache ja scheinbar ernstes Gepräge, das sie sachlich nicht hat. Angeblich ist sie vom Kriegsgericht Trier von der Anklage wegen unerlaubten Verkehrs mit Kriegsgefangenen freigesprochen worden. Und ich konnte das wohl verstehen. – Es freute mich, gestern abend bei Frau Kreisarzt Dr. Knoll die gleiche Auffassung dieser Sache zu finden. Sonst sind die Damen natürlich „entrüstet“.

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22. Juli 16. Endlich 2 schöne Tage hintereinander; man kann es fast nicht glauben. Dem Amtsgerichts- und Geheimrat Horster ist ein 2ter Sohn gefallen. Ich denke dabei an den alten Bollenbeck. Gestern berichtet der Tagesbericht, daß Engländer und Russen abermals abgeschlagen sind. Ob es nicht in diesem Jahre noch ein Ende giebt? Viele glauben es. Jetzt sind Butter und Milch unter Generalverteilung genommen.
25. Juli 1916. Meine Ferien gehen dem Ende zu. Ich habe solche noch nie erlebt wie dieses Jahr. Von dem Nasengeschwür und seinen trüben Tagen abgesehen, war ich fast die ganze Zeit über im Garten und habe mich körperlich recht gut erholt. Aber seltsam und angreifend ist die Zeit. Es hat mir lange widerstanden, hierüber etwas aufzuzeichnen. Man lebt fast wie in einem Traum. Gierig liest man abends noch den Tagesbericht. Die Kämpfe an der Westfront, namentlich bei Verdun und an der Somme sind fürchterlich, auf, unter und über der Erde. Viele Todesanzeigen sieht man wieder in der Zeitung. Daß ein starker Verbrauch an Ersatz-Mannschaften herrscht, merkt man allenthalben. Als ich Sonntag morgen ein (59,4 l) Fäßchen Weinessig abzapfte, kam Metzger Dahm und frug wegen der Hinterbliebenen seines Schwagers Dillinger um Rat. Dabei erzählte er, er sei noch als „garnisonsdiensfähig“ in der Garnisonsschlächterei in Trier beschäftigt. Doch seine die Kompagnien (der Ersatztruppen) so leer, die mit ihm Ausgebildeten längst weg ins Feld und bald würde wohl auch die Reihe an ihn kommen. Ein älterer Bruder des gefallenen Dillinger,

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den ich mit seinem ältesten Bruder neulich hier im Garten sah (er ist Ingenieur oder ähnliches und Familienvater in Aachen) bekam gerade in den Tagen seines Hierseins (da man das Totenamt für den Gefallenen hielt) Gestellungsbefehl zum 1. August. Dasselbe bekam, wie ich heute zufällig bei Gericht erfuhr, unser Sekretär Laufenberg. Ob wir für ihn Ersatz bekommen werden? Karl Liell, der vor 2 Tagen noch einen Nachurlaub von 10 Tagen bekommen und sich darüber nicht wenig gefreut hatte, wurde gestern telegrafisch nach Andernach zurückberufen. Heute depeschierte er: „Versetzt, Brief folgt.“ Die Mutter ist zur Kur nach Wiesbaden. Eine böse Unterbrechung. Er wird wohl wieder ins Feld müssen. Frau Alf, seine Tante, war gestern abend sehr bewegt. Hoffentlich hat er weiterhin gleiches Glück wie bei den Fährnissen seines 2maligen Felddienstes in Flandern. Er selbst war die Zeit seines Urlaubs über hier selbst für seine auch sonst recht ernste Art überaus schweigsam und ernsthaft. Er arbeitete wie ein Wilder in Keller, Halle, Garten und Kontor und hat vieles mit aufräumender Hand in gute Ordnung gebracht. Ich möchte es nicht erleben, daß ihn ein schweres Kriegsunglück träfe. Das ist so einiges aus dem nächsten Kreis. Ich selbst schlafe fest mit unendlichen Träumen, bei denen ich immer noch andauernd auf geheimnisvolle Weise englische Großkampfschiffe zerstöre und dafür ungezählte Prisengelder bekomme. Neuerdings aber plagt mich im Halbschlaf dieses: Selbst das dichteste Sperrfeuer vor vorstürmende Truppen gelegt, vermag deren Ansturm nicht stets zu brechen, wie die Engländer jetzt an der Somme
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beweisen. Man müßte es auf folgende Weise ergänzen: Der Angreifer hat stets, auch des Nachts, das Sehvermögen nötig, will er etwas erreichen. Man müßte versuchen, durch eine Ausstrahlung von Farbwellen oder einer sonstigen Energie, deren Wirksamkeit das gesamte Frontgelände in voller Breite und in der Tiefe von einigen Kilometern unterläge, den Gegener völlig blenden, so daß er wenigstens für eine gewisse Dauer das Sehen ganz verliert. Womit läßt sich das machen? Wie viele Deutsche mögen wohl von ähnlichen phantastischen Gedanken geplagt werden? = Gehe ich an solch stillen sonnigen Tagen, wie es heute einer ist, in den Garten und sehe dort die friedlich schaffenden Bienen, das reifende Obst und das gedeihende Gemüse, so könnte ich mich in den tiefsten Frieden versetzt fühlen. Aber außer dem äußerlichen Leben, wie man es hier und heute lebt, lebt man ein zweites inneres und fernab sich betätigendes, das man nur dann und wann mit einer dünnen Schicht Vergessensstaub bedecken kann, die aber jeden Augenblick wieder davon fliegt. Am besten hilft mir noch körperliche Arbeit und sei es auch nur irgend eine Bastelei an Pflanzen, Tomaten, Salat und Endivien u.s.w. oder an Korbflicken mit Weiden und sonstigen Späßen. Dabei sucht man sich ganz auf die Sache zu beschränken. Ob die Leute an der Front auch solch ein doppeltes Leben führen? Heute morgen holte ich mir auf der Kreissparkasse eine kleine Summe für am 1. August fällig werdende Zinsabschnitte und bezahlte damit alle rückständigen Schulden. Es giebt das ein Gefühl, als ob man etwas getan hätte. –

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27. Juli 1916. Gestern brachte ich Herta im Postauto nach Commen. Der Hunsrück war wunderschön bei prächtigem Sonnenschein und weiter Sicht. Wir wurden erwartet und bei Hermanns mit Freuden empfangen. Rosa hatte alles fein gemacht. Herta blieb mit Freuden da. 2 Kriegsbeschädigte konnte ich dort beraten. Abends marschierte ich mit Buttermilch und Kirschen bepackt, durch die warme Abendsonne wieder heim.
3. Aug. Der Ausflug ist Herta leider schlecht bekommen: Samstag (dem bisher 2.heißesten Tag (+29°)) bringt Rosa sie mittags von 2 - 4 Uhr !!! von Commen nach hier zurück: Heiserkeit, Husten, Schwäche, Bronchitis mit Fieber, dessen Höhepunkt jetzt vorbei. Diese Nacht Marianne (davon angesteckt) ähnliche Krisis. Heute Herta wieder auf, Marianne zu Bett. Nettes Vergnügen! – Es gehen allerlei Dinge vor: Der Kaiser ist an der Ostfront. Ein Anschlag heute meldet von dort Kommando - Veränderungen, anscheinend ganze Front einschließlich der Österreicher unter deutschem Oberbefehl Hindenburgs. Ob die Rumänen, die sich etwas abgekühlt zu haben scheinen, neuerdings doch wieder gegen uns los wollen? Auf 350000 Mann Verlust berechnet unsere Heeresleitung die Einbuße der Engländer und Franzosen an der Somme.
13. August 16. Trüber Himmel, trübe Tage: Die Italiener haben Görg genommen und schnappen vor Siegesfreude beinahe über, an der Somme und vor Verdun wogt und steht die ungeheure Schlacht, doch halten unsere Feldgrauen dort wie im Osten stand, während in der Bukowina und den Karpathen die Österreicher wieder mit Deutschen durchsetzt werden müssen, um nicht andauernd zurückgedrängt zu werden.
Die rheinischen Städte, namentlich Köln erstickt in Frühkartoffeln, die von gewinnsüchtigen Züchtern vorzeitig ausgerissen und zu tollen Preisen –

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die Höchstpreise waren viel zu hoch – mit Gewalt abgesetzt wurden. Schwüle Regenfälle haben die lange Trockenzeit abgelöst und unsere Gemüsezucht steht im höchsten Flor. Helene hat sich mit Einmachen fast übernommen und heute morgen kam ein Brief von Papa, daß Mama an Lungen- und Rippenfellentzündung erkrankt sei. Diese Aufregung fehlte gerade noch. Ein Ferngespräch kurz vor Tisch mit Papa brachte bessere Nachrichten. Die Krankheit hat scheinbar gleich mit der Krisis begonnen. Gefahr vorüber, Fieber gering. Herta geht es vorzüglich, Marianne hat den Schnupfen als Ausläufer einer heftigen Erkältungs-Infektion durch Herta noch nicht ganz los. Heute kommen Thanischs mit Besuch (Schwägerin Müller aus Köln mit Kind in Hertas Alter) zum Thee.
17. Aug. 1916. Ohne Unterbrechung tobt der englisch-französische Ansturm im Westen an der Somme und der russische im Osten. Aus allerlei Anzeichen sieht man, daß es jetzt vor allem darum geht, Rumänien auf unsere Gegenseite zu zwingen. Der Gegenschachzug unsererseits scheint die „Befreiung Polens“ zu sein. Mit Österreich ist anscheinend eine Verständigung über das Schicksal Polens erzielt und so wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis ein Königreich Polen ausgerufen wird. Dieses wird sich dann alsbald den Mittelmächten anschließen und eine Menge Soldatenersatz hergeben. Es sollen noch 1 Million (?) ungefähr an waffenfähigen Männern dort auszuheben sein. Den Franzosen bricht ob dieser Aussicht der Angstschweiß aus allen Poren. England hat ähnliches wohl längst vorausgesehen und daher keine Unterstützung der Polen durch Lebensmittelzufuhr gestattet. Den Russen, die wohl Polen für verloren

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geben, scheint es weniger Sorge zu machen. Manche Erscheinungen (namentlich im Regierungswechsel) möchte man dort gern im Sinne einer allmählichen Neigung zu einer friedlichen Verständigung mit Deutschland deuten, aber wer weiß heute, wie lang der Weg noch bis zu einer solchen ist. – Im Städtchen hier tobt der Kleinkrieg und die Bernkastler Zeitung bringt die letzten Tage sogar stets „Eingesandtes“, in denen man (sich), übrigens auf beiden Seiten recht weichherzig, über die mangelnde Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln unterhält. Die Artikel sind ein Ausfluß der hier allenthalben vertretenen starken Verstimmung gegen unseren Landrat v. Nasse, den man für alles mögliche verantwortlich macht. Er scheint auch selbst oder durch einen Strohmann zu antworten. Ich fühle mich für beide Teile unbeeinflußt, meine aber, wenn ich auf einer –gleich welcher– tätig würde, in den Zeitungsartikeln die Fetzen nur so wirbeln sollten. Es muß tatsächlich von neuen Kartoffeln ein großer Mangel hier gewesen sein, der jetzt behoben ist. An Butter desgleichen und ohne absehbares Ende. Wir bekommen Butter noch regelmäßig ½ kg von Commen und ca alle 14 Tage in unregelmäßiger Folge ¾ - 1 kg von Gornhausen (einem Mündel Zirbes) geliefert. Kartoffeln wollten wir, da wir fast 50 kg neue ernteten, an 20 kg an Nachbar Wilbert verkaufen; da er ob des Preises noch Bedenken zu haben scheint, schenkt sie Helene einer in Cues wohnenden bedürftigen Hauptmannswitwe Hardt. Unser Gemüse ist so gut und reichlich geraten, daß wir darin geradezu schwelgen und noch fortgesetzt

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einmachen und dörren. An Stangenbohnen, die bisher – und nur zu 2/3 einmal gepflückt wurden, gewannen wir schon 35 Pfd. Heute früh ging ein Eilgutpaket an Neitzer’s in Crefeld ab, das 3 Kohlköpfe und Bohnen enthielt. Wir kommen uns schon wie „Großbauern“ vor. Ich habe mir berechnet, daß für uns, reichlich gerechnet, 6 ar Gemüse und 6 ar Obstland völlig ausreichend sein würden, falls wir nicht noch unseren ganzen Kartoffelbedarf auch selbst bauen wollen. Mit Wiese und etwas Ziergarten einschließlich bequemen Hauses wäre also 1 Morgen Land hinreichend. Das schwebt mir als Lebensschlußziel vor. Nun, auch das wird zu erreichen sein. – Wenig befriedigt war ich heute morgen vom (3. und wohl letzten) Honigschleudern. Aus sehr vielen Waben gab es wohl knapp 15 M (muß wohl Pfd heißen) (so daß wir an 90 Pfd. Honigernte im ganzen zu verzeichnen hätten). Es machte uns große Freude, an Mutter Reitmeister, die noch ziemlich schwach von einer schnell und anscheinend gut überstandenen Lungen- und Rippenfellentzündung in Bonn liegt, einige Honiggläser wohlgefüllt zusenden zu können. – Mancherlei Aufregung verursacht die nunmehr durch Assessor (Scherer) als Tatsache festgestellte, in ca 3 Wochen zu erwartende erneute Musterung aller Wehrpflichtigen, angeblich mit Ausnahme der D-U-Leute (Dauernd Untauglichen). Ich würde also nichts damit zu tun haben. Bleibt abzuwarten. – Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ist glücklich wieder von einer großen U-boot-Ausfahrt heim und in Urlaub gekommen. Auch an der afrikanischen Küste soll er gewesen sein und der Kaiser neben eine Stelle seines Berichtes „bravo“ geschrieben haben. Jedenfalls hat er den Pour le merite verliehen bekommen, und die Familie ist nicht wenig stolz darauf. Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) hat ihn als

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Paradepferd natürlich auch zur Ausstellungseröffnung nach Cöln geladen und dort werde ich ihn vielleicht zu sehen bekommen, was mir großen Spaß machen würde. Heute bekam ich Bescheid vom Landrat, daß der Kreis die Reisekosten ersetzt und vom Landgerichtspräsidenten Urlaub vom 20. - 27. (ich hatte nur vom 21. - 26. gesprochen) und so werde ich Samstag nach Bonn und Sonntag nach Cöln segeln zur Tagung des „Kongresses für Kriegsbeschädigten-Fürsorge“ mir großer Ausstellung in Onkel Brügelmanns neuer großer Strumpffabrik. = Ununterbrochen dröhnt seit gestern mittag das eintönige Geräusch der Dampfdreschmaschine, die unter der Brücke am Hospital Roggen drischt. Den zahlreichen Sommergästen im Hotel Gassen gewiß eine wenn nicht liebliche, so doch recht eindringliche Musik. = Täglich wird nicht nur geerntet, sondern auch neugepflanzt: so gestern Spinat gesät und heute vielleicht noch einmal desgleichen. – Heute morgen hatte ich mit einem Trierer Baurat (= Bau-Mandarin hätte der selige Reichensperger gesagt) Besichtigung der Dienstgebäude. Über sein verdutztes Gesicht freue ich mich jetzt noch, das er machte, als ich ihm vorschlug, für den Gerichtsdiener einen – Kuhstall! bauen zu lassen. Erst die Feststellung, daß bereits ein Schweinestall dienstlich vorhanden sei, brachte ihn wieder einigermaßen zu sich. Friedrich will sich nämlich gern eine Kuh einstellen und ich unterstütze ihn gern dabei. Beide Gendarmeriewachtmeister haben hier solchen gebaut erhalten. Warum nicht auch ein Justizbeamter? Auf die weiteren Schreibereien in der Sache freue ich mich schon diebisch.

Die folgenden Eintragungen sind wieder von Helene Rech verfaßt:
Heute am 22. August ist ein herrlicher Abend nach einigen trüben regnerischen Tagen. Ich habe

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Kinder mit Frl. nach Hause geschickt und genieße die herrliche Sonnenbeleuchtung mit Genuß auf dem Liegestuhl. Tante Julchen und Onkel Gustav Forstmann dankten für den Glückwunsch zu Walters „pour le merite“. Er hat 45 Tage Urlaub. Matthias schreibt gute Nachrichten von Bonn über Mama (Reitmeister, Helene). Wahrscheinlich entschließt sich Mutter Rech (Rech, Anna Maria) und kommt mit Matthias hierher, das wäre fein! In der Bachstraße 60 herrscht allerdings Einquartierung durch Leny (Rech, Leny)  mit Horst (Rech, Horst) und Wärterin. Leny erwartet N° 2 (Rech, Jan Gerrit) und soll sich deshalb etwas ausspannen in Bonn. Die Kölnische, General Anzeiger von Bonn und selbst die Bernkasteler bringt Artikel über Walter Forstmann. (Ausschnitte sind eingeklebt.)  Außer 4 Kapitänleutnants ist er jetzt der 5. der den hohen Orden bekommen hat. Mama freut sich sehr über Matthias, sie findet ihn gut aussehend. Willy (Reitmeister, Willi) sähe dagegen schlecht aus und hätte zu viel Arbeit und Ärger in seinem Werk. Er hätte eine Ausspannung unbedingt nötig gehabt. Tante Henriette (Neitzer, Henriette), der wir Gemüse schickten, schreibt, von Alfred (Neitzer, Alfred) hörten sie, daß ungeheuer viel Munition bei ihnen aufgestapelt würde, alles deute auf einen Winterfeldzug. Karl Kimmler schreibt ziemlich traurig aus der französischen Gefangenschaft. Zwei nutzlose Jahre lägen hinter ihm. Am 25. August 14 wurde er in Gebweiler als Geisel gefangen genommen.

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Jetzt schreibt wieder Matthias Rech:
1. September 1916. Es regnet neue Kriegserklärungen: Italien an uns, Rumänien an Österreich, wir an Rumänien, die Bulgaren und Türken an diese u.s.fort!– Scherer, zum 5. ds. nach Trier zum Inf.Reg. 69 einberufen, macht mich nervös durch seine übermäßige Nervosität. Arbeit in Hülle und Fülle; dazu meine Mutter (Rech, Anna Maria), von Bonn mitgebracht hier. Kaum Zeit, sich gehörig auszuruhen, viel weniger seine Eindrücke zu verarbeiten. –
6. Sept. 16. An der Somme ist abermals ein heftiger Angriff der Engländer und Franzosen entbrannt. Die Rumänen marschieren nach Siebenbürgen, die Bulgaren nach Rumänien. In Griechenland zettelten die Engländer eine Revolution an und der Kriegsbeitritt der „edlen“ Griechen gegen uns dürfte wohl bald erfolgen. London wurde mehrfach „zeppeliniert“, leider stürzte ein Luftschiff dabei im Feuer ab. – Herta lag 2 Tage mit Fieber zu Bett, heute wieder fieberfrei und besser. Helene wird mit meiner Mutter, die nun schon seit Montag über 8 Tage hier ist, morgen nach Bonn reisen. Gerichtsdiener Friedrich und Assessor Scherer, die beide einberufen waren, standen gestern einen Tag in Trier herum, wurden abermals untersucht und als Beamte schließlich ohne weiters wieder umgeschickt. Friedrich hatte man zur Kavallerie nehmen wollen, schließlich aber wieder als Inf. G(arnisonsdienstfähig) geschrieben, Scherer hingegen ist diesmal „u“, welches Geheimzeichen niemand mit Sicherheit zu erklären wußte. Ich nahm die Gelegenheit der allseitig

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wieder stark belebten Arbeitsfreude wahr und gab mir für heute Urlaub. Ich konnte so bei prächtigem Sonnenschein heute morgen mit Mama und Mariannchen der Mosel entlang zum Garten spazieren. Die letzten Tage war es trübe und hin und wieder regnerisch. Trotzdem waren wir täglich aus. Meine Mutter hat sehr schöne Tage hier erlebt. Sonntag nachmittag saßen wir in warmer Sonne sehr nett auf Schoemann’s Terrasse. Mama wird den ganzen Winter noch von den vielfältigen Eindrücken hier zu erzählen haben. Vor allem imponieren ihr die vielen hohen grünen Berge und der reiche Weinbau. Gestern nachmittag besahen wir nur das Geburtshaus des Nikolaus Cusanus am Gestade. Da wir mit Sicherheit noch reinen Bienenzucker bekommen werden, bestellte ich mir mit Scheidter (der Krankenkassenrendanten, der neuerdings auch Bienen züchtet) ein nacktes Heidbienenvolk und gedenke es mit 15 Pfd. Zucker aufzufüttern. Im Übrigen bin ich jetzt mit dem Füttern im Gange. Von den langen Kürbissen (Cococelle von Tripolis) schnitt ich gestern und heute 5 schöne Früchte ab, die den Winter über ausreifen können. Herta verlangte gestern, als sie sonst nichts essen wollte, „eingemachte Kürbisse“. – Am linken Ohr habe ich einen stark eiternden Karbunkel, der mir nachts beim Liegen lästig ist. Helene, so hoffe ich, werden die Tage in Bonn gut tun, wenn sie auch Mutter Rr. (Reitmeister, Helene) vermutlich noch sehr schwach antreffen wird. An Kappes, Frühkartoffeln, Möhren, Bohnen und roten Beeten haben wir fortlaufend schöne Ernte.

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Nun ein wenig von den Kölner Eindrücken. Um gleich mit dem Schluß anzufangen:
Am Samstag (27. Aug.) hat ich einen freien Morgen und benutzte ihn zu einem erquickenden zweck- und ziellosen Bummel durch das alte hillige Cöln. Ich besuchte Groß St. Martin und St. Aposteln, besah mir den seltsamen festen, fast römisch - antiken Neubau Tietz an der Schildergasse, flog auf dem Neumarkt vor Wind fast fort, fand in einer alten Gasse einen dreifüßigen Schusteramboß, anderswo 1 Pfd. Karamellen, am alten Markt bei Gebrüder Sinn weiche Kamelhaarwolle (noch „reine Friedensware“) zu 1,85 die 100 gr = 1 Strang erstehenswert und schleppte alle diese Sachen zum Portier in die Mühlengasse, von wo ich ein Frei-Frachtstück expediert erhalten soll. Mit Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) wurde dann noch eine Anfuhr riesiger Steinzeug- und Zinnachttöpfe sowie die große Küche für Angestellte und Arbeiter besichtigt. Auch hier fand ich, wie einige Tage zuvor in der großen Messenküche am Klingelpütz ein vorzügliches Essen. Nachmittags machte ich ein Postpaket mit Anzug und Wäsche nach Bernkastel fertig und ruhte mich im Hinblick auf das Kommende gründlich aus. Halt: Vor Tisch gings mit Onkel D. noch zu Tante Klara (Brügelmann, Clara, geb. Wirth, Frau Albert B.), die im großen Kreise ihrer sämtlichen Kinder ect. ihren 50. Geburtstag feierte. Ich lernte den Schwiegersohn, Dr. Partenheimer dort kennen, auch das kleine Enkelmädchen, sein und der Martha kleines Töcherchen. Es waren auch sonst noch eine Reihe Leute dort und der Radau daher nicht gering. Tante Klara muß tüchtige Vorräte

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haben. Man spürte an nichts im geringsten Mangel. Onkel Albert (Brügelmann, Albert) hat jetzt riesig zu tun, u. a. auch mit dem Druck der mannichfachen Lebensmittelbezugskarten. Ein junger Kaiser, ehedem Corpsstudent, aß mittags mit bei Onkel D. und entpuppte sich als ein recht angenehmer junger Mann, der im Kriege bei dem 44. Trierer Art. Reg. aktiver Leutnant mit reichlicher Vorpatentierung gewesen ist. Nach Kaffee brachte ich mit Kurt (Brügelmann, Kurt) noch die beiden netten und bescheidenen Lucas-Töchter aus Elberfeld zur Bahn, beide künftige Schwägerinnen von Werner (Brügelmann, Werner). Sie hatten einen recht einfachen Handkoffer von „Großmutter Lucas“ und eine alte blaue Hutschachtel mit und fuhren hübsch III. Klasse (Margarete 11 und Irma 16/17 Jahre alt). Dann ging ich Onkel D. (Brügelmann, Dietrich) in der Mühlengasse abholen und wir trafen an der Rheinuferbahn mit Tante Emma (Brügelmann, Emma) und Kurt zusammen und holten so den mit „Pour le Mérite“ geschmückten Uboot - Vetter Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ab, der mit seinen Eltern ankam. Leider regnete es bei der Ankunft stark und wir mußten uns eine längere Weile unter einen Brückenbogen flüchten. Walter war glattrasiert, dunkelbraun gebrannt, ziemlich mager mit ungemein hart und scharf modellierten Gesichtszügen, zu denen ein ins Weite gerichteter fester und etwas starrer Ausdruck der Augen gut paßte. Er hielt sich vorzüglich und trug seine Ehrenzeichen mit Stolz. Dabei war er ganz der bescheidene und ruhige Mensch wie früher. Er wurde natürlich schon dort bald erkannt und von allen Seiten besehen, doch ohne das dies lästig wurde. Es war eben eine neue „Woche“ mit seinem (freilich recht unähnlichen Bild mit Schnurr- und Kinnbart und jüngeren weicheren Zügen) Bild erschienen und alle Zeitungen brachten Artikel (Solche sind eingeklebt)
 

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über ihn. Gleich brachte auch ein Buchverkäufer diese Woche, in der übrigens noch ein 2. „Pour le Mérite“ - Mann, der Fliegerleutnant Frankl (von jüdischer Abstammung) zu sehen war. (Nb. Bölke schoß gestern sein 20. Flugzeug ab!) Endlich hatte Onkel D. ein Auto erwischt, Kurt und ich gingen zur Elektrischen und wir trafen uns später in der Ausstellung wieder. Auf dem Heimweg gingen Onkel D. und ich mit dem „Jubilar“ zu Onkel D.’s Stammtisch „Laube“, wo die meisten Herren Walter bereits kannten. Er erzählte dort einiges recht Interessante: Wie man nach erfolgtem Anruf den angerufenen Dampfer unausgesetzt scharf beobachten müsse, um an seinem ganzen Gehaben, seinem Manövern und schließlich auch an dem Aufschlag herübergesandter Geschosse beurteilen zu können, mit welchem Kaliber er ausgerüstet ist und ob man sich mit ihm in ein weiteres Gefecht einläßt oder abdreht und untertaucht. Vom Stammtisch brachte uns das Auto eben rechtzeitig zum recht soliden und festlichen Abendesssen, an dem auch der junge Kaiser, Max Brügelmann’s Frau Helene (Leny genannt [Tschirnt]) und Änne (Brügelmann, Änne) – auch Frau junior (= Wilhelm Br. jr.) genannt, teilnahmen. Wir aßen ganz vorzüglich, u. a. einen riesigen (Dosen) Schinken, frisch, an dem von Fleischnot nichts zu spüren war. Walter, „der Tagesheld“ gab wiederum allerlei zum Besten, zeigte u. a. auch einige seiner sonstigen Orden. Angelegt trug er nur das Eiserne Kreuz I. Klasse, den Pour le Mérite (zum „Heldenhals“ heraus, wie er sagte) und den Hohenzollern Hausorden mit Schwertern. Er zeigte einen sehr schön gearbeiteten österreichischen Orden der eisernen Krone, den eisernen

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Halbmond, den er sich der sehr schlechten Ausführung des überreichten Stückes (wegen) in besserer Ausführung auf eigene Kosten (44 M) hatte neufertigen lassen sowie einen österreichischen Verdienstorden, den nur Offiziere im Felde erhalten. Da er außerdem aus Friedenszeiten noch außer der Rettungsmedaille am Bande noch allerlei Orden besitzt, so kann er sich schon putzen. In der Marine hat er – von den Admiralen abgesehen – nur 4 Vormänner im Pour le Mérite: Weddigen, Hersing und 2 andere. – Nach dem Essen, bei dem namentlich Kurt, der tüchtige Tertianer sich fast übernahm, erholten wir uns im Herrenzimmer etwas, ich brachte einige Knittelverse im Gästebuch zu Papier, die alle unterschrieben,

(auf einem Zettel eingefügt):
     „Der Held“
 Wie erhebend ists und schön
 einen Ubootsmann zu sehn.
 Da derselbe Kommandant,
 Man auch tief Respekt empfand.
 Wer ihn gar als Neffen grüßt,
 Fühlt sein Dasein stark versüßt.
 Erquickend ists bei jedem Wetter,
 Spricht man von seinem Uboot-Vetter
 Erzählt man seine großen Taten
 So kann man außer sich geraten.
 Doch alle Grenzen überschritt
 Der Jubel ob des „Pour le mérite“
 Nun birst vor Stolz ein jedermann
 Der sich ihm irgend nahen kann.
 Es strömt herbei in eilgem Lauf
 Der Familie großer Hauf.
 Ein jeder will für sich ihn haben,
 Sie hacken ein auf ihn wie Raben.
 Beschützt’ ihn nicht die treue Mutter
 Er wär zerdrückt zu Milch und Butter.
 So ist er uns noch glücklich da.
 Hurrah!

und Walter zeigte manche bemerkenswerte Photobilder, auf denen man torpedierte Dampfer versinken sah. Er erzählte ganz Amüsantes von seinem diplomatischen Verkehr mit nordafrikanischen Araberscheichs, denen er Türken und Geschenke brachten. Über die militärische Lage in Tripolis, Senussen ect. sprach er sich nicht aus. Zum Angriff auf den Suez- Kanal hätte man noch 1 - 1 ½ jährige Ausbildung der rückwärtigen Verbindungen durch Sinai, Syrien und Kleinasien nötig. Von den Schwierigkeiten dort mache man sich nur einen sehr schwachen Begriff. – Allmählich fanden sich noch Albert Brügelmann (Brügelmann, Albert) mit Familie, Gustav Br. (Brügelmann, Gustav) mit Frau ect. ein, so daß wir schließlich wieder zu etwa 18 Leuten im stattlich getäfelten Eßzimmer hinter großen Gläsern mit Sekt und Pfirsichen saßen. Von Onkel A. gewaltsam dazu gepreßt, mußte ich eine völlig unbedachte Rede halten

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und ließ den „Heldenvetter“ hochleben. Bald redeten noch mehrere. Es gab einen soliden Suff bis Mitternacht, wo Walter von Onkel D. nach Abschied von seinen Eltern zur Bahn gebracht wurde. Er hatte nach Tisch von Onkel D. und Tante Emma ein prächtiges Silbertablett mit eingravierter Widmung geschenkt erhalten, das ich tags zuvor bei „Goldschmidt“ mit hatte aussuchen helfen. Um 1 Uhr gingen wir zu Bett und ich verabschiedete mich bereits von allen, weil ich Sonntag früh nach Bonn zurückfuhr. – Dies hatte ich bis 4 Uhr glücklich niedergekritzelt, da kam ½ 5 zu Hause eine Postkarte von Walter, die ich zum Andenken hier einfüge.
7. Sept. 1916. Heute früh ist Helene mit meiner Mutter (Rech, Anna Maria) nach Bonn gereist; Assessor Scherer hatte auf dem Amt bereits meine Sachen in Angriff genommen, so daß ich jetzt bequem Zeit habe. Herta ist auf, hat allmählich wieder Hunger, muß aber noch das Zimmer hüten. Mir geht es ebenso, da der Hals noch immer recht rauh und kitzlich, das Wetter draußen aber wenig freundlich ist. –
Am Freitag, den 25. August, war ich nach den Gürzenich-Vorträgen gegen 12 Uhr Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) in der Mühlengasse abholen gegangen und hatte auch Tante Emma dort angetroffen. Es wurde da hübsche silberne Tablett für Walter F. gekauft und die Widmung darauf bestellt. (Kostete an 190 M) Nach Tisch rief „Frau junior“, die schon früher nach mir telefonisch gefragt hatte, mich nochmals an, und wir verabredeten, daß ich nach dem Nachmittagsvortrag zu ihr nach Rodenkirchen herausfahren und zu Abend essen sollte. Der Vortrag des trefflichen Bochumer Lazarettarztes war

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ebenso wie die Vorführung seiner Prothesenträger in Naturwaren sehr fesselnd, aber schließlich waren es 740 und erst 820 konnte ich mich bei Änne (Brügelmann, Änne) melden. Das hübsche kleine Wohnhaus liegt sehr luftig am Rhein, weidiges Ufer und schöne Fernsicht. Nur die Schnaken belästigten ein wenig. Sonst war es wunderschön dort. Mit einem ausgiebigen Gemüsegarten möchte ich schon gerne so draußen wohnen. Wir unterhielten uns vorzüglich. Leider waren die Kinder schon zu Bett und so sah ich sie nicht. Änne zeigt einen gut entwickelten Geschmack, hatte einen recht farbigen, aber wohltönenden neuen Salon und eine Reihe angenehm auffallender alter Steingutstücke, die mit Geschick im Eßzimmer verteilt, diesem eine erfreuliche und etwas persönliche Note geben. Sehr im Gegensatz zu den technisch vollendeten, im spät Louis XVI Stil gehaltenen neuen Saloneinrichtung von Tante Emma (Brügelmann, Emma), in der ein mit einer verdeckten elektrischen Birne zu beleuchtendes Nippesschränkchen einen leisen Stich ins Vornehm - Kitschige gab. Änne hingegen hatte einen solchen Schrank in rotem Lackschliff mit handbreitem schwarzen Holzschnitzwerk, der recht geschmackvoll und erfreulich war und in dem auch wenige gute Sachen zu sehen waren. Unter diesen war das beste ein altes Notiz - Taschenbuch ihres Vaters mit einer großen Reihe zarter Portraitskizzen in Blei in jener Steindruckart, wie sie bis in die 60er und 70er Jahre vorherrschte. Ein Umschlag darum zeigte eine feine alte

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Perlenstickerei ihrer Mutter. Mir kam der Gedanke, ob gerade durch die starke rote Farbe das hübsche Möbel einem nach 15 - 20 Jahren nicht etwas schal vorkommen wird. Durch das angenehme Plaudern im Garten nach Tisch versäumte ich die Elektrische, hatte aber dadurch das Glück, vom Dom ab mit Walter Gerhardt und seiner Frau zu sprechen. Er kommt, wie mir am Sonntag zuvor schon seine Mutter angedeutet hat, nun bestimmt nach Hönnigen zur Leitung eines Werkes, das Ersatzmetall für Zünder ect. anfertigt. Bis jetzt war er in der Garnison Cöln meist als Gerichtsoffizier und ähnliches beschäftigt. Als ich bei Onkel D. gegen 11 Uhr eintraf, war schon alles zu Bett.
II. 8. Sept. 16. Gestern blieb ich Vorsichts halber den ganzen Tag nach kurzem Amtsbesuch zu Hause. Dabei wurde mit Hülfe einer Tabelle das kleine Anschreibebüchlein bis zum 31.XII.1920 durchkalendriert. Wie oft habe ich bei weitentfernten Tagen denken müssen: Was mag bis dahin alles geschehen sein und was sich alles verändert haben. Unmöglich aber wird der Weltkrieg diesen Kalender überdauern. (?) Das Abendblatt brachte eine erfreuliche Siegesmeldung und heute morgen sah ich sogar beim Kaufmann Astor die Fahne herausgesteckt. Im Hause ist es, seit Mama und Helene zusammen weg sind, ordentlich leer und so sehr viel ruhiger geworden. Gestern machten die Mädchen nochmals Kartoffeln auf dem Felde aus. Heute verkaufte ich –erstmals!– 5 Pfd. Honig (á 1,80) zu 9 M an Krings, womit 3 Zentner Küchenkohlen bezahlt waren und ich noch 4,20 herausbekam. Vorgestern beantwortete ich eine Frage des Bezirkskommandos I in Trier dahin, daß der Referendar Rud. Koch nach seinem außerdienstlichen Verhalten und den Verhältnissen seiner Familie zur Offiziersbeförderung geeignet sei. Seltsam: würde ich einmal

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berufen, so könnte ich leicht als Gemeiner zu ihm kommen, den ich mit zum Offizier habe befördern helfen. Unser Sekretär Laufenberg war kürzlich hier in Urlaub, recht mager. Freilich war er auch früher keineswegs dick. Scherer hatte wieder eine Alarm-nachricht über ihn: Er wöge nur 104 Pfd käme jetzt von Dietz zur Carthause in Coblenz und – alsbald zur Front. Das glaube ich noch nicht (s. unten). = Seitdem für die Hauspflaumen ein gesetzlicher Höchstpreis von 10 M pro 50 kg festgesetzt ist, sind keine mehr zu haben.
9.9.16. Eben höre ich, daß dem Baumeister Meyer aus Graach, der seit langen Jahren bei Frau Liell in Diensten steht, am 1. Sept. 16 in den Karpathen ein Sohn gefallen ist. Wo das deutsche Blut nicht überall fließen muß! Helene schreibt von Bonn, daß ihre Mutter (Reitmeister, Helene) noch sehr schonungsbedürftig sei. Wie ich es mir wohl dachte.–
13.9.16. Mittlerweile ist auch schon Silistria gefallen und wer weiß, ob nicht Deutsche und Bulgaren unter Mackensen heute schon über die Donau sind. In Bukarest soll große Bestürzung sein. Bei uns ist der Mannschaftsbedarf anscheinend sehr dringend. Sekretär Laufenberg ist nach 5-6 Wochen Ausbildungszeit schon nach dem Westen ins Feld gerückt; er soll 2 x scharfe Schießübung gehabt haben. Brinckmann (mein tüchtiger Büro-Assistent und Feld-Lt.), der kurz auf Urlaub hier war und telegrafisch zurückgerufen wurde: einige 30 Landsturmbataillone seien nach Rußland (Galizien) gezogen worden und dort alsbald ins Gefecht gekommen. Ihr Bataillon bestehe längst  (nicht) nur aus den gedienten alten Landstürmern, sondern meist kaum ausgebildeten, ungedienten Landsturmleuten, größtenteils garnisonsdienstfähigen. – Wann werden unsere Extrareserven erschöpft sein? || Heute ist ein trüber kühl feuchter

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sehr melancholischer Tag. Lisbeth Macke (Erdmann-Macke, Elisabeth) hat sich mit einem Lothar Erdmann, Leutnant im Felde, kriegsvermählt. August Macke (Macke, August) ist nun 2 Jahre tot. Das Leben behält Recht. Den Kindern, namentlich dem älteren, tut die erziehende Hand eines Vaters gut. Ich werde ihr Glück wünschen. –
Helene will Montag wiederkommen, Dienstag sollen wir dann Hertas 6. Geburtstag feiern (5 Jahre alt). Gestern war sie mit mir in Machern bei Grach und in Wehlen bei Hauth. Recht ermüdet kam sie um 9 nach Hause, ist heute aber sehr munter danach. Mama (Reitmeister, Helene) geht es besser, jetzt werden sie wohl endlich in Hersel sein.– An die Ausstellung für Kriegsbeschädigten-Fürsorge in Cöln denke ich nur noch mit gemischten Gefühlen. Was ich tatsächlich hinzugelernt habe, ist: Die „Kellerhand“ für armamputierte Landwirte mit 3 eisernen Fingern und 2fach geschlungener Lederschlaufe und – wie eine Schützengrabenanlage aussieht. Im übrigen gab es (eine) Menge für den Chirurgen, Orthopäden und Hygieniker zu sehen, was teilweise auch dem Laienpublikum einigermaßen mundgerecht gemacht war. Aus Papier habe ich nicht nur recht stark gefertigte Garne, sondern auch sehr solide gewebte Treibriemen, in der Mühlengasse auch einen recht zuverlässig aussehenden blaugefärbten Arbeitsrock gesehen. – Auf dem Kongreß habe ich eine Menge Vorträge gehört, die ich ebenso hätte ungehört sein lassen können. Im Flur des Gürzenich hatte ich durch eine kurze Unterhaltung mit dem in Hamborn in gleicher Sache beschäftigten Herrn eine Menge praktischer Fingerzeige.

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Ein von der Stadt Cöln veranstalteter Begrüßungsabend im Gürzenich war recht imposant. Man sah da allerlei Leute. Onkel Dietrich war mit, wir saßen mit einem Oberstabsarzt Schmick, Bruder der „Frau junior“ einem Korpsarzt und einem jungen Dr. med Savels zusammen. Letzterer kannte Johannes in Brüssel, wo er auch arbeitete.
Heute abend beglückwünschte ich Lisbeth Macke (Erdmann-Macke, Elisabeth) zu ihrer Kriegstrauung mit Lothar Erdmann (Erdmann, Lothar), morgen Werner Brügelmann (Brügelmann, Werner) zur gleichen mit Erna Lukas. (S. unten den eingefügten Text.) Auch gehe ich den alten Heinz – ein echter Kleinstädter sehr sympatischer Art, der fleißig bis in seine letzten Wochen im Gärtchen schaffte, mitbeerdigen: das Leben überwiegt den Tod. Auch giebts morgen neue Brotkarten und Karte für den II. Einmachzucker. Dazu sind heute abend schon Fische für morgen mittag, abend und übermorgen Mittag gekommen und sogar 4 Schweine giebts für diese Woche in die Stadt: „Also üppiges Wohlleben!“ Wegen Butter habe ich aber doch einmal nach Gornhausen geschrieben.
16.9.16. Friedrich, der Gerichtsdiener, bringt heute morgen die angeblich vom Bürgermeisteramt stammende böse Kunde, daß unser II. Gerichtsdiener Grohn in Wolhynien gefallen sei. Er war zwar ein dienstwilliger und auch sonst arbeitbereiter Mensch, mir jedoch im Grunde wenig sympathisch, wenn ich auch nicht die große Verachtung des Collegen Reinecke gegen ihn hatte. Ich sehe ihn noch bei der Musterung vor jetzt gerade 1 Jahre; er wurde gleich für felddienstfähig befunden und etwa im November eingezogen. – Die Frau mit einigen Kindern wird ihn noch sehr entbehren. Denn er sorgte sehr gut und sie machte einen wenig haushälterischen Eindruck.

Zwischen den Seiten eingeklebtes Blättchen:

 Den Kriegs- und Eheleuten
 Werner Brügelmann und Erna
 geb. Lukas ins Stammbuch.
              ––––––––
 Die Lieb’ im Krieg ist alter Brauch.
 Es liebten sich Mars und Venus auch.
 Jedoch im größten aller Kriege
 Mit Aussicht noch auf viele Siege
 Tapfer zum Altar zu schreiten
 Und ein eigenes Nest bereiten,
 Dazu gehört nun – kurz und gut.–
 Doch ein ganz besondrer Mut.
 Dieser Mut, den Ihr gefunden,
 Soll Euch bleiben aller Stunden.
 Auch wenn trüb und nebelschwer
 Kommt manch böser Tag daher.
 Und wenn nach langen Friedenszeiten
 Des Kriegs Gedanken uns entgleiten:
 In Eurer Enkel froher Runde
 Gedenket dann der ernsten Stunde!

 Matthias Rech, Doctor iuris utriusque
 derzeit Amtsrichter in Berncastel-Cues.
 Im September 1916.

 Telegrammtext:
 Donnerstag, den 14. September 1916
 Lukas      Elberfeld     Göbenstraße 21
 Dem mutigen Kriegsehepaar
 Viel Glück auf lange Friedensjahr.
 Der Berncastler Amstrichter und Frau Helene.
 18 W. á 7 Pf = 1,26 M
 

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Gestern mittag sprach mich Hugo Thanisch auf dem Heimweg an und wir kamen auf Wild und Jagd zu sprechen. Schnell wurde eine Treibjagd im Hinterwald verabredet, zu der wir ½ 2 abmarschierten und –ohne Ergebnis– gegen 9 heimkehrten. Es waren außer uns Paul Th., Jos. Wehr, ein junger Erz, Kaufmann Thomas und Mager aus Merscheid als Schützen, einige Jungens als Treiber und eine Menge Hunde mit. Ich bekam 2 x einen Fuchs zu Gesicht, kam aber nicht zu Schuß. Auf eine Geiß war nicht zu schießen. Das Köstlichste war der Wald im Frühherbst, übervoll von Pilzen aller Art. Dazu herrlich klare und weitsichtige Luft. Es ist mir bei großer Ermüdung anscheinend gut bekommen. Heute ist es feucht und trüb. Der Landrat hatte geflaggt, Nachfrage ergab: Der Kaiser hat selbst dem Wolf-Tel.-Büro einen entscheidenden Sieg Mackensen’s über Rumänen und Russen mitgeteilt. Der kann große Erfolge haben: Äußersten Falls wird Südrußland bedroht und die ganze Ostfront kommt ins Wackeln. Sollte es doch noch, woran so viele glauben, in diesem Jahr zu einem Abschluß kommen? Ich kann es mir nicht recht denken. –
Eins der seltsamsten Ereignisse ist jetzt im hart bedrängten Griechenland eingetreten: Das IV. griechische Armeekorps, von den Franzosen und Engländern von der Verpflegung abgschnitten und vergeblich gedrängt, auf ihrer Seite zu kämpfen, hat sich mit Waffen und Troß

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(selbst Frauen und Familienanhang ist dabei) uns anvertraut, wird nach Deutschland gebracht und dort interniert.! Dagegen ist selbst die Konvention von Tauroggen ein Kinderspiel. Etwas Verworreneres als das heutige Griechenland kann man sich nicht leicht vorstellen. König und der größere Teil des Heeres scheint aber entschlossen, allem stand zu halten. – Gegen die lumpigen Rumänen gehen die Bulgaren wie die Berserker vor.
17.9.16. Heute meldete sich der junge Zirbes aus Gornhausen, dem ich wegen Butter geschrieben hatte. Wir hatten nämlich schon seit 14 Tagen keine mehr. Er hatte schon 1 ½ Pfd zu Hause abgeliefert und suchte mich im Garten auf. Es ist eine Freude, sich mit dem klugen und angenehmen jungen Menschen zu unterhalten. Er wird Dienstag in 8 Tagen auch wieder gemustert. Ist eine weitere Zurückstellung möglich, so werde ich bei ihr gerne behülflich sein. Bringt Helene nun auch noch 1 Pfd Butter mit, so haben wir diesen vielbegehrten Artikel mal wieder. Es ist ein stiller warmer Tag heute, an dem man wieder etwas auftaut von den letzten naß-kalten Tagen. Die Kinder machen nachher mit den Mädchen einen „Ausflug“ nach Mülheim - Lieser und zurück. Morgen kommt Helene zurück, worauf wir uns alle sehr freuen. – Aus den „Basler Nachrichten“, die ich heute von Freund Bruhns erhalte, ist zu ersehen, daß die Armenier von den Türken systematisch ausgerottet werden. Es scheinen da auch entsetzliche Greuel zu geschehen. Die Emmenthaler Nachrichten berichteten schon ähnliches. Es ist schlimm, solche Bundesgenossen daran nicht hindern zu können.

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18.9. Ein trüber naß-kalter Tag. An der Somme muß es entsetzlich zugehen. Durch einige Briefe, die mir der alte Heinrich Kieren III in Graach von seinem seit 3. ds. vermißten 2. Sohn (der ältere ist gefallen) vorlas, wurde mir das gestern ganz unheimlich anschaulich. Es ist, so schreibt der junge Mann, der schon allerlei mitgemacht hat, der reine Menschenmord und heute lese ich in der Kölnischen Zeitung aus der Feder des Dr. Wegener den gleichen Ausdruck. Ob denn die Engländer damit wirklich dieses Jahr noch an ein Ende zu kommen gedenken? Ein junger Dick aus Bonn, der seit dem 18. Aug. vermißt wurde, ist erst am 15. September als englischer Gefangener gemeldet, ähnlich ein Neffe von Dr. Astor, namens Eich. Ich schrieb es Kieren gleich zu seiner Beruhigung. Die Pachtparzelle kann ich auch nächstes Jahr von ihm haben. Das ist für unsere Versorgung mit Frühkartoffeln und Gemüse sehr wertvoll. Auch gedenke ich dort nächstes Jahr eine Tomatenhecke anzulegen. Leider wollte er keinen Raps oder sonstige Ölpflanze bauen, da er genug Walnüsse hat. Schade. Ich hätte gern mit Ölfrucht gebaut, am liebsten Schließmohn. Ich muß sehen, hierfür eine Parzelle zu bekommen, schließlich auch auf dem Cueser Plateau. Dieserhalb sprach ich gestern abend nach Tisch mit Schönberg. Das zur Flugzeughalle gehörige Land könnte gut dafür ausgenützt werden. Kieren bot mir die Hälfte einer neu zu vermessenden Parzelle an, die ich mir heute morgen ansah. Ich werde sie nicht gut nehmen können, es ist die, welche der Gärtner Haas schon lange bewirtschaftet und die er auch wohl sehr nötig hat.
20. September 1916. Trüber, wolkenverhangener Himmel, leiser schwacher Regen. Ich ruhe im Gartenhäuschen auf dem

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Liegestuhl und glaube – zum erstenmal in diesem Herbst – die fernen Geschützdonner- Geräusche wieder zu hören. Jetzt sind –zu Recht?– Äpfel und Pflaumen beschlagnahmt. Trotzdem hoffe ich, von beiden noch zu bekommen. Frau Pfarrer Kramm schreibt aus Charlottenburg an Helene einen langen Brief und klagt sehr über die jetzt mal wieder dort herrschenden Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung. Da wird sich Dr. Wolf wohl auch wieder bald wegen des Obstes melden. Es gilt für den einzelnen, zu „hamstern“, um die bösen Übergänge bis zu einer geregelten Neuverteilung zu überwinden. Ohne Frage wird die Anspannung der Nahrungsmittel noch stärker werden. Mit Erkleben, der sehr für gemeinschaftlichen Anbau von Ölfrüchten ist, besahen Helene und ich uns gestern an der Flugzeughalle Neurodungen. Leider sind es aber andere Stellen, die noch recht wüst liegen, wo wir ein Los zu 1 M (!) haben können. Der Feldhüter will sehen, mitten auf dem Cueser Berg für uns eine Parzelle ausfindig zu machen. Etwas Öl hoffe ich von einer Deuselbacher Ölmühle jetzt zu bekommen und sende leere Ölkanne jetzt hin. – Gleich wollen wir versuchen, für Frau Kramm Birnen ausfindig zu machen. Aufs Obst stürzt sich jetzt alles. Ob’s mit dem Schweineschlachten etwas wird, will mir fraglich erscheinen.
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21. Sept. 1916. Wir sind anscheinend in eine gewisse Krisis eingetreten. Was mir nicht gefallen will, ist dieses: Nachdem in den öffentlichen Anzeigen über die neuerliche Nachmusterung von dieser die D.U. Leute von 76 und früher ausdrücklich ausgenommen waren, sind sie nunmehr – angeblich von 76 - 69 – auf telegrafische Anweisung doch zu dieser Nachmusterung herangezogen worden. Ebenso angeblich die 1898 geborenen. – In Frankreich scheint man jetzt die Untauglichen zum II. mal nachzumustern und hierzu wird es dann wohl in einigen Monaten auch bei uns kommen. – Frl. und Herta sollen heute in Machern 20 Pfd Zwetschen holen. Grach telefonierte mir heute morgen, daß er mir besonders schöne ausgesucht und bereits gepackt habe.
23.9. Ehses Geller, unseren kurzsichtigen Referendarius, hat das Bezirkskommando alsbald wieder zurückgeschickt. Aktuar Wachendorf muß Montag hier zur Musterung und Amtsrichter Liell soll in Morbach für kriegsverwendungsfähig erklärt worden sein. Das wäre recht fatal. Am Ende bekämen wir dann den alten Cornelius Müller von Trarbach wieder nach hier.
27.9.16. Vorgestern überfiel uns abends auf dem Ende unseres Heimwegs Frau Alf mit der niederdrückenden Meldung, daß Anton Thanisch an der Somme gefallen sei. Er hat kurz vorher nach Hause in völlig hoffnungslosem Ton geschrieben: sie ständen mit der Batterie ungedeckt auf offenem Felde, dem ärgsten Feuer ausgesetzt. Die Champagneschlacht sei ein leichtes gegen das mörderische Rasen an der Somme. Ich hatte kurz vorher die Todesanzeige eines Vizefeldwebel Knecht aus dem gleichen 44. Feld. Art. Reg. gelesen. Dieser fiel

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am 18., Thanisch vermutlich am 20/21. Er war von unseren sämtlichen Mitschülern und einigen 56 Abiturienten gewiß der befähigste und tüchtigste. Eine glänzende Laufbahn lag noch gewiß vor ihm. Eben ruft mich RA Schönberg an, der zu Fuß von Wengerohr nach Hause kommt. Nach ihm ist Thanisch am Samstag, (dem 23.) durch Granatsplitter in Kopf und Leib sofort tödlich getroffen und am Montag, den 25. begraben worden. – Schade, daß er in seiner Ehe wohl nicht das gefunden hatte, was er zu finden hoffen konnte. Wie viele unserer Mitschüler mögen schon gefallen sein? – Hugo Thanisch hat sich heute bei den 69ern in Trier als Garnisonsdienstfähiger zu stellen, Reklamation ist befürwortet.
27.9. abends: Frau Alf mausert sich zu einer echten Unglücks-Cassandra: Heute abend empfing sie mich mit der Nachricht, daß ein Vetter von Helene, sie meinte Alfred Neitzer (Neitzer, Alfred), gefallen. Ein Granatsplitter traf ihn tödlich in Oberschenkel und Leib am 16. Sept. 1917 (muß 1916 heißen). Für Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) ist es eine schwere Sache; für den Vater, Onkel Oskar (Neitzer, Oskar) muß man Schlimmes befürchten. Es ist ein rasender Mord an der Somme. An Erbitterung ist der allgemeine Kampf jetzt wohl auf dem Siedepunkt angelangt. Eine Steigerung erscheint kaum mehr möglich und wer weiß, was noch kommt. Unsere Zeppeline – zwei gingen kürzlich in England verloren, von einem wurde die Besatzung gerettet – wüten in grausiger Weise mit Brandbomben in England. Jetzt waren sie auch in Südengland. Es ist ganz offenbar ein auf gegenseitige Vernichtung zugespitzter Kampf,

Zwischen den Seiten eingeklebt: Postkarte von Helene Reitmeister an Helene Rech mit Einzelheiten über den Tod von Alfred Neitzer; außerdem die 1. Seite der Kölnischen Zeitung vom 25.9.1916.
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zumal zwischen uns und England. Ein etwas komisch gefärbter Zwischenfall beschließt den Tag: Assessor kommt nach Tisch mit einer Depesche an, in der ihn der Oberstaatsanwalt, dem er sich mit ausdrücklicher Ausnahme von Trier und Saarbrücken zur Verfügung gestellt hatte, sofort nach – Saarbrücken beordert. Nun ist Holland in Not! Dort ist heidenmäßige Arbeit, schlechte Verpflegung, Briefsperre mit Zensur, Fliegergefahr und was nicht alles. „Bonn“ hat man ihm als Köder vorgehalten und jetzt ist er richtig „geleimt“. Dazu ist dort Bezirk des XXI. Armeekorps, also evtl. Neu- und anders -musterung als hier, wo er glücklich für fast untauglich gemustert ist. Er erhoffte dabei bei der Staatsanwaltschaft erhöhten Schutz, da diese ihre Leute in kräftigster Weise zu reklamieren dringend gezwungen ist. Ich sehe dem ganzen mit einer Art fröhlichen Behagen zu, werde morgen sofort Hilfsrichter beantragen, da ich zwecks Vermeidung eines Zusammenbruchs mit meinen Kräften ökonomisch umzugehen bedacht sein muß. Scherer aber wird auf alle Fälle versuchen, von Saarbrücken wieder abzukommen. Auf weiteres bin ich neugierig. – An Onkel Oskar und Tante Henriette Neitzer schrieben wir gleich heute abend. Er hinterläßt Frau mit 2 halbwüchsigen Söhnen aus I. Ehe und einem kleinen Söhnchen von ihm. Böse, böse Zeiten. Eine bezeichnende Nummer der Kölnischen Zeitung klebe ich hier ein.

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28.9. Paul Thanisch berichtete, daß sie jetzt offizielle Bestätigung bekommen haben. Hiernach ist Anton Th. am Freitag, 22.9., nachmittags 3 ¼ Uhr tötlich getroffen und am Samstag beerdigt worden. Scherer war heute noch auf dem Gericht, hatte bereits nach Saarbrücken telefoniert. Er hat einen erkrankten Assessor Lunkenheimer dort zu vertreten. Er ist ebenso wie Gerichtsdiener Friedrich, 20. Jan. 1917 zurückgestellt. Von Bruhns kam Karte bereits aus Würzburg. Er hat ein seltsames Gefühl, mit Frau endlich im deutschen Vaterland zu sein. In Lindau holten sie Dr. Renner und Frau ab.
30.9.16. Vater Scherer spricht mich sehr bekümmert heute morgen auf der Brücke an: Kaum ist sein tüchtiger Sohn Bernhard als „Staatsanwalt“ nach Saarbrücken, so bekommt er gestern nach hier einen neuen Gestellungsbefehl nach Trier zum 4. Okt.; vermutlich eine Verwechselung auf Grund einer nicht berichtigten älteren Liste. Bei Gericht ist genug zu tun, Paul Thanisch helfe ich an einer Zeitungsanzeige der „Arbeiter“, für Anton und entwerfe heute nachmittag auf dem Liegestuhl dessen Totenzettel (Der Totenzettel ist in das Tagebuch eingeklebt). Ein seltsames Gefühl hat man dabei. Den Landrat habe ich gestern mit mehreren Eingaben bombardiert: Für Dr. Wolf Gartenbesitzbescheinigung zwecks Ausführung eigenen Obstes (beschlagnahmte Äpfel) nach Düsseldorf, für Frl. Hedwig Verlängerung der Weizenmehlbezugskarte, für mich erhöhte Fettkarte und Anfrage wegen Erlaubnis zur Hausschlachtung; schließlich noch Schreiben an 2. Landsturm Infanterie Bataillon Trier wegen Unteroffizier Velten als Schreiber bei der Kriegsbeschädigten-Fürsorge. Zur Zeit herrscht in der Stadt Kartoffelnot. Heute früh wurden solche schon um 7 Uhr ausgeschellt, um 9 Uhr war schon nichts mehr zu haben. Wir gaben Sack ab, der hoffentlich Montag nachmittag wohlgefüllt aus dem Kirchspiel sich hier auf dem Hofe des Hospitals wieder

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einstellt. Heute giebts zur Versorgung bis in den August 1917 Kartoffelbezugsscheine, 1 ½ Pfd pro Kopf und Tag, = 2,7 Zentner pro Monat für uns. Werden sie wohl schwerlich alle brauchen. Aber wer weiß?
Sonntag, 8. Okt. 1916. Vor Tisch schreibe ich einen Brief an Stabsasrzt Dr. Lehmann, dessen Adresse –er ist z. Zt. an einem Lazarett in Douai– ich gesteen von einem jungen Cueser Verwundeten erfuhr, der mir seine Grüße überbrachte, da kommt Reinecke. Er hat 4 Wochen Urlaub und sieht aus wie vor einem Jahre. Auf dem Weg zum Amt nach 12 Uhr begegnen mir außer dem Stadtoberhaupt und Frau Winckler, die sich um ihren Mann an der Somme sorgt, Sieburg, Felix Schmitz (jetzt wieder Amtsrichter in Bitburg) und Stolte. Allgemeines Wiedersehen. = Leider sind wir heute nicht, wie beabsichtigt, nach Commen gekommen. Helene hatte Magenattake und war noch ganz schwach davon, auch das Wetter zu schlecht. Im Garten ist die reiche Apfelernte endlich völlig eingebracht. Dr. Wolf hat ca 80 kg in 4 Körben zugesandt erhalten. Jetzt kommt die Schweine - Frage. Friedrich bemüüht sich um solches. 1 ½ Zt. geschrotene Gerste wird Mitte dieser Woche kommen, ebenso 1 Zt. Weißkohl zum Einmachen. Beides von dem netten Mündel Zirbes in Gornhausen. Er war heute hier, sein Bruder steht jetzt in den Karpathen gegen die täglich oft 3 x angreifenden Russen. Er fühlt sich einsam zu Hause und erwartet Einberufung. Ist als 19jähriger zur Infanterie I gemustert. – Der tüchtige Bürgermeister versprach mir 3 - 4 Pfund Speck á 4,30 M heute auf der Brücke. Dies ist Helene sehr gelegen. Im Garten ist ein von einem Untersuchungsgefangenen aus einer Kiste

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hübsch gezimmerter neuer Kaninchenstall aufgestellt. Der erste Wurf wird allmählich flügge. Futter ist in Fülle da. Reife Bohnen haben wir viel an den Stangenbohnen ausgepellt. Vorgestern sprach Stolte (Leutnant und Compagnieführer Inf. Rg. 65) um ½ 4 bei mir im Garten vor, hat 3 Wochen Urlaub und sieht gut aus. Er blieb bei uns zum Thee, fährt morgen zur Frau nach Paderborn. Er liegt bei St. Mihiel, betonierte, sehr ausgebaute Stellungen in gewachsenem Fels, teilweise sehr nahe den Franzosen (bis auf 8 m). Er hat vor Verdun große Angriffe mitgemacht. Thiaumont. = Donnerstag gehe ich mit Refr. Weins nach Morbach, 14 Kriegsbeschädigte zu beraten. Morgen nachmittag mit Sieburg auf Hasenjagd. – Ich habe mir bei Buchhändler Krebs eine russische Grammatik zu 90 Pf (Göschen) gekauft und übe jetzt kyrillische Schrift.
10. X. Den Rumänen wird jetzt das ernste Kriegführen beigebracht. In Siebenbürgen ist eine Heeresgruppe von ihnen durch Falkenhagen gründlich geschlagen worden; eine andere durch Mackensen in der Dobrudscha. Ein Versuch der Rumänen, die Donau zu überschreiten und den Bulgaren in den Rücken zu fallen, ist kläglich gescheitert. Ununterbrochen höre ich leisen fernen Kanonendonner. – Gegen den Reichskanzler scheint jetzt Generalsturm geblasen zu werden, selbst die Kölnische Zeitung bringt einen Artikel: Entweder – oder, und der allwissende Bonner General-Anzeiger hat schon seinen Nachfolger genannt: Tirpitz mit der Losung: Nieder mit England. Es wäre keineswegs unmöglich. Ein Uboot unserer Kriegsmarine war jetzt in Amerika. Der scharfe Uboot-Krieg wird und muß bald kommen. England, dessen gegenwärtig, scheint sich gewaltig zu verproviantieren. Es handelt sich darum, daß bewaffnete Handelsschiffe ohne Anruf torpediert werden. – Der allgemeine Kriegsplan zu Lande scheint dahin zu gehen, von der Dobrudscha aus den Einbruch in Südrußland zu erzwingen. 10 ½ Milliarden zur 5. Kriegsanleihe gezeichnet. – Reinecke besuchte ich vor Tisch. Er freut sich stets über seine Wohnung. Der Untersuchungsgefangene zimmert mir zu Obsthürden ein Gestell mit Schüben, von Reinecke giebts alte Latten dazu. Gerade fertigt er für Scherer einen Kaninchenstall, für Friedrich Kinderspielzeug. Mir soll er noch 2ten Stall machen. Er wird wohl über Freitag bleiben müssen.
11.10. Große Aufregung in N. Amerika: Unsere Uboote wirken jetzt dort gegen die Engländer. Damit beginnt wohl ein neuer Abschnitt des Seekriegs. – Unser Schulkamerad Max Müller ist gefallen. (Selbach, Huicking, Müller, Thanisch sind die mir bekannt gewordenen Kriegsopfer). Die letzten Tage fühle ich mich recht müde und möchte stets schlafen. Vermehrter Auswurf scheint auf stärkeren Prozeß in der Lunge zu deuten. Gottlob kann ich mich jetzt ziemlich schonen. Es ist ein trüb rauher Herbsttag heute. Gestern wurden die jungen Kaninchen aus dem zu engen Kasten geholt und in freies Nest im Stall gebracht, wobei der sachverständige Schreinermeister Scherr half. Wir haben 8 Junge. Also erster Zuchterfolg für künftige Fleischversorgung! – Ein Sittenbild: Heute hatte ich in Gegenwart eines der Notzucht angeschuldigten

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russischen Kriegsgefangenen, eines Polen Sedlitzki, Tuchfabrikvorarbeiter aus Lodsch, eines dto. Dolmetschers Philipp Neugebauer (gleichfalls russischer Kriegsgefangener) den „Prozeß“-Port aus Cues, dessen Frau und den Pfarrer Schmitt zu vernehmen. Die Tochter Port hat ein Kind geboren, zu dem der Pole Vater ist. Er ist heute noch Arbeiter im Hause des Port. Nachher wir Notzucht behauptet, während es sich ganz einfach um ein Liebesverhältnis handelt. Vater Port hat sich auch schon gründlich nach den Verhältnissen seines „Schwiegersohns“ erkundigt.
13.10. Es war ein schöner Tag gestern auf dem rauhen Hunsrück, über den ein kalter Wind grauen Nebel und formlose Wolken trieb. Im Hochwaldhof trafen wir mittags und nachher zum Kaffee nach getaner Arbeit eine gute und höchst unterhaltsame Gesellschaft von 9 Kurgästen; Schlösser, den Kapitän aus Köln mit Frau dazwischen – die uns gleich einer Familie aufnahmen. Wir hatten uns schriftlich angesagt und waren jedenfalls gründlich vorbesprochen worden. Dem Referendar Weinz machte die Sache großen Spaß trotz seines heftigen Schnupfens. Bei der Hinfahrt im Auto hatte er höchst unvorsichtig den vom nächtlichen Zechen erhitzten Kopf unbedeckt durch die frische Höhenluft fahren lassen und sich mit Frl. Bottler, Gastwirtstochter aus Mülheim gut angefreundet. Nach Kaffee (wir hatten mittags bei 2 Fleischgängen und nachmittags bei guter Butter feste eingehauen) zogen wir noch zum „Pater“ Braun und erschwindelten 2 derbe Sauerbratenschnittchen. An einer mitgenommenen Hälfte hatten die Kinder gestern abend und noch heute morgen ihre große Freude.

(Eingeklebte Zeitungsausschnitte)

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Herta war unterdessen den Nachmittag über mit Käthchen und Friedrichs Kindern nach Mülheim gewesen, hatten ein Wägelchen mitgehabt und 1 ½ Zt. Gerste und 1 Zt. Weißkohl dort geholt, der von Gornhausen her dort abgesetzt worden war. Helene hatte ein paar Damen zum Kaffee gehabt.
14.10. College Winckler ist nun auch an der Somme. Vielleicht nicht mehr Kommandeur seiner Art. Mun. Kolonne, vielleicht Artill. oder Infant. Hauptmann. Letzteres soll Clemens sein. Die Frau sorgt sich sehr. Der Vater in Kreuznach wurde jetzt 90 Jahre alt und Winckler konnte den hierzu längst bewilligten Urlaub nicht antreten.
23.X. Wir hatten einige Nachtfröste, Kürbisse und Tomaten sind hin, hoffentlich hat es dem Wein nicht allzu viel geschadet. Winckler, nach Mars la Tour verschoben, ist nun doch in Urlaub und nach Oppenheim zur Weinlese. An der Somme haben wir jetzt reichlichere schwere Artillerie und können wirksames Sperrfeuer vor die Angreifer legen. Jedes Feldgeschütz hat nach Wincklers Mitteilung eine Fläche von 20 m Breite abzustreuen. In Rumänien geht es anscheinend sehr günstig für uns weiter. In England beginnt sich die allgemeine Lebensmittelteuerung schärfer bemerkbar zu machen. – Auf ärztl. Gutachten erhalte ich als Lungenkranker jetzt wöchentlich 1 Pfd Butter (2,50 M) außerhalb der Butterkarte. Am meisten freut sich wohl Mariannchen (oder wie sie sagt B’jannchen) darüber, denn auf Butterbrot ist sie als seltene Delikatesse jetzt besonders versessen. Heute haben wir nach mehrfachen Bemühungen

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endlich auch Seifenkarten bekommen. Die Kartoffelmenge von 1 ½ Pfd ist auf 1 Pfd pro Tag und Kopf verringert worden und unser Kartoffelbezugsschein ist auf 28,74 Zentner und heute auf 19,20 Zentner (für 6 Personen vom 1. Okt. 16 bis 15. Aug. 1917) berichtigt. 12 Zentner haben wir von Joh. Hermann in Commen, 3 Zentner bringt er wohl diese Woche noch, den Rest besorgt uns die Stadt oder Bürgermeister Reidenbach von Bernkastel-Land Naturgemäß ißt jedermann jetzt viel mehr Kartoffeln und es gilt, sich sein Quantum zu sichern. Mit Faber will ich zusammen 2 Schweine 6 Wochen zur Hausschlachtung halten, dafür sind Futterkartoffeln, Gerste und Gerstenschrot schon im Gericht eingelagert. Hoffentlich bekommen wir die Schweine dieser Tage, sonst kann die Geschichte am Ende noch Essig werden, da neuerdings der Ansturm auf die fast schlachtreifen Schweine für die 6 Wochen - Haltung und Hausschlachtung ins Uferlose gewachsen ist. Ich sitze mit einer hustenden Halserkältung seit 2 Tagen daheim in Stubenhaft und bastle alles mögliche. Lese dazu die ganz ungewöhnlich guten Schilderungen in Kügelgens Erinnerungen eines alten Mannes. Dieses prächtige Buch hatte ich seltsamer Weise bis heute noch nie gelesen. Wer doch auch so seine Erlebnisse schildern könnte! Es steckt eine künstlerische Kraft darin.

Zwischen den Seiten eingeklebt ist ein Zeitungsausschnitt mit dem Bildbericht von der „Größten Explosion der Welt“

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24.X.16. Ein hervorragender Tagesbericht von gestern: Während an der Somme der Riesengeschützkampf tobt, nehmen die unsrigen Bulgaren die Stellungen und Bahnlinie, auch die Stadt Constanza in der Dobrutscha. Damit ist Rumänien ohne Bahn zur See, und große Vorräte, auch wohl (dringend benötigte) Ölquellen in unserer Hand. Anscheinend schieben die Rumänen bald gegen die Karpathen, bald gegen die Donau ihre Truppen ziemlich ratlos hin und her und sofort erfolgt von unserer Seite ein prompter Einbruch. Hoffentlich gelangt das reiche Land noch vor Wintersbeginn in unsere Hand. Der Herbst soll dort lang und mild sein. – Mit Helene und den Kindern ging ich vor Tisch bei milder Sonne (das Wetter ist wieder zur Wärme umgeschlagen) zum Garten und auf der Wehlener Straße spazieren. Marianne ist ein allerliebster Wildfang, unermüdlich in drolligen Einfällen. – Bei Gericht wird heute der Schweinestall gebaut, und Samstag sollen die Schweine kommen. – Literarisch glaube ich folgendes zu bemerken: Die Kriegslyrik verklingt allgemach. Vielleicht kommt bald der eigentliche Kriegsdichter, der alles zusammenfassend in irgendeiner Form künstlerisch meistern kann. Neuerdings macht sich allenthalben in feinerem und gröberem Kaliber erotisch angehauchte Schriftstellerei wieder breiter. Aktalbums werden in den Wochenschriften nicht zu knapp angeboten. Zeitungsromane haben wieder mehr Liebesgeschichten zum Gegenstande u.s.w. Ist es bewußte oder unbewußte Rückwirkung gegen das große Männersterben? Im einzelnen könnte ich die vorstehenden Behauptungen nicht genauestens nachweisen, der Gesamteindruck ist aber wohl schon richtig.

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31. Okt. 1916. Referendar Weins verabschiedet sich heute. Er kommt ans Amtsgericht Berlin-Pankow und lernt am orientalischen Seminar Türkisch. Wer weiß wohin er noch kommt. – Bölke, der Fliegerhauptmann und Held des Volkes, der seinen 40. Gegner bezwang, ist verunglückt. Es schmerzt einen jeden. Er war 1891 geboren. – Samstag sind dann endlich auch die langersehnten Schweine, zwei prächtige Speckträger in dem neuhergerichteten Gerichts-Schweinestall eingetroffen. Gottlob fressen sie tüchtig und scheinen seuchenfrei. Die Schweineseuche aber grassiert bei Gartenbauinspektor Neumann, Pfarrer Jänicke, Kaufleuten Koch und Lord u.s.w. Es war übrigens die höchste Zeit, denn die Einstellung auf 6 Wochen zur Hausschlachterei hat derart überhand genommen, daß das preußische Fleischamt den freihändigen Verkauf von Schweinen von mehr als 120 Pfd an Private verbot. Gestern hat unsere Käthe ¼ Ztr. Eicheln im Wehlener Wald gesucht. Faber hat Rummeln (=Runkelrüben) und sonstiges bestellt. Gerste haben wir reichlich, Kartoffeln leidlich. Wir wiegen die Kartoffeln jetzt täglich, denn es heißt bis zur nächsten Ernte streng haushalten damit. – Bruder Joseph (Rech, Josef) schrieb kürzlich und hoffte, am 29. ds. Hauptmann zu werden. Sie hätten gepackt und erwarteten täglich den Befehl zum Abmarsch, unbekannt, wohin. Reinecke hielt es mit seinem Urlaub nicht bis zum Ende dieses Monats aus und verabschiedete sich Sonntag nachmittag ziemlich plötzlich, nachdem er noch zuvor bei Thanischs eine Einladung zum Abendessen angenommen hat. – Die im Frieden

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und vor September 1915 als untauglich ausgemusterten werden jetzt abermals gemustert. Alle eingezogenen Garnisonsdienstfähigen werden, wie man jetzt allgemein hört, nicht mehr nach ärztlichen Gesichtspunkten, sondern anscheinend lediglich nach der Bedürfnisregel ins Feld geschickt. – Wann werden die Doppel- D.U.- leuten abermals gemustert werden? In Frankreich ist es genauso.
Allerheiligen 1916. Leuchtend klarer Herbsthimmel, milde Sonne wie im Frühjahr, schimmernde Farben. Vor Tisch mit Helene und seit langem erstmals mit den Kindern aus. Zum 9. November wieder an 40 aus der Stadt einberufen, darunter auch Notar Sieburg. Ob man ihn als Einäugigen nicht wieder heim schickt? Trotz der ernsten und schweren Zeit und bei allem Mitgefühl mit dem bedauernswerten Armen machte mir heute morgen eine helle Freude dieser Brief unseres Freundes Bildhauer, eines wegen Geistesschwäche entmündigten früheren Stadtsekretärs, eines unermüdlichen Querulanten:
Berncastel, den 31. Okt. 1916
Kgl. Vormundschaftsgericht
Hier

Infolge des von dem dortigen Amtsgerichte unter dem Drucke des Stadtbürgermeisters Simonis hier begangenen Justizverbrechens, um die nachgewiesenen Meineide, Hurerei und Verbrechen des letzteren zu unterdrücken, bin ich jeglichen Erwerbes beraubt. Eine Beseitigung des Justizverbrechens war bislang unmöglich, da der Staatsanwalt und Richter den Meineiden des p. Simonis Beihülfe leisten, durch den, mir in so verbrecherischer Weise entzogenen Arbeitsverdienst befindet sich meine Familie in einer äußersten Notlage. Von der ihr seitens des meineidigen Simonis gewährten monatlichen Unterstützung von 20 M können nicht einmal die Huren oder das uneheliche Kind des p. Simonis leben, geschweige meine Familie.
Ich ersuche daher für den sofortigen standesgemäßen Unterhalt meiner Familie zu sorgen, andernfalls ist Gegenwärtiges als Beschwerde im Instanzenzuge Seiner Exzellenz dem Herrn Justizminister vorzulegen, während ich mir weitere Maßnahmen zur Beseitigung der dort betriebenen Klassen- und Verbrecherjustiz vorbehalte.
Es liegt außer Zweifel, daß die dortige Stelle infolge ihres verbrecherischen jeder Rechtsnorm Hohn sprechenden Treibens zum standesgemäßen Unterhalt meiner Familie eo ipso verpflichtet ist.
Hochachtungsvoll!                           Bildhauer, Stadtsekretär

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4. Nov. 1915. Douaumont und Vaux haben die Franzosen wieder, 2 Forts von Verdun. Die Engländer haben zähneknirschend einen Vorstoß unserer Torpedoboote durch den Kanal ertragen müssen, wobei den unsrigen nichts, ihnen aber mancher Schaden geschah. Die U-Deutschland ist zum 2. mal in Amerika. Norwegen, dessen Handelsflotte von unseren Ubooten stark ramponiert wird, hat diesen die Küstengewässer verboten. Darob scharfes Geschrei unsererseits, das in Norwegen Eindruck zu machen scheint. Im Reichstag trat der 3. neue Kriegsminister auf, diesmal v. Stein, frisch aus der Sommeschlacht angekommen. – Gestern pflanzten wir 25 Weißkohl und 25 Wirsingpflanzen, prächtige pikierte und wohlgewachsene Pflanzen. Hoffentlich

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helfen sie uns im Frühjahr. Es wird dann vermutlich böse aussehen. Fast alle Websachen sind neuerdings von der Freiliste gestrichen, also nur noch gegen Bezugschein zu kaufen. Z.B. für ein Taschentuch ist Bezugschein nötig. –  Im Gartenkeller habe ich die eingelagerten 3 Zt. Kartoffeln selbst gründlich gemustert und dabei eine Menge Beschädigte, etl. Faule und manche Verdächtige ausgemerzt.
6. Nov. 16. Ein neues Königreich Polen! Wie man es lange erwartet. Das giebt neue Mannschaften. An 2 Millionen wehrfähige Männer soll es dort noch geben. Wird Rußland bald nachgeben?
7.11. Bruder Joseph (Rech, Josef) schreibt vom 4. ds. daß er seit einigen Tagen vor Douaumont liege. Heftiges und schweres Artilleriefeuer dort.

Eingeklebter Feldpostbrief:
Lieber Mathias!
Wir liegen nun schon mehrere Tage vor Douaumont und haben schon mehr in der kurzen Zeit erlebt, als in de nganzen übrigen Kriegsjahren. Es wird nur mit 15 - 31,5 ctm Kalieber von beiden Seiten geschossen. Stollen, 5,30 m unter der Erde im Kalkstein werden glatt durchschlagen. Die Wege stehen ½ m unter Wasser, da sie durch das Ausfahren unter den Chausseegräben liegen. Vor jedem Wagen geht ein Mann mit einem Stock, der im Wasser nach Granatlöchern „peilt“, damit die Wagen nicht so oft umschlagen. Wir hatten schon Tote und Verwundete, ehe wir hier waren. Schunk und Koblenzer sind auch als Mun.Kol.Führer hier, sie haben es sehr böse, da alle Wege ständig, tags und nachts unter dem dollsten Feuer liegen. Trotzdem muß die Munition vor. Sie liegt aber auch überall zerstreut, abgeworfen, wenn die Kolonne Feuer bekommt oder nicht vorwärts kann. Man kann 50 - 100 Schuß 21 ctm im Schlamm liegen sehen. Vorgestern gingen etwa 5 Minuten von uns 1300 Schuß 21 ctm durch eine französische Granate in die Luft. Das war ein Knall und Splittergezisch. Hoffentlich kommen wir noch mal aus den Hexenkessel heraus.
Es grüßt Euch alle herzlich            Euer Josef.
 

8.11.16. Gestern wurde durch öffentliches Ausschellen zum sparsamen Gebrauch der Kartoffel ermahnt, auch solle man sie mit anderen Feldfrüchten strecken. Heute be-stellten wir 2 Zt. Erdkohlrabi zu je 2,90 M. Auch probierten wir eine „Pflanzenfleisch-masse“ (Ersatz für Fleisch) mit gutem Erfolg. Der Beamtenverein will solche zu 1,25 pro ½ kg liefern.
9.11. Von Mutter Reitmeister, die sich über etwas Rehbraten, den Helene geschickt, sehr gefreut hat, kam mit einem Paket die böse Nachricht, daß Walter Forstmanns Frau ernstlich krank ist. Gelegentlich der Operation wurden Tuberkulosebazillen in der Bauchhöhle festgestellt. Evtl. soll sie nach Leysin. Ich schrieb sofort an Walter, empfahl Dr. Gerhartz, Bonn und Frl. Willich’s Pension in Leysin, erbot mich auch, sie selbst nach dort zu bringen. Hoffentlich teilt sie nicht das

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verhängnisvolle Geschick von Elsbeth Reitmeister. Das Kind, einen erst einige Monate alten Knaben wollen die alten Forstmanns nach Godesberg nehmen. – Die Mosel geht lehmgelb und hoch. Die beiden letzten Nächte konnten Helene und ich kaum Schlaf finden. Es ist, als ob etwas Widriges in der Luft hinge.
16.XI.16. In einem offenen Briefe an den Reichskanzler verlangt Hindenburg Fett für die Munitionsarbeiter, darob sind alle Hausschlachter und „Pensionschweinebesitzer“ tief betrübt und dem ewig neuen und ganz und gar unvermeidbaren Mittelpunkt des Gespräches wird damit eine neue Wendung gegeben. Beruhigend wirkt, daß man nicht etwa die Hälfte oder gar das ganze Fett, sondern nur einige Prozente wird voraussichtlich abzugeben haben. So im Kreuznacher Bezirk: 5%. Nun, das tut man schließlich gern. Ja, während draußen der Krieg tobt, hat man hier schwere Schweinesorgen. – Aus einem Aktenstück bei Gericht ersah ich gestern, daß Pfarrer Mörchen, der Biedermann aus Veldenz, eine große Schrift an das Kriegsernährungsamt abgelassen hat. U.a. wird da auch der von den Bauern der (Veldenzer) Grafschaft allenthalben erhobene Vorwurf zur Anzeige gebracht, die Frh. v. Schorlemer’sche Gutsverwaltung habe dort allenthalben die Gerste (als Hühnerfutter) für 16,50 M (also 2,50 über dem Höchstpreis von 14 Mark) aufkaufen lassen. Das stimmt, denn unter der gleichen Begründung verlangte mir ein Gornhausener Mündel das gleiche ab und – ich mußte es zahlen. Ich fühlte mich als reumütiger Sünder und hoffe nicht angezeigt zu werden. Wer aber kann wohl

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diese Zeiten überleben, ohne sich einer Gesetzesübertretung schuldig zu machen? Ha –
Im Gericht habe ich auf dem Flur stets ein schlechtes Gewissen: Es stinkt dort abscheulich nach dem Schweinestall, trotzdem Faber, der schweinemitbesitzende Rechnungsrat eifrig die Korridorfenster zur steten Lüftung offen hält.
23. Nov. 1916. Buß- und Bettag, seinem Wesen entsprechend kühl, trüb und melancholisch. Das seit einigen Tagen namentlich auch nachts stark hörbare ferne Geschützdonnern war heute nachmittag ein andauerndes leises Schüttern, das man oft zu vergessen oder zu überhören trachtet, das einem aber stets durch Mark und Bein geht. – Bruder Johannes (Rech, Johannes) hat am 17. ds. einen zweiten strammen Kriegsjungen bekommen, der wohl Jan-Gerrit (Rech, Jan Gerrit) heißen soll. Hoffentlich braucht er keinen Krieg zu erleben. Der Vater arbeitet z. Zt. am Krankenhaus St. Gilles in Brüssel. – Helene hat wieder fortgesetzt solche tolle Kieferneiterung, daß es nicht zum Aushalten ist. Schließlich wird eine goldene Zahnbrücke abgerissen und der schlimmste Zahn entfernt werden müssen. – Die Engländer toben immer noch mit Massenangriffen an der Somme vor und hier und da etwas weiter. Kostete ihnen früher der Kilometer 15000 Mann, so kostet er jetzt bereits 46000 Mann. Es ist ein entsetzliches Morden. Bruder Josef (Rech, Josef) liegt vor Verdun und sieht von seinem Fenster aus das 6 ½ km entfernte Douaumont, ein Fort, das wir wieder haben räumen müssen, fortgesetzt aber unter schwerstem Feuer halten. In Rumänien ist die westliche Front der rumänischen Armee durchbrochen und der Einmarsch in

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die Ebene der Wallachei erzwungen. In Archangel war eine fürchterliche Munitions - Entladung im Hafen. Monastir haben wir räumen müssen. Gestern starb der Kaiser von Österreich, was hat der Mann nicht alles erlebt. „Daß ihm nichts erspart geblieben sei“, konnte er wohl gelegentlich der Ermordung des Thronfolgers im Juni 1914 mit Recht von sich sagen. Norwegen wird von unseren Ubooten förmlich blokiert und zugleich heftig in unserer Presse angegriffen. Die Norweger ergeben sich allmählich darein. Das Handels-Uboot Deutschland ist bei der Abfahrt in Amerika beschädigt worden, wo die „Bremen“ geblieben ist, weiß man nicht recht. Die Polen sollen militärisch ausschließlich durch uns, nicht durch Österreich ausgebildet werden. Das läßt tief blicken. Was werden wir noch mit dem neuen jungen und anscheinend etwas „vertschechten“ Kaiser zu erleben haben? Die Engländer scheinen eine Beendigung des Krieges durch die Entscheidung in Rumänien zu erhoffen. | Neuerdings bin ich auch Ortsvertreter des Baltischen Vertrauensrats und mache mich mit dem Inhalt eines Postpakets bekannt, das dieser mir kürzlich zusandte, alles Literatur über die Ostseeprovinzen. Allmählich gewinne ich ein geschlossenes Bild von diesen alten deutschen Koloniallanden, deren völlige Rückeroberung und Wiedereingliederung in unser Reich hoffentlich ein Kriegsziel ist, was wirklich erreicht wird. Neuerdings spricht wieder vieles dafür, daß man bei uns sehr bedacht ist, die alte Reichsgrenze, wie sie

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bis 1539 war (Narowa und Narwas, Peizussee, Dünaburg) wiederherzustellen. || Allerlei Leute sind neuerdings eingezogen worden, so Willy Schnittgen. Auch die DU Leute von 1879 - 1870 sind nachgemustert. Alle nicht recht beschäftigten Zivilisten sehen sich jetzt nach Kriegsbedarfs - Beschäftigung um, denn der Zivildienst kommt jetzt bald. Meine amtliche und Kriegsbeschädigten- Fürsorge- Tätigkeit wird wohl genügen. Kriegsdienst, Kriegsbedarfserzeugung und Landwirtschaft, sowie alles, was damit zusammenhängt, sind jetzt die 3 Daseinszwecke, auf die sich unsere Volkskraft für die nächste Zukunft zusammenzieht. – Das allabendliche gegenseitige Vorlesen befriedigt uns jetzt sehr. Kügelgens „Jugenderinnerungen“ erbauen uns am meisten, ferner Naturschilderungen von Löns, etwas Wilhelm Busch. Es ist eine schwere Zeit und trotz aller Friedensschalmeien, die hier und da geblasen werden, habe ich längst die Hoffnung aufgeben müssen, auf diesen Blättern etwas vom Frieden schreiben zu können. Durch schlechte Ernte allenthalben und fortgesetzten Abgang von Schiffraum durch unsere Uboote sind die Engländer jetzt gezwungen, ihre Lebensmittel zu rationieren, die Franzosen desgleichen. Schweden richtet sich auf völlige Seeabsperrung ein. Ob es wohl noch gegen Rußland losgeht? – Morgen fahre ich einen Tag nach Morbach, um 1 Dutzend Kriegsbeschädigte dort zu beraten.
24.XI.16. Ein schöner Tag gestern, auf dem Hunsrück klare Luft und strahlende Sonne.

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Trotz vieler Arbeit mit den Kriegsbeschädigten – einigen hoffe ich, helfen zu können – fand ich nach Tisch Zeit zu einem Spaziergang zur Schmausenmühle. Ich besuchte dort die gegenüber liegende kleine Ölmühle und fand den Ölmüller, der aus Rußland reklamiert worden war, bei voller Arbeit. Ich besah mir eingehend das ganze, nur aus Holz gefertigte schöne alte Mühlwerk, wohl an 150 Jahre, wie der Müller meinte. Er wird mir nächstes Jahr auch Mohnöl pressen können. Decker heißt er. Mittags hatte ich bei Tisch eine recht anregende Unterhaltung mit einer schwerhörigen Pastorsfrau aus der Gegend zwischen Simmern und Castellaun mit einem jungen Mädchen aus Düsseldorf als Dolmetscherin. – Bruder Josef (Rech, Josef) schreibt heute, daß er Hauptmann sei und an Ruhr krank im Lazarett liege. Ich schrieb ihm sofort. Das Schießen ist hier jetzt wieder stark zu hören. Helene war gestern abend (endlich von ihren peinigenden Zahnschmerzen befreit) wieder mal recht munter und von einem kurzen Besuch bei Frau Thanisch ganz erfrischt. Der Zivildienst steht jetzt im Vordergrund allen Interesses. Heute morgen meldete sich bei mir auf dem Gericht bereits eine Frau Busch, deren Mann (Kolonialpolizeibeamter) zur Zeit im Felde steht, um gegebenenfalls der Behörde ihres Mannes ihre hiesige Zuverfügungstellung melden und für sich eine Vormerkung auf Dienst am Platze hier zu sichern. Nicht übel. Weiblicher Dienst soll aber nur „freiwillig“ vorab in Frage kommen. Im übrigen möge der Wortlaut des jetzt zur Beratung stehenden Gesetzes dieses Heft schließen. Den Feinden ist dieser neue „Trieb“ der Deutschen schon sehr in die Glieder gefahren.

   Berncastel Cues im 3. Kriegsjahr
    24. November 1916
     Dr. Rech, Amtsrichter und
     Berufsberater für Kriegsbeschädigte

(Zeitungsausschnitt eingeklebt)
 

Die Engländer haben ihr größtes Handelsschiff, ein Schwesterschiff der untergegangenen Titanic, in griechischen Gewässer als „Hospitalschiff“ verloren.
Torpedo? Mine?
   Immer feste droff!
 
 
 

(In die Innenseite des rückwärtigen Deckels sind noch verschiedene Zeitungsausschnitte eingeklebt)
 

Ende des Tagebuches von 1915/1916 (II. Heft des Kriegstagebuchs)
 
 
 

Auf dem Vorblatt:
Aufzeichnungen des Amtsrichters Dr. Rech zu Berncastel Cues a/Mosel in Kriegszeiten vom 28. November 1916 bis zum 30. Dezember 1917
3. Bd.

Im ganzen Band sind zahreiche Zeitungsausschnitte mit den Nachrichten wichtiger Ereignisse eingeklebt oder eingelegt.

Die Seitenzahlen numerieren jede zweite Seite.

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Berncastel Cues
Sonntag 3. Dezember 1916. Winterwetter. Seit zwei Tagen ist ununterbrochenes, rollendes oft richtig trommelndes Geschützfeuer zu hören. In Rumänien sind täglich große Fortschritte, fast 50 km bei Bukarest stehen schon unsere Truppen. 2 Zeppeline fielen kürzlich dem anscheinend sehr verbesserten englischen Abwehrsystem zum Opfer. Ob der Sieg in Rumänien ein baldiges Ende herbeiführen wird? Alle hoffen es, aber keiner glaubt es recht. Das große allgemeine Hilfsdienstgesetz ist nun bald fertig. Es wird manche Umwälzung bringen. – Bruder Josef (Rech, Josef), kürzlich Hauptmann geworden, liegt an Ruhr krank im 10. Feldlazarett im Westen. – Die Engländer haben Jellcoe, den Verlierer am Skagerak, abgesetzt. Beatty ist jetzt Flottenbefehlshaber dort. – Die biederen Bernkastler sind vermutlich ob einer neueren Zuschrift in der Kölnischen Zeitung an Jagdhamster anknüpfend erneut beunruhigt, zumal in gleicher Zeitung unter dem Strich ein „aus einem Moselstädtchen“ stammender längerer Artikel zur Naturgeschichte des Pensionsschweins erschien. Selbigen habe ich verbrochen. Gestern Abend war ich mit Kreisarzt Dr. Knoll, der von der Front auf Urlaub hier ist, in der Wirtschaft Geis (ehemals Lenchen Liell) und dort legte mir Geppert, der alte Junggeselle, die Zeitung vor. Er hatte sie selbst geliehen.
4. Dez.: Schnee, leider bald getaut, dann nasser Nebel und weicher Schlackerschnee in Menge. Zum 1. Januar ist mit Herausnahme aller Militärpersonen zu rechnen, auch aus Kriegsbeschädigten Fürsorge, sogar Kriegsbeschädigte selbst! Also Velten wird ca halben Januar wohl verschwinden. Schweine sollen beide diese Wochen vielleicht noch, geschlachtet werden. Hoffentlich Frost bis dahin. Weiblicher Hilfsgerichtsdiener bringt irrige Nachricht, daß Bukarest gefallen. Es ist aber erst mal die große Schlacht vor Bukarest am Argesul gewonnen worden. Also meine Vermutung aus französischen und schweizer Nachrichten richtig. Wird großen Eindruck machen und manche Erleichterung schaffen.
4. Dez. 16. 5 Uhr nachm. Eben läuten die Glocken ob des entscheidenden Sieges, der Bukarest der Belagerung freigiebt. Der Dezemberanfang verspricht eine gewisse vielleicht entscheidende Wendung zu bringen: Ministerwechsel in England? Erschöpfung Rußands? Bulgarien niedergeworfen, die Griechen schießen auf ihre Unterdrücker, die ihnen die Waffen herausverlangten, und werden so vielleicht zum Krieg auf unserer Seite gezwungen. Wer weiß?
6. Dez. Ein grünes (Farbe der Hoffnung?) Extrablatt zeigt heute an, daß der geriebene Advokat und Schwätzer Asquith als englischer Premierminister sein Ende gefunden hat. Das kann nichts, wenig oder auch viel für uns bedeuten.
7. Dez. Früh, noch im Bett, durch Böllerschüsse und Glockengeläute überrascht. Kinder kommen schulfrei voller Freude zurück: Bukarest gefallen, vermutlich wohl geräumt. Mariannchen meinte, „alles wurde totgeschossen“ und war eifrig bei der Sache. Herta hat das schwierige Wort und auch gelernt, daß es bis dort so weit sei, daß man 2 x im Zuge schlafen müsse.
16. Dez. 1916. Die Ereignisse draußen und drinnen haben sich so atemlos überstürzt, daß keine Zeit zu Notizen blieb. Heute habe ich wohl für mehrere Tage einr quälenden Bronchitis wegen Stubenarrest. Da kann ich mich ein wenig sammeln. Das Wichigste zuerst: Kaum haben die Engländer unter dem Walliser Schreihals ein ganz neues Ministerium, da – bietet der deutsche Kaiser Friedensverhandlungen an. Darob ist zunächst mal aller Welt der Atem versetzt; allgemach aber gewinnen die Kriegsschreier ihre Sprache wieder. Ob und was es giebt, wer weiß es? Die ganze Walachei bis Buzen einschließlich haben wir jetzt auch. Es bedeutet eine große Macht und Bestandsverstärkung. Wie wir heute erst erfahren, erhielt Bruder Josef (Rech, Josef) doch einen bedenklichen Bauchschuß durch Maschinengewehrgeschoß

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und lag damit im Lazarett vor Verdun. Jetzt hat er sich, ohne rechten Urlaub, nach Hause gepfuscht und ist seit dem 8. ds. in Bonn. Ohm in Olsdorf wurde 75 Jahre alt. Am 11. mußten unsere Schweine das Leben lassen, am 12. morgen halfen Helene und ich eifrig sie verewigen. Denselben Nachmittag lag ich mit Schüttelfrost und 38,9° Fieber zu Bett und schwitzte. Anderen Tags konnte ich schon wieder aufstehen, während nun Helene gründlich festlag; sie hat die meiste Leberwurst noch eben in Gläser sterilisieren können. Die übrige und die Sülze mußte ich im Wesentlichen besorgen. Dazu die Kinder und Mädchen erkältet, Husten und Schnupfen, kurz eine rechte Familienfreude. Herta lag hin und wieder einen halben Tag zu Bett. Trotzdem fand ich am 14. Zeit zur Kriegsbeschädigten Beratung nach Morbach. Oben prächtige schneebedeckte Winterlandschaft. Jetzt aber gilt es, Bronchitis mit bösem Husten zu kurieren. Helene ist leider mal wieder stark zurückgesetzt und schwach. Doch hoffen wir auf besseres Wetter und allgemeine Familiengenesung. v. Kintzel ist kriegsgtraut mit einer Streit. Ich muß ihm noch schreiben.
18. Dez. Seit gestern hat die furchtbare Schießerei abgeflaut: Ergebnis: Fortschritte der Franzosen nördlich Verdun, angeblich ca 9000 Mann Gefangene (250 Off.) an sie verloren. An der reißend schnellen Eroberung des nördlichen Teils der Walachei vermag das nichts zu ändern.
19. Dez. Die Ruhe nach den langen Tagen unaufhörlichen Trommelfeuers ist fast ein wenig unheimlich. Wir sind nach wie vor alle erkältet, ich sitze mit heftigem Husten noch im Stubenarrest. Morgen soll Anton Thanisch, den gestern Hugo und Toni Schmitz heimbrachten, beerdigt werden. Leider werde ich nicht mitgehen können. Es hat gottlob mal was gefroren.
20. Dez. Hocke noch stets mit festem Husten und ziemlicher Schlappheit zu Hause auf der Stube herum. Herta gestern abend sehr schlecht mit heftigem Fieber und Erbrechen, so daß wir Lungenentzündung befürchteten. Nasser Wickel half. Gute Nacht, während wir uns auf schlimmes gefaßt gemacht hatten. Tagsüber im Bett recht wohl, fieberfrei und munter. Gottlob. Anton Thanisch bei klarem Winterwetter hier beerdigt, konnte leider nicht mit.
24.12.16. Endlich sind wir mal wieder alle auf den Beinen. Der junge Schmitz was gestern abend und heute morgen bei mir, untersuchte mich auch gründlich und fand nur reines Atmen. Die letzten Tage hatte ich stets zu Bett gelegen. Die Kinder sind voller Freude über die erwartenden Weihnachtsfreuden. Trotzdem Wilson sich auch mit seiner „Friedensnote“ hat hören lassen, glaubt so recht niemand an „Friedensaus-bruch“.
30.12. Das Wetter ist andauernd scheußlich geblieben und von einem Tage abgesehen, an dem ich mittags mit Helene etwas spazieren und nachmittags auf dem Amt war, bin ich die ganze Woche weiter zu Hause in Stubenarrest gesessen. Merkwürdig still sind die Engländer geworden, während die Russen merkwürdig dicke Töne in einem „Armeebefehl des Zaren“ von den ihnen versprochenen Dardanellen u.s.w. reden; ähnlich auch die Franzosen. Die Friedensnote Wilsons wird vielfach so gedeutet, daß er als Schrittmacher Englands uns gern „feste Bedingungen“ ablocken möchte. Da ist ihm von uns deutlich abgewunken worden. Allerlei sonstige Neutrale bemühen sich ebenfalls um den Frieden. Vielleicht ist er also doch auf dem Marsche und das Benehmen der Russen und Franzosen ließe sich ließe sich vielleicht dahin erklären, daß sie sich von England ein bißchen verraten sehen? Man wird nicht recht klug aus allem. Jedenfalls wird die englische Essensration täglich knapper durch die Uboote. Walter (Forstmann, Walter) ist am 28. wieder abgefahren, er schrieb

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mir vorher, daß er noch tüchtig wirken müsse, ehe der Frieden da sei, der diesmal sicher im Flusse sei. Er hat freilich wichtigen Dienst im Mittelmeer. Der australische Weizen, auf den England jetzt in der Hauptsache angewiesen ist, muß dort her.
31.XII. Winckler, der überraschend auf einige tage nach Hause kam, ließ mich vor Tisch rufen: ich traf Schönberg dort und wir sprachen über alles mögliche. Schönberg gab u. a. zum Besten, daß er allerseits noch für den Verfasser der „Pensionschweinar-tikel“ gehalten werde und ihm z. B. der Metzger Engel deswegen Vorwürfe gemacht habe. (Er tritt im ersteren als Metzger Bengel auf, dessen ganzer Schweinetransport nachher die Rotläufe hat). Es ist zu putzig, wie die Leute es nicht leiden mögen, sichmal öffentlich im Spiegel zu sehen. Es erinnert mich an die Schilderung eines gebildeten politischen russischen Sträflings in Sibiriens Zuchthäusern: Die Insassen hegten alle einen alten Groll auf Dostojewski, daß er mit seinen Darstellungen des Sträflingslebens im „Totenhaus“ „alles von den Sträflingen der Regierung verraten habe“. Heute hatte ich nach Tisch, wiewohl ich bei Winckler an zwei Glas Wein nur sozusagen genippt hatte, einen duseligen Kopf und träumte allerlei durcheinander von den Erlebnissen eines Fortunatus Rex.
Fortsetzung im Dokument MRTB1917