2. Januar 1917. Endlich mal wieder bei Gericht gearbeitet. Scherer auch wieder da, erzählte Gerüchte von Seeschlacht, angeblich 10 englische, 3 deutsche Schiffe verloren; spätere Version: Engländer 26, wir 10! – Im Westen sei etwas im Gange, viele Truppen neu nach dort ausgerückt, so auch viel Artillerie aus Coblenz, Briefsperre u.s.w.
4.1.17. Das Wetter ist und bleibt trostlos, Wind und warmer Regen ohne Ende. Was müssen die Leute draußen leiden. Nach Tisch war ich im Garten und seit Wochen zum erstenmal längere Zeit im Freien. Trotz feinem Sprühregen fühlte ich mich wohl, daß ich einen ganzen Korb Sprütchen = Rosenkohl und viel Grünes für die Karnickel pflücken konnte. Nun sollen die Sämereien auch so teuer werden. Ich muß meine mal mustern um festzustellen, was ich nötig habe.

Die folgenden Seiten sind in das Heft eingeklebt und mit den Seitennummern 4 bis 8 versehen worden:

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Bernc. C. 13.1.1917
Gestern hatte ich einen bewegten Tag, es war „ein Tag unter den Tagen“ und so reich an Eindrücken aller Art für mich, daß ich jetzt in Ruhe ein wenig besinnen muß, um alles geistig zu verdauen. Es begann vorgestern vormittag damit, daß Helene mich auf dem Amt aufsuchte mit einer an mich gerichteten Depesche, in der es hieß, am 12. ds. Monats vormittags zur ärztlichen Untersuchung erscheinen, Bezirkskommando I Trier. Ich muß gestehen, daß ich mir selbst zum Erstaunen, sehr ruhig blieb, während Helene ein wenig aufgeregt war und sofort an Ausrücken ins Feld dachte. Aber so schnell schießen selbst heute die Preußen noch nicht. Unser gleicher Gedanke war: Jetzt muß aber das ärztliche Zeugnis vom letzten Kururlaub (Jan - April 1916 Leysin) endlich vom Landratsamt zurückgeholt werden, ich sollte es schon lange zurückbekommen. Zunächst wurden mal erst die Hälfte der vorliegenden Akten erledigt, dann marschierten wir los, wurden aber sofort von Hugo Thanisch abgefangen, der mich frug, ob ich auch eine Vorladung bekommen habe, er und sein Bruder Paul seien bestellt. Da dieser zu Kur in Partenkirchen weile, habe er ihn schon durch das Landratsamt entschuldigen lassen. Dann erzählte er eine lange Geschichte, daß „nur die Jäger“ vorgeladen seien. Ich hielt das zunächst für Anulkerei, da ich dachte, er wollte mich wegen meiner seltenen Jagdausflüge und wegen des Zeitungsartikels über den „Jagdhamster“ (Ich hatte hierüber eine kleine humoristische Skizze an die Kölnische Zeitung gesandt und diese veröffentlichte sie als von einem „Bernkastler Leser“ stammend. Ich wurde als solcher bald erkannt und die Herren Jäger hier waren verdrossen, weil sie tatsächlich kräftig „hamsterten“, d. h. das Wild nicht ablieferten. Ich lachte darüber und es half, wir hatten bald wieder etwas Wild!) anöden. Später stellte sich heraus, daß er tatsächlich recht hatte. Nach endlosem Suchen, bei dem ich Gelegenheit hatte, den nervös zappelnden Kreisausschußsekretär inmitten seiner zahlreichen Papierhaufen mit völlig ungeordneten Aktenstücken zu bemitleiden, fand sich endlich das Zeugnis. Ich half selbst mit suchen. Was lagen da für Papiere zusammen! Bald „Minister des Innern“, bald „Reichsgerstenstelle“ bald Gesuch eines Bauern wegen Schweineschlachten, Antrag eines Kranken wegen Fetterhöhung, Zuckerbezug für die Winzer zur Weinverbesserung, kurz alles Erdenkliche im buntesten Durcheinander, das Ganze in einer schmalen engen Zelle von der Größe eines altrömischen Schlafgemachs, ein Telefonapparat mit zahlreichen Schaltungen, der allzu klingelte und ungeduldig bedient werden wollte. Wenn der Mann verrückt werden sollte – es schien mir unvermeidlich – konnte man ihn ruhig in dieser Zelle lassen, sie war kräftig am Fenster vergittert und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie der tüchtige Kerl „makor bibas“ (in großen Schritten?) auf den 2 ½ qm Fläche zwischen Tisch, Telefon, Stehpult und Aktenböcken herumtoben würde. Zu Hause überlegten die Kinder bereits eingehend den Fall, daß der Vater nach Trier und Soldat werden würde. Marianne ahnte Schlimmes und behauptete, der Vater müsse wieder kommen, sie beruhigte sich schließlich selbst mit der eigenen Feststellung, daß er jedenfalls wieder da sein müsse, wenn es „Suppe zu essen“ gäbe. Nach dem Mittagsschlaf empfing sie mich beim Kaffee sofort mit der Frage, ob ich schon von Trier wieder zurück sei. Herta dagegen erörterte mit Verständnis die Uniformfrage und namentlich auch, was Onkel Carl (der im Felde stehende Sohn unserer Hauswirtin) dazu sagen würde, wenn Vater auch einen grauen Rock und einen schönen Säbel bekäme. Den ganzen Nachmittag unterhielten sich die beiden über diese wichtige Familienangelegenheit. Herta wäre sehr befriedigt, wenn der Vater Soldat würde, Mariannchen aber wollte ihren Vater haben und meinte schließlich ganz treuherzig zu mir, wenn du morgen in „Tiä“ die Franzosen alle totgeschossen hast, dann kommst du wieder, gelt Vater? Ich versprach ihr dies. „Bringst du auch was mit?“ Ja, auf alle Fälle ein Jägerbrot oder ein Stück Hasenbrot. Nachmittags wurden sämtliche Gerichtsakten erledigt, der Fall mit Dr. Schmitz und Hugo Thanisch nochmals eingehend besprochen, und der alte Geheimrat Schmitz schrieb noch ein Zeugnis über die letzte Blutung im Januar 1916 und auf dem Amt ließ ich von Referendar und Assessor über die beste Fahrmöglichkeit, Lage des Bezirkskommandos und alle in Betracht kommenden Militärsachen namentlich auch den Anspruch auf „Marschgebührnisse“ unterrichten, wobei ich viel

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lernte, denn beide besitzen schon hinreichende Erfahrung im Verkehr mit den militärischen Ersatzbehörden. Also wohl ausgerüstet, auch mit 2 Blutwurstbutterbroten von der Hausfrau getreulich versehen, stelzte ich gestern morgen bei gelindem Schneetreiben in noch halbnächtlichem Dunkel über die Brücke. Die beschneiten Dächer der Hospitalgebäude mit einigen erleuchteten Fenstern boten ein stimmungsvolles Winterbildchen. Auf Vorlage der Depesche erhielt ich eine Militärfahrkarte. Unser Aktuar Reuter, der seit Jahresfrist jetzt als Gerichtsschreiber und Militärbeamter in Offiziersuniform hinter Grodno wirkt, fuhr mit und unterhielt mich sehr anregend durch Erzählungen aus dem polnischen Sprachgebiet dort, das zwar noch als „Littauen“ bezeichnet werde. Der Winter bringt dort fortgesetztes Schneewehen, Doppelfenster werden mit Papier verklebt, wie in den Ostseeregionen. Sogar Pferde werden mitunter ganz eingeweht. Die Ziviljustiz blüht und wird von der Bevölkerung eifrig in Anspruch genommen. Dabei kommen natürlich allerlei Kuriosa vor: Kürzlich traf ein Bauer mit einem wohl vollgepackten Korb ein, schritt sicheren Fußes durch den Sitzungssaal und hinter das Richterpodium, setzte seinen Korb auf den Richtertisch neben den Kruzifixus und hielt eine kleine Ansprache, er habe neulich den Richter bei einer Ortsbesichtigung gesprochen, der habe ihm versprochen, ihn seinen Prozeß gegen soundso gewinnen zu lassen und da bringe er ihm den Korb voll Eier u.s.w. Der Mann muß ein dummes Gesicht gemacht haben, als er durch den Richter und Dolmetsch einen scharfen Anpfiff erhielt, der Korb beschlagnahmt wurde und er 100 Rubel Ordnungsstrafe aufgebrummt bekam. Natürlich verlor er auch seinen Prozeß. Reuter meinte, das Ganze hätte großen Eindruck auf die zahlreichen Zuhörer gemacht, ich dachte mir: Mancher wird der Meinung sein, der deutsche Richter verstehe es noch besser, den Parteien was abzunehmen als früher der russische. Das ewig schaukelnde Moselbähnchen hatte endlich nach 2 Stunden alle Schlingen und Bogen des Moseltals ausgefahren, (Fortwährend wechselte das Bild zwischen Weinbergsfelsen, Obstwiesen, flachen Ackerflächen und kleinen Hügelketten und einheitlich blieb nur der hochgehende Fluß und das Schneegestöber) da waren wir dann glücklich in Trier. Ich fand sehr schnell und sicher meinen Weg zur Basilika und mußte vor ihr ein Weilchen stehen bleiben, um mir dieses streng sachliche und so modern anmutende Bauwerk anzusehen. Die etwas angefeuchteten roten Ziegel leuchteten rot auf dem Hintergrund des weißen Schneetreibens und das ganze sah sehr erfreulich aus. Einen scharfen Gegensatz bildete das dahinter liegende Bezirkskommando, ein recht verfallen aussehendes massives Bauwerk mit einem geradezu trostlos verschmutzten grünlich grauen Anstrich und einem kleinen kläglichen Schild. Es hätte ohne aufzufallen zu den Eingangsgebäuden in Dantes Fegefeuer dienen können. Im Inneren natürlich recht ausgetreten und ähnlich schmutzig grau machte es mehr einen liederlich behaglichen Eindruck, der sich verstärkte durch die recht zwangslos auf den Fluren des II. Stockes herumstehenden Männer, unter denen ich bald Bernkastler Bekannte traf. Ich war schon vorher aufgerufen worden und kam so bald dran. Was sich da versammelt hatte, war spaßig zu besehen. Es waren ganz deutlich 3 Gruppen: einmal Förster, dann „die Herrn Jäger“, teils bessere Bauern, Weingutsbesitzer und dergleichen, und zum dritten Jagdaufseher und zu solchen avanzierte Ströpper und Wilddiebe. Die Untersuchung durch einen sehr rheinisch sprechenden Arzt ging sehr flott, nur einige wenige wurden überhaupt untersucht und bei mir las er nur 2 ärztliche Zeugnisse und sagte, es sei gut, ich könne gehen. Etwas von L 47 hatte der Unteroffizier notiert. Draußen warteten wir dann wieder, um unsere Papiere abzugeben und abgefertigt zu erhalten. Unteroffiziere und Ordonnanzen wimmelten vielfach über den Flur, dabei einer, der Zuschneider im Geschäfte Astor in Bernkastel war, er wurde angehalten und von uns in das zuständige Lokal mit der Anfrage geschickt, ob wir nicht die Papiere abgeben und nachmittags abholen könnten. Das ging dann auch und ich fand mich bald über den Markt zum Justizpalast und wurde sofort vom neuen Landgerichtspräsidenten Knapp, dem ich mich melden ließ, freundlich empfangen. Der Mann war von väterlichem Wohlwollen, freute sich ganz augenscheinlich sehr über meinen Besuch und wohl über eine Stunde unterhielten wir uns auf das angenehmste. Knapp machte den Eindruck eines etwas zerzausten kleinen Männchens,

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der sich von schlimmen Erlebnissen erholte und der sich über alles sehr offen aussprach und für seine Beamten ein sehr warmes Herz zu haben schien. Er war im Osten in entlegenen polnischen Teilen eine Zeitlang Kolonnenführer und schilderte mir die Einsamkeit, Leere und Öde der weiten Gegend dort sehr eindrucksvoll. Nicht mal einen Hasen habe man zu sehen bekommen. Es sei so weltverloren dort gewesen, daß er von den körperlichen Strapazen abgesehen in seinem Alter nicht mehr die nötige seelische Spannkraft besessen habe, um nicht melancholisch zu werden. Ich wollte ihm nun ein Langes und Breites erzählen, wie es in den Ostseeprovinzen ganz anders aussehen müsse, er hatte aber kein Verständnis dafür und zweifelte, ob es dort viel besser sei. Dabei stellte sich gelegentlich heraus, daß er nicht wußte, ob Wilna zu Kurland gehörte. Ich beschloß ihn durch spätere Zusendung von Schriften des baltischen Vertrauensrats aufzuklären. Er meinte schließlich, er müsse mich ordentlich davor warnen, mir im Osten irgend was Wünschenswertes vorzustellen. Die übliche Zusammenstellung von Bildern einzelner Schlösser, Naturschönheiten u.s.w. gebe ein ganz falsches Bild, bezeichnend sei die grauenvolle Öde und Leere. Wir besprachen dann noch tausend sachliche und persönliche Fragen aus der Justizpflege. Er war sehr dafür, daß ich mich aus Gesundheitsrücksichten versetzen lassen sollte, dann aber irgendwohin, wo ich mein Leben lang bleiben und mich sozusagen ansiedeln könne. Er selbst habe für heute noch nicht das Gefühl, festen Boden und ein unveränderliches Dach über sich zu haben; er habe manche Enttäuschung erlebt, so z. B. am Oberlandesgericht in Frankfurt, wo er recht viel geistige Anregung von der schönen Stadt zu haben gedachte, vor lauter Arbeit aber nicht dazu gekommen sei, davon Gebrauch zu machen u.s.w. Schließlich trennten wir uns als herzliche Freunde und wiederholt klopfte er mir väterlich auf die Schulter und auf die Hand.
Draußen wartete College Conrads von Rhaunen, den ich dabei endlich kennen lernte, und ich wartete, da draußen wüster Schlackerschnee niederging, bei dem Sekretär hinter einem Doppelfenster mit hübscher Aussicht auf den Justizpalast im wohlbeheizten Zimmer bis nach 1 Uhr auf Conrads. Die Zeit wurde mir durch fleißige Unterhaltung mit dem Sekretarius und Beobachtung des geringen Lebens und Verkehrs auf dem verschneiten Platze verkürzt. Mit Conrads hatte ich dann eine sehr lange Unterhaltung auf der Straße, über das Mittagessen hin bis gegen 4 Uhr. Wir saßen im „Franziskaner“, aßen gutes und reichliches Essen (Suppe, Stockfisch mit Zwiebel- Öltunke, zum Nachtisch guten Mokai mit Zimmt.) Alles schmeckte gut und wurde, was ich anfangs nicht für möglich gehalten hätte, fast restlos aufgezehrt. Conrads machte mir einen recht harmlosen und körperlich etwas schwächlichen Eindruck. Er betreibt in dem abgelegenen Rhaunen auch „Ackerbau und Viehzucht“. Vom Collegen Liell wußte er, daß dieser als schwerer Artillerist demnächst ausrücken werde. Alle möglichen Fragen wurden auch mit ihm eifrig besprochen und ein gutes Münchener Bier schmeckte nicht übel dazu. Er hatte sich, als er vorgestern die Depesche erhielt, gleich auf den Schlitten gesetzt und war über Morbach mit 9stündiger Eisenbahnfahrt tags zuvor nach Trier gekommen und blieb auch die folgende Nacht dort. Er hatte vor Jahren mal einen Jagdschein gehabt und wußte, daß der Bürgermeister dort hatte eine Liste einreichen müssen über die Leute, die mal einen Jagdschein hatten. Es war kein Zweifel, das Generalkommando hatte eine Nachmusterung der „Jäger“ befohlen und wollte noch gestern abend telegrafisch Bescheid über das Ergebnis haben. Die meisten waren das geblieben, was sie vorher waren und nur bei einigen ganz wenigen hatte man eine andere Verwendungsmöglichkeit herausgefunden. Im übrigen ging alles furchtbar durcheinander, mit mir wurde z. B. ein im Felde schwerkriegsbeschädigter Förster untersucht, der bis zur Entlassung nach Hause beurlaubt war. Auch sonst kamen allerhand Unsinnigkeiten heraus. Conrads war garnisondienstfähig geblieben wie er war. Er erzählte mir auch allerlei von seiner Bewerbung um Kriegsgerichtsratsstellen, worüber ich aber durch College Liell viel mehr wußte, als er zum Besten zu geben für zweckdienlich fand. Natürlich wurde auch die schlechte Versorgung unseres Kreises, die Unfähigkeit des Landrats v. Nasse und dessen Hereinfälle bei Kritik an Strafurteilen besprochen u.s.w. (Bei Conrads war er ebenso wie bei mir gelegentlich damit angelaufen)

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Amtliche und persönliche Verhältnisse wurden auch mit ihm ausgiebig erörtert, u. a. will er durch 3. und 4. Hand herum sich erkundigen, ob College Hindersin in Castellaun von dort nicht wegzugehen gedenkt (bzw. seine Frau!). Castellaun empfahl er mit wegen der hohen und geschützten Lage, angenehmen Dienstwohnung u.s.w. sehr. (Der Präsident hatte gemeint, ob Prüm nichts für mich wäre. Es liegt uns aber zu abgelegen gegen Bonn hin.) – Schließlich brachte Conrads mich noch auf den Weg zum Bezirkskommando und verabschiedete sich, da er noch den Landgerichtsdirektor Schaltenbrand besuchen wollte. Auf dem Bezirkskommando war ich jetzt schon bekannt, es standen draußen zwei Trupps junger Burschen, die augenscheinlich einberufen waren und ihre kleinen Koffer oder Packen zur Hand hatten. Ich bekam den ominösen gelben Ausmusterungsschein bald zurück mit dem Vermerk „D.U.“ Auch hatte ich bald die Bude heraus, wo die „Marschgebührnisse“ angewiesen wurden. Der junge Unteroffizier wollte zwar erst Weiterungen machen, ich stellte mich aber breitbeinig mit der Hand in der Hosentasche hin, behandelte ihn mit jovialer Grobheit und erkundigte mich, wann Herr v. Bomer, der Vorsteher der neugebildeten Versorgungsabteilung, zu sprechen sei. In der Kriegsbeschädigtenfürsorge habe ich mit ihm einen regen täglichen Schriftwechsel. Das veranlaßte den Schreiber, eine stramme Haltung anzunehmen und mich höflich nach meiner „Charge“ zu befragen. Ich mußte nun gestehen, daß ich noch nicht kommandierender General, sondern ungedienter Landsturmmann sei und bekam daher nur 2 M. Die aber nahm ich mit und folgte dem weiteren Rat, den Schriftführer der Versorgungsabteilung, Unteroffizier ...inski auf Zimmer 30 aufzusuchen. Diese weite Höhle entdeckte ich endlich und in ihr eine fast unübersehbare Fläche von aneinandergerückten Tischen, an denen allenthalben Feldgraue, auch 2 Postbeamte eifrig am schreiben waren. Nachdem ich mit dem jungen Unteroffizier die Fragen besprochen hatte, die mir auf dem Herzen lagen (hauptsächlich über die Anstellungsscheine) verließ ich das vielgeräumige Gebäude mit dem erhabenen Bewußtsein, dem „preußischen Militarismus“ zwei neue Scheine zu 1 M „entrissen“ zu haben. Das noch übrige Tageslicht benutzte ich zu einem Besuch der Liebfrauenkirche, deren herrliche, männlich kraftvolle Gotik mich entzückte. Ob die viereckige hochstrebende Kuppel restlos gelöst ist, wollte mir etwas fraglich erscheinen, die Durchblicke durch die Querschiffe ist unvergeßlich. Die Domfassade fesselte mich diesmal besonders. Ob einer von denen, die heute in romanischen Stilbauten herum stümpern, den Mut finden würde, eine solche Fassade mit gelassener Kraft hinzusetzen. Unter dem Balkon der Wohnung des Regierungspräsidenten fand ich eine trockene Stelle, wo ich sie mir mit Muße besehen konnte. Auch den entzückenden barocken Eckbau des Kesselstädt’schen Palais sah ich mir mit geschärftem Verständnis an. Sollte ich in Trier wohnen müssen, so würde ich den Herrn „Grafen“ bitten, mir den ersten Stock des anscheinend leeren Gebäudes zu vermieten. Da hätte man sicher Platz drin. Mittlerweile wurde es dunkel und ich strich mit der Freude des Kleinstädters an den hellerleuchteten Läden vorbei, erinnerte mich Helenens Auftrag, nach Käse zu forschen, und kaufte etwas Thee ein. Käse war nicht zu haben. Dagegen waren allenthalben Wasserbrödchen und „Schrippen“ in Massen zu haben und ich bedauerte es sehr, keine Brotmarken bei mir zu haben. Den Kindern hätte ich damit eine große Freude machen können. Mariannchen, die von Kriegsbrod aufgewachsen, ißt sie als Kuchen. Zu meinem Behagen fand ich eine gute Buchhandlung mit übersichtlichen Auslagen draußen und innen und legte das Militärgeld in einem blauen Buche: Madonna im Rosenhag an; „Deutsche Bildnisse“ wurden noch dazu genommen. Bald begegnete mir Tün Schmitz und nachdem ich ihn auf einem Gang zum Militärschneider begleitet hatte, gingen wir zusammen zum Café Astoria, einem feinen angenehmen und nicht großen Lokal, wo einige Tische von Offizieren, andere von Feldgrauen und wenige von „Damen“ und Zivilisten besetzt waren. Ein Trio spielte gar nicht übel einige Stücke und der Thee mit „Süßstoff“ und winzigem Sahnetöpfchen schmeckte gut. Es war mir in dem hellen warmen Raum ganz unwirklich zu Mut. Seit Jahren war ich wohl in keinem Café mehr gewesen und alles hatte einen eigentümlich prickelnden Reiz für mich, obwohl ich ganz gut sah, daß die modernen Wand- und Deckenverzierungen hier und da roh oder kitschig waren und auch wohl hörte, daß die Musik nichts als allbekannte Walzer spielte. Bleiche, kranke und verwundete Offiziere erinnerten an den furchtbaren Kampf draußen und wohl gerade das Bewußtsein der ganzen Zeit und all ihrer Greuel ließ mir in diesem Lokale alles so seltsam unwirklich erscheinen. Mit Schmitz, der doch die fürchterlichsten Kämpfe an der Somme bei Thingval (?) miterlebt und oft in Gefahr war, englischer Gefangener zu werden, wenn er überhaupt dort lebend herauskam, und jetzt mit seinem sympathischen und grundehrlichen Gesicht mir beim Glase Bier gegenüber saß, unterhielt ich mich über meine früheren Reisen in Belgien und namentlich in Flandern. Ich war ja mal in Ypern gewesen u.s.w. Ich wüßte nicht, daß ich je mit größerem Genusse eine Stunde in einem Café gesessen hätte. Meist waren mir diese Lokale widerwärtig. Schmitz wollte noch den Amtsgerichtsrat Rey besuchen, ich saß nur kurz allein, als Walter Thanisch kam. Er war auch wieder garnisondienstfähig geschrieben. Er brachte mich an einen Nebentisch, wo wir uns noch eine Zeitlang mit Trierer Bürgern unterhielten, die wegen der Kriegs-Vermögenssteuer in schwerer Sorge waren und Walter auch damit beschweren wollten. Erst als ich mit Thanisch durch den Schlackerschnee (sein Vetter Hugo hatte auch vorn im Lokale gesessen und uns beim Herausgehen schnell noch die „aufregende“ Neuigkeit versetzt, daß ein „D.U.“-Mann KV –kriegsverwendungsfähig– geschrieben sei) zum Bahnhof ging, fühlte ich mich wieder in der Wirklichkeit. Dort trafen wir auf den Nachbar Franz Heiden, der auch erstmals in seinem Leben einen Jagdschein genommen hatte und daher auch ins „Jägerkesseltreiben“ geraten war. Ihn hatte man als Infanteriegarnisonsfähig oder Kraftfahrerfelddienstfähig geschrieben. Letzteres zog er vor. Ich nahm eine Militärfahrkarte für 50 Pf – die beiden hatten noch was vor und gingen wohl wieder zur Stadt – und fuhr mit dem Bummelzug

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 615 langsam und gemächlich auf Wengerohr zu. Mit zwei Frauen kam ich bald ins Gespräch, nachdem ein 4jähriges Töchterchen, das eine Dame mithatte, uns miteinander näher gebracht hatte. Die ermüdete Kleine, Annemarie mit Namen schlief bald ein, draußen jagte der Schneesturm und im gemütlich warmen Abteil drehte sich das Gespräch bald um das übliche und unvermeidliche Thema. Da wurden teilweise ganz schnurrige Sachen erzählt: Bauersfrauen legen in ihre Wohnungen 1 Pfd Butter  auf den Schrank, verlassen die Wohnung und finden später statt der Butter 4 M dort liegen u.s.w. mehr. Die harmlosen Leute glauben sich damit der strafbaren Höchstpreisüberschreitung nicht schuldig gemacht zu haben. Es stellte sich heraus, daß die Dame mit dem Kind – vielleicht eine Collegenfrau? – aus Wittlich war und es zeigte sich wieder die alte Weisheit, daß dieser Ort und Kreis viel besser versorgt ist als wir Bernkastler. Bei nur einem Kind hat sie 2½ l Milch – um diese tobt hier jetzt allgemach ein heftiger Hausfrauenstreit – und neulich erst bekam sie sogar 3 Pfd Schweizerkäse! – In Ehrang stiegen 2 Arbeiter ein, der ältere in blauem Mantel machte einen stattlichen Eindruck, und nachdem ich mich nach den Servais-Werken erkundigt hatte, entpuppte er sich als ein Meister aus dieser Fabrik, der dort schon 34 Jahre in Diensten steht. Er kannte die ganze Familie gut und namentlich auch unseren früheren Assessor hier, von dem er mit großer Hochachtung und Wärme sprach. Ich erfuhr, daß er jetzt in einem Ulanenregiment und an der Front sei, daß die Witwe des gefallenen Landrichters Streng mit 1 Kind zu Hause und leidend sei, neulich eine große Menge kostbarer alter Möbel der verstorbenen Großmutter heimgekommen sei, wir sprachen von Keramik, erfahrenem Brennen, Konkurrenz in Bonn und Witterschlick, Verschiedenheit der Tonlagerungen und dadurch erschwerte Möglichkeit für die Herstellung gleichmäßiger Waren und was weiß ich alles. Chemiker aber haben sie nicht, was ich beanstanden zu müssen glaubte. Es war ein prächtiger bejahrter Mann von gutem Schrot und Korn. Jetzt wird das Werk auch auf Granatenpresserei und -dreherei „umgeschaltet“. Daneben aber wird – auch zu Kriegszwecken – eifrig feuerfestes Zeug aller Art weiter fabriziert. Später war ich mit der Dame allein und unterhielt mich mit ihr aufs Beste. Sie war mit Mann und Kind im Sommer in Partenkirchen gewesen und hatte die Ernährung dort sehr schlecht gefunden – die Baiern wollten sich im Sommer 1916 nicht von den Preußen „ausfressen“ lassen. – trotz 13 M täglicher Pensionskosten pro Kopf hätten sie 2 ½ Wochen keine Milch gesehen. In München dagegen sei für gutes Geld fast alles wie früher zu haben gewesen. – In Wengerohr gabs raschen Anschluß und außer einigen Feldgrauen saßen die üblichen Bernkastler Bekannten bereits drin. Also gings auch hier nicht ohne Unterhaltung ab und leise stechende Kopfschmerzen zeigten an, daß der Schädel an Eindrücken aller Art gesättigt war. Die Kinder waren zu Bett und nur Herta begrüßte ich noch am Bett. Zum Abendessen entwickelte ich einen urtümlichen Hunger. Die Durchblätterung der gekauften Bücher versprach manchen künftigen Genuß und nach einem warmen Bad schlief ich mich gründlich aus. Heute Schlackerschnee und Schnee. M.R.

17. Jan. 17. Es ist eine merkwürdige Zeit jetzt. Der „Friedensrummel“ ist anscheinend vorbei, auf allen Seiten wird eifrig gearbeitet, was wird das Frühjahr bringen? – Das Generalquartier soll jetzt nach Kreuznach verlegt worden und unser Gerichtsdiener frug mich heute schon ängstlich, ob ich nichts davon gehört hätte, daß Trier zu „Operationsgebiet“ erklärt werden sollte. Es müssen wieder tolle Gerüchte herumlaufen. Die Zeitungen sind an eigentlichen Nachrichten recht mager. Die letzten Tage brachten uns anhaltenden Schnee, der fast bis in die Stadt hinein liegen blieb. Sonntag, Montag, Dienstag waren jedesmal Saujagden hier: im Bernkasteler, Graacher und Andeler. Ich trabte fleißig mit. Es waren schöne Wintermärsche, von denen ich noch näher erzählen will.
25.1.17. Donnerstag. Nun sitze ich seit Sonntag an einer neuen Erkältung wieder im Stubenarrest und draußen ist schönstes sonniges Frostwetter, freilich auch kalter Wind. Hugo Thanisch war Montag und gestern abend nach Tisch bei uns und wir unterhielten uns vorzüglich. Für Anfang Februar soll nochmals – diesmal für die Betroffenen angeblich letzte Nachmusterung hier sein. Nun, was wird da eine erlesene Krüppelgarde antreten! Über Tuberkulose im Heer bringt heute die Kölnische Zeitung einen Leitartikel mit der Schlußwendung, daß aus den Heilstätten viele wieder in den Heeresdienst hätten übernommen werden können! Die neueste „Friedensnote“
 

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des Mr. Wilson (Anrede an den amerikanischen Senat) erscheint mir stark doktrinär wenn nicht gar verdächtig. Ob England dahinter steckt oder ob Amerikaner den Oberschiedsmann spielen will? – Der Eisenbahnwagenmangel wird allmählich recht empfindlich bei uns. – Buchweizenmehl, das zu haben war, ist derartig stickig, daß alle es wieder zurückgaben. Notar Sieburg ist nun im Telegr.Batl. in Coblenz, liegt in einer neuen Kaserne und  nimmt die Sache nicht tragisch. – Der Schleichhandel mit Lebensmitteln zeitigt immer tollere Blüten: In Bonn kostet jetzt solche Butter 9 M per ½ kg! Speckseiten zu 80 und Schinken zu 100 M sind keine Seltenheit.
31. Jan. 1917. Wir haben richtigen Winter. Es friert selbst bei uns im warmen Moseltal nachts zwischen -5° - -10° und tagsüber fällt dann und wann etwas dünner Schnee aus hellgrauem Himmel, bald scheint die Sonne. Die Mosel, stark zurückgegangen, aber immerhin noch reichlich Wasser führend, bringt in ununterbrochener Fülle prächtige Eisschollen. Die Vögel sind ebenso wie das Wild arm dran. An den aufgebrochenen Eisrändern am Strom sah ich gestern Bläßhühner, Krähen, Schwarzamseln und allerlei Kleingevögel, die alle eifrig auf der Nahrungssuche sind. Unser Vogelfutterhäuschen am Fenster des Kinderzimmers erfreut sich eines recht lebhaften Verkehrs. – Am 27. soll hier Nachmusterung der DU-Mannschaften sein, nach dem Wortlaut der gestrigen Bekanntmachung wäre ich von ihr befreit, weil ich erst seit dem 1. Dez. 1916 untersucht worden bin. Gestern schrieben wir an Stolte und seine Frau und wünschten Glück zu dem Kriegsjungen, der kurze Zeit nach dem Tode seines Großvaters Marfording in Paderborn zur Welt kam.
Marianne hat keine rechte Freude daran, draußen zu sein, sie bekommt kalte Füße und Hände und wünscht sich bald heim. Trotz Dauerschnupfens und geringen Hustens sieht sie gut aus. Herta geht es gut und sie kommt regelmäßig heraus. Beide entwickeln namentlich mittags einen erstaunlichen Appetit und essen reinweg alles. Jedenfalls lernen sie vieles essen, was wir in unserer Jugend nicht mochten, und so hat der Krieg in der Kinderstube einen ganz vorzüglichen erzieherischen Einfluß.
Der folgende eingerahmte Eintrag vom 5.2.17 ist mit roter Tinte geschrieben.
5. Febr. 1917. Von einer leichten Lungenblutung heute erstmals nach 4 Tagen Bettruhe wieder auf und bei strammem Winterfrost still im Wohnzimmer sitzend bringt die Zeitung die Kunde vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch Amerika. Nun, das wird uns den Arm hoffentlich ganz frei gegenüber England und der ganzen Welt machen. Es wird ein tolles Mordrasen zur See werden und hoffentlich werden dem britischen Löwen soviel Zähne ausgebrochen, daß er klein bei giebt. –
8. Febr. 1917. Ich sitze immer noch in der Stube, draußen strahlt hell ein eisiger Winter; die Mosel, schon längst voller Treibeis, hat sich gestern auch hier zugesetzt und ist jetzt ganz erstarrt. Seit 1893 ist es das erste mal. In der Welt herrscht eine seltsame Stimmung. Den Amerikanern scheint es vor ihrem eigenen Mute ein wenig bange zu werden und sie möchten gern, daß die europäischen Neutralen „sich ihrem Vorgehen gegen uns anschlössen“, d. h. ihnen die lästigen Kriegsgeschäfte besorgten. Ob dieser naiven Zumutung ernten sie hier und da verdienten Hohn und den Hinweis auf die Warnungstafel |Rumänien|. Tatsächlich wird vor allem die Schweiz und anscheinend auch Holland sich nicht aus ihrer

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Neutralität herauslocken lassen. Sie sind die nächstbeteiligten. Schließlich werden durch den englisch-amerikanischen Druck die europäischen Neutralen z. T. vielleicht doch noch – wenigstens wirtschaftlich – auf die Seite der Mittelmächte, also zu „Mitteleuropa“ gedrängt. Vor allem zeigt sich das jetzt bei der Kohle. Überall herrscht an solcher jetzt Mangel. Schulen werden auch hier jetzt auf einige Zeit zur Kohlenersparnis geschlossen. Holland, Schweiz, Schweden und neuerdings Norwegen erhalten von uns Kohlen; deren Ausfuhr von England, Frankreich und Italien wird scharf eingeschränkt und namentlich Italien, wo auch große Kälte herrscht (bis -23°, in Deutschland stellenweise bis -33°) wird bald kräftig frieren. Unter weiter günstigem Wirken unserer Uboote könnte tatsächlich der Krieg sehr abgekürzt werden. Denn ohne Kohlen brechen Frankreich und Italien zusammen. Die Engländer halten alle neutralen Schiffe fest, vermutlich um sie erst dann auslaufen zu lassen, wenn – wie jetzt schon geschehen – unsere Schonfrist abgelaufen ist. Alle Welt aber scheint von dem Ernst und dem Nachdruck unseres neuen Ubootkrieges fest überzeugt. – Unterdessen herrscht hier im Städtchen lebhafter Betrieb. Gassen hat sein Hotel für kurze Zeit wiedereröffnet und die Doctorweinstube ist täglich offen. Es ist Weinversteigerung im Kasino und der wunderbare 1915er erzielt gute Preise. Helene besuchte gestern Frau Emmy Th., die durch den Tod ihrer Mutter schwere Tage hinter sich hat. Dort aber war alles erfüllt von der großen Neuigkeit, daß ihr Schwager Hugo Th. sich verlobt hat. Die Geschichte ist ein wenig sonderbar und vielleicht hat es einigen Wert, etliche Punkte davon zu notieren: Am 22. und 24. war Hugo abends nach Tisch bei uns, am 26. sah Helene seine Mutter mit dem „Besuch“. Sonntags zuvor war Hugo mit Mutter in Frankfurt gewesen und früher hatte er schon einmal einen „Abstecher nach Stuttgart“ gemacht. Auch fiel uns gestern ein, daß Schönberg mit Schwester vor einiger Zeit in Stuttgart waren und dort auch bei „einer Familie zum Thee“ waren ect. Kurz, die Geschichte scheint mir einfach die: Die Mutter wünscht zumal nach Antons Tod und bei der Kinderlosigkeit des Sohnes Paul, dringend, daß H. heirate und hat ihn anscheinend zu einer Verlobung vermocht, die mir – trotzdem daß H. sich nun endlich „erklärt“ haben soll, äußerst problematisch erscheint. Wenn sie nur nicht ausgeht, wie s. Zt. die seines Vetters Anton Schmitz. Ich möchte es ihm nicht wünschen. Im übrigen verkehrt er nach wie vor eifrig bei Lauers, bei Paul ect. und läßt die „Braut“ bei der Mutter sitzen. Gespaßige Sache.
10.2.1917. Jetzt laufen allenthalben Nachrichten ein, nach denen der Ubootkrieg mit voller Stärke eingesetzt hat. Soll man – auch feindlichen Mitteilungen – ihnen trauen dürfen, so werden täglich 40-60000 Registertonnen versenkt. In England ist man auffallend kleinlaut geworden, und die Vereinigten Staaten haben sich eine ausnahmslos glatte Absage aller Neutralen geholt mit ihrer dreisten und naiven Aufforderung, gegen uns vorzugehen. Unsere tatsächliche heute Land- und Seegeltung scheint mir durch

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nichts charakteristischer bestätigt und zu sinnenfälliger Erscheinung gebracht zu werden als gerade durch dieses Verhalten der Neutralen und der darin liegenden starken diplomatischen Niederlage der Amerikaner. – Der Frost hält an. Ich hoffe, heute erstmals ausgehen und die erstarrte Mosel sehen zu können. Ant. Thanischs haben für 50 Fuder 1915 hier auf der Versteigerung ca ¼ Million erzielt, auch wohl noch 50 Fuder im Keller. Was aber haben sie von ihrem Geld?
13.2.17. Bis zum 10. sollen ab 1. Febr. 250000 t von unseren Ubooten versenkt worden sein. Das wäre ein sehr großer, hocherfreulicher Erfolg und in einer abschreckenden Wirkung noch nicht völlig übersehbar. Amerika rüstet, mit großem Geschrei und vermutlich stets weiterer kriegerischer Maske gegen uns, tatsächlich aber wohl gegen Japan. Mit Österreich sucht es sogar diplomatischen Verkehr aufrecht zu erhalten. Sämtliche Neutralen haben ihm abgewinkt, darunter Schweden mit einer recht deutlichen Zurechtweisung. Hoffentlich gelingt es uns, nicht nur England ans Hungern zu bekommen, sondern namentlich den Verkehr von dort nach Frankreich und damit die große Offensive an der Westfront zu hindern. Trotz der grimmigen Kälte geht der Krieg sogar an der Düna weiter. Der Tagesbericht wird in letzter Zeit wieder länger und an der Somme scheinen die Engländer wieder vorgehen und vor allem Serres in ihre Gewalt zu bekommen wollen. = Aus der Trierer Stadtbibliothek erhielt ich Viktor Helns Kulturpflanzen, eine riesige und hochinteressante geschichtliche Darstellung, der leider ein wenig die naturwissenschaftliche Seite abgeht. Ein verständnisvoller Moderner könnte aus dem reichen Stoffe ein restlos genießbares Buch (vielleicht) machen. Ferner Nansen’s Nordpolfahrt mit der Fram, aus dessen 2. Band wir uns abends regelmäßig gegenseitig vorlesen. Seit gestern habe ich mich auch ein wenig um unsere Wirtschaft gekümmert und schon allerlei erledigt. Morgen soll es die sehnlichst erwünschten Braunkohlenbriketts geben; ebenso 100 kg gebrochenen Gaskoks. Das sind heute Kostbarkeiten. Nicht minder eine Fuhre Pferdemist vom Nachbar Thal. Trotz ihrer ganz vereisten Ställe sind die Karnickel wohl und so werden wir wohl auf eine Zucht hoffen können. Das Frühgemüse ist wohl leider vollkommen erfroren und ich werde wohl damit beginnen müssen, meine Pflänzchen im Zimmer heranzuziehen.
26.II.1917. Mit England werden wir uns auf einen harten End(?)-Kampf gefaßt machen können. Der Diktator Loyd George dort hat seine hochtönenden Phrasen aufgegeben und wird ganz sachlich. Die Kohlen-Bergwerke sind dort schon beschlagnahmt (bei uns kommt 20 % Steuer auf Kohle = 500 Millionen jährlicher Ertrag) und jetzt wird die Einfuhr aufs alleräußerste dort beschränkt und der Schiffsneubau mit aller Macht betrieben. Damit hoffen sie unsere Uboot-Bedrängung zu überwinden. – Die wenigen nicht fettregulierten Lebensmittel werden stets teurer, freilich gewiß die Kontrolle stets weiter. Gleichwohl wird noch viel „Schleich“handel

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getrieben und dieser giebt dann wohl die Preise an, wie wir sie im freien Handel haben würden: z. Zt. 1 Schinken 100 - 150 Mark, 1 Gans bis zu 50 M, 1 Pfd Butter 9 - 10 M; Öl: 15 - 18 M p. l.; Honig 6 M per ½ kg (Öl und Honig außer Kontrolle!) u.s.w. – Mit dem 1.4. tritt hier Kriegsküche in Tätigkeit, wir meldeten uns für 2 Personen an; viele „Gebildete“ nehmen daraus, während die Cueser Schweden (? Schno-den?) sich natürlich gar nicht gemeldet haben. Sie sehen es als „Armenunterstützung“ und vermutlich für „beschämend“ an.  Ich rechne, daß sie zu Anfang am besten kochen wird. Wir können damit an eigenen Vorräten erheblich sparen und über die kritischen Monate Mai, Juni hinüberkommen. – Das Begräbnis des Kreisschulinspektors und Schulrats Müller hat dann noch den üblichen klerikalen Zank entfesselt. Die katholische Geistlichkeit war ihm aus seiner Amtsführung nicht grün, und verweigerte voll christlicher Nächstenliebe das kirchliche Begräbnis, vermutlich, „weil er seit Jahren seinen kirchlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei“ (Beim Collegen Anton Thanisch war dies kein Hinderungsgrund!). Er wurde dann von evangelischen Geistlichen auf dem kleinen „blauen“ Friedhof beerdigt mit sehr großer Beteiligung, worunter auch –ärgerlicherweise?– der katholische Dechant von Bischofsdrohn war. Ich kam zu spät und ging sofort wieder, weil das triefend nasse Nebelwetter mir zu gefährlich erschien. – Mit Lesestoff bin ich jetzt reich versehen, Mutter Reitmeister schenkte mir 2 sehr lesenswerte Bücher zum Namenstag, und die Trierer Stadtbibliothek sandte mir höchst wertvolle Reisebeschreibungen, wie Sven Hedin’s Durch Asiens Wüste und Roald Amundsen’s Nordwestpassage u. a. Gestern hatte ich mich sehr ruhig zu verhalten, da morgens gefärbter Auswurf Befürchtung zu neuer Lungenblutung zu geben schien. Gottlob war es wohl nur aus der Nase. – Mit Vater Erkleben wurde gestern abend der Mohnanbau entgültig besprochen. Es sollen 300 qm besät werden, der Rest von ca 200 qm wird mit Erbsen und Bohnen bepflanzt. Vielleicht, daß wir nach Mohn noch Steckrüben in 2. Kultur ziehen können. –
28. Febr. Die Januar-Uboot-Beute ist schon bedeutend, wie werden die Ziffern für Februar sein? Hocherfreulich sind heute morgen die Worte unseres Unterstaatssekretärs (des auswärtigen Amts) Zimmermann zu hören, mit denen in recht dürren Worten den Spaniern Vorschläge zur Verwertung ihrer Früchte ect. gemacht werden. Er behauptet sogar, der Krieg gehe dieses Jahr zu Ende. Hoffen wir, daß er Recht behält. Daß man auch bei uns jetzt Lungenkranke als Heeresersatz gebrauchen kann, ist zwar lange kein Geheimnis mehr, doch wurde es auch hier gestern bestätigt: Während bei der wiederholten D.U.-Musterung die wirklichen Krüppel außer Kontrolle gesetzt wurden, erhielt Paul Thanisch, nachdem er noch vor 2 - 3 Wochen Bluthusten gehabt, die Kennzeichnung als „zeitig kriegsverwendungsunfähig, 6 Monate. (z. Kr. v. u.) Wobei der von seiner Krankheit wohl unterrichtete Oberstabsarzt Dr. Döblin („Sally“) ihn hier untersuchte und auf seine ausführlichen Atteste ect. genau einging. Er ist aber körperlich in vorzüglicher Verfassung und seine Fettpolster fanden „wohlwollende Berücksichtigung“. Jedenfalls

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werde ich wohl in 6 Monaten auch mit einer erneuten Untersuchung zu rechnen zu haben.
5. März 1917. Nachdem vorgestern endlich warmes Frühlingswetter zu kommen schien, weht seit gestern ein durchdringend kalter Wind und es friert auch wieder ein wenig. Hoffentlich keine neue Frostperiode. – Mit der Ausgabe von Bezugsscheinen auf Bekleidungsstücke aller Art ist es jetzt sehr streng geworden. Bisher war es meist in den Städten sehr streng damit, und die besseren Frauen vom Lande und den Kleinstädten kamen die Hände voll Bezugsscheine in die großen Städte und kauften. Dem scheint man ein Ziel gesetzt zu haben. Hier sitzt der Bürgermeister in höchsteigener Person mit strenger Amtsmiene und  rauhen Sitten 2 x wöchentlich und examiniert die bittstellende Weiblichkeit eingehend. Stets giebt es gar nichts oder gewaltige Abstriche, und die Geschäfte, die sich mit den begehrten Sachen wieder wohl versehen haben, sind unglücklich (über) tropfenweise und langsame Entnahme der Waren. – Eben lesen wir im General-Anzeiger, daß so gut wie sämtliches Aluminiumgeschirr beschlagnahmt und enteignet wird. Da wollen wir uns sofort die entsprechenden Geschirre in Eisenemail kaufen, ehe diese wiederum aufschlägt. – Daß wir Mexiko und Japan für den Fall eines Krieges mit Amerika zu gewinnen suchen, ist famos; wenn auch die verratene Anweisung an unseren mexikanischen Gesandten jetzt gerade dem Präsidenten Wilson zu gut kommen mag. Trotz aller Hetze wird es manchen Amerikaner abkühlen. Die Uboote wirken sicher und riesig, gestern 91000 t gemeldet. In Marinekreisen ist man fast davon überzeugt, die Engländer in einigen Monaten zum Frieden zwingen zu können. Selbst Max Forstmann (Forstmann, Max), der als Korvettenkapitän bei Helgoland eine Tropedobootabteilung führt, schrieb ähnlich nach Hause; Auch daß die Nordsee leer von Schiffen sei. Die Note an unseren Gesandten in Mexiko will ich mir hier ausschneiden. Paul Thanisch, den wir gestern sprachen –er setzte uns einen wundervollen 10er Berncastler Ley vor– wußte von Brüning in Trier: „Die militärische Lage sei vorzüglich, wie nie, die wirtschaftliche dagegen beginne bedenklich zu werden.“ Letzhin las ich, daß unser Kurs so steht: Schweiz 83 M = 100 fr. Spaßeshalber rechnete ich mir gestern die Gewinnungsmöglichkeit aus, wenn man deutsches Gold zur Schweiz schmuggelt, dort gegen Franken eintauscht (20 M = 25 fr) und diese in deutsches Papiergeld zurückwechselt. Für 3000 M ergab sich dabei ein Gewinn von über 1400 M. Darin liegt doch ein sehr starker Anreiz zum Goldschmuggeln! – Die Kölnische Zeitung brachte letzthin wieder 2 kleine Artikel von mir, diesmal mit dem Zeichen (Beil) versehen. Liegt darin eine gewisse Anerkennung als „Mitarbeiter“? Mir solls recht sein. Mein Namenspatron, der Apostel Matthias trägt ein solches Beil als Zeichen und so paßt es auch zu mir.
7. März 1917. Der kurze sonnige Schnee und Wintermorgen gestern war von kurzer Dauer, mittags war alles ein Patsch und heute feucht unter dem grauen Himmel ein kalter Schneewind, und verurteilt mich zu Stubenarrest, den ich auch gestern, von einem frühen Morgenbesuch im Garten abgesehen. Dort war es prächtig: Funkelnde Sonne auf blendendem Schnee, nur eine Marder- oder Wieselspur zu sehen. Ich kam im übrigen dazu, mit Muße einen längst bedachten „Kaninchenzucht“ Artikel zu schreiben. Heute morgen bringt zudem die Kölnische den letzten der von mir eingesandten und angenommenen Plaudereien und da muß ich als

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„fleißiger Mitarbeiter“ für neues sorgen. – Frau Paul Th. war gestern da und erzählte Helene u. a. manche Einzelheiten, aus denen zu entnehmen ist, daß sie einem scharfen Kampfe ums Gut von seiten der neuen Schwägerin und deren offensichtlich gut unterrichteten Vater entgegensieht. Letzterer hat sich zur Zeit der seltsamen Ver- oder Nichtverlobung Hugo’s bereits angeboten, das Gut zu verwalten und alle Geschäfte zu besorgen. Auch sei er gern erbötig, hierher zu ziehen. Hierob große Entrüstung P’s und zumal seiner Frau mit Ausmalung aller Folgen eines solchen Schrittes, an die der biedere H. natürlich nicht gedacht hatte. Rechtzeitig ließ er sich von P. noch vor jeglichem „Gütervertrag“ gewarnt, er hätte solchen sonst, wie er selbst sagte, ahnungslos unterschrieben. Ich selbst wunderte mich, wie er mir mit herzerfrischender knabenhafter Offenheit erzählte, „er habe morgens noch nicht gewußt, daß er nachmittags verheiratet sein würde“. Der geschickte Vater hatte alles bis ins Kleinste vorbereitet und – ob er wohl genaue Personalkenntnis hatte? – ihm alle und jede Weiterung erspart. Da er einmal eine Einberufung erhalten hatte, konnte eine aufgebotslose Kriegstrauung inszeniert werden, Brautexamen wurde durch eine zwanglose Plauderei mit einem „Prälaten“ ersetzt, der sich zu einem freundlichen Besuche hier einlud, Trauung fand im Hause statt u.s.w. Das Paar rückte mit einem neugekauften Flügel hier an und wohnt vorab bei der Mutter. Die junge Frau geht mit der Mutter fleißig zur Kirche, besucht Verwandte und vernachlässigt Onkel Jakob nicht. H. trinkt wieder was und war vorgestern –ohne Frau– bis abends spät in die Nacht hinein bei Paul und seiner Frau und ging hier so aus sich heraus, wie letztere ihn noch gar nicht gekannt hat. Zwischen Emmy und Irene aber wird ein heißer Kampf ums Gut entbrennen, für den schon ausgemacht ist, daß die Brüder auf alle Fälle miteinander Freund bleiben und sich in der Kneipe oder sonstigem neutralen Boden stets treffen können. Soweit die Darstellung, ganz durch das eifersüchtig scharfe Auge Emmy’s gesehen. Ich notiere mir dieses, weil wir als wenig beteiligte Zuschauer da noch manches erleben und vielleicht hier und da etwas mit eingreifen werden. Es ist ein reicher Stoff für eine längere Novelle, selbst für einen Roman. Ich denke mir, die beiden Brüder werden von den Frauen geschoben werden und wer den männlichen Erben zustande bringt, hat das Spiel gewonnen. || Den Schwiegervater H’s kennen zu lernen, soll mir ein wahres Fest werden; er läßt sicher nicht lange auf sich warten, bis er hier mal erscheint. Mir will scheinen, daß er –durchaus berechtigterweise– seine Tochter auch für den Fall, daß ihre kinderlos bleibt oder „nur“ ein Mädchen kommt, gesichert haben will, zumal H. alsbald einberufen werden kann. Eine von mir entworfene Reklamation hat seine Mutter gestern abgeschickt. – Mr. Wilson scheint mit seinen Vollmachten zum Kriege gegen uns beim Congreß ein wenig hereingefallen zu sein und sucht jetzt –echt englisch!– China gegen uns auf die Beine zu bringen! – In London steht man endlich auch Reihe vor den Geschäften, und zwar um Kartoffeln. In Aachen soll es schlimm aussehen und in Barmen bereits Krawalle gegeben haben. Im Februar sollen unsere Uboote wohl 900000 t versenkt haben. Gehts so weiter, so

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wird England wirklich in 4 - 5 Monaten, also bis Juli 1917 klein beigeben müssen. (?!) Was gäbe man darum, wenn sich das bewahrheiten sollte! Sogar die mir vom 1.6. zustehende Gehaltserhöhung von 50 M monatlich! – Mehr nicht? – Aber sicher! –
7.3.17. Allmählich erleben wir auch unmittelbare Kriegswirkungen hier: Daß das große Hauptquartier in Kreuznach sich schon seit längerer Zeit befindet, weiß allgemach so ziemlich jedes Kind. Wer es nicht wüßte, dem müßte die wesentliche Verschärfung der Fremdenpolizei hier in letzter Zeit auffallen. Eine Reihe Beschränkungen sind in den Kreisen St. Goar und Bernkastel Cues eingeführt worden. Heute abend ist in der Zeitung eine neue Verordnung, die das Abblenden aller beleuchteten Gebäude gebietet. Ich bin neugierig, was noch folgen wird. Morgen mittag giebts zum erstenmal Kriegsküche. Um welche Stunde, wissen wir noch nicht.
9.3. Gestern 20 cm Schnee, heute blendende Sonne und - 5° / - 6° C nachts. Echter Winter. Das Stadtgespräch war gestern die Kriegsküche, die zum erstenmal ihre Gaben spendete. Während Bürgermeister, Rechtsanwalt, Amtsrichter und Notar dort holten, findet das Volk, so z. B. die Notariatsssekretäre dies zu unvornehm. Sie werden schon auch noch dazukommen. Die Bohnensuppe war ganz ausgezeichnet und wir konnten sie zu 4 (2 Port.) abends nicht alle aufessen. Die Frau Postdirektor ausgenommen fanden alle einstimmig die Suppe für ausgezeichnet. Heute giebt es Graupensuppe. –– Im preußischen Abgeordnetenhause hielt v. Schorlemer eine recht männliche – Abzugs?- Rede, der neue preußische Ernährungsdiktator dagegen eine noch schneidigere Rede, bei der sich die Rechte sehr ruhig und kühl verhielt. Sieg der Stadt gegen das Land? Wir werden wohl weitere Einschränkungen namentlich in der Brotrationierung bekommen. – Gestern erhielt ich das v. Schorlemer’sche Zuchtkanin, ein prachtvolles Tier, das freilich „hochgezüchtet und an Trockenfütterung gewöhnt“, die erste Zeit noch einige Futtersorgen machen wird. Frau Knoll sagte Kartoffelabfälle zu.

Eingeklebter Zeitungsausschnitt:
Graf Zeppelin gestorben
WTB Berlin, 8. März. (Telegr.) Graf Zeppelin ist heute vormittag um 11 Uhr 45 Min. im West-Sanatorium Charlottenburg einer Lungenentzündung erlegen.

10. März 1917. Leider habe ich diesen wackeren Deutschen nie gesehen, doch verdanke ich ihm 2 unverlöschliche Erinnerungen. Am 6. August 1908 erlebte ich im Sanatorium der Frl. Hering in Inner-Arosa die Kunde von seinem großen Unglück bei Echterdingen. Prof. Huber brachte sie halb weinend an unsern Tisch, sie war von Davos telefoniert worden. Am 7. hatten wir schon 400 fr. gesammelt; war das eine Zeit hoher und allgemeiner Begeisterung! Selbst einige Russen und Italiener steuerten ihr Scherflein bei. – Später stand ich mir mal am Bonner Rheinufer die Beine steif in den Leib, bis wir uns endlich verliefen. Der heißersehnte Z 4 hatte

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sich gegen heftiges Wetter bis Andernach durchgekämpft und hatte dann vor einem Gewitter nach Frankfurt zurückfahren müssen. Wir glaubten, ihn zwischen Godesburg und Drachenfels gesehen zu haben. – Sonntags drauf sah ich ihn, d.h. das Luftschiff, dann zum erstenmal in Hersel in nassem Nebel hart gegen den Wind ankämpfend, aber siegreich durchdringen auf Cöln zu. Die Volksspende von 6 Millionen 1908 aber war eine unvergeßliche Tat, die Einheit des deutschen Volkes hatte einen nationalen Pol gefunden und brach mit Elementarwucht durch alle Trennungsdecken. Es war fast etwas im kleinen, wie in den Augusttagen 1914 im Großen. Vom Ausland aus gesehen, nahm sich diese Bewegung noch besonders stark und mächtig aus. –
14. März. Die Engländer haben Bagdad genommen und sich damit für Ktesiphon gerächt. Es ist im Orient ein großer Fortschritt für sie. Ob die Türken dort zu schwach, oder eigensinnig waren, oder ob man sie allein hat wursteln lassen, wer weiß es? Schönberg gab mir gestern Fürst v. Bülow’s Buch „Deutsche Politik“. Die Sprache ist klar und flüssig und sehr gewandt. – Leider macht heute Regen anscheinend die dringend gewünschte Feldbestellung mit Mörchen, dicke Bohnen ect. wieder unmöglich.
15. März 1915. (muß 17 heißen) Es wird jetzt von einer Verkürzung der Westfront geredet. Was mag da vorgehen? Hängt es mit der Seesperre zusammen? Heute endlich noch einmal ein Extrablatt, knallrot und Inhalt entsprechend: Revolution in Petersburg! Wenn man daraus nur auf einen baldigen militärischen Zusammenbruch der Russen an der Ostfront hoffen könnte. Helene leidet entsetzlich an Zahnweh infolge erneuter Kiefereiterung, diesmal am oberen letzten Molar rechts. Christine arbeitete mit mir erstmals im Garten, flink und anstellig. Endlich scheints Frühling zu werden.
16.3.17. Seit langem mal wieder mittags im Garten auf dem Liegestuhl. Sonne und Wind, drängender Frühling. Gestern erste Saat ausgetan, die Erde ist unter Spatenstichtiefe noch gefroren.– Die Kriegsküche hat hier nach der ersten Woche mit ca 100 - 120 Teilnehmer in der II. Woche bereits einige 400! gefunden. Vorgestern bekamen wir nichts, dafür gestern 4 Portionen, wir werden versuchen, uns zu mästen. Alle größeren Städte betreiben unter offener Duldung der Regierung eine umfangreiche Falschmünzerei in Kleingeld. Hugo Thanisch, der junge Ehemann, gab mir gestern 2 Trierer Groschen, die 8eckig sind und einen nicht üblen H. Petrus (?) im Wappen zeigen. Bald werden wir wie in den Zeiten des alten Reichs Kölner . . . Weißpfennige und was nicht alles haben. Die Münzsammlungen werden blühen. Trierer Groschen werden hier bereits genommen. – Die Revolution in Rußland ist noch recht unklar, anscheinend von England und Frankreich unterstützt. Ob nicht schließlich aber die Volksmasse die Oberhand behält und gegen den Krieg arbeitet? Die heutigen Revolutionäre sind wütende Kriegsverfechter. – Vor 1 Jahre wurde Willy’s Elsbeth begraben.

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23.3. Gestern hatten wir, übrigens gerade zur rechten Zeit, einen kleinen häuslichen Brotalarm: Die derzeitigen Brotkarten reichen bis zum 14. April und wir bekommen insgesamt 25 Brote (à 4 Pfd) darauf für 5 Wochen (6 Personen, für 1 eine Weizenmehlkarte). Nun waren in 12 Tagen 11 Brote verzehrt worden, was viel zu viel war. Es kam, weil das Brot nicht trocken genug war. Nun haben wir sieben zum Trockenliegen und haben noch 6 zu bekommen. Die Brotfrage wurde nochmals eingehend besprochen und heute kommt die Nachricht, daß wir künftig ¼ = 25% Brot weniger bekommen werden. Das ist ein böser Ausfall, zumal in den Städten, doch hoffen diese auf größere Kartoffelzufuhr. Hier wurde grade zur rechten Zeit bekannt gemacht, daß 2 Wagen Erdkohlrabi angekommen sind, wir holten 1 Zt. zu 4,50 M. In England solle für die nächsten 15 Wochen pro Kopf und Woche ½ (!?) Pfd Kartoffeln vorhanden sein. Wie diese Frucht nach lang entbehrtem Genuß munden muß, erfuhren wir gestern abends beim Lesen in Amundsens Nordwestpassage, wo die wackeren Gjoa-Leute nach 2 Jahren von amerikanischen Walfischfahrern die ersten Kartoffeln und Zwiebeln bekamen. – Heute habe ich dann auch endlich eine Fuhre Mist bekommen. Leider blieb der Lazarettsoldat aus, der ihn vom Felde an Ort und Stelle karren soll. Bei hellem Sonnenschein ist es kalt und rauh, mit etwas Halsentzündung halte ich mich zu Hause. Morgen soll Willy kommen. Eben bringt die Abendzeitung die Nachricht von der glücklichen II. Heimkehr der Möwe. Ich habe laut lachen müssen aus Freude.
26. März 1917. Auf einen strahlend schönen Sonntag, den wir gestern in Freuden mit Willy verlebten, haben wir heute einen trüben, kalten schneewirbelnden und nassen Montag. Dazu schlug die Kriegsbombe in unser Haus ein: Frau Liell’s einziges Kind, der prächtige Sohn Karl ist gestern nachmittag bei Ripont als Vizefeldwebel gefallen. Immer gerade die Tüchtigsten rafft der Krieg weg. Die Mutter ist heute in Trier, der Pastor soll es ihr heute abend sagen, alle fürchten sehr für sie. Helene und ich waren bei Frau Alf, der eine Tochter von Franz Liell die Trauerbotschaft gebracht hatte. Franz Liell war kurz hier, ich habe ihn nie so gesehen; ganz verstört. Nun ist der letzte männliche Nachkomme seiner Familie dahin. – Ein schwarzer Tag. Der mit dichtem Nebel verhängte Himmel ließ ohne Unterbrechung Schnee, Graupeln, Schlackerschnee und schließlich kalten Regen fallen. Nirgends ein Ausblick. Die Verwandten besuchen andauernd Frau Alf, es laufen schon Beileidsdepeschen ein und die Mutter wird erst 822 zurückerwartet. Pastor Schmidt wird dann hier sein und soll ihr das Schreckliche sagen. Eben waren wir zum 2ten Mal bei Frau Alf, ich riet ihr, den alten Geheimrat zu bitten, sich bereit zu halten, für den Fall, daß sie einen Anfall bekommt. Es liegt wie ein grauer Bleidruck auf dem Hause. Unsere Kinder sprechen schon davon, daß Onkel Karl krank geworden sei. –
27. März. Nun hat die heftige Spannung, der an 2 Jahre lang Frau Liell unterlag, ihre Lösung gefunden. Wir hörten sie gestern abend und nachts heftig weinen. Es war zuerst ein herzerbrechendes

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Wimmern, ganz unnatürlich, wie es nur ein Muttergeschöpf ausdrücken kann, dessen Junges man genommen. Helene ist sehr aufgeregt und schlief die halbe Nacht nicht. So nahe haben wir solche grausige Trauer, die der Krieg überall hin bringt, noch nicht erlebt. Hoffentlich bleibt das meiner Mutter erspart. –
30. März. Der Schmachtriemen wird enger gezogen. Vom 16.4. ab giebt es nur mehr 3 Pfd = 1500 gr Brot per Woche (also 214,2,g für den Tag) heute früh habe ich – Helene blieb gestern nachmittag im Bett und heute desgleichen – neuen Brotalarm geschlagen, ein bereits angeschnittenes Brot wieder verschlossen und Brotsperre verhängt. – Argentinien sperrt die Ausfuhr von Getreide. In Rußland gewinnt die linke –auflösende– Seite der Revolution anscheinend die Überhand.
1. April 1917. Wir erleben eben recht trübe Tage, draußen und drinnen. Über dem ganzen Hause liegt immer noch der heftige Trauerschmerz um den gefallenen Sohn, Helene liegt, ganz zusammengebrochen und recht elend seit 3 Tagen zu Bett, Versuche aufzustehen waren noch Mißerfolge, Herta hat noch heftigen Bronchialkatarrh mit Husten, geringe Dosen Codein nutzen ihr sehr, gottlob hat sie guten Appetitt. Mariannchen hat trotz heftiger Augenentzündung noch leidlich ihre gute Laune, ich selbst habe Halsentzündung und noch tiefer sitzenden Bronchialkatarrh, kann bei dem wechselnden Schnee, Hagel, Schlackerschnee, Regen, Wind und Sonnenschein nicht aus und werde zu einem vorbestimmten Kriegsbeschädigtentermin morgen Velten hinfahren lassen müssen. Trotz und alledem habe ich große Lust zum Schreiben und entwerfe täglich Skizzen zu kleineren Erzählungen von Begebenheiten aus meiner Umgebung oder aus meiner Knabenzeit. Daß die Kölnische Zeitung eine Reihe solcher Skizzen abgedruckt hat, macht mir besonderen Spaß. Ich erhielt auch kürzlich von ihr die Aufforderung, etwas mit Hinweis auf die 6. Kriegsanleihe zu versuchen und brachte eine etwas rührselige kleine Anekdote: „Sparstrumpf“ und eine längere Skizze „Der seltsame Gast“ betitelt, in der der St. Bürokratius in eigener Person à la Haufs Teufel auftritt. Wider Erwarten wurden diese angenommen. Das ermuntert zu weiteren Versuchen. Durchschnittlich wird von 3 eingesandten Artikelchen eine angenommen und es zeigt sich stets, daß es die bestentworfenen und ausgefeilten sind. Jedenfalls lernt man etwas dabei. Helene lese ich hin und wieder noch aus Amundsens Nordwestpassage vor. Die gründliche Schilderung des Eskimovolkes im arktischen Nordkanada hat uns viele Freude gemacht. Hoffentlich hält sich das Wetter einigermaßen, daß ich vor Tisch wenigstens bei Wincklers zur Konfirmation der ältesten Tochter Nora gratulieren gehen kann. Daß Winkler hierzu nicht daheim sein kann, tut mir sehr leid um ihn. – Der Ubootkrieg macht gute Fortschritte. Das Eismeer im Norden Rußlands haben wir jetzt auch gesperrt. Amerika wird sich in der Kriegsfrage bald entscheiden müssen. In Rußland geht die Revolution ihren weiteren Gang und scheint auch zum Glück für uns das Heer mit zu erfassen. Vielleicht, daß es dort doch noch zum Frieden kommt. Unser Reichskanzler machte
 

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dazu recht einladende Äußerungen im Reichstag. In Spanien und Schweden scheint derzeit stark gegen uns gewühlt zu werden. – Der Sonntag erinnert mich an den letzten, Willy’s (Reitmeister, Willi) angenehmen Besuch und allerlei, was er erzählte. Er selbst arbeitet an einem neuen sehr aussichtsreichen Patent: Verbesserung des Gebläses am Martinofen durch Gegenwind, was eine große Ersparnis an dem hierdurch kühler gehaltenen Luftschacht aus feuerfestem Gestein bedeutet. Dieser tropft nämlich bei der großen Erhitzung ab. Er wird auch finanziellen Vorteil davon haben. Vetter Max (muß Walter heißen) Forstmann (Forstmann, Walter), den berühmten Ubootmann sprach er. Er ist derzeit mit Frau (die aus St. Moritz zurück ist) und Kind in Godesberg und hat lange Urlaub, da sein Boot gründlich erneuert werden muß. Der Gesundheitszustand seiner Frau wird den dauernden Aufenthalt in Kiel später unmöglich machen und so denkt dieser erfolgreiche Seemann daran, später einmal Landratte und vielleicht „Bürgermeister“ zu werden, wie er sich selbst ausdrückte. Ich hatte ein unbehagliches Gefühl bei dieser Nachricht und gedachte der vielen Reibungen und Enttäuschungen, die er in solchem Berufe haben wird, ganz abgesehen davon, daß es einem recht störend ist, sich solchen „Uboot-Helden“ – das deutsche Volk empfindet sie nun einmal als solche und das ganz mit Recht! – als Bürgermeister in irgendwelchem Krähwinkel vorzustellen. – Willy war auch vor einiger Zeit auf der Versammlung der Eisenhüttenleute in Düsseldorf und aus dem vielen, das er hiervon wiedergab, ist mir ein Doppeltes in Erinnerung geblieben: Es soll gelungen sein, auch aus Kohle den sog. Niedrigtemperaturteer zu gewinnen, wodurch das Gas reiner, wir aber durch ein geeignetes Maschinenschmieröl und darin völlige Unabhängigkeit vom Ausland in diesem Artikel gewinnen würden. Bei Braunkohle gewinnt man solchen Niedrigtemperaturteer schon länger, dessen Öl sich auch verseifen läßt. – Ferner habe ein Fachmann des genaueren ausgeführt, daß aller Wahrscheinlichkeitsberechnung nach die Engländer nur mehr für etwa 80 Jahre Kohle im eigenen Lande hätten und eine Kriegsursache ihr Bestreben sei, sich Kohle in Flandern zu sichern. – Eben erhielt Helene von Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) einen längeren Brief, aus dem hervorgeht, daß es am Rhein mit Kartoffeln, namentlich Saatkartoffeln schlimm aussieht. Walter F. (Forstmann, Walter) war mit seiner Frau dort zu Besuch. Seine Schilderungen von Versinkenden, die er nicht retten konnte (angeblich auch deutsche Frauen aus Alexandria) waren schrecklich. Geht es aber – und wir müssen dies, so grausam es ist, – zuversichtlich erhoffen und erwünschen – weiter so mit den Ubooten, so wird England klein beigeben müssen. – Mit Brot sind wir auch jetzt recht knapp und ich werde die tägliche Ration herausgeben müssen, damit richtige Einteilung bleibt, wir nicht in den Rückstand kommen und vor allem, trockenes Brot durch längeres Aufbewahren erzielen können. Wir haben schon Suppe zum Frühstück gegessen.

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5. April 17. Gründonnerstag. Endlich ein heller Frühlingstag mit lauer Luft und feinem Regen. Dr. Brockes war heute morgen bei uns, Helene soll viel liegen, Ruhe und Stärkung haben. Nach Ostern fährt sie mal nach Bonn. – Amtsgerichtsrat Rey ist eingezogen und Remy soll vorab Neumagen mitversehen. –
6. April 17. Es scheint ein strahlender Tag werden zu wollen. Diese Nacht hatte ich eine bis zu den Morgenstunden andauernde bedrückende Beklemmung, bei der mir stets das Kriegsgeschrei der Amerikaner im Kopfe herumging. Dort wird man wohl mittlerweile den – eigentlich gänzlich gegenstandslosen – Krieg gegen uns erklärt haben. Ich fühlte mich mit Rücksicht auf das körperliche Unbehagen lebhaft erinnert, an jenen dumpfen Schlag, den ich zweimal auf der Brust zu verspüren meinte: einmal, als ich am Brückenpfeiler hier die Depesche von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers las und das andere Mal an gleicher Stelle bei der Lektüre einer Depesche, die Bryan’s Rücktritt meldete. (Er trat s. Zt. als auswärtiger Minister zurück, weil Wilson dem Kriege zusteuere). Heute hat er Recht behalten. – Es machte mir Freude, kürzlich in der Kölnischen Zeitung eine Skizze „ein seltsamer Besuch“ abgedruckt zu sehen, die ich auf deren Aufforderung etwas zur Werbung für die 6. Kriegsanleihe zu schreiben, eingesandt hatte. Gestern brachte sie eine kleine Plauderei über dicke Bohnen, die ich vor einiger Zeit einsandte.
Ostermittwoch, 11.4.17. Montag und Dienstag lag ich mit geringem Bluthusten still zu Bett, sammelte meine Gedanken und schrieb mancherlei auf. Heute morgen in aller Frühe hatte ich eine kleine Blutung, danach einen Schwächeanfall, bei dem ich glühend heiß und frierend kalt wurde, auch wollte der Magen revoltieren. Nun ich etwas gefrühstückt habe, geht es besser. Die Zeitung brachte gestern abend inhaltsschwere Nachrichten: Bei Arras tobt eine heftige Schlacht. An einem einzigen Tage wurden 44 feindliche Flugzeuge vernichtet (mehr als sonst in 1 Monat) wobei wir selbst 5 einbüßten. Die kurze Angabe: Im zähen Ringen erlitten 2 unserer Divisionen erhebliche Verluste, ist erschütternd und ich werde sie nicht los. Der Kaiser richtete eine Botschaft an den Kanzler (und preußischen Ministerpräsidenten) über neues Wahlrecht in Preußen mit unmittelbar und geheimer (auch gleicher?) Wahl unter Abschaffung der Klassenwahl. Auch das Herrenhaus soll sich verschönern. Das wird noch was geben! Daß der Friede in naher Zeit bevorstehe, hofft der Kaiser zuversichtlich. – Bruhns (Bruhns, Leo) schrieb recht interessanten Brief. Er ist glücklich bairischer Staats- und damit deutscher Reichsangehöriger geworden, erstaunt, daß es ihn nur 20 M kostete, wurde bereits gemustert, für w. unf. befunden und auf 6 Monate zurückgestellt. Über die Friedensrede des Kanzlers ist er sehr verstimmt. Ich glaube, er

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nimmt Bethmann als den friedlichen Biedermann, als den er sich zu geben ausgezeichnet versteht, während er tatsächlich vielleicht ein weitblickender und gerissener Politiker ist. – Heute scheint die Sonne, gestern brauste ein Schneegestöber hinter dem anderen. – Ob nicht bald sich etwas von der Löwentatze Hindenburgs an der Westfront zeigt und einige Aufklärung über die Frontzurücknahme bringt? Reims wird jetzt völlig von uns, St, Quentin von der Gegenseite in Trümmer geschossen.
12.4. Ich schreibe viel im Bett. Endlich ist nachmittags mal stilles mildes Wetter, Helene mit Kindern und Mädchen im Garten. Der blutige Auswurf läßt nach. Die Post bringt erfreuliche Kunde: Der Ubootkrieg zeitigt fortgesetzt die schönsten Erfolge. Die Abrechnung der Kölnischen Zeitung für die im März abgedruckten Beiträge beziffert sich auf 77,50 M, wobei sie mir eine Erhöhung des Zeilenhonorars von ca 18 auf 25 Pf bewilligt, was ich dankbar begrüße, da jetzt das Geld uns knapp ist. Dabei stehen noch 58 M aus für weitere bereits gedruckte Artikel. Hoffentlich gehts langsam so weiter. Gestern erst hatte ich eine Satyre hingepfeffert, heute soll mit der Quittung ein Osterhase hinhüpfen. (er hoppelt sicher auch wieder zurück) und die Mappe ist voll von Entwürfen. Also zu! Ich habe einen förmlichen Schreibdrang und werfe von Jugenderinnerungen täglich ganze Brocken aufs Papier einer dicken Kladde. Die absolute Bettruhe giebt Gelegenheit zu beschaulicher geistiger Arbeit. Am liebsten möchte ich es mal mit einer Novelle versuchen.
14.4.17. Während im Westen die blutige Schlacht bei Arras tobt, scheint mit Rußland Fühlung wegen Friedensverhandlung genommen zu werden. Dort haben die radikalen Arbeiter die beste Aussicht, das Ruder des Staatsschiffes ganz in die Hand zu bekommen und es erscheint daher gar nicht töricht, daß der Führer unserer Sozialdemokraten, Scheidemann, sich jetzt nach Schweden zu einer Zusammenkunft mit russischen Arbeiterführern begiebt. Endlich bringt auch die Kölnische mal einen herzhaften –wohl offiziösen– Kriegszielartikel (Zeitungsausschnitt eingeklebt), den ich wiederholt mit Vergnügen las und der mich zu dieser Zuschrift anregte, die heute abgeht:
Zu dem Kriegsziel, das nicht vergessen werden darf, gehört auch, zu verhindern, daß England sich nicht auch in den baltischen Ostseeprovinzen festsetzt und dort den in Flandern mißlungenen Versuch einer Bedrohung unserer Flanke wiederholt. Es sprechen Anzeichen dafür, daß England dies versuchen wird. Es fühlt, wie sich die uns zugedachte Hungerschlinge langsam und sicher um den Hals legt, und wird, ehe es sich ergiebt, die wahnsinnigsten Anstrengungen machen, um sich Luft zu verschaffen. Die militärische Schlagkraft Rußlands wird ihm

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nachgerade zweifelhaft, und mit der ihm eigenen rücksichtslosen Brutalität wird es darauf ausgehen, sich mit Faustpfändern auch bei seinen Verbündeten schadlos zu halten. Der ganze Plan ist für britische Denkweise und Politik nur zu einleuchtend. Denn abgesehen vom militärischen Standpunkt bekommt man damit die „nordische Brücke“ fest in die Hand, beherrscht den riesigen Transithandel nach Sibirien und Innerasien und sichert sich einen Landweg nach – Indien, nachdem der Seeweg durch die Ubootpest ungemütlich geworden ist.
Der Brite hat es von jeher glänzend verstanden, an jedem inneren und äußeren Brande in einem europäischen Lande unter der Maske des hilfreichen Feuerlöschers seine eigene Rinderschnitte möglichst billig zu rösten. Die Bewegung in Finnland bietet eine zu schöne Gelegenheit, dort den „Befreier“ zu spielen, d.h. tatsächlich von Norden her einzumarschieren, das Land zu besetzen, Estland und Livland in gleicher Weise zu beglücken und sich zugleich dicht vor den Toren Petersburgs festzusetzen. Finnen, Esten und Letten mögen sich vor dem reißenden Wolf im Schafspelz vorsehen. Sie könnten gar zu leicht aus dem russischen Regen in die englische Traufe geraten und ihr weiteres Schicksal nach dem Muster Griechenlands ausmalen. Rußland, Schweden und Norwegen aber würden die Augen noch auf und übergehen, wenn sie erst einmal zum englischen Sprungbrett geworden wären.
Für uns aber gilt der Ruf gegen England: Hände weg von Finnland und den Ostseeprovinzen! ––
Der Schriftleitung der Kölnischen Zeitung in Cöln
stelle ich vorstehende Zeilen zur Verfügung mit dem Ersuchen, sie in die Tiefe des Papierkorbes zu versenken, wenn sie etwa „einen Wurf mit dem Pflasterstein“ bedeuten würden oder sonst nicht angebracht erscheinen. Hochachtend. Berncastel Cues, 14.4.17. gez. Dr. Rech (örtlicher Vertrauensmann des baltischen Vertrauensrates in Berlin)

1000 M zur 6. Kriegsanleihe habe ich denn auch noch hoffentlich rechtzeitig durch Brühler Sparkasse aus Hertas Buch gezeichnet.

Weißensonntag, 15.4.17. Gestern war ich den ganzen Tag fast ohne allen Auswurf, außer Bett und ganz munter in den Wohnzimmern – das Eßzimmer war auch angeheizt worden – schrieb allerlei und fand mich äußerst wohl, da kommt abends beim Einschlafen – vielleicht in folge eines Gähnstreckens und damit verbundener Druckerhöhung in der Lunge, wieder eine kleine, diesmal helle und dünne Blutung mit abscheulichem Hustenreiz, den ich aber mit zusammengebissenen

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Kiefern verbiß und mit etlichen Kodeinpastillen herunter spülte. In aufrechtem Sitz schlief ich recht gut und ausgiebig, habe aber einen zu dem traurigen Wetter draußen gutstimmenden dösigen Kopf und wohl infolge des Alkaloids einen zu störrischem Eigenwillen stark aufgelegten Magen. Die Kölnische erfrischte mich durch den Abdruck einer kleinen Skizze vom „Strecken“ und ich schrieb mit rechter Lust einen Artikel über Kinderwagen und Leiterwägelchen in entgültiger Fassung als humoristische Anregung zu einer volkswirtschaftlichen Doktorarbeit, das wird dann wohl auch angenommen werden. –
Mariannchen, die gestern an Wasserpocken litt, hat argen Husten und muß die Stube hüten. Es ist ein rechtes Elend. –
Der Ubootkrieg hat auch im März glänzende Erfolge gebracht. Ich werde hier eine Darstellung darüber einheften. Den Engländern muß es nachgerade mehr als schwül zu Mut werden. Mit Rußland wird anscheinend in Schweden in aller Offenheit wegen Frieden verhandelt. In der Schlacht bei Arras ist der Vormarsch der Engländer zum Stillstand gekommen. Was mag dieses Frühjahr noch alles bringen? – Helene war mit der tüchtigen Christine gestern nachmittag wieder in Feld und Garten. Für das Legen der schön angekeimten Frühkartoffeln sind die Löcher fertig. Hoffentlich können sie Montag gesetzt werden.
16. April 17. Herta ist nun voller Erwartung, daß sie nur noch einmal schlafen muß, um – in die Schule zu gehen. Welch schöner Abschnitt der Kindheit damit zu Ende geht, ahnt sie  nicht und das ist gut so. Die Schule wird ihr wohl nicht sehr schwer fallen und zumal der Anfang ist in diesen Zeiten arger Schulbedrängnis für die Kinder doppelt leicht. – Kaum ist die Christine gut eingearbeitet und erweckte namentlich für meine Feld- und Gartenbestellung große und berechtigte Hoffnungen, da muß sie heim, „die Mutter ist krank“, hols der Teufel. Wir gehen gleich energisch auf Suche nach einer neuen aus. Doppelt fatal für Helene, die sich endlich ein wenig zu erholen begann. –
17.4. Vormittag bis gegen 5 außer Bett. Wenig, doch hellen Auswurf. Lästig. Herta dann glücklich erstmals zur Schule, jetzt mit Mutter zur Stadt, Tafel, Griffelbüchse und Fibel kaufen. Leider ist und bleibt auch die Schule ungeheizt. Sie ist schon gleich erkältet, schadet es ihr, so halten wir sie draus.
In Rußland scheint trotz aller Gegenarbeit unserer Feinde die revolutionäre Arbeiterpartei allmählich die Macht in die Hand zu bekommen und sich auf den Friedensschluß vorzubereiten. Wir kommen ihnen freilich sehr entgegen.

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18. April 1917. Wir leben in einer sehr kritischen Zeit: Gottlob ist die 6. Kriegsanleihe mit 12,7 Milliarden eine große Sicherung. Die größte Schlacht tobt bei Arras und in gewaltiger Breite. Sie ist geradezu entsetzlich. Auch den Franzosen ist mit dem ersten Stoß kein Durchbruch geglückt. Wie lange mag das Wüten dort noch dauern. Mit gekrampftem Eifer sucht man zwischen eine russisch-deutsche Annäherung zu treten, vielleicht zu unserem späteren größeren Glück, aber ob Engländer und Franzosen wirklich einen „letzten Verzweiflungsdurchbruch erzwingen wollen“, ehe unsere Ubootsperre sie so stark zu schwächen vermag, daß sie sich zu ähnlicher Anstrengung nicht mehr aufzuraffen vermögen.
Der Tag war recht trübe für uns: Helene sehr melancholisch, aus dem Kirchspiel die Nachricht, daß dort kein Mädchen zu haben u.s.w. Ich richtete mich mit Bett und Nachttisch behaglich im angeheizten Eßzimmer ein und kann da vorab ganz für mich leben. Wollte doch wenigstens das Wetter endlich besser werden! Jugendliche Arbeiter männlichen und weiblichen Geschlechts mimen in Berlin Ausstand mit Umzügen. Könnte man den unreifen Früchtchen einzeln mit einigen Ohrfeigen die Erkenntnis beibringen, wie viel Blut, Leben und gesunde Knochen das ihre Väter und Brüder kostet! Zum Schreiben habe ich nicht viel Lust, obwohl mir der Kopf voll ist. Für Frau L. bearbeitete ich eine Reihe von Anfragen auf ihr Angebot von Weingut, Geschäft und Haus. Hoffentlich kann ich ihr etwas Ersprießliches herausdrehen. – Herta ist selig mit Griffelkasten und Lesebuch, sie hat gleich heute schon Kälteferien. Die Zeit wird mir keineswegs lang. Velten geht morgen für 1 ½ Tag nach Morbach, wie gerne wäre ich hingegangen. Aber einstweilen Geduld. Heute kam fast nichts, da kann ich morgen vielleicht ein wenig länger aufstehen und mich herumlümmeln. Geschrieben habe ich noch nie so viel im Bett und die Lust hieran wird auch nicht abgestumpft, wenn – wie heute morgen – mal wieder 2 Artikelchen: Osterhase und Leiden und Freuden des Kaninchenzüchters fröhlich zurückhoppelten. Ich tröste mich und denke: Jetzt ist schlechte Zeit, denn die Kölnische hat jetzt mal wieder ne Geschichte mit „Fortsetzung folgt“ unterm Strich und da leiden „Kunst, Wissenschaft und Leben“. Famos? Was? –
21.4. Seit einigen Tagen liege ich ganz still für mich im Eßzimmer, ununterbrochen in halber Rückensitzlage und noch immer ist geringer Blutauswurf da. Ich übe mich gewaltig in Geduld, aber hols der Teufel. Jetzt liege ich zwei Wochen fest. Frühling giebt es diesmal anscheinend nicht, ebensowenig ein neues Mädchen. Rosa war heute hier, äußerstenfalls kommt sie Helene zur Hülfe, meist auch andere Hülfe. Den Bauern gehts jetzt schlecht. Schärfste Kontrolle.

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26.4.17. Endlich hört das Blutspucken auf und ich gewöhne mich langsam wieder ans Aufstehen. Auch die Schreiblust ist wieder erwacht und ich schmiere allerlei in die dicke Kladde. Bald möchte ich es gern mal mit Novellen versuchen, habe mir erst den Kopf über Stoff zerbrochen, so ist er jetzt plötzlich in Fülle da wie ein angestauter Mühlenbach. Der Zustand Kellers, des großen Züricher Gottfrieds in seiner Berliner Zeit wird mir allmählich klar. Hätte ich weder Amt noch Familie, ich brächte es auch fertig, derart stets innerlich mit mir beschäftigt zu sein und in mir und an mir zu arbeiten. Ob freilich mit einigem Ergebnis? Mein Inneres sagt recht zuversichtlich ja, der schnöde kritische Verstand aber hat seine wohl abgezählten Bedenken. Doch Verstand allein ist eine hohle Nuß. ––
Welche Herzerquickung, heute morgen den Jubel der Kinder zu beobachten ob eines Paketes von der Großmutter. Außer Spinat aus dem Herseler Garten enthielt es etwas der jetzt so seltenen Schokolade, jedes bekam ein Stückchen und mit diesem beseligenden Besitz sprangen sie zum Vater herein. Mariannchen führte dabei einen allerliebsten Freudentanz mit kurzen trippelnden Schrittchen vorwärts und rückwärts auf dem roten Teppich an Mutters Schreibtisch auf, die Händchen bald hoch über dem Kopf erhoben, bald vorne ganz famos damit herum gestikulierend. Dabei kann man auf kurze Augenblicke vergessen, welch ungeheurer Kampf auf der nördlichen Westfront tobt, Engländer und Franzosen in großer Übermacht gegen uns anstürmen und ganze Regimenter hinsinken und verschwinden. Solcher Gigantenkampf war noch nicht auf der Welt. Der gestrige Tagesbericht ist erschütternd. Und dabei ist und bleibt man kleinlich. Wie freute sich Helene heute morgen, als ihr die treue R.(osa) 70 Eier brachte, die sie dort vor drohender „Nachprüfung“ retten, hier aber zur Vorbeugung der Hauptnot einlegen wollen. – Die Engländer haben sich wohl schwer blutige Köpfe geholt, aber ehe diese zähe Rasse nachläßt, muß sie wirklich schon ernsten Hunger leiden. Sie werden sich jetzt daran gewöhnen müssen. Unsere Uboottätigkeit scheint sich fortgesetzt zu steigern. – Als ich gestern zum erstenmal wieder auf war, hab ich gleich an dringenden Rückständen der Kriegsbeschädigten Fürsorge zu arbeiten begonnen und auch einen Hümpel (?) geschafft, bis ich darüber und vor Hitze im Zimmer einschlief. Rest vielleicht heute und morgen. Das giebt wenigstens den Schein einer moralischen Existenzberechtigung heute. – Helene plagt sich arg ab und will auch im Feld und Garten allerhand zustande kriegen. Ein hübsches isabellfarbenes Kanin war jetzt derart toll geworden, daß ich es gestern Assessor Scherer zusenden ließ, dessen blauer Wiener Rammler

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es schon lange Zeit anverlobt war. Der Bräutigam tat seine Schuldigkeit und nun ist es angeblich ruhiger. Das soll uns nächsten Winter Sonntagsbraten geben, wenn mittlerweile „unser“ Viehbestand scharf angegriffen sein wird.
26.4. (muß offensichtlich 27.4. heißen) In Baechtold’s Bemerkungen zu den prächtigen Briefen Gottfried Kellers lese ich eben dessen innere Anteilnahme am deutschen Siege 70/71 und der Reichsgründung, während damals die deutschen Schweizer uns insgemein wenig hold waren. Was würde er heute denken und ob er nicht dem Vater Spitteler einen derben Text lesen würde? – Wer weiß? – Eben ist Musterung der jungen Landsturmpflichtigen, die 1899 geboren, also rund 20 Jahre jünger sind als ich. Wie im Frieden ziehen sie buntgeschmückt in festem Schritt und lautem Gesang durch die Straßen. Höre ich ihre Lieder: „Haltet aus“ und „Drei Lilien“, so erbebe ich und die Tränen kommen mir in die Augen. Wann wird diese gewaltige Prüfung für unser Volk ein Ende haben? –
28. 4. Jetzt bin ich wieder auf und schlurfe in den Zimmern herum, wie könnte alles schön sein, hätten wir erst wieder ein Mädchen als Ersatz für die Christine. Es ist schlechterdings nichts zu bekommen jetzt. Auch Pastor Storkebaum vom Wolfer Waisenheim schrieb mit lebhaftem Bedauern ab. Es werden für Helene schwere Zeiten kommen. – Aus etlichen Briefen, Reden und Veröffentlichungen Gottfried Kellers klitterte ich einen Artikel zusammen, der ihn „aus dem Grabe“ zu unserer Sache Stellung nehmen läßt. Sandte ihn auch gleich ab. Mittags vertrieb ich mir die Zeit im Bett mit Ausschneiden und Einkleben der bisher erschienenen Zeitungsartikelchen in ein Heft mit dem Titel „Eintagsfliegen“. Freund Bruhns soll es nächstens zu vernichtender Kritik zugesandt werden.
29.4. Endlich ein warmer sonniger Frühlingstag, ein wahrer Festtag. Mittags mit Helene bis zum Garten aus.
30. 4. Ein herrlicher Tag. Ich liege bereits morgens im Gartenhäuschen auf dem Liegestuhl. Ein dritter Riesenangriff der Engländer bei Arras ist wieder abgeschlagen. Es hat den Anschein, daß der Ubootkrieg ihnen den Hals nachgerade doch allmählich zuhält und sie sich nun mit aller Gewalt einen Erfolg in Flandern verschaffen wollen. Der Bonner General-Anzeiger bringt wieder Friedensgerede aus Genf ect. Mir scheint es noch zu früh für den deutschen Frieden zu sein. Nun ist auch der kleine blonde, recht kluge Gasinspektor Reidt gefallen, der bereits bei Dr. Wolf hier an der Gasfabrik war. Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) schreibt allerhand Betrübliches aus Hersel, Siegburg und Bonn. Willy (Reitmeister, Willi) hat natürlich Abschluß seines Mietvertrages versäumt und wird nun wohl bald ausziehen müssen. Meine Mutter (Rech, Anna Maria) sitzt ohne Mädchen. Ob wir eins bekommen, scheint mehr als fraglich. ||  Heute gleich ein Tag voller Ereignisse: Nach längerem Liegen machte ich vom Garten aus einen kleinen Spaziergang, auf dem Heimweg kam mir bereits vor dem Garten Herr Leistner entgegen, Zwiesprache im Garten. Er bot jetzt 90000 M, nämlich für Frau Liells Haus und Garten. Interessante Unterredung mit ihm. Frau L. kurz mitgeteilt, war ganz glücklich, doch hoffe ich, ihn noch ein wenig höher zu schrauben.

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Frau L., der ich bei ihrer ganzen Vermögensliquidation auf ihren Wunsch mit Rat und Tat beistehe, wird trotz hoher Verbindlichkeiten noch ein schönes Vermögen herausschlagen. Auf Weinberge, Inventar und Wein ist riesiger Anlauf; einige Schwierigkeit wird noch der Verkauf der Firma machen. Vielleicht daß L(eistner) sie auch noch übernimmt. ||  Helene hatte allerlei Abenteuer mit Herta, die nicht mehr zur Schule wollte, sie brachte sie hin und ließ sie von der Gärtnerei Mock ab die letzten 200 Schritt allein gehen; während sie mit Mock wegen Tomatenpflanzen verhandelte, lief Herta statt zur Schule, nach Hause, wurde dann hin eskortiert. Nachher war sie wieder gern drin, auch heute nachmittag hin. Erste Pflichtschmerzen! Es wäre ihr natürlich sehr viel lieber gewesen, vormittags mit mir in den Garten zu gehen. – Kauft Leistner das Haus, so werden wir zwar wohnen bleiben, vermutlich oben dritte Überbewohner bekommen. – Heute bin ich nach Tisch gleich zum Garten und trinke hier auch Kaffee.
7. Mai 1917. Nur wenige Tage sollte ich mich des herrlichen Wetters draußen erfreuen, es gab einen kleinen Rückfall, der schon andern Tags beseitigt schien, dann kams schlimmer und jetzt liege ich schon mal wieder über 1 Woche, diesmal aber recht hübsch still und unentwegt auf dem Rücken, schlafe auch vorzüglich und lese viel. Auch ist mir die Prosa-Muse, die überhaupt mich seit der Wintererkältungen im Dezember besonders lieb gewonnen zu haben scheint, stets eifrig beiseite. Ich schreibe unentwegt in eine dicke gelbe Kladde und einer aus Jugenderinnerungen projektierten Novelle scheint sich – horribile dictu atque aspectu! – ein länglicher Roman herauszuschlängeln. Aber ob solches Unkraut je irgendeinen Herausgeber finden wird? Wollen das Beste hoffen. Im Hause aber sieht es bös aus. Helene arbeitet sich ganz und gar auf den Hund, ein Mädchen steht erst in ferner Aussicht und wir sind schon froh an der geschickten Ältesten des Gerichtsdieners Grohn, die noch zur Schule geht, eine gute Nachmittagsaushilfe zu haben. Heute aber war Helene mit der tüchigen Stundenarbeiterin Steffens sogar auf dem Felde und haben tüchtig gepflanzt. – So geht es, wenn auch schwerfällig, langsam weiter. Von Dr. Kaufmann in Wittlich erhielt ich den dringenden Rat, alsbald in ein Sanatorium auf etliche Monate zu gehen. Was wohl auch geschehen wird. Dann aber soll für die Zukunft jede – auch die kleinste körperliche Arbeit, also auch jede Bastelei strengstens verpönt sein. Das wird einen harten Kampf kosten aber durchgesetzt werden müssen, und wenn Bienen und Gemüsezucht darob aufgegeben werden müßten. Ich werde dann um so mehr Zeit finden zur Zwiesprache mit der bewußten Prosa Muse

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und das macht sich vielleicht noch besser bezahlt. – Während ich so im Bett liege, lese, schreibe und heftigen Durst verspüre – Flüssigkeit jeglicher Art wird um Blutdrucksteigerung und Blutverdünnung (?) zu verhindern, möglichst vermieden – geschehen draußen die größten Taten der bisherigen Weltgeschichte. Es tobt eine neue große 4. Schlacht bei Arras und auch die Franzosen stürmen mit dem Mut und der Kraft der Verzweiflung gegen unsere Westfront. 300000 sollen die Gegner dort jetzt schon verloren haben. Der Ubootkrieg geht immer tiefer und weiter. Aus April sind bis 5. Mai über 1000000 versenkte Bruttoregistertonnen gemeldet. Englische Nachrichten lauten jetzt sehr besorgt. Kartoffeln sind bald zu Ende und mit Brot wird es knapp dort. Dazu wird die unentbehrliche Handelsflotte mit jedem Tag sichtlich kleiner und gegen die Uboote giebt es nichts. In Rußland aber löst sich anscheinend langsam alles in Wohlgefallen auf. Argentinien und Brasilien haben die Sache erfaßt und wollen keinen Krieg gegen uns, dafür aber neuerdings – Haiti!! –
9.5.17. Endlich geht es mir besser. Gestern hat Frau L. – natürlich verfrüht und daher zu billig, ich konnte ihr mündlich leider nicht helfen – das Haus an Leistner verkauft. Nun so bleiben wir wenigstens in unserer Wohnung ungeschoren. Ich habe Mietvertrag mit ihr auf 2 Jahre verlängert. Am 25. März fiel Carl, morgen soll seine Leiche kommen und am 25. Mai ist wohl schon aller Grundbesitz verkauft. Um die sämtlichen Gegenstände in Keller, Geschäft ect. schlägt man sich fast, es ist ein ununterbrochenes Wettrennen, die Weinbergsversteigerung verspricht interessant zu werden und wenn irgend möglich gehe ich hin. Von Freund Bruhns (Bruhns, Leo) kam gestern ein Brief und ich schrieb ihm gleich einen zurück. Auch er scheint Kur machen nötig zu haben. Sein Bruder Oscar ist glücklich frei, kann aber von Minusinsk nicht weg und bleibt wohl auch vorab besser dort. –
Pfarrer Storkebaum war heute hier und besprach sich mit Helene. Leider hat er auch kein Mädchen, und Helenes Kräfte gehen sichtlich zu Ende. Elend übereinand! – Bei alledem, daß ich heute frei gleich 2 Verträge für Hausverkauf und Firmenübertrag entwarf und hier kritzele – ist mir der Kopf so voll von Bildern aller Art, daß ich allzu schreiben möchte. Immer noch tobt in fürchterlicher Heftigkeit die Schlacht an der Westfront. Gottlob scheinen die Russen aller englischen und amerikanischen Anstachelung zum Trotz des Krieges endgültig müde geworden zu sein. Hätten wir nur erst noch Livland und Estland! Ob und wie England aber über die nächsten 3 Monate hinwegkommen will, wird stets schleierhafter.

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Jetzt sind im April schon 1 Million t an Schiffsraum versenkt, der doch schon ausschließlich den allernotwendigsten Bedürfnissen dient. Geht es so weiter, so müssen sie in einem halben Jahre klein bei geben und mag sich ihnen unterdessen noch der Rest der Welt gegen uns anschließen. Man hört jetzt wenig mehr den alten Kampfruf
„Gott strafe England“
und doch wird er jetzt allgemach Wahrheit.
10. Mai 1917. Nachmittags hörte ich schwere Nagelschuhschritte unten an der Haustreppe: Soldaten brachten den Sarg mit Carl Liell’s Leiche. Die Mutter ist merkwürdig gefaßt. Helene war in schwarz dort und Mariannchen legte einige Blumen auf den Sarg, besah sich ernst den dunklen Raum und meinte schließlich: „Ich glaube, das Christkindchen ist hier.“ Frau L. fand das besonders tröstlich. Übrigens ist Marianne heute unausstehlich und quengelich ohne Unterbrechung. Hoffentlich geht sie gleich zum Garten. – Wie phantastisch ist eigentlich solch Fliegerkampf, tausende Meter hoch in den Lüften, und heute wie ernst nüchtern und alltäglich. Über 360 Flugzeuge haben wir im April abgeschossen und 70 selbst verloren. Vor 10 Jahren erlebte ich es in Arosa, daß die beiden Brüder Wrigt in Amerika die ersten längeren Flüge mit dem Motor-Zweidecker machten, während der deutsche Lilienthal, der Erfinder des Doppeldeckers schon lange Jahre zuvor (80er Jahre?) ohne Motor kurze Gleitflüge gemacht und sein Leben dabei eingebüßt hatte. Morgen werde ich wohl ein wenig aufstehen dürfen, ohne die so langsam zunarbende Lungenwunde zu gefährden. –
15. Mai 17. Am 11. war ich ganz fröhlich einmal etliche Stunden auf, bald wieder zu Bett, nachts mit Schreck wieder wach: wieder kleine Blutung, also glücklich das 5. Mal. Nun nach langem absoluten Stilliegen heute und gestern endlich besser, vielleicht weil gestern Arzt, der alte Schmitz kam und neues Mittel in Tabletten verordnete, das den putzigen Namen „Stipticin“ trägt. Hoffentlich „stippt“ es diesmal gut und ich falle nicht wieder um. Die Zeit ging nicht völlig verloren, etliche Briefe geschrieben, Sanatoriumsprospekte studiert, Möglichkeiten erwogen. Schließlich auch ganze Reihe von Büchern über Mosel: Sagen, Geschichte ect. gelesen, die mir der wackere Sammler Josef Dillinger hier in liebenswürdigster Weise geliehen. Darin eine Menge dankbaren Stoffes gefunden, aus dem sich schon allerlei herauszukristallisieren beginnt. Gestern und die Tage vorher sommerliche Hitze. Kuntz sah nach Bienen, 2 Völker weisellos, sollen mit Nachbarn vereinigt werden. Schade gerade jetzt. Schöne Tracht in Aussicht. Alles treibt wie ein Warmbeet: 30° sollen gestern gewesen sein. Das könnte herrliche Ernte geben. 50 Bohnenstangen werden morgen vom Stadtbürgermeister geholt, er hat sie mir besorgt. Glücklicherweise kommt Rosa auf 8 - 14 Tage.

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Eingklebt ist ein Zeitungsausschnitt mit dem Bericht über die Weinversteigerung in Trier vom 1. Mai. Handschriftlich:
Ober(?) Rhein schon 1 Stück für über 90000 M versteigert! (Flasche über 80 M).
17.5.17. Den Kanonendonner hören wir dieses Jahr schon lange, vielleicht schon seit Mitte oder Ende April nicht mehr. –

Nachträglich eingefügt:
Die Grafen Eltz versteigerten zu Eltville ein Stück (1200 l) zu 132080 M! (Juni 1917) Wohl der höchste Preis, der je für Wein gezahlt wurde. 15.6.17

25. Mai 1917. Frühlingsausbruch an der Mosel. Am 1. Mai war ich zuletzt draußen gewesen. Dann hatte ich durch gesundheitliches Mißgschick 25 Tage lang zu Hause und ganz still im Bett verhalten müssen und konnte nur im Spiegel beobachten, wie eine schlanke Rotbuche vor dem Fenster ihre Blätter entrollte. Heute aber, bei erstem Ausmarsch zum Garten, der am Flusse liegt, hatte ich einen fast betäubenden Eindruck. Der Roggen, der am 1. nur wenig mehr als handhoch gewachsen war, stand schon in Ähren, die vordem kahlen Gemüsegärten waren von grünem Flor bedeckt und damals gekeimte dicke Bohnen standen in voller Blüte. Hatte damals eine grelle Sonne durch den hellen blattlosen und winddurchsausten Garten geflirrt, so herrschte heute darin, das nur hier und da mit einem sonnigen Fleck durchsetzte stille Dunkel eines wildwachsenden Waldes. Die Üppigkeit der Laubmasse ist ganz unerhört und ich habe eine solch dichte Fülle hier in 7 Jahren noch nicht erlebt. Davon, daß fast ½ Dutzend Bäume dieses Frühjahr sämtlicher Äste und Zweige beraubt worden war, um anderen Licht und Luft zu machen, war auch nicht die Spur zu merken. Hatten damals die Frühkirschen eben ihre Blüten erschließen wollen, so waren jetzt schon die Apfelblüten vorbei und selbst die Roßkastanie, die am 1. noch die klebrigen Hüllen ihrer Blattknospen abwarf, stand nicht nur in üppigem Volllaub da, auch ihre großen Blütenkerzen brannten schon bedenklich herunter.

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[Die Weinhänge, damals noch völlig kahl, hatten sich mit grünem Flaum überzogen und an den Hausstöcken sah ich Triebe von mehr als 1 m Länge und übervoll Gescheine.] (Der geklammerte Satz ist ausgestrichen) Die Grashänge an den Ufern, die sich damals erst langsam mit Grün bedeckten (nachdem der ungewöhnlich harte Winter sie zu einer gelblich braunen Filzdecke verwandelt hatte) stehen üppig und kindshoch in saftigsten Wiesenkräutern und harren der Sense. Sie bilden nach unten, im Flusse sich spiegelnd bilden sie den unteren Rahmen der in bunten zartgebrochenen Tönen wie Opal schimmernde Weinhänge, die damals noch kahl, heute mit graugrünem Flaum überzogen scheinen. Oben aber geben die welligen Linien der frischen weichen Laubwälder den Abschluß zum flimmernd hellen, mit weißen zarten Wölkchen durchzogenen Himmel. An verschiedenen Bergterrassen erfreut sich das Auge an den weichen, zart graugrünen Laubballen der Walnußbäume, die wie von innen rot durchleuchtet scheinen. Die Rebe hat ihren Rückstand mit Riesenschritten eingeholt und an den Hausstöcken kann man Triebe von 1 m Länge beobachten, dicht besät mit knospenden Gescheinen, die sich bald zur Blüte öffnen werden. Dieser riesige Fortschritt, den die Natur in der Frist von 3 ½ Wochen unter selten günstigen Bedingungen gemacht hatte, wirkte geradezu gespenstisch, da ich von der Zwischenstufe so gut wie nichts bemerkt hatte. Noch einige Wochen weiter so und wir dürfen einer guten Ernte uns mit tröstlicher Gewißheit erhoffen. Nie, so will mir scheinen ist der Mai so wie dieses Jahr, wenigstens hier an der Mosel – und zwar an dem Teil, der die höchste mittlere Jahrestemperatur hat – seinem Dichter so treu geblieben:
Im Mai, im holden Monat Mai
Da alle Knospen sprengen.–––
(Kölnische Zeitung, unterm Strich)

Frankenheim im Rhöngebirge, Kurhaus Sophienhöhe.
7. Juni 1917. Seit gestern abend sind Helene und ich nach 2tägiger Reise in dieser herrlichen Gegend mit weitem Ausblick, in gutem Haus mit angenehmen Leuten, in erquicklicher Gesellschaft unseres Freundes Bruhns gelandet und sehen auf 2 Tage zurück, die so voller Eindrücke waren, daß wir uns erst besinnen müssen, um alles zu ordnen. Um nicht vieles mehrfach zu schreiben, notiere ich mir das wichtigste auf losen Blättern, sende sie als Brief nach Bonn und hefte sie später hier ein.

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Frankenheim
14. Juni 1917. Wir sind nun 8 Tage hier, hatten ununterbrochen schönsten Sonnenschein mit einigen schwachen Gewittern, angenehmste Gesellschaft durch unseren lieben Freund Bruhns und haben uns beide schon zusehends erholt und gekräftigt. Helene hat fast 1 Pfd zugewogen und ich ... Wir fühlen uns äußerst wohl, wissen die Kinder daheim in guter Obhut, machen kleinere und ein über den anderen Tag mit Bruhns je einen längeren Spaziergang, den wir ebenso wie kurze Bummelgänge nach dem Abendbrot oder gemeinsames Zusammensitzen gegen abend durch angeregte Unterhaltungen über Stoffe aller Art recht von Grund auf genießen. Die weiteren Gänge bringen uns vornehmlich zu solchen Punkten, von denen wir mit eine weite Aussicht auf ferne, in großen Linien sich hinziehende bewaldete Gebirgszüge mit angebauten Tälern und etlichen rotbedachten Dörfern dazwischen unsere Augen erfrischen und weithin schweifen lassen können, während sie sich daheim seit Jahr und Tag an den nahen Weinhängen und den nicht viel weiter entfernten Waldbekrönungen des Flußeinschnittes förmlich wundgestoßen haben. Die Zeit vergeht dabei wie im Fluge: Morgens und nach Tisch wird auf der sonnigen Loggia vor unserem hellen, luftigen und geräumigen Zimmer auf einem Ruhebett und einem Klappliegestuhl fleißig Kur gemacht, dazwischen fallen die guten und reichlichen Mahlzeiten und einiges An- und Umziehen hierfür und etliches Briefschreiben. Lesen von Zeitungen und etlichen guten Büchern bildet bei der Liegekur einen oft so anregenden Zeitvertreib, daß darüber die rechte Zeit des Aufstehens versäumt wird und die nötige Vorbereitung zum Erscheinen in der jetzt recht zahlreich (36) gewordenen Tischgesellschaft, mitunter sehr heftig betrieben werden muß. Eben tritt ein fast völliger Wechsel in der Gesellschaft hier ein, leider nicht zum Besseren, doch sind unter den erst jüngst und nach uns Angekommenen noch eine ganze Reihe von Menschen, mit denen wir ohne Beschwerde einen angenehmen persönlichen Umgang haben werden von jener Leichtigkeit und Unbefangenheit, wie ihn ein solcher Sommer- und Erholungsaufenthalt mit sich bringt. Gestern fuhr eine ebenso stattliche und aristokratische, wie einfache und nette alte Dame ab, eine Frau v. d. Schulenburg geb. v. Maltzahn, die bereits seit April hier und mit Bruhns als ihrem Zimmernachbar – er ist schon seit Anfang April und der älteste Gast hier – näher bekannt war. Er erhält noch ihre Kreuzzeitung, die ich jetzt auch hintereinander lese. Jedenfalls ist sie technisch vorzüglich gedruckt und enthält wenig Anzeigen und macht einen ihren Lesern entsprechenden vornehmen Eindruck und tritt jedenfalls nachdrücklich und offen für einen uns so nötigen Frieden mit ausgedehnten Grenzen und Sicherungen auf Kosten unserer Feinde ein. Ein seltsames Gegenstück zu dieser durchaus angenehmen und eindrucksvollen Dame (deren Sohn Oberpräsident von Brandenburg ist) ist ihr Gegenüber, ein alter pensionierter General Kruska aus Cassel. In seiner Jugend mag er ein frischer und fröhlicher Draufgänger gewesen sein, kennt auch die baltischen Provinzen, spricht eben noch ganz gut Russisch und hat eine lustige und forsche Art, mit allen Leuten zu reden; hiermit aber verbindet er ein offen betontes

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streng rechtgläubiges Christentum so strenge Art, daß es geradezu grotesk wirkt. Einen Gegensatz z. B. von Staat und Kirche giebt es für ihn gar nicht, auch den Pfarrer erkennt er als Vorgesetzten an und handelt nach seinen Angaben, auch wenn dieser damit eine Dummheit macht. Seine Ansichten machen oft riesigen Spaß. – Freund Bruhns war durch eine heillose Nachlässigkeit seiner fahrigen Hausmieterin Ina Willich in Leysin in höchster Gefahr, finanziell vollkommen trocken zu sitzen – auch längst fällige Miete zahlte sie nicht – den Verbleib eines Wertbriefes mit über 1000 fr. Inhalt vermochte er erst mit Hilfe eines Bremer Anwaltes festzustellen, nachdem Briefe, Depeschen ect. alles unbeantwortet blieb und die Sache sich schon seit dem 20.4. (!) so hinzog. Ich konnte ihn bei der Abwicklung beraten. Hoffentlich bleibt die Summe für ihn erreichbar. Morgen fährt er zur Beglaubigung einer Vollmacht nach Fulda und bringt abends seine Frau heim, die über Berlin (wo sie 2 Tage bei Frau Fritz Trendelenburg, geb. Schwartz zu Besuch ist) aus Ostpreußen vom Gute ihres Bruders heimkehrt. Wir freuen uns besonders darauf, daß Helene sie kennen lernen wird und wir alle 4 hier noch etliche Tage zusammen sein werden. Es sind wahrhaft „blaue Tage“ für uns hier angebrochen. Aus dem Fenster und der Loggia unseres Zimmers haben wir einen weiten Blick ins fränkische und thüringische Bergland hinein, wie man ihn sich schöner nicht ausmalen kann. Dazu durch ein langgestrecktes reichgruppiertes Wiesental, in dem in der Mitte zwischen mächtigem Basaltgewölb ein kleiner Bach hinabrauscht, bestanden von Weiden und Erlengebüschen. Links und rechts treten Laub- und Fichtenwald wie Kulissen in mannichfacher Abwechslung bald mehr bald weniger nah ins Tal hinein, umsäumen die reichblühenden Wiesen und bilden mit vereinzelten großen und prächtig allerseits entwickelten Bäumen reiche und stets wechselnde Gruppen. Zur Zeit benutzen die Leubacher das herrliche Sommerwetter zur Heuernte, die Luft ist ganz von dem würzigen Duft erfüllt, Frauen und Kinder, auch vereinzelte Männer sehen wir vom frühesten Morgen bis zum späten Abend eifrig beschäftigt und eben rüsten sich im warmen Abendsonneschein 3 hochbeladene Wagen mit Ochsengespannen zur Heimfahrt.
Hinter weiteren schmalen Waldstreifen und Ufergebüschen des hin- und herschlängelnden Baches glänzen grausilbern die weiten Kornfelder der Leubacher Flur, das Getreide beginnt eben zu reifen. Die Flächen dehnen sich in weiten bogenförmigen Planen bis zur hochgelegenen Waldgruppe; an der gegenüberliegenden Talseite ziehen sich terrassenförmig in weiten Bögen die Kartoffeläcker, Gemüse- und Futterfelder hin, alle mit niedrigen Büschen umsäumt und reich mit großen Obstbäumen durchsetzt. Die Sicht auf den hübschen Ort selbst benimmt uns ein Trupp hoher Fichten, der sich zur Talsohle an den Bach herabschiebt und über dessen Spitzen unser Blick hinüber in ein weiteres sanft abfallendes Tal mit reichen Feldern gleitet und an einem kleinen mit rotbraunen Dächern schimmernden Städtchen hängenbleibt,

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das mit Türmen und Mauern umgeben, wie aus einem Spielzeugkasten angebaut, allerliebst dort unten liegt. Über ihm zieht sich auf langgestreckter Höhe ein weiter dunkler Wald dahin, über diesem erscheinen weitere lange Waldrücken, das wiederholt sich einige Male, bis schließlich im fernen Dunst des äußersten Horizontes eine feingezeichnete lange Berglinie mit 2 großen Spitzen das Bild abschließt. Jene Berge sind ...
Je nachdem die Wolken und Sonne die Landschaft beleben, blüht mitunter ein kleines Nest, wie etwa Henneberg mit seiner Burgruine, zwischen den verschiedenen Berg- und Waldlinien auf. Daß dem ganzen weiten Bilde der kräftige Rahmen nicht fehle, tritt linker Hand der Buchenwald mit hohen Stämmen bis auf etliche Schritte dicht ans Haus heran und schließt an seiner Ecke gegen die Wiesen im Vordergrund mit einer alten hochragenden Linde ab; rechts läuft um einen dichten hohen Vorsprung des Tannenwaldes das Wiesengelände bergauf und verwandelt sich hinter einer schmalen Zunge von Laub- und Nadelbäumen in die weite große und fast leere, nur hier und da von großen Basaltblöcken übersäte Weidefläche, die hinter- und oberhalb des Hauses und namentlich nur einige Minuten aufwärts gelegenen Dorfes Frankenheim den Charakter der hohen Rhönlandschaft beherrscht. Dort ist das Bild ganz anders.––
15.6.1917. Obwohl jedermann und auch wohl fast jederzeit an den Krieg denkt, ist hier nicht viel die Rede davon. Es ist dies auch eine gewisse Entspannung. Der Tagesbericht liegt abends vor Tisch in einem sehr kurz gefaßten Auszug handschriftlich als Depesche auf dem Tisch, der die Briefschaften aufweist und die Herren nehmen ihn meist schweigend zur Hand und legen ihn mit kurzer Bemerkung wieder beiseite. Das Vordringen der Engländer im Bogen von Wytschake schmerzte, das gestern gemeldete Schießen unserer Großflugzeuge (im Geschwader!) über London erfreute. Auffallend gut und reichlich ist das Essen und von den meisten Gästen wird, zumal in den ersten Tagen ihrer Ankunft, hiervon ein weitgehender Gebrauch gemacht. Ein alte, greise dürre und hakennäsige platte Jungfrau aus Hamburg, die wir die „Wanze“ nennen, stellt alle weitaus in den Schatten, sie vertilgt unglaubliche Mengen und erweckt, wie Bruhns zutreffend meint, die Vorstellung als ob bei ihr alles ohne weiteres wie durch eine Röhrenleitung ins bodenlose Innere der Erde verschwände. Die starke und ununterbrochene Sonne bräunt die bleichen Gesichter der Ankömmlinge oft schon nach wenigen Tagen und die herbe frische Luft mit ihren Reizwirkungen auf die Haut tut ein übriges dazu. – Allgemach erscheinen auch die Kinder Israels, bei Tisch von den christlich evangelischen Hausleuten hübsch beieinander gefaßt. Sie haben sich für den Tagesaufenthalt dicht beim Hause im Buchenwald angesiedelt, machen sich nicht störend bemerkbar und werden dort wohl nächstens Laubhütten bauen.
Die Abende sind unvergleichlich schön. Wir verbringen sie meist gemeinsam auf einer unserer Lauben, bequem auf die Liegestühle ausgestreckt und die erquickliche Abkühlung genießend. Vereinzelte Waldvögel, namentlich Waldamseln sorgen für leise Musik, die fernen Berge

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verschwinden im Abenddunst, hin und wieder glänzt noch ein warmer Sonnestrahl durch die Waldbäume ins Wiesental und läßt die warm angehauchten gelbbraunen  Zugochsen am letzten Heuwagen in einem sanften Gegensatz zu den im Abendschatten kühl grau schimmernden Weiden erscheinen. Bruhns erzählte von seiner estländischen Heimat, wir von unseren Kindern, und wenn es nach 10 Uhr zu dunkeln beginnt, so werden wir schläfrig, trennen uns mit Händedruck und verschlafen die kühle Nacht bei weitoffenem Fenster und Balkontüre, bis die warme Morgensonne uns schon in aller Frühe aus dem Bette zu einem kleinen Luft- und Sonnenbad herauslockt. ––
18.6.17. Der schöne gestrige Sonntag war uns ein wenig dadurch verdorben, daß sich im Auswurf etwas weniges Blut fand und ich Angst bekam, es würde sich eine Blutung erneuern. Wie wir heut früh einwandfrei feststellten, war es nur eine winzige Absonderung in der Nase, die ich auch bereit vorgestern gehabt und die sich heute wiederholte. Helene machte dann also gestern und heute – ich ging zur Vorsicht auch trotz besseren Wissens auch heute nicht mit – morgens je einen größeren Spaziergang mit. Gestern abend hatten wir eine prächtige Unterhaltung auf unserem Balkon, wozu Bruhns nicht nur eine Flasche Wein, sondern auch einige seiner Märchen zum besten gab, auf daß ich nicht allzu viel zum Sprechen sollte angeregt werden. Den seelischen Druck von gestern aber bin ich wieder völlig los und munter wie ein Fisch im Wasser. Helene aber versteht sich mit Frau Bruhns aufs beste; schade, daß sie übermorgen bereits abreisen werden. Das Heu wird jetzt auch unmittelbar unter dem Hause hier geerntet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß infolge irgendwelchen feinen Staubes von dem dürren Heu ich (und etliche andere hier) seit etlichen Tagen einen stets belegten Hals habe. In Berncastel sind es nachmittags 5 Uhr noch +32°C auf der Nordseite des Hauses und Mariannchen läuft nachts der Schweiß im heißen Schlafzimmer herunter. Frl. Hedwig aber sorgt gut für alle und Helene ist nach einem eben eingetroffenen Briefe sehr beruhigt.
19.6.17. Helene litt gestern abend an heftigem Kopfweh und legte sich nach kurzem gemeinsamen Spaziergang zu Bett. Ich saß noch mit Bruhns und Frau zusammen, wir schlürften ein köstliches Glas alten wundervollen roten Burgunders, den Frau Bruhns (gewiß noch aus alten Beständen der Weinhändlerfamilie Friedrichs) mitgebracht hatte. Bruhns erzählte höchst anschaulich einen Besuch als Knabe mit seiner jungen Mutter in deren Heimat (Wyk) im westlichen Teil von Estland auf dem Gut einer sterbenden alten Tante, das mit großem alten Park auf einer schmalen Landzunge mit flachem Sandstrand weit hinaus ins Meer liegt (Rennenkampfsches Gut) Ich ermahnte ihn, alle Eindrücke seiner reichen Kindheit in Estland in ein Buch zusammenzubringen und so weiten deutschen Volkskreisen die Möglichkeit eines Einblickes in das Leben der äußersten Vorposten deutscher Kultur zu verschaffen. Ich verspreche mir davon ein schnelleres Verständnis vieler Leute für das entlegene Estland als von allen Aufklärungsschriften historischen, wirtschaftlichen und volksgeschichtlichen Inhalts. Auf dem Spaziergang

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hatte er uns anschaulich Schilderungen von den begabten künstlerisch veranlagten und hier und da ein wenig exzentrischen Nachkommen der rheinischen Malerbrüder v. Kügelgen gegeben. Hier ist ein Vermerk in Stenografie eingefügt.
Sa  23. Juni 1917. Mittwoch nachmittag hatten wir um 3 Uhr bereits mit Bruhns’ens Kaffee getrunken, und nach herzlichem Abschied von den christlichen Haus- und Wirtsleuten Dümmeler, die ihnen noch verschiedene Butterbrote und eine Schachtel Reisemundvorrat mitgaben, marschierten Helene und ich mit ihnen bei glühender Mittagshitze durch Frankenheim und ein Stück auf der schattigen Lauballee auf Birx zu. Wir hatten angenehme Tage und schöne Abende miteinander verlebt und trennten uns nicht ohne Bewegung auf vielleicht lange Zeit. Sie waren keineswegs ohne Sorgen. Ihre Mieterin in Leysin ist anscheinend in nicht unbedeutenden Zahlungsschwierigkeiten, mit Mühe und Not ist unter erheblichen Abzügen für allerlei selbstherrliche Verwendungen der Mietzins bis Ende Juni eingegangen, zum 1. Okt. kündigte Bruhns und der für die Zeit bis dahin erfallende am 1. Juli fällige Zins erscheint gefährdet. Durch ein wirres höchst unglückliches Zusammentreffen allerlei widriger Umstände: Depeschensperre, Abwesenheit von Frl. Willichs von Leysin, leichtsinnige Schlamperei ihrer Vertreterin u.s.w. ist ein großer von Rußland nach dort überwiesener Geldbetrag fast an 2 Monate unauffindlich und erst durch Hülfe eines Berner Anwalts wieder ans Licht gebracht worden; diese Sache hatte Bruhns in äußerste finanzielle Verlegenheit gebracht und ihm manche Sorge verursacht. Hoffentlich löst sich demnächst auch diese Sache zur Zufriedenheit. Es war mir eine Genugtuung, ihm dabei mit kleineren Ratschlägen u.s.w. helfen zu können. Aus Gesundheitsrücksichten und zur Regelung der Hausvermietung werden sie nun im Winter wieder nach Leysin zu gehen trotz aller Paß- und sonstiger Schwierigkeiten. Leider sieht er sich dadurch um erhebliche Zeit – er glaubt mindestens Jahr – in seinen Plänen zurückgesetzt; denn da er in Würzburg mit Rücksicht auf einen seltsamen und etwas verbitterten Extraordinarius für Kunstgeschichte (Knapp), der nicht Ordinarius wird und ängstlich bemüht ist, keinen neben sich aufkommen zu lassen, wenig Aussicht auf gedeihliches Fortkommen hat, trotzdem die reichhaltige und noch keineswegs wissenschaftlich durchgearbeitete Sammlung des kunsthistorischen Instituts der dortigen Universität ihm ein dankbares Arbeitsfeld bietet und ihn mit dessen Vorsteher, dem Professor der Archäologie Bulle, eine nähere Freundschaft verbindet, so will er sich in Frankfurt an der neuen Universität habilitieren, gedenkt aber eine recht gründlich durchgearbeitete Habilitationsschrift zu liefern und hat Beziehungen zu dem ihm wohlwollenden Professor Kautsch dort angeknüpft. Auch hat er die Bearbeitung eines gewissen Abschnittes besonderer Denkmale in historischer Folge für ein in Berlin gesammeltes Generalarchiv übernommen, war im Winter auch zu diesem in Berlin und hat sich so ziemlich dazu verpflichtet. Hoffentlich gelingt es ihm, im Herbst trotz aller Schwierigkeiten im Reisen, Photographieren, Literaturbeschaffen u.s.w. sein Material so weit zu fördern, daß er im Winter auch in der ihm so unsympathischen Atmosphäre von Leysin daran weiter arbeiten kann. – Seine Frau war auf dem ostpreußischen Gute Davidshof ihres Bruders gewesen, dann in Berlin 1 oder 2 Tage bei Fritz Trendelenburg und seiner Frau geb. Schwartz – von Arosa her gut bekannt,

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die zwar einen kräftigen Kriegsbuben von ¾ Jahren hat, selbst aber leider ganz und gar erschöpft ist, und blieb zum Schlusse 5 Tage hier, „innert“ welcher Zeit sich Helene gut mit ihr verstehen lernte. –
Am Tage nach dem Abschied schlug das Wetter um, die Rückkehr vom Begleiten am 20. war uns fast unerträglich vor schwüler Hitze und unglaublich zudringlichen Insekten. Dann kam am Abend ferne Sicht, die Luft wurde feucht und klar und eben hatten die Leubacher alles Heu heimgefahren, unser Wirt dagegen das seine erst gerade gemäht bekommen, da brachte ein heftiger Weststurm über Nacht Regen und starke Abkühlung, so daß wir unserer mitgebrachten wärmeren Sachen ordentlich froh sind. Wir sahen nun sausende Wolkenmassen von Westen her über die kahlen weiten Höhen der Rhön herüberkommen, sich bald zu blendenden Gebilden zusammenballen und auftürmen, bald in der Ferne sich zu langen unten scharf abgegrenzten Wolkenbänken, eine stets hinter der anderen breit hinlagern, oft in herben und grellen Tönen sich färbend. In weiter Ferne tauchen hinter dem schatten- und sonnescheinüberjagten breiten Waldrücken des nördlichen Baiernzipfels stets neue ferne Berglinien Thüringens auf und jene nachdem ein breites Strahlenbündel durch die Wolkenlücken ein entferntes Tal mitunter in magischem Glanze von blaugrünen Tönen und farbigen Rändern aufleuchten läßt, sehen wir einen bis dahin unsichtbar gebliebenen Ort wie z. B. Henneberg mit seiner Burgruine oder das ferne Römhild am Fuß der hohen Gleichberge. Dazu braust der feuchte West ununterbrochen über die Höhen und läßt die starren Tannengehölze mit ihren Spitzen in feierlich schaukelnde Bewegung, die Zweige der Laubbäume mit dem seine helle Unterseite zeigenden Blattwerk in heftigem Hin- und Herwogen aufrauschen und peitscht seltsam verzerrte und gerissenen Wolkengebilde in eiligem Flug vor den schweren dunkeln und scheinbar unbeweglichen grau- und blaufarbenen Wolkenkulissen daher, in denen sich unschwer jede Erfindung der eigenen Phantasie so gut wie die Gestalten das alten wilden Heeres in stets wechselnden Gebilden erkennen lassen. (Ca 10 Wörter stenografiert) – Alle aber, Kurgäste wie Bauern und selbst der Wirt sind eines Herzens daüber, daß der durchdringende Regen höchst nötig war, sollte die Ernte nicht Gefahr laufen zu verdorren. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie selbst der städtische Sommerfrischler, dem es in Friedenszeit meist nur um heiteres und sonniges Wetter zu tun ist, ein inniges Verständnis für die landwirtschaftlich notwendigen Wettererscheinungen gewonnen hat, mit den Bauern im Heu um den Bestand des Sonnenscheins bis zum Einscheuern bangte und froh aufatmete bei dem rauschenden Regen, den die Kartoffeläcker mit vollen Zügen tranken und der in wenigen Tagen die bräunlichen Rasen der abgemähten Wiese zu frischem Ergrünen bringt. Sogar die Notwendigkeit des Windes für die Bestäubung der Roggenblüten auf den fernhin wogenden Getreidefeldern bleibt weder unbekannt noch unerörtert. Und wem verdankt der sonst nur so obenhin für die Natur „begeisterte“ Sommerfrischler diese Vertiefung seines Naturempfindens oder besser gesagt seiner Naturbetrachtung, die

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immerhin dem Landmann ein wenig näher zu bringen vermag? Wem anders als den – Engländern!!
25. Juni 17. Heute ist ein trüber regnerischer Tag, der uns aber gestattet, auf der Laube vor dem Zimmer zu liegen. Aus der vorstehenden Landschafts- und Wetterschilderung machte ich einen Artikel an die Kölnische Zeitung zurecht, der mit der Quittung für eine überwiesene Zahlung heute oder morgen abgehen soll. Wir haben jetzt einen regen Spazier- und Ausflugsverkehr mit unseren Zimmer- und Tischnachbarn, einer sehr anregenden älteren Dame (v. Eichel-Streiber aus Eisenach) und deren sehr sympathische junge Nichte Lotte Büsgen (aus Hannoversch Münden) wo der Vater Dozent an der Forstakademie ist. Mit der Nichte, die sich besonders an Helene angeschlossen hat, machten wir Sonntag nachmittag einen erquicklichen Ausflug zum „schwarzen Moor“, das im Glanz der Sonne, seinen blühenden Gräsern und den wehenden Wollgrasfähnchen – sie beginnen langsam zu zerflattern und bilden an allen möglichen anderen Blumenstengeln förmliche weite  Höschen – mit seinem kleinen Bestand an krüppeligen Birken einen sehr hübschen Anblick bot. Wir lagerten uns auf den mitgebrachten Mänteln unter einer kleinen Kiefer und ruhten eine Zeitlang im Blust der stark brennenden Sonne und unterhielten uns aufs beste. Es berührte ganz eigen, von Frl. B. in ihrer ruhigen und fast beschaulichen Sprache und Ausdrucksweise zu hören, wie sie auf der letzten größeren Gesellschaft in ihrem Vaterhause nur so gleichsam durch den Türspalt ein wenig hatte zusehen dürfen, und der Krieg ihr dann die Türe zu derartigen, von ihr natürlich sehr ersehnten Tanzvergnügungen mit rauher Hand zugeschlagen hatte. Nun ist sie inzwischen schon volle 3 Jahre älter geworden, ohne mit den wohlberechtigten Ansprüchen ihrer Mädchenjugend irgendwie auf die Kosten zu kommen. Unsere Mädels gerade in diesem Alter haben es wirklich nicht leicht, und wir trösteten denn auch nach Kräften mit Hinweis auf die Junggesellenmüdigkeit und mannhafte Reife der heimkehrenden, von denen sicher eine größere Zahl gegen früher in jüngeren Jahren zu Stellung und Brot kommen und nach den Feldzugsanstrengungen das Familienheim doppelt erstreben werden. Leider wird das sympathische Mädchen übermorgen mit seiner Tante bereits abreisen, zunächst nach Weimar, wo es, wie die Kleine ernsthaft zu erzählen wußte, besonders angenehm für ledige ältere Damen zu wohnen sei. Sie hätte sich das mit ihrer älteren (27j.) Schwester schon alles überlegt. Nun, wir hoffen, daß es damit nicht ernst zu werden braucht. – Die Tante interessiert sich sehr für Gartenblumen und Gemüsebau, verfügt augenscheinlich über einen recht großen Park und Garten mit Gewächshaus in Eisenach, kennt alles mögliche und ist ebenso unterhaltend wie angenehm. Schade, daß sie nicht wenigstens bis Samstag bleibt, wo Schwager Wilhelm Reitmeister (Reitmeister, Willi) erscheinen und neben neuer Abwechslung einen starken geistigen Geruch und Hauch aus der Munitionsherstellung mitbringen. – Uns gegenüber sitzt bei Tisch ein Ehepaar v.     aus . . . Der Mann ist Regierungspräsident und erledigt von hier aus zwischendurch Dienstreisen; ein Sohn, Offizier der Kameruner Schutztruppe, bei Buea (Bula?) gefangengenommen, sitzt in einem englischen Musterlager, wo

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es ihm verhältnismäßig recht gut geht. Es war mir aus seinem Munde recht erfreulich zu hören, daß er ganz von sich aus die Ansicht bekannte, daß uns mit Kurland allein ohne Livland und Estland nicht gedient sei. Zur Reichsregierung hatte auch er kein rechtes Vertrauen.
28. Juni 17. Ein schöner Sommertag heute, die Ferne wird wieder dunstig und die Luft bei auffrischendem Ostwind trockener. Unsere Zimmer- und Tischnachbarn fuhren heute vormittag ab, nachdem wir gestern nachmittag noch mit ihnen einen sehr unterhaltsamen und an herrlichen Natureindrücken reichen Spaziergang gemeinschaftlich zum schwarzen Moor und weiter zum Eisgraben gemacht hatten, wobei wir trotz des gegen alle Berechnung recht langen Weges und ausgiebiger Ruhepause noch rechtzeitig zu dem freilich etwas verspätet beginnenden Abendbrot kamen.
29.7.17. Eine Reihe unangenehmer Eindrücke möchte ich mir hier ein wenig von der Seele abschreiben: Der gegen den Reichskanzler geführte Kampf wegen Unentschiedenheit in der rücksichtslosen Anwendung vorzüglicher neuer Kampfmittel und wegen Unklarheit und Dämpfung unserer Kriegsziele, kurz wegen Unentschlossenheit und ewigem Zickzack in unserer Politik richtet sich zum guten Teil und leider allem Anschein nach nicht mit Unrecht gegen den Kaiser selbst, der als Urheber dieser, nach außen stets den Eindruck der Schwächlichkeit mahnenden Art gilt. Es ist wirklich tief bedauerlich, daß uns zur Stunde ein Bismarck oder sonst ein vollwertiges politisches Gegenstück gegen Hindenburg und Ludendorf fehlt. Letzter könnte vielleicht mal einen prächtigen Reichskanzler geben. Der seit einiger Zeit hier abgereiste General Kruska aus Cassel, ein amüsanter, etwas seniler aber im Gedächtnis noch frischer Herr mit sonst ganz vernünftigen Ansichten gab durch seine geradezu grotesk übertriebene streng orthodoxe (protest.) Frömmigkeit, die er keineswegs allein in stillen Gebeten vor den Mahlzeiten still für sich pflegte, sondern bei jeder Gelegenheit in einer oft lächerlich und albern anmutenden Form zum Besten gab, einen höchst bedauerlichen Abklatsch jener auch bei S. M. beliebten frömmelnden Richtung. Angeblich hat Kr., der ehedem ein Gefangenenlager befehligte, beim Ausbruch einer Typhusseuche dort statt rechtzeitig alle nötigen Maßregeln zu ergreifen, dies als eine Fügung und Schickung Gottes angesehen und so lange sich auf kräftiges Beten verlegt, bis bereits ein großes Sterben eingerissen (Maler Knackfuß soll als Landsturmmann dabei mit zu Grunde gegangen sein) und man ihn alsdann absträngte (?) – Mit dem Kaiser aber soll ein höherer Marineoffizier das Beten geradezu gewerbsmäßig betreiben, es läßt sich ausdenken, zu welch bedenklichen Erscheinungen derartige krankhafte Auswüchse führen müssen. Wie sagte doch jener witzige rheinische Geistliche?:
„Er Bure, he nötz dat Bedde nüs, he moß Möß dran!“
Frau Bruhns erzählte, daß in Königsberg zeitweise Unruhe wegen Nahrungsmittelmangel war; dergleichen wird noch an manchen Orten der Fall gewesen und noch sein. Auch ist es ausgeschlossen,
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daß die Revolutionsbewegung in Rußland, die doch nach allen Ländern ihre Wellen schlägt, gerade unsere Volksmassen, die schweres erdulden, sollte unberührt gelassen haben. Man wird gut tun, sich auch über unsere Verhältnisse im Inneren keiner Täuschung in der Weise hinzugeben, daß man durch die ewig einseitige Brille der Zeitungen stets gespannt auf die inneren Verhältnisse Rußlands, Englands und Frankreichs sieht. Hier, in unserem Kurhaus, giebt es reichlich, daß es tatsächlich ärgerlich wirkt, wenn manche sich zu Frühstück ect. noch privatim weitere Butter, Eier und Fleischauflage mitbringen. Es sind freilich durchweg widerliche Menschen, meist Juden, mit denen nur das mindere Volk verkehrt. – Die Ernährung aber ist vielerorts geradezu traurig und wird vermutlich nächstes Jahr noch schwieriger werden. Der Kölner Oberbürgermeister Wallraf, gewiß ein energischer und rühriger Mann, hat es trotz aller persönlicher Verwendungen und aller eingeheimster Versprechungen nicht vermeiden können, daß die Stadt Köln derzeit mit 300000 Zentner Kartoffellieferung (fest zugesagter!) im Rückstand ist, die sie vermutlich auch nie wird bekommen können. Von den so oft wiederholten Nachrichten über die bevorstehende und hereinbrechende russische Hungersnot in Rußland aber werden weder die Kölner noch andere Leute satter.
Gottlob arbeiten die U-boote jetzt wieder mit Volldampf. Es scheint wirklich hin und wieder fraglich zu werden, ob der Krieg den Winter überdauern wird. Ich selbst freilich glaube, daß er noch recht lange dauern wird, selbst schließlich als reiner Zweikampf zwischen England und Deutschland. – Ich lese jetzt Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. Wie weitet einem das den geistigen Horizont! Und welche überlegene Herrschaft der Sprache und des Gedankens! ––  Bruder Josef (Rech, Josef) ist jetzt in Bonn in Urlaub und erzählte: wer sich von Hause zur Front schicken läßt, bekommt keinen Urlaub. Was dagegen in der Heimat weggeholt wird, geht alles zur Front. – Es beginnt wieder heiß zu werden, das Wetter ist ja geradezu unglaublich schön, aber jeder wünscht weiteren Regen. Die erst jetzt hier oben gehäufelten Kartoffeläcker stehen sehr schön.
3. Juli 1917. Vorgestern morgen holten wir in dichtem, naßtriefendem Nebel Willi (Reitmeister, Willi) ab und trafen ihn etwa in der Mitte zwischen Frankenheim und Dirx auf der Landstraße. Er kam ganz fröhlich daher, wir zogen die Wettermäntel an und trabten miteinander ganz fröhlich heim, trotzdem wir kaum 30 m weit sehen konnten und Mantel und Gesichter sich alsbald voll silbern glänzender Wasserperlchen setzten. Von daheim wußte Willi mancherlei, meist wenig Erfreuliches zu erzählen. Die Eltern Reitmeister sind alt, unbehülflich und schwerfällig geworden, Papa (Reitmeister, Peter) glaubt sich immer noch mit eigenem Vorreden über die schlimme Not der Zeit hinwegzusetzen, behauptet, es gebe keinen tatsächlichen Mangel, solcher sei nur künstlich herbeigeführt u.s.w. Für sich verlangt er nach wie vor gehörig zu essen, Mama (Reitmeister, Helene) weiß ihn nicht satt zu bekommen, und meiner Mutter (Rech, Anna aria) geht es recht schlecht nach

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einer Influenza (Josef schreibt heute von Fieber, schlechtem Aussehen und höchst mangelhafter Ernährung, z. T. sicher alles Folgen davon, daß sie eine Zeitlang ohne Mädchen da saß.) Von Josef erzählt Willi eine ganz abenteuerliche indianerhafte Geschichte, wie er allein, mit einem als schwimmende Grasinsel maskierten kleinen Floß, Grasbüschel um den Kopf eine Flußreise unternommen, vermittels mitgebrachter Sprengmunition eine wichtige Brücke in die Luft fliegen ließ und in eiliger Flucht gerettet nur mit Schwimmhose bekleidet vom General empfangen und belobt worden sei. Statt des für ihn in Aussicht genommenen E.K.I.KL. habe er sich lieber einen 4wöchentlichen Urlaub erbeten, den er jetzt daheim, die letzte Woche bei seinem Schwager D. Probst in Gemünd verbringt. Ich beantwortete ihm heute einen Brief und gebe gerne meine Zustimmung dazu, daß er sein Büro in mein altes Zimmer im elterlichen Hause verlegt. – Gestern hatten wir nun den ganzen Tag bei frischem Ostwind einen dicken wolkenartigen Nebel, der unablässig nach Westen über die Hochflächen dahergetrieben wurde. Morgens gab es noch mancherlei zu erzählen, unser Zimmer war durch die weiten Tür- und Fensteröffnungen nach draußen kühl und ungemütlich, auf Willi’s Erkerbude hingegen war es recht angenehm und wir saßen dort, plauderten und schrieben nachcher, als Willy trotz Nebel und Nässe spazieren ging. Nachmittags marschierten wir dann nach dem Kaffee aufs schwarze Moor, begegneten unterwegs erst einer großen Rinder- und Ziegenheerde, die sich in dem hin- und herwallenden Nebel malerisch genug zwischen den blauleuchtenden felsigen Basaltbrocken auf der öden grünen Weidefläche ausnahm, später auch einer großen Schafheerde, die von fern unter der sich bald etwas hebenden, bald wieder bis zum Erdboden sich senkenden Nebel- und Wolkendecke in silbrigem Lichte mit ihren kurzgeschorenen Vließen sichtbar wurde. Nachdem wir erst ein wenig am Moor vorbeigelaufen waren, entdeckten wir bei gelegentlicher Lüpfung der Nebeldecke seine Krüppelbirken und steuerten quer über die saueren Wiesen und das Bruchland darauf zu. Hier und da waren Flecke darauf hinweggemäht, vermutlich um als Streu zu dienen, dicht dabei lagen hohe Moospolster, auf denen man tief einsank und nur schwankend und unsicher gehen konnte. Mit den ringsum sich stets bewegenden Nebelmassen bot das Ganze mit den krüppeligen Birken und etlichen ganz und gar verknorrten Baumleichen im Vordergrund, der weiten dunklen, von spärlichen Heidebüschen und weiten Moospolstern besetzten Fläche und dem höchst knüppelhaften Kleingehölze ringsum, wo sich Erde und Wolken berührten, einen seltsam traurigen und düsteren Anblick, der doch einer gewissen Heimlichkeit nicht entbehrte. Das Gefühl der letzteren ging uns eine kurze Zeitlang ganz verloren, als wir auf dem Heimweg von der Pfahlreihe an dem recht unbestimmten Wege abwichen, auf scheinbar unendliche, rings von Nebel umwallte Weidefläche gerieten und schließlich nicht mehr Weg noch Steg fanden. Vermittels unserer Ohren fanden wir uns zu jener Schafheerde, entdeckten auch endlich nach langem Suchen deren Hirten, der uns die Richtung

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zum Weg wies und fanden diesen auch, nicht ohne daß wir durch ein recht nasses hochpolsteriges und wüstes Stück wildverwachsener Weide hatten hindurchstapfen müssen.  Zu Hause konnten wir uns vor Tisch noch etwas ruhen, erfuhren aus dem Tagesberichtauszug, daß in Galizien 16 russische Divisionen angegriffen haben, daß ihr Angriff aber von deutschen und türkischen Truppen (wo bleiben die Österreicher?) in der Riegelstellung (nachdem als die vorderste Stellung verloren war) aufgefangen und abgeschlagen wurde. Nach Tisch saßen wir bei wunderbarem Abendsonnenschein auf unserer Laube vor dem Zimmer und Willi erzählte allerlei aus seinem Fabrikbetriebe. Aus seinen früheren Schilderungen war mir schon eine jugendliche Kranführerin aufgefallen und ich hatte mich gestern nachmittag entschlossen, sie zu einem Aufsatz zu verarbeiten. Heute morgen wurde er sofort in Reinschrift angefertigt und nach Willi’s sachkundigen Angaben überprüft und heute mittag bereits zur Post an die Kölnische Zeitung aufgegeben. Hoffentlich kann sie ihn für ihre neue Überschrift „Die Frau in Staat, Beruf und Haushalt“ gebrauchen. Willi und Helene fanden ihn gut. – Heute ist ein Tag voll strahlender Sonne und hellleuchtender Wolken. Eine Menge Briefschaften wurden erledigt, und nach Kaffee soll es zum Ellenbogen gehen. Etwa 2 ½ kg habe ich hier schon zugenommen.

Eingeklebter Zeitungsausschnitt über Plünderung von Lebensmittelläden in Düsseldorf und „Kartoffelkrieg in Köln“.

Frankenheim, Rhöngebirge, Sonntag 8. Juli 1917. Der erste kräftige und durchdringende Regen ohne Gewitter. Er tut sehr not hier. Denn so schön Kartoffeln und Roggen auf der dürftigen Flur hier stehen, der Hafer ist geradezu kümmerlich und fast ohne Halm und die neuerdings in Ähren gehende Gerste kann den Regen auch sehr vertragen. Alles lechzte darnach. In Galizien tobt wieder ein fürchterlicher Kampf. Die Russen haben dort eine rücksichtslose Offensive begonnen und eine schwere blutige Niederlage erlitten. Unsere großen Flugzeuge haben, nachdem sie kürzlich in London so ungeheure Verwüstungen angerichtet haben, neuerdings Harwich mit großem Erfolg beworfen. Sie müssen ungewöhnlich leistungsfähig sein, können riesige Lasten, auch bis zu 16 Mann mitnehmen, fast 8000 m hoch (mit Sauerstoffatmung) fliegen und die Strecke von Dover bis Calais oder noch weiter ohne Motor zurücklegen. Es scheint, daß die Engländer vorab

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noch hilflos gegenüber dieser neuen Waffe sind, das Wutgeschrei nach Vergeltungen beweist es am besten. In China gehen merkwürdige Dinge vor, der militärisch kräftige und energische Norden scheint wieder die Führung in die Hand genommen zu haben. Auch ist das Kaisertum anscheinend wiederhergestellt. Alles zum großen Verdruß unserer Gegner, zumal der Engländer, deren Truppen in Tientsin den chinesischen bereits in bedrohlicher Nähe gegenüberstehen. – Wenn Bruder Josef in einem Brief an mich in den letzten Tagen meint, der Krieg werde gegen Oktober zu Ende gehen, so scheint mir vielmehr alles darauf hin zu deuten, daß es noch einen weiteren und zwar recht harten Kriegswinter geben wird. Selbst die fast verzweifelnden Franzosen scheinen sich mit diesem Gedanken abzufinden wenigstens zu beginnen. In Österreich sieht es toll aus, Polen, Tschechen und alles Sklavengesindel hat die Oberhand und der anscheinend völlig versklavte junge Kaiser begnadigt das gesamte Verräterpack. Dabei versucht man, getreu der alten österreichischen Politik, mit diplomatischer Gerissenheit, auf unsere Kosten Frieden mit Rußland zu machen. Hindenburg und Ludendorf waren jüngst in Wien und jetzt kommt unser Kaiser dahin. Diese und der Russenangriff in Galizien wird sie wohl wieder ein wenig an die Kandare nehmen. – Bruder Johannes (Rech, Johannes) sitzt ohne Mädchen in Halle und nach einer Karte meiner Mutter dort recht im Schlamassel. Dabei sind die beiden Kinder noch zur Zeit in Düsseldorf. Den Ernst des Lebens mit 2 Kinder-Haushalt in diesen Zeiten wird ihm gründlich zu Gemüt geführt und die alte Redensart wertlos werden: „Ich werde wohl nicht dazu kommen können“. Mutter Rech (Rech, Anna Maria) aber kann sich nur schwer und langsam von ihrer Krankheit erholen.

Eingeklebter Zeitungsausschnitt: Der U-Boot-Krieg im Juni.
11. Juli 1917. Helene ist nun schon längst zu Hause. Willi desgleichen. Aus seinen Äußerungen muß ich mir noch einiges notieren: Die Wamba (Waffen- und Munitions-Beschaffungsamt) verfügt ohne jede Rücksicht über die Rohmaterialien auch der Königlichen Geschoßfabrik. Um sich nun für alle möglichen Defekte an Lagern von „Sparmetallen“ u.s.w. das nötige Messing ect. zu sichern, haben sie auch dort im Wege allerwärts betriebener Selbsthilfe kräftig gehamstert und sich dergleichen beiseite geschafft. Unter einem großen Kalklager liegt eine bedeutende Menge hochgehaltigen Manganeisens verborgen und „die Wamba kann kommen und revidieren!“ Ja, gegen die Auswüchse der überorganisierenden Zentralisierung muß man sich zu helfen wissen! In Berlin wird jetzt „innere Krisis“ gemacht und Erzberger, der Hansdampf in allen Gassen, hat eine „Bombe“ geworfen. Es soll auf Demokratisierung gehen. Viel Gestank

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und vermutlich wenig Wolle. Schließlich giebts ein „Reichskoalitionsministerium!“ Ob wir es wirklich unbedingt nötig haben, das den anderen nachzumachen? Freund Bruhns hat wohl mit Recht nicht viel Vertrauen zu dem was da allerhand Köche in der Reichsküche sich zusammenkochen werden. –
Meine Mutter schreibt leider etwas traurig, sie ist wieder nicht gut und leidet anscheinend auch wirklichen Mangel. Davon spürt man hier nichts.
13. Juli 1915 (muß 1917 heißen). Also allgemeines Wahlrecht in Preußen! (Zeitungsaus-schnitt mit „königlichem Erlaß“ vom 11.7.1917 eingeklebt) Endlich einmal ein Blitz- und Donnerschlag aus dem innerpolitischen Gewitter in Berlin. Aber ist das alles? Und genügt es, um dem Reich eine feste Führung zu geben???
15. Juli 1915 (muß 1917 heißen). Habeamus papam, hallelujah!?? Beim Frühstück hieß es, v. Bethmann Hollweg sei abgegangen und Michaelis, angeblich ein Mann mit festem Willen, klaren Zielen rückhaltloser Willenskraft u.s.w. sei an seine Stelle getreten. –– ? –– Was war Bethmann? Der ewig Langweilige? Der Schädling? oder doch vielleicht unter der Maske des absoluten Biedermannes ein ganz gerissener? Wann und wie wird man aus diesem Manne einmal klug werden, der mir trotz und alledem so deutsch vorkommen will. Und die Preußischen Minister? v. Schorlemer, der schon lange mit Michaelis, dem „preußischen Batocki“ rang? werden wir ihn nächstens daheim haben? Was will das alles bedeuten gegen das eine: England, das wir anscheinend fest an der Kehle gepackt haben, jetzt nur nicht loszulassen! Onkel Gustav (Forstmann, Gustav) schrieb, daß Walter (Forstmann, Walter) (im Mittelmeer) auf seiner letzten Ausfahrt wieder 32500 t versenkt hat und bald wieder in See geht. In einem halben Jahre müssen die Engländer mit ihrem Latein am Ende sein. Und nun dieser Reichsspektakel in Berlin, „dat Jehirn von Deutschland“; man möchte fast eher glauben, das sei jetzt der kranke Darm des deutschen Reichskörpers. Nun, auch das werden wir überstehen und wer weiß, zu was Gutem es schließlich noch führen mag. Wir leben in einer großen Zeit und erleben vielerlei häßliche Kleinigkeiten. Die Berliner Blätter sind ganz aus dem Häuschen geraten und manche fast tollhausmäßig. – Hier weht starker West und obs was mit dem Feldgottesdienst heute wird, ist mir fraglich. Will aber doch versuchen, mal hinzugehen. –
16. Juli 17. Der Feldgottesdienst gestern war würdig und erhebend. Ich war gegen den heftigen Westwind hart ankämpfend bis zum Dorf vorgedrungen mit dem Entschluß, wieder umzukehren, da mir der Wind zu stark schien. Dort aber traf ich unter mancherlei Sommergästen auch Herrn Neumann, wir kamen ins Gespräch, ließen die Jugendwehren von Frankenheim, Birx und Oberweid vorbeimarschieren, dazu den stark zusammengeschmolzenen Kriegerverein, dessen stattliche wehende Fahne auf der linken Seite die Landesfarben (schwarz gelb grün), auf der rechten

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die Reichsfarben zeigte. Kinder und Jungfrauen, auch Männer und Frauen marschierten im Gliede hinterdrein und es kam wie von selbst, daß ich mich den in formlosen Haufen nachtrottenden Sommergästen anschloß, wiewohl der ununterbrochene heftige West eine Unterhaltung nicht gestattete. Die Luft war weich, warm und durchsichtig und die klar in leuchtenden blaugrünen Tönen zu sehenden Rhönberge schienen in dem heftigen Winde, wie durch eine bebende Glaswand gesehen, zu zittern und zu schüttern. Etwa ein Drittel des Weges nach Birx ging es links ab auf einen Feldweg, nach dem von unserem Gasthaus zum Moor führenden Weg zu. Dort formte sich der Zug, der oft den Anblick einer Prozession gewährte und sich namentlich recht malerisch ausnahm, als er sich auf dem Feldweg zwischen Hafer- und Roggenfeldern auf der einen und langen Gebüschhecken auf der anderen Seite hinzog, zu einem Viereck. Ein Bläserchor unterstützte die Gemeinde beim Gesang, den der Lehrer Schneider im Gehrock mit einem riesig ausladenden breitkrämpigen schwarzen Filz anstimmte, dann folgte die Liturgie, bei der der gedrungene bärtige Pfarrer in Schaube und Barett auf einer niedrigen mit Tannenzweigen geschmückten Kanzel stand, deutsche Responsorien mit gleichem Text wie beim katholischen Gottesdienst, bei denen die Gemeinde die Antworten singend gab. Dem Evangelium: Christi Predigt am See, vom Kahne Simons aus. Predigt kurz und bündig: Gottes Segen in Feld und Flur, Kartoffel- und Kornäcker . . . Wir sahen Birx und Frankenheim von jenem Fleck aus. Die Gestalt des gestikulierenden Pfarrers, dessen gewaltige Stimme auch gegen den unablässig herstoßenden Westwind drang, – ich stand mit dem Rücken in Luv, den flatternden Mantel um die Schultern gehängt – hob sich gegen den leuchtenden Himmel und dicke weißschimmernde Wolkenballen prächtig ab. Auf meiner Seite zu standen außer den Jugendwehrführern ein älterer General mit einem jüngeren Offizier in Uniform, die älteren Bauernfrauen hatten sich auf eine Steinumwehrung der Wiese gesetzt, das ganze war ein sehr ansprechendes Bild und bewegte mich heftig, denn der Gedanke an die draußen Kämpfenden und die Reichserschütterung in Berlin kam wohl jedem nicht aus dem Sinn. Nach dem Gottesdienst begann eine Felddienstübung, zu der die Jugendwehren abmarschierten, voran den Pfarrer, der – seines Ornats entledigt – jetzt mit mächtigen Schritten den Anführer machte. Auf einer weiter abwärts gelegenen Wiese erfolgte Neuaufstellung, ich war nach kurzem Gespräch mit dem Lehrer Schneider im großen Heckerhut, weitergegangen und hörte von fern noch, wie unter Tusch und Trommelwirbel ein dreifaches Hurrah auf Kaiser und Großherzog zugleich ausgebracht wurde. Ich hatte die Zeit gar nicht beachtet und gelangte eben im Hause an, als alles in den Eßsaal strömte.
Ich hatte unterwegs einige Proben von den Früchten des Traubenhollunders mit korallenroten Beeren abgebrochen, Sambucus racemosa, die nach einem Zeitungsausschnitt nicht nur Fruchtgelee, sondern auch Öl! geben sollen. Nachmittags fand ich noch schönere an den Waldrändern auf der rechten Seite unseres Wiesentals. Dort gab es auch viele große Haselnüsse und Hagebutten, beide aber noch nicht reif. Ein Postpaket schicke ich mal jedenfalls heim davon. ––

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25. Juli 1917. Nun haben wir wieder einen großen Durchbruch im Osten erreicht. Heute sind unsere siegreichen Truppen wohl schon über Tarnopol heraus und die ganze Ostfront wird lebendig. Ob es noch mal einen Vormarsch giebt wie 1915? Dann hoffentlich im Norden bis Petersburg. Den Engländern muß der steigende Schiffsverlust wenn auch langsam aber sicher den Hals zuziehen. Freilich liegen noch schwere Zeiten vor uns. Z. Zt. scheint allenthalben Ruhr aufzutreten, wenn auch in leichten Formen. An der Kost allein kann es nicht liegen, denn hieran fehlts uns hier auf der Hohen Rhön keineswegs und doch ist auch Darmerkrankung allgemein. Ich selbst hatte es fast 8 Tage und bin’s jetzt wieder glücklich los. 1½ Flaschen Rotwein haben mit vorsichtiger Diät und Leibbinde geholfen. Willi (Reitmeister, Willi) freilich hat keine Kartoffeln und er wird zwar welche von hier bekommen, aber vielleicht erst in 14 Tagen. ||  Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ist sehr ehrend im Marinebericht (Zeitungsausschnitt eingeklebt) erwähnt. Er wirkt im Mittelmeer wie ein gefährlicher Riesenhai. Hoffentlich hat er weiter Glück wie bisher und entgeht allen Nachstellungen und Fallstricken. In Rußland geschehen bunte Dinge. Wie lange mag es dort noch dauern bis zur Diktatur und Frieden? –
27. Juli 17. Ein auffälliges Zusammentreffen: Vor einiger Zeit bringe ich den langgehegten Plan, Collegen Hindersin in Castellaun anzufragen, zum Entschlusse und erkundige mich nach seiner Feldadresse. Diese Anfrage ist eben weg, da fällt mir beim Beerentrocknen eine Nummer der Kölnischen Zeitung in die Hand, in der ich eine vordem übersehene Todesanzeige seines Schwiegervaters Fritz Feuerhake in M-Gladbach lese und bald darauf bekomme ich seine Adresse und ein bereits fertig gestellter Brief an ihn geht ab. Zugleich höre ich, daß Mitschüler Trautmann Simmern und Castellaun z. Zt. als Richter versieht. Ich schreibe auch an ihn wegen meines Planes, dort eventuell während des Krieges Richterdienst zu tun und das gute Klima zugleich zur Kur zu benutzen. Gleich darauf erhalte ich von Wilhelm Langewiesche Brandt eine liebenswürdige Antwort auf mein Schreiben über Eindrücke seines Buches „Jugend und Heimat, Erinnerungen eines 50jährigen“. In diesem Antwortschreiben entpuppt er sich als Hindersins Schwager, der dessen Frau noch vorigen Oktober in Castellaun besuchte und der von ihm jetzt, da H. größeren Heimaturlaub antritt, Ergänzung seines Weinkellers erhofft. – Das müßte eigentlich nach verschiedenen Seiten zu schönsten Hoffnungen Veranlassung geben. Ich schickte heute den Brief an Helene und bat sie, durch Frau Liell (eventuell auch durch Herrn Leistner) an Langewiesche guten Wein anbieten zu lassen. – Auf Kuntz Ersuchen erkundigte ich mich gestern in Leubach nach Bienenvölkern und Schwärmen. Dort war weder etwas zu machen noch bekannt, wo solches möglich wäre. Es ist ein reiches Honigjahr, doch gab es keine Schwärme.
2. August 1917. Nun liege ich seit 5 Tagen wieder ruhig zu Bett, nachdem mich am Samstag wieder eine kurze Blutung morgens nach dem Waschen überraschte, die 6te und hoffentlich letzte für dieses Jahr. Dümmler namentlich der alte sorgte geradezu rührend für mich. Ein hier zur Kur weilender Sanitätsrat besuchte mich 2 x und Montag mittag war Helene wieder hier. Nach schwül-heißen Tagen haben wir nun Regen, der sehr ersehnt. Es ist bei mir nichts nachgekommen und so werde ich bald wieder
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auf sein. Helene hatte sehr anstrengende Einmachswochen zu Hause hinter sich, ist aber frisch und wohlauf. Änne (Frau Dr. Ludwigs geb. Rittershaus) ist daheim bei Frl. und Kindern, die sehr an ihr hängen. Ich fühle mich ausgezeichnet, nur die Flüssigkeitsbeschränkung erzeugt mir wieder allerhand Durstphantasien. Im Codeinrausch erlebte ich angenehme Träume und zimmere daraus eine lange Märchengeschichte für Herta zusammen. Des Grafen Dohna Buch über seine 2. Möwenausfahrt las ich gestern ganz begeistert in einem Zug durch. Solange wir solche Leute haben, werden wir unsere Seestellung nicht verlieren. In Wolfgang Mangel’s Geschichte der Deutschen lese ich mit viel Vergnügen, derzeit im letzten Bande, der recht traurig nach den Tagen von Olmütz aber mit sichererm Gottvertrauen auf die Zukunft schließt. In den 60 Jahrern seither ist freilich etwas geschehen, was damals keiner ahnen konnte und selbst heute vermögen wir uns doch nur ein sehr schwaches Bild von den künftigen Möglichkeiten zu machen. Bruhns (Bruhns, Leo) sandte eine Flugschrift über den Ubootkrieg, in der es zum Schluß heißt, daß die heute gebauten Boote um die Erde fahren können. Damit werden wir England – nur hierauf kommt es an –niederzwingen und dauernde Seegeltung behalten. Es kommen schon seltsame Stimmen aus Japan. Es wäre in der Tat eine mögliche Kombination. Wir - Rußland - Japan gegen Amerika - England. Wer weiß, was die Zeit noch bringt. Während unsere Truppen den Österreichern Galizien und jetzt auch wohl schon die Bukowina säubern – die Rumänen dürften in Kurzem bös ins Gedränge kommen – nagelt der Reichskanzler die Franzosen öffentlich auf ihre Rheineroberungsziele fest. Kommt die ganze russische Front abermals ins Wanken wie 1915, so dürfte Rußland mit diesem Jahre entgültig erledigt sein. In Flandern findet die größte bisher bekannte Artillerieschlacht statt und z. Zt. eben wohl ein mörderischer Infanteriekampf. Es ist betrüblich, das alles vom Bett aus erleben zu müssen. –
8. August 1917. Seit etlichen Tagen bin ich die längste Zeit des Tages wieder außer Bett, hüte aber das Zimmer und mache bei Windstille Liegekur draußen auf der Laube. Ich habe nur mit Hustenreiz zu tun, gegen den ich fleißig Codein nehme. Der Auswurf ist ohne jede koloristische Färbung und der körperliche Zustand sehr gut. Ich beschäftige mich mit Lesen, Schreiben, Phantasieren, Fidibusfabrikation und ähnlichem und habe nicht die geringste Langeweile. Vermisse höchstens ein Sopha. Helene, die ab und an etwas ausgeht und nun schon über 1 Woche hier ist, ist insofern übel dran, als ihr Koffer nicht mitkam und alle Nachfragen und Forschungen bis heute noch ergebnislos geblieben sind. Das könnte noch eine hübsche Schadensforderung werden. Leider hat ihr Änne von Bernkastel aus nicht alle die verlangten Stücke im Postpaket abgehen lassen, so daß da allerlei Mangel herrscht. Herta ist derzeit in Hersel zur großen Freude der Großmutter. Willy (Reitmeister, Willi)

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nahm sie Sonntag auf der Rückfahrt aus dem Saargebiet in Wengerohr mit, war mittags mit ihr bei meiner und nachmittags in Hersel bei seiner Mutter. In Bernkastel macht das emsige Frl. Hedwig nun Bohnen ein. Ich hoffe, geht es weiter so gut mit mir, heute in 8 Tagen etwa mit dem Dampfer nach Bonn (von Coblenz zu schwimmen. Hoffentlich ist die Kofferfrage bis dahin gelöst. – Wir lesen mit „Belang“ ein populärphilosophisches Schriftlichen des Schulmanns Mathias darüber, „wie wir Kinder des Glücks werden“. Ich glaube trotz allen Pechs, Krankheit und Ungemach sind wir immer noch echte Kinder des Glücks. Nächstens giebt es sogar noch eine neue Kriegsgehaltszulage.
Hersel, den 16. September 1917. Ein herrlicher warmer Spätsommertag. Leider sieht es hier schlimm aus. Mutter Reitmeister(Reitmeister, Helene), die Mitte der Woche Herta (Rech, Herta) nach Bernkastel zu bringen gedachte und sich hierauf innig freute – dort ist die kleine Marianne von einem schweren und langwierigen Darmkatarrh glücklich endlich wieder auf dem Wege der Besserung – ist Samstag nacht plötzlich stark an Ruhr erkrankt und liegt mit heftigen Beschwerden und völlig matt im Bett. Sie hat ihre alte Krankenschwester wieder, auch für Arzt sorgte ich gestern. Mit Papa (Reitmeister, Peter) sind wieder die bei ihm üblichen Schwierigkeiten. – Seit einer Woche mache ich die in der inneren Klinik in Bonn in der 2. Hälfte des August unter Prof. Dr. Gerhartz’s Aufsicht begonnene Bestrahlungskur mit 2 elektrischen Bogenlampen mittels ein Paar aus dem Beueler Krankenhaus geholten Lampen, die Willi (Reitmeister, Willi) s. Zt. dorthin gegeben hatte, bei meiner Mutter zu Hause. Anscheinend beginnt diese Kur, die die Haut schon stark angebräunt hat, auch an der Lungenspitze selbst günstig zu wirken, wie ich aus der Veränderung des Sputum entnehmen zu können glaube. Freilich werde ich daheim mit der gleichen Anlage noch geraume Zeit weiter arbeiten müssen, um zu einem dauernden Ergebnis zu kommen. Meiner Mutter (Rech, Anna Maria) geht es, seit ich bei ihr wohne, ganz augenscheinlich besser. Meine allerorts betriebene Jagd auf Lebensmittel scheint von günstigem Einfluß zu sein. Herta hat sich in 6 - 7 Wochen in Hersel geradezu prächtig gemacht. Wir müssen sehen, wie wir sie diese Woche wieder heim bekommen. Vielleicht holt Helene sie am besten hier ab und sieht bei der Gelegenheit einmal nach ihrer Mutter. Ich lebe jetzt, wie auch die letzte und manche andere Zeit in Frankenheim ein halbes Traumleben. Während ich auf der einen Seite mit festen Füßen in den mich umgebenden tatsächlichen Verhältnissen stehe, als erstes stets die regelmäßige Bestrahlungskur im Auge habe, bald für dieses, bald für jenes in Bonn oder Hersel sorge, in Bonn eifrig Apfelschnitzel an der Sonne trockne, Herta bald nach Bonn, bald nach Hersel bringe und mir die Tage so schnell dahin schwinden, als ob ich wer weiß was alles zu tun hätte, lebe ich auf der anderen Seite wie ein Nachtwandler in einer sicheren, fast gespenstisch gleichgültigen Stimmung, die mir alle Dinge auf einen gewisse Entfernung von mir abzuhalten und gleichsam durch eine klare dicke Glasscheibe zu trennen scheint, so daß ich selbst innerlich fast unbekümmert durch alle Schönheit der Landschaft, des Wetters, der Familie nicht minder auch durch alle Sorgen, Krankheiten und Mühen des Alltags hindurchschreite. Der Kopf ist mir völlig eingenommen von Büchern, die ich seit einiger Zeit mit einer knabenhaft unersättlichen Gier verschlinge. Das wogt und webt mir alles durcheinander, Schillings afrikanische Jagden, Bartsch’s süße und klingende Romandichtung, des Deutschböhmen Hans Watzlitz prächtiger Phönix, erotisch schillernde, seltsam an- und aufregende Schriften des Dänen Jensen u.s.w. Alles das liefert die Benutzung eines von Willi (Reitmeister, Willi) s. Zt. nach Elsbeths Tod unterbrochenen Leseabonnements bei der Buchhandlung Röhrscheidt in Bonn in endlosem Strom. Außer regelmäßigen Karten und Briefen an Helene schreibe ich nur etliche Tagebuchnotizen, mein Rechnungsbüchelchen und etliche Briefe an die Kriegsbeschädigtenfürsorge daheim. Alles übrige fließt in einem flimmernden hellen und strahlenden Sonnenlicht
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in seltsam verträumter Stimmung zusammen, die auch nachts mit in Schlaf und Traum hinübergeht und mich wie ein sanft fließendes Wasser leise schaukelnd ins Weite trägt. Eine beschauliche Besinnlichikeit geht mir zur Zeit völlig ab und ich komme daher nicht dazu, irgend etwas vernünftiges zu schreiben. – Es ist ein schwer goldener Sommertag mit warmer Luft und tiefen funkelnden Farben, alles überflossen von flüssigem Gold. Am Ufer unten spielen die Mädchen Ringelreigen, Herta unter ihnen. Die arme Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) aber liegt nebenan und stöhnt leise wohl nur bei halbem Bewußtsein. Die Schwester ist still und dauernd um sie bemüht. Schließlich habe ich mich entschlossen, doch bis zum Abendessen.
Bonn, 1. Oktober 1917. Vor 14 Tagen fiel Mutter Rr. (Reitmeister, Helene), deren Körper durch allzu große Arbeitslast erschöpft war, an schwerer Dysenterie zusammen. Ich ging am anderen Tage sofort dorthin, besorgte Arzt und Schwester, die beide noch am gleichen Tage kamen und nach etlichen Tagen schweren Fiebers ging es besser, dann kam Helene, um Herta dort abzuholen; Herta erkrankte – Mariannchen war daheim mittlerweile wieder auf die Beinchen gekommen, prompt an heftigem Magenkatarrh, der die Abreise mit ihr eine Woche hinausschob und noch ehe sie wegwaren, hatte ich – wir hatten schon lachend geraten, wer der nächste in der unvermeidlichen Reihe sein würde – schon zwei Tage einer kleinen Blutung hinter mir, die mich knapp 8 Tage ans Bett band, von Prof. Gerhartz für fast unbeachtlich gehalten und doch die Ursache wurde, daß ich heute noch hier bin, statt daheim im Dienst zu sein. Die Bestrahlungen habe ich gerade 1 Woche ausgesetzt und gestern aber wieder begonnen und mit meiner Mutter in der leuchtend goldenen Herbstsonne einen fast einstündigen Spaziergang gemacht. Immerhin geben die Tage der Bettruhe eine nicht unwillkommene Rast und Gelegenheit, der tausendfachen Eindrücke in der lieben und jetzt so sonnig durchschienenen Heimat in aller Gemächlichkeit Herr zu werden. Eine kurze Erinnerung an Bernkastel wurde als ein kleiner Zeitungsartikel unter „Gestern und heute in einem Weinort“ wie eine eruptive Steinkugel heraus- und gleich in die Redaktionsstube geschleudert, dann begann ein langes Träumen und Denken im Halbschlaf bei gänzlicher körperlicher Unbeweglichkeit. Merkwürdigerweise fehlte ganz die Lust dazu, das aufzuzeichnen, was ich fertig im Kopf hatte und so versuche ich jetzt, es nachträglich ein wenig zusammenzustoppeln.
Nachmittags liegt ein breiter bunter Sonnenschein auf den langsam sich färbenden Laubmassen der behaglichen Kastanienbäume draußen. Von Zeit zu Zeit ist die milde weiche Herbstluft ganz erfüllt vom Lärm der Kinder, die eifrig hinter den herabfallenden Kastanien her sind und sich mit viel Geschrei und großer Wichtigkeit  bemühen, den Wind durch Stöcke und Steine im Hinabwerfen der Früchte zu unterstützen, dazu klappern unausgesetzt die hölzernen Schuhsohlen auf dem Pflaster der großen flachen Zementschienen. Schon seit Jahren – auch vor dem Kriege – suchten sich kleine Straßenjungen mit dem Aufsammeln der Kastanien einen kleinen Verdienst zu verschaffen: Damals wurden diese nur als Futter für Freiwild verwendet, heute weiß jeder, daß er davon Waschlauge und Stärke selbst machen kann; wie alles, so ist auch ihr Wert gestiegen, so daß der Einsammler schon 5 Pf für ½ kg erhält.
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Selbst ältere Herren und Damen lassen kaum eine der glänzenden Früchte liegen, die mit der leuchtend braunen Schale und dem zarten weißen Schimmer an der matt bräunlichen Herzstelle gar zu verlockend aussehen. Ein jeder bückt sich im Vorübergehen, hebt sie auf und steckt sie zu sich. Ab und zu vertobt sich der Kinderlärm, dann liegt die Straße still und schweigend da. Ferne höre ich das leise Schnurren der elektrischen Straßenbahnwagen, ein Zug rollt am fernen Straßenende voll singender Soldaten nach Flandern zu der großen Engländerschlacht. Erst leiser dann stets stärker, schließlich schlagartig ganz laut brodelt hoch oben ein Flieger durch die Luft, ein leiser Windhauch wirbelt die Blätter mit dürrem Rascheln umher. Der Flieger ist nicht mehr zu hören. Nachts ist es so still, daß ich vor lauter Stille erwache. Sonst pflegte in etlichen benachbarten Studentenhäusern der Lärm fast nie oder erst gegen den frühen Morgen zur Ruhe zu kommen. Aus einer großen Pension voller Studenten nebenan dringt bei Tag und Nacht kaum ein Laut herüber. Sonst durchbrauste um Mitternacht der Orientexpreß mit eisernem Gebrüll die Mitternachtsstunde, jetzt rollt kaum ein Güterzug durch die schweigsame Nacht. Eine reife Kastanie löst sich los, knistert durch Gelaub hinab und platzt mit leisem Knall auf dem Boden auseinander, wobei die elastische Kugelfrucht noch einige Sprünge über die harten Steinplatten macht, dann ist alles wieder so still, daß mein halbwaches Ohr nichts mehr zu ergreifen vermag, an dem ich wieder in den Schlaf hinübergleiten könnte. Ich sinne und die Gedanken jagen sich in wirrer Hetzjagd. An Hals und Brust beginnt die Haut zu brennen, die starken Rotstrahlen der beiden Bogenlampen, mit denen ich eine stündliche Bestrahlungskur am Tage mache, wirken wie die Sonne im Hochgebirge und erzeugen förmlichen Gletscherbrand. Meine alte Mutter höre ich nebenan ruhig schlafen und im halben Traum der frühen Kindheit gedenkend, in der sie mich mit den Brüdern allabendlich zu Bett brachte, schlafe ich mit einem unbeschreiblichen Heimatsgefühl langsam wieder ein.
2. Okt. 17. Ich war in der stadt und ließ mir die Haare schneiden. Der würdige Haarschneider, bei dem ich vor mehr als 20 Jahren als fröhlicher Pennäler sehr gern hinging, hatte sich vor 4 Jahren zur Ruhe gesetzt, war aber jetzt als Vertreter seines eingezogenen Geschäftsnachfolgers wieder in voller Tätigkeit. Er erzählte von seinem Sohn, der 170 Pfd schwer, 182 lang und Bankbeamter und jetzt als Kraftwagenführer in Deutz ausgebildet sei. – Die öffentlichen Gebäude haben geflaggt, es ist heute Hindenburgs 70 (71) Geburtstag.
Die Bestrahlungskur muß stark auf die Nerven wirken, diese Nacht schlief ich sehr schlecht und unruhig und man sagt mir, daß ich recht nervös sei. Ich selbst spüre weiter davon nichts, als daß ich eine Neigung zu scharfem Widerspruch bei mir entdecke.
Täglich fast erzählt Mama mir allerlei aus ihrer Jugend und Kindheit, die voller Arbeit, Sorgen und Mühe war. Und doch war sie bei alledem stark

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und blühend und ist heute mit ihren 71 Jahren noch eine gesunde und starke Frau, die nur schwer Ruhe halten kann und am liebsten ununterbrochen im Haushalt tätig ist. Dabei leichtsinnig wie ein kleines Kind und bald hier, bald da erkältet. Macht sich aus alledem nicht viel.
3. Okt. 17. Gestern abend besuchte ich nach Tisch noch mal Frau Elisabeth Erdmann Macke (Erdmann-Macke, Elisabeth)., traf sie allein und recht müde an. Sie hatte die Jungens zu Bett, war ohne Mädchen und Mutter und hatte die Anstreicher in der Küche. Später kam ein Frl. Priene. Wir unterhielten uns sehr angeregt. Sie zeigte mir prächtige Aquarelle von Hellmuth Macke (Macke, Hellmuth), Vetter ihres gefallenen Mannes. Namentlich eins mit der Cote Lorrain gefiel mir sehr gut. Wir sprachen u. a. davon, daß die Säuglinge jetzt kein Brot mehr bekommen, ihr ist das natürlich unangenehm, da sie den kleinen Jungen hat. Es hatte sich, wie ich erzählen konnte, bereits der Brauch herausgebildet, das erste Brot des Säuglings der Hebamme zu geben, so daß diese – meine Mutter hat im Hause Bonngasse 38 eine solche wohnen –stets Brot in Fülle hatten! – Das hat nun ein Ende.
6. Okt. Heute ist trübes regnerisches Herbstwetter. Regen ist freilich dringend nötig. In Hersel wird der Elektromotor bald weggeholt und eine neue Verordnung verbietet Neuanlage von elektrischen Einrichtungen, so daß ich in Bernkastel auch wohl noch Schwierigkeiten bekommen werde.  – Ich packe hier schon nach und nach alles ein und gedenke, etwa Dienstag nach Hause zu fahren, von wo ich fast 4 ½ Monat weg war. Gestern morgen kaufte ich noch etliche Bücher, auch darin beginnt jetzt ein gewisses Hamstern, desgleichen einiger Röhrchen Codein Pastillen, die ich zu Hustenberuhigung gebrauche. Mit den Opiaten geht es nämlich langsam auch zu Ende. Den alten Göbbels traf ich am Kaiserplatz, seit April haben sie von Karl in Südwest-(afrika?) keine Nachricht mehr. Ich suchte ihn auf künftige Auslieferungsmöglichkeit hinzuweisen. – In Flandern haben die Engländer wieder einen Riesenangriff gemacht, der gestrige Tagesbericht ist erschütternd zu lesen. Dr. Probst aus Gemünd erzählte heute, daß Josef beinahe versetzt worden wäre. Es hat noch mal eben gut gegangen. Er hat dort in Hauttonnerie einen vielbegehrten Posten und bei Urlaub pflegt ja dergleichen öfter zu kommen. Gestern nachmittag war ich bei Prof. Gerhartz. Er zeigte mir den künstlerisch hervorragenden Aufriß seiner Vorfahren in etwa ½ Dutzend Generationen, ich hatte ihm den Baringius Claris diplomatica zur Anregung der Schriftart mitgebracht. Ich soll nur fleißig weiterbestrahlen. Seltsam, daß wir alle Papa innerlich Glück dazu wünschen, daß ihm mit der Wegnahme des Motors sozusagen da Herz seines Betriebes aus der Fabrik gerissen wird, so daß in absehbarer Zeit an eine Wiederaufnahme kein Gedanke sein kann – und er selbst empfindet es als einen schweren Verlust, dabei wird er demnächst 73 Jahre. –

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8.Okt.1917. Gestern abend sah ich bei Elisabeth (Erdmann-Macke, Elisabeth). die letzten Bilder von August Macke (Macke, August). Er hat in den letzten sechs Wochen nach der Heimkehr vom Thunersee und dem Kandertal (ich schreibe nun am 13. Okt in Bernkastel weiter –) eine Unmenge gearbeitet. Es ist, als ob er noch schnell eine Ernte hätte halten wollen, nachdem er sich im Winter und Herbst am Thuner See, im Frühjahr auf einer Reise durchs Rhonetal, Südfrankreich und Nordafrika voller Eindrücke gesogen hatte. Vor allem standen auf dem Atelier 2 vorzügliche Gemälde, ein recht großes, auf dem allerhand Frauenfiguren sich in weichen vollen Bewegungen durchs Grüne bewegen, und ein etwas kleineres, auf dem ein Mann im Grünen auf einer Bank sitzt. Die Farbe ist wieder voll und weich geworden, alles lebt in der Farbe. Es ist mir kein Zweifel, daß August ein echter Kolorist war. Die Bilder zeigen eine große Reife und nach ihnen wär sicher Großes und Schönes zu erwarten. – Geradezu verblüffend waren die kleinen meist mir etlichen farbigen Stiften ausgeführten Studien und Skizzen des jetzt erst 7jährigen Walter Macke (Macke, Walter), Bubi genannt. Neben prächtigen Einfällen gut beobachtete kleine Menschenfigürchen in kennzeichnender Bewegung, Pferde in kühnen Linien, dabei sorgfältige ins Einzelste gehende Studie von militärischen Ausrüstungsgegenständen, Fuhrwerken, alles natürlich von kindlicher Hand, aber hier und da mit erstaunlicher Sicherheit und unbeirrtem Geschmack hingesetzt. Darunter eine geradezu verblüffende, als Karrikatur anmutende Porträtstudie mit der schönen Beischrift „Das ist Fabri“. Der Betreffende soll sich nicht schlecht darüber gefreut haben. – Elisabeth zeigte mir auch einige sehr erfreuliche Aquarelle von Augusts Vetter Hellmuth Macke (Macke, Hellmuth). Eine breite Landschaft mit den Steilabhängen der Cote Lorraine, die Elisabeth sich ausgewählt hatte, gefiel auch mir am besten. Ich hätte diesen Vetter gern kennen gelernt, lag aber in den Tagen seines Dortseins gerade zu Bett. Er hatte bei Kriegsbeginn 2 Jahre gedient und ist nun 5 Jahre Soldat, des Krieges bis zum Halse überdrüssig und arg daran leidend. Eine von Lübbeke in Wiesbaden veranstaltete Ausstellung seiner Feldarbeiten hatte er aus Gründen körperlicher Erschlaffung nicht besuchen können. Schade, wenn solch begabter Künstler auch noch zu Grunde gehen müßte. – Macke’s Ruf wie der seines gefallenen Freundes Franz Mark (Marc, Franz) beginnt sehr stark zuzunehmen. Des letzteren Witwe soll schon 15000 M für gute Bilder bekommen. Das wäre mal eine überraschend schnelle Anerkennung eines deutschen Malers. Freilich kann sich kein Einsichtiger der großen Wirkung entziehen, die von seinen guten Bildern ausgeht. Bei Elisabeth sah ich ein glänzendes, etwa 1 Fuß im Quadrat großes Bild, das er bei einem Besuche dort auf Glas gemalt und der Zerbrechlichkeit halber dort gelassen hat. Ein auf Beute lauender Tiger hängt im Dickicht eines Dschungelgrüns. Prachtvoll! – Von den verschiedenen Besuchen dort in dem kleinen Häuschen hatte ich eine entschiedene geistige Erfrischung und Anregung. Man konnte über anderes als nur und ausschließlich die ewigen laufenden Alltäglichkeiten reden.
Auch das Biederehepaar Schneiders besuchte ich noch einmal.

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Meine Mutter hatte sich in den Wochen meines Bonner Aufenthaltes so an mich gewöhnt, daß ihr mein Weggehen ordentlich schwer fiel. Ich reiste mit 4 Gepäckstücken, die ich schon vorher aufgegeben hatte, an kühlem Tag mit Regen und Sonnenschein heim; bemerkte in Koblenz auf einem Güterbahnhof einen Eisenbahnwagen mit zertrümmerten Scheiben, bei dessen Anblick es mich eigentlich durchzuckte: Nun sind wir schon tief im 4. Kriegsjahre und du siehst zum erstenmal eine unmittelbare Kriegszerstörung! Es waren dort nämlich kürzlich feindliche Flieger gewesen. Während ich kurz vor Wengerohr bei längerem Stillliegen Sorge ob des Anschlusses bekam, wurde mir die Hohlheit derartiger Erwägungen treffend vor Augen geführt dadurch, daß wir bald darauf an einem Militärzug vorbeifuhren, auf dem, von kaltem Regen völlig durchnäßt, Artillerie mit schwerem Geschütz ect. nach dem Westen fuhr, und stille stehen mußte, um uns vorbei zu lassen! Ein krasser Widersinn: Unsere Verteidiger müssen im Regen auf offenem Wagen warten, während wir im wohlgeschützten Wagen vorbeifahren. Daß noch im Laufe dieses Monats erhebliche Einschränkung des Personenverkehrs auf der Eisenbahn durch Verdoppelung des Fahrpreises kommen soll, kann einen nicht wunder nehmen. Freilich fuhren auch genug Feldgraue in unserem Zuge, auch 2 Offiziere in meinem Abteil und von Wengerohr der alte Major Tobias zusammen mit mir. ||  Wie freue ich mich, nach 4 ¼ Monaten wieder daheim bei den Meinen zu sein! Der Himmel empfängt mich freilich unwirsch: Regengüsse und Wind um die Wette. ––
14. Okt. 17. Eine kleine Blutung giebt mir wieder Bettruhe und Gelegenheit zu beschaulichem Schreiben. – In der Familie Th. nimmt die Tragikomödie der Ehe des knabenhaften H. ihren programmmäßigen Fortgang. Nachdem die beiden jungen Schwägerinnen sich gründlich und ausgiebig miteinander verzankt hatten, der Kampf um die künftige Gutsfolge hatte ihnen schon die heftigsten Formen angenommen – nachdem H. sich seiner angeborenen Trinkerleidenschaft wieder genügend hingegeben, seine Schwiegereltern aber den noch rechtzeitig vereitelten Versuch gemacht hatten, hierher zu ziehen, wobei der Alte die „Verwaltung des Gutes“ gern hatte übernehmen wollen, scheint nunmehr der Bruch in der jungen Ehe da zu sein, oder vielmehr die Haltlosigkeit dieser schon durch ihren seltsamen Abschluß fundamentlosen Ehe kommt auch den Beteiligten nunmehr unverhüllt zum Vorschein, und die Etern der jungen Frau scheinen daraus die nüchternen Geldfolgerungen zu ziehen. Die junge Frau ist zumeist nach Hause, schreibt von dort: Schicke mit Honig, Wein und Geld, selbst – wenn es sich nicht um boshafte Erfindungen der Schwägerin handelt – um Tresterschnaps u.s.w. Die arme Mutter ist dabei völlig zwischen die Scheerenschneiden geraten. H. entzieht sich allen Unannehmlichkeiten und Auseinandersetzungen, wie stets, durch einfache Flucht auf die Eisenbahn.

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Die Mutter aber erlebt Auftritte wie diesen: H. ist weg, die Eltern der Frau rücken mit dieser trotz schriftlicher Absage der Mutter einfach an und machen sich im Hause breit. Die Alte hat sich auf ärztliches Anraten ihres Schwagers ins Bett gelegt mit der strengen Anweisung an die Dienstmädchen, daß sie unter keinen Umständen jemanden empfangen können. Die Ankömmlinge sind nicht weniger entschlossen, unter allen Umständen, eine Unterredung zu erzwingen. Es entsteht ein kleiner Belagerungszustand, bei dem sich die Belagerer den Umstand zu nutze machen, daß das Dienstmädchen aus dem Zimmer kommt, die geöffnete Tür wird durch eingeklemmten Fuß am Zuschließen gehindert, alle dringen bei der Mutter ein, die bei der beginnenden Auseinandersetzung von heftigem Weinkrampf geschüttelt hilflos im Bette liegt. Die Sünden ihrer Söhne, vermutlich auch die ihres Mannes werden ihr gründlich vorgehalten und ihr der Vorwurf nicht erspart, daß sie ihr hiervon nichts gesagt habe u.s.w. Nach diesem Angriff läßt die Mutter ihr Zimmer abschließen und das Dienstmädchen im ausschließlichen Besitze des Zimmerschlüssels. – Die Aktien der jungen Schwägerin sind seitdem mächtig gestiegen, sie ist Liebkind bei der Schwiegermutter, diese soll sogar trotz ihrer streng Kathol. für eine Scheidung von H’s Ehe sein. Ob es dazu kommt, ist fraglich. Ihm geht die Sache doch nicht so tief, daß er sich darüber etwa ein Leid antun würde. –
14. Okt. Merkwürdig, wie der erste Tag der Bettruhe bei jeder Blutung bei mir geistig der fruchtbarste ist. Ich habe gleich wieder einen, wie mir scheinen will, ziemlich wohlgelungenen Artikel über Weinherbst 17 geschrieben, dann hier das Geschreibsel und den Kopf dick voll von Entwürfen, Plänen und Fortführungen. –
Wie stets in solchen Fällen, kaum daß ich liege, kommen in bunter Reihe Frau Bürgermeister Pfeiffer, Frau Liell (Schwager Franz ist mit Frau da und will Weinbergskauf gleich fest machen! Nur Ruhe!). Pfarrer Kraum, mit dem ich einige Minuten gesprochen, u.s.w. Commen’er Nährvater Hermann, der noch 11 Zentner Kartoffeln, Möhren ect. bringt. Kraum war älter natürlich auch magerer geworden, der Kopf mit kühner Nase und ausdrucksvollen Augen aber viel vergeistigter und – schöner. Helene fand es auch. || Trotz Regengusses sind die Kinder mit Frl. nach Filzen, wo sie Butter zu hamstern gedenkt. Jetzt scheint die schönste Sonne. Alles goldig. –
16. Okt. Den gestrigen grauen Nebeltag erhellte die frohe Kunde, daß wir Ösel und Dagö besetzt haben. Das ist recht bedeutsam. Hoffentlich kommen wir auch in den finnischen Meerbusen und erobern Estland von der Meerflanke aus. Ich lag zu Bett und hielt mich still, tue das auch heute noch. Leider hat Helene allzu viele Arbeit, gestern kamen 11 Zt. Kartoffeln, Stroh, Roggen, Hafer, Mohrrüben, heute will sie Äpfel an Mama einpacken u.s.w. Leider bin ich mal wieder hilflos. Mit Frau Liells Weinbergen scheint es gut zu gehen. Ihr Schwager Franz

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ist bereit, sie zu dem Preis zu kaufen, der ihm abverlangt. Commerzienrat Wegener dagegen bietet eine fast gleiche Summe mit dem diesjährigen Wachstum, das allein seine 50000 M wert scheint. Man möchte ihm fast nicht antworten.
21. Okt. Unsere Flotte entwickelt eine unheimliche Geschäftigkeit: Außer der großen Operation in der Ostsee fängt man dicht vor dem Ankerplatz der englischen Flotte einen Geleitzug von 13 Schiffen von Norwegen ab und vernichtet ihn einschließlich der schützenden Zerstörer, dazu Angriffe auf Dünkirchen von der See her. Alles in allem soll die englische Flotte wohl mit aller Gewalt zum Auslaufen und Angriff gereizt werden. Hoffentlich werden die Eltern Bruhns nicht bei der jetzt statthabenden „Räu-mung“ Revals nach dem inneren Rußland verschleppt. Vielleicht gelang es ihnen noch aufs Land nach Pernama, zu entkommen. Die Esten scheinen entschlossen, den russischen Sengereien bei vollem Abzug mit der Waffe entegen zu treten. In Finnland geschieht allerlei. Die baltische Flotte verlor 1 Linienschiff Slawa (wir auch eins?) ––
Eingeklebt sind drei Zeitungsausschnitte (17.-19.10.17, Köln. Ztg.), in denen über die  Operationen des U 39 unter Kapitänleutnant Forstmann berichtet wird. Ferner ist die Abschrift eines Briefes von Walter Forstmann beigegeben: Abschrift von Walter Forstmanns Brief
Walter erhielt folgendes Telegramm:
„Seine Majestät der Kaiser lassen zur Abendtafel im Neuen Palais am Donnerstag den 8. November Abends 8 Uhr einladen. Zu dem Zug um 7.20 ab Berlin Potsdamer Bahnhof wird in Wildpark Wagen zur Abholung bereit stehen.
von Gontard, Generaladjudant.

  Walter schreibt also. So langsam kommt man in bessere Kreise. Alles Nähere sofort nach Rückkehr.
Kiel, den 10. Nun kommt der versprochene Bericht. Donnerstag früh 6 Uhr fuhr ich nach Berlin und stieg im Hotel Fürstenhof ab. Um 7Uhr20 Nachmittags gings mit der Eisenbahn nach Station Wildpark. Mit mir war ein Kamerad geladen, der aus Cadiz s. Z. ausgekrazt war. Am Bahnhof war der Hofwagen und schon gings auf Gummi zum Schloß. Unser Anzug war: Rock, Dolch, kleine Ordensschnalle, braune Handschuhe. Im Schloß zunächst viele Diener etc. Dann wurden wir in den I. Stock geführt. Die Thüre ging auf und ich stand vor den allerhöchsten Herrschaften, die uns ganz allein empfingen. Als Ältester meldete ich mich zuerst: Kptl. Forstmann meldet sich alleruntertänigst als Kommandant Euer Majestät Unterseeboot 39. S. M. gab mir die Hand und stellte mich Ihre Majestät mit sehr ehrenden Worten vor. Wir kamen dann ins Gespräch und wurden nach vielen Dingen gefragt. S. M. sah glänzend aus, sehr frisch und gar nicht gealtert wie man sonst immer hört. Er hatte auch nicht mehr das scharfe Gesicht das die ersten Kriegsbilder zeigten. Er trug Generaluniform, Pour le mérite, die 3 eisernen Kreuze und kleine Ordensschnalle. I. M. ist eine imposante Erscheinung, tadellose Figur, nur sehr gealtert, ganz weiß. Kein Goldschmuck, aber viele Perlen. Es wurde zu Tisch gemeldet. Nun dachte ich, daß jetzt wenigstens mehrere Personen erscheinen würden. Zu meinem größten Erstaunen lagen nur 4 Gedecke. S. M. nahm mich bei Seite und überreichte mir allein sein Bild mit eigenhändiger Unterschrift „Wilh. I. R. 1917.“ Er sagte: „Ich habe das Bild der Zeit entsprechend in eisernen Rahmen stellen lassen.“ Das Bild ist zum Aufstellen auf den Schreibtisch eingerichtet sehr hoch im ganzen 44 Cent. Der Kaiser steht in Feldgrau vor einem Wald. Der Rahmen ist schwarz, geschmückt mit einer eingelegten Kette vom Schwarzen Adler Orden. Die Ecken tragen W und Adler abwechselnd. Über dem ganzen steht in der Mitte eine matt vergoldete Kaiserkrone. Über diese besondere Ehrung habe ich mich riesig gefreut. Sie wird mir immer eine schöne Erinnerung an diesen ehrenvollen Abend bleiben. Wir setzten uns dann zu Tisch. Tischordnung
  von Welltin
IM.   O  S.M.
        ich
Es gab zu essen sehr einfach. Geflügel mit Kartoffelbrei, dann allein lange grüne Bohnen, dann Pfannkuchen mit etwas süßem gefüllt, dann Obst. Rotwein, Weißwein, Seckt. S. M. trank nur während des Essens zu. Die Unterhaltung war ganz zwanglos, die Stimmung war glänzend. Was nun Alles gesprochen wurde, kann ich natürlich nicht schriftlich von mir geben, aber das Gefühl hatte man, das man Alles tun wollte und uns sehr gern bei sich sah. Der Kaiser kam auf meine Erfolge zu sprechen, wußte manche Einzelheiten, besonders von der Versenkung der „Minas“ mit den serbischen Offizieren, sprach von Werden und Kettwig, von Pola, Rußland, Italien, den Engländer etc. I. M. erkundigte sich nach meiner Frau, sprach von den Sorgen der Ubootfrauen, Verpflegung an Bord etc. Als die Tafel aufgehoben wurde, überreichte I. M. je ein Blumensträußchen. Dann gingen wir in einen anderen Saal, wo im Kamin ein offenes Feuer brannte und der ganz den Eindruck eines Familienzimmers machte, denn zahlreiche Familienbilder standen auf Tischen und in Nischen. Ganze 2 Stunden waren wir allein. Der Kaiser erklärte uns an der Hand einer Karte die Lage in Italien. Dann um 10 Uhr 10 erschien gleichzeitig der engere Hof, die Ober Hofmeisterin Gräfin Brockdorff und noch 2 Damen, der General Adjudant Ex v. Gontard und 2 Flügel Adjudanten. Wir bildeten einen großen Kreis. Ich saß wieder neben S. M. und unterhielt mich eigentlich bis 11 Uhr ausschließlich mit ihm. I. M. häckelte an einem großen wollenen Schal, also es war sehr gemütlich. Auf fiel mir, daß die Damen sowohl vor S. M. wie vor I. M. beim Eintreten sehr tiefe Hofknixe machten. Um 11 Uhr meldete der General Adjudant, daß wir fort müßten, um rechtzeitig zum Zuge zu kommen. Wir verabschiedeten uns, ich nahm mein Bild wohlverpackt unter den Arm und der Wagen brachte uns nach Potsdam. Nachzutragen wäre noch, daß es nach dem Essen Bier gab, aber keinem der Herren wurd etwas zu rauchen angeboten, während S. M. allein Cigaretten rauchte. Aber am Portal vor der Abfahrt wurde uns dicke Cigarren angeboten, die uns auf der Rückfahrt ausgezeichnet schmeckte. Ich glaube Recht zu haben, wenn ich zum Schluß bemerke, daß ich nie wieder in so intimer Beziehung zum Herrscherpaar treten werde. Ja es war eine große Sache für mich, da ich der Ältere und Ritter Pour le mérite war, hatte ich dem Kameraden etwas voraus. Das Ganze verdanke ich nicht einem großen Namen der Geburt nach, auch nicht meinem Alter oder Verbindungen, sondern nächst Gottes schützender Hand meinem Waffenglück und meinen Leistungen. Zum Schluß wir sind gesund und sehr zufrieden in Kiel.

Straßenbild. Graacher Straße im Herbst.
21. Okt 1917. Seit einer Woche war ich gestern nun mal wieder erstmals aus, ging nach Tisch bei windstiller kühler Luft und erquicklichem Sonnenschein über die Brücke (seit fast 5 Monaten mal wieder!) und bummelte die Graacherstraße hinunter an den Weinhängen entlang. An der Lay stellte ich zu meiner Befriedigung fest, daß die Lese noch nicht erfolgt, und die Stöcke noch voller köstlich reifer, leicht gebräunter Trauben hingen. Die Reben sind noch voller gesundem Laub, das nur hier und da einen leisen stich ins Gelbe zeigt, sonst noch recht frisch grün ist. Ein höchst erfreulicher Anblick. Auf dem eisernen Straßengeländer nach dem Bahndamm zu mich ein wenig ausruhend hatte ich ein in Linien und Farben entzückendes Bild vor mir, das einen Maler wie einen Radierer gleicherweise hätte reizen können. Über die helle Landstraße zog sich der breite Schatten des Eisengeländers wie ein blaues hin und wieder ein wenig hin und her windendes Band hin und bildete zusammen mit dem die Straße nach links abgrenzenden Eisengeländer eine prächtige Einführung in die Tiefe. Die Eisenbahnböschung, von mannigfachem mächtig aufgeschossenen Kraut und allerlei Sträucher und riesigen Brombeerranken überkrochen, gab eine farbige Einfassung nach links – zumal leuchtend rot gefärbte Brombeerblätter nahmen sich darin recht lustig aus – während rechts die Weinbergsmauern jede durch Alter und Kalkanstrich ein wenig anders getönt, alle aber umsäumt von den grün und lichtgelb schimmernden Reben, der Straße einen famosen Abschluß und mit eine gleichfalls in die Tiefe führenden Linienzug begleiteten. In der Ferne alles abgeschlossen durch den ruhig fließenden, in allen sanften und kräftigen

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Herbsttönen wiederspiegelnden Fluß, lichter Berghang und darüber einen lichtblauen Himmel mit etlichen leuchtend weißen Wölkchen. Ganz im Vordergrund ragten hochoben die grell beleuchteten Felshänge der Lay in diesen leuchtenden Himmel hinein. –
Nachträglich eingefügt: Wäre das dumpfe Brummen nicht zu hören, – Friede.
Pferdemusterung Straßenbild. Schräg gegenüber an der Ecke, wo die Gasse in die Kaiserstraße einbiegt, hat sich ein Kranz kleiner Knaben um einen Gegenstand versammelt, den die vorspringende Hausecke dem Auge verbirgt. An dem regelmäßigen Quietschen und einer bald aufflackernden Feuerlohe, die durch den nachmittäglichen Oktobernebel leuchtet, erkennen die eifrig aus dem Kinderzimmer spähenden Mädchen, daß dort eine kleine Feldschmiede brennt. „Mutter, Pferde, Pferde, die in den Krieg gehen!“ Die Kleine hat recht gesehen. Mitten auf der gepflasteren Straße ist ein schmales Band gelben Sandes gestreut, plötzlich stehen etliche grüngraue Uniformen in Mützen und Ledergamaschen da, unter ihnen eine hohe Figur eines reitenden Jägers, die wir seit Kriegsbeginn schon so oft dort beobachteten. Ein Junge bringt aus dem Hintergebäude einen schweren braunen Gaul, der alte hinkebeinige Pferdehändler in Mantel und breiter Schirmmütze schwingt die Peitsche und knallt scharf, das Pferd setzt sich in Trapp, wendet und galoppiert, der Junge am Zügel neben her springend, mit dröhnendem Hufgeklapper durch die Uniformierten hindurch, wendet abermals und trabt zurück. Einige Worte, eine Eintragung auf einer Liste und ein Unteroffizier tritt mit 2 glühenden Eisen heran und tupft damit dem Gaul leicht auf die beiden glänzenden Hinterschenkel. Es flammt wenig ein auf, das Pferd macht keinerlei Bewegung, als ob es etwas spüre und wird zurückgeführt. Schon steht ein anderes bereit, der Alte knallt und in rumpelndem Trab gehts von neuem los. Aus den benachbarten Bürgerhäusern sind etliche Erwachsene hervorgetreten, sie sehen, ebenso wie die Knaben, der Musterung schweigend zu. Nur an der Feldschmiede gehts etwas lauter zu, da dort stets mehrere den Gebläsetrethebel bedienen wollen. Nach einer Weile ists zu Ende, die Uniformen verschwinden mit dem Händler in dessen Hausflur, und die Kinder, zu denen derweil eine Menge kleiner Mädchen herzugekommen sind, spielen erst getrennt in kleinen Gruppen, dann gemeinsam in einem großen Kreise quer über die Straße einen Ringelreigen von der Frau, die sich einen „Kirmeß-Sohn kaufte“: „Da mußt er in den Krieg, da mußt er in den Krieg, da wurd er totgeschossen.“ ––

25. Okt. 17. Heute liege ich den 2. Tag zu Bett, nachdem vorgestern eine geringe Blutspuckerei begonnen hatte, die noch nicht weichen will. Aus Andeutungen, die Dr. Schmitz mir gestern gelegentlich seines Besuches machte – er sah recht frisch nach langem Frontdienst aus und sehnt sich zur Abwechslung mal nach Flandern oder lieber  noch nach – Mesopotamien – entnahm ich, daß unsererseits Vorbereitungen für größere Unternehmungen im Zweistromland im Gange sind. Hoffentlich findet sich dort während der Wintermonate Gelegenheit, den Engländern Bagdad wieder abzunehmen. Und nun kommt die Nachricht, daß wir mit den Österreichern einen Angriff an der

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Isonzofront erfolgreich begonnen haben. Währenddem toben die Franzosen in heftigstem Ansturm gegen unsere Westfront. Ob wir Reval noch nehmen? Ich selbst muß mal wieder große Geduld im Bette üben. Hols der Teufel. ––
1. November. Seit einigen Tagen wieder auf und mit Schreiben, Lesen, Ordnen und Basteln im Hause reichlich beschäftigt, machte ich heute nach Tisch mit Frau und Kindern den ersten Ausgang bei milder Spätherbstsonne auf der Graacher Seite. Die öffentlichen Gebäude, auch etliche private hatten geflaggt und das hat seinen guten Grund. Ein Sonderblatt am Brückenpfeiler kündigt an, daß die Italiener eine selbst in diesem Kriege fast beispiellose Niederlage erlitten: 60000 Mann ergaben sich auf der Flucht vor dem Tagliamento, auf den die Geschlagenen beider Armeen losflüchten. Damit 150000 Gefangene und 1500 Geschütze bis heute. Das Herabstürmen der Deutschen (diese in der Mitte und an der Spitze der Österreicher und Ungarn) in die oberitalienische Ebene hat etwas herzerfrischendes, erinnert an alte Römerzüge und Völkerwanderungen und die Genugtuung über das Unglück des Verräterischen alten Bundesgenossen ist wohl allgemein. Der liebe Verband scheint seinen Bundesgenossen wie stets in der Patsche sitzen zu lassen. Hoffentlich gelingt es vor dem Winter noch ein ordentliches Stück der Ebene zu erobern, dann giebts wohl Wein, Seide und am Ende auch Korken! – 45 Pf kostet ein Weinpfropfen. 120000 (19000?) Fuder rumänischer Wein sind im Anmarsch und 30000 sollen auf die Mosel kommen, zur Pflege erhält der Weinhändler, der sie unter Verschluß und Kontrolle der Zollbehörde nimmt, 200 M fürs Fuder. Leider jagte uns Frl. Hedwig heute mittag einen bösen Schrecken ein. Ihr ewiger Husten brachte diesmal Blutauswurf. Nur kurz und ohne Wiederholung hoffentlich! – Das wird eine schwer zu behandelnde Patientin werden.
3. November 1917. Die Niederlage der Italiener – Freund Bruhns wird auch mit grimmem Spaß der „Maestri commaccini“ gedenken – ist eine geradezu klassische. 180000 Gefangene, 1500 Geschütze. ––––
Die Schweizer fühlen sich von einer schweren Sorge befreit und der „Verband bebt bis in die Knochen“. Es sind jetzt hier geradezu triefende Novembertage voller Kälte und Nässe, das Pflaster klebt von schwarzem schmierigem Überzug und die buntgefärbten Blätter der Laubbäume weinen ordentlich.
Auffallend, wie nach etlichen Monaten Abwesenheit man die Leute hier zunächst durch viel schärfere Brille betrachtet und vieles, was schon sonst an ihnen kleinlich und spießig schien, nun erst recht ganz und gar lächerlich einem vorkommen will. So kam Allerheiligen abends Frau ... aus W. uns besuchen. Ich konnte mich fast nicht ernst halten und brachte mit Fleiß die Hand kaum vom Mund, um mein freches Lächeln zu verdecken, das ich mir nicht verbeißen konnte über den horrenden Ernst, mit dem sie allergewöhnlichste Nebensächlichkeiten erzählte und dabei den Kopf verdrehte und die Augen verschob, so daß der Hals sich wie eine mehrfach aufeinandergeschichtete Leberwurst sich in eleganten Krümmungen hin und her schob. Mit naiver Offenheit berichtete sie u.a. daß man jetzt auch nicht zufrieden sei, man hätte all das Geld und wisse sich nichts dafür
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zu leisten. Arme Menschen, bei denen alles Glück in dem liegt, was außerhalb ihrer selbst ist, Vermutlich nach hohem ...ler Vorbild wird nun das Jagdhüttenleben Mode und sie hats mit ihrem Mann auch fleißig geübt. Na, wenigstens etwas. –
5.XI. Neuer Reichskanzler ist der in Baiern bisher recht bewährte dortige Ministerpräsident Graf v. Hertling, ehedem Zentrumsführer. Was – ob –, wer weiß? ==
9.XI. Polen an Österreich, Kurland und Litauen an Preußen??!–– 250000 Gefangene und 2300 Geschütze in Italien! Revolution in Petersburg, wo die Bolschewicki die Oberhand haben und sofortigen Frieden verlangen. Es stürmt wie toll auf einen ein. Am Ende doch noch Frieden vor dem Winter? Seit einigen Tagen schaffe ich zu meiner großen Befriedigung wieder bei Gericht, eine wahre Erquickung auf die langen Monate, in denen ich ja freilich auch nie eigentlich gefaulenzt, aber doch keinen rechten Mittelpunkt meiner Tätigkeit hatte. In Registerakten finde ich auf einer Kölnischen Zeitung vom 31.XI.98, die wie ein Idyll aus längst verklungenen Märchenzeiten anmutet: Speck zu 56 und 60 Pf, geräucherten Vorderschinken zu 65 und reines Schweineschmalz zu 45 Pf. Dazu Süßrahm Tafel Margarine zu 60 Pf. Daß es mal solche Zeiten und vor noch nicht ganz 20 Jahren gegeben hat! – Ich trage fortgesetzt kleinere und größere Hypothekenlöschungen ein, und die Winzer bezeichnen den 17er als ihren Hypothekenwein, der sie von alten Schulden befreit.
21.XI.17. Einige Kriegserscheinungen verdienen aufgezeichnet zu werden: In letzter Zeit waren hier verschiedene Versteigerungen von alten Möbeln und sonstigem Hausgerät, auf denen ganz fabelhafte Preise, wie 600 M für ein Bett, ja 90 M für einen abgeschabten Linoleumteppich bezahlt wurden, den die Erben (Wwe Veltin) als wertlos gar nicht hatten verkaufen wollen. Unsere Hauswirtin, die bereits Wohnung in Wiesbaden gemietet hat, läßt sich dort erkundigen, ob es noch Teppiche zu kaufen giebt, alsdann will sie ihre alten hier auch mit versteigern lassen. Auf ihrer Versteigerung wird es u. U. bunt zugehen. Gestern habe ich ihr noch glücklich das letzte Restgrundstück zu 3200 M an Leistner verkauft. Nun bleibt nur noch das Gerät und das Wachstum 17 zu verkaufen. Sie will mal vorab 6300 M das Fuder verlangen, Leistner will nicht mehr als 5000 M zahlen. Ob sie dazu zu haben ist. Für Onkel Dietrich kaufte ich vergangenen Samstag mit sachverständiger Hülfe von GWR. Zimmermann in Cues 2 nette Fuder, die einen leichten Tischwein versprechen, zu 4100 M mit Faß und Abstich. Tolle Preise. Alles verlangt 4500 M. Ich schrieb einen Artikel für die Kölnische hierüber. Sie nimmt derzeit schlank einen jeden, der vom Wein handelt, auf den sich ein allgemeines Interesse zusammendrängt. –– In Köln kaufte sich Frau Liell ein paar prächtige blitzende Diamantohrringe, und Herr Leistner erstand seiner Tochter einen Zobelpelz! Letzterer ist nun mit einem großen Hause, aber noch schwach mit Möbeln gesegnet. Seine größte Sehnsucht ist daher ein solides großes Eßzimmer, womöglich mit Sopha.

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Solche kosten heute 5000 M, für die man sich früher eine ganze Möbelausstattung kaufte. Freilich wäre es auch zu schmerzlich, das große Eßzimmer unten unmöbliert zu haben. Unsere Hoffnung, daß sie dort schlafen und wir dadurch oben ein Schlafzimmer gewinnen würden, scheint zu Essig zu werden. Holz läßt er klein gehackt, bereits in großen Mengen auf dem Geschäftsspeicher aufstapeln. Er freut sich mit uns darüber, daß uns Uckermann, der treffliche Unteroffizier aus Josefs Pionierkompanie, der 2 mal etliche Tage hier war, eine höchst solide ausgiebige Lichtleitung anlegte. Vorgestern war ich mit ihm abends auf seinem Keller, wobei er einige köstliche Flaschen 15er Brauneberger zum Besten gab und Uckermann auch einige Flaschen für seine Frau mitnahm. Bei einer Unterhaltung, die sich über dem Weintrinken entspann, zeigte sich die alte lösende Wirkung des Weines und es kamen da allerhand Dinge zutage, über die sonst Stillschweigen beobachtet wird, die aber durchaus mit ins Bild unserer Zeit gehören. Da wußte U. Hilfe für Seife und Schuhe, hatte aber gar keine Möglichkeit, an Essig zu kommen. L. versprach ihm solchen, sogar unberechnet in kleinen Posten, falls er ihm Schinken besorge, was U. wieder leicht fiel. Dieser hatte Bezugs- und Versendungsmöglichkeit für Mehl trotz strenger Bahnhofsbewachung, hatte sogar schon 1 Zt Mehl gegen 1 Zt. rohe Kaffeebohnen getauscht, während L. Kaffee mit 38 M das ½ kg bewertete. Auch kam zum Vorschein, daß die v. Schorlemer’sche Verwaltung eine Schrotmühle habe, während U. schon mehrere solche gebaut habe.
Die erstere Kenntnis wurde heute Frau (Name gestrichen, Krings?) hier verraten, die darüber morgen sofort mit dem Wirtschaftsfrl. Schmitt reden wird, so daß Hoffnung besteht, den bei ihr vorhandenen Weizen in Mehl gewandelt zu bekommen. – Mit U. ging ich gestern durch die Bernkastler Schweiz, auch tranken wir abends nach Tisch noch eine Flasche zusammen (im Weinschrank machte ich die freudig überraschende Feststellung, daß 2 Flaschen Cognak fehlten, die heute jede gut 26 M wert sind, und nahm den Weinschlüssel nunmehr an meinen Bund) Er ist ein seltsamer, außergewöhnlich tüchtiger und praktischer Mann, der sich auf fast alle Techniken versteht, 4 Jahre in Cöln die Fachschule als Elektromonteur besuchte und in Porz Telegrafenaufseher im Postdienst ist. Im Felde ist er Josef so unentbehrlich, da er alle Maschinen, Motore repariert, kurz zu allem zu gebrauchen ist, wo andere bereits versagt haben. Trotz aller behördlichen Reklamationen hat sein Hauptmann, unser Bruder Josef ihn beim Kriegsministerium siegreich für sich behauptet. Er selbst möchte natürlich gern heim, Schwager Willi könnte solchen Mann gut in seiner Kgl. Geschoßfabrik gebrauchen und dahin ginge er wohl gerne. Vielleicht, daß sich da etwas machen läßt.

Mein erster größerer Weinhandel.
Von Onkel Dietrich erhielt ich den Auftrag, ihm 2 Fuder Tischwein 1917er zu besorgen. Leider kam mir zunächst meine Krankheit unangenehm dazwischen, indem ich daurch gehindert wurde, von Baumann Meyer aus Graach, Frau Liells langjähriger und zuverlässiger Baumann, der mir wohlbekannt,

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1¾ Fuder guten Graacher Abtsbergs noch als Most zu kaufen. Er hatte ihn zu 3600 und später 3800 M vergeblich Frau L. angeboten, mir fragte er 4000 M ab und ehe ich auf die zusagende Antwort aus Cöln mit ihm verhandeln konnte, hatte er ihn an Leistner verkauft. Nun geriet ich an den Roisdorfer Landsmann Krings, der aus seinen Wingerten dieses Jahr, wie alle kleinen Besitzer, einen guten Herbst gemacht hatte, und probierte mit Helene seine Fuder durch, unter denen uns zwei geringere, Pfaffenberg und Altenwald (Bernkastler Lagen) leidliche Tischweine zu versprechen schienen. Nach langem Hin und Her gab er sie, nachdem er noch mit seinen Hinweisen auf die Frau u.s.w., auch durch öfteres Hinauslaufen eine kleine Komödie aufgeführt hatte, beide Fuder auf 8 Tage zu je 4000 M fest an die Hand, ebenso ein fertiges Fuder 15er Rosenberg, der recht gut mundete, zu 6000 M, dieses fertige bot ich Onkel Albert B. an, der aber abwinkte, während Onkel Dietrich dem Ankauf jener zustimmte. 2 Tage vor Ablauf der an Handstellung entnahm ich kleine Proben, wobei Krings ein herrliches Schauspiel aufführte, vielfach kollerte und später, als ich inzwischen mit Frau L. und Herrn Leistner die Proben geprüft und für mäßig befunden hatte, erst 200, dann 100 M pro Fuder anbot, wenn ich ihm das Gebot zurückgäbe. Alles natürlich nur Spiegelfechterei, weil er genau wußte, daß ich solchen Räuberverdienst nicht annehmen würde. Es schien ihm also sehr am Verkauf gelegen und das machte mich äußerst mißtrauisch. Dadurch, daß er stramm dabei blieb, die Hefe beim Abstich unberechnet zu behalten und mir den Füllwein mit 13 M das l zu berechnen, auch die Fässer zum Herbst 1918 bestimmtestens frei haben wollte, ließ mir die Sache als unzutreffend erscheinen und ich machte Samstag abend mit Velten eine Kellerreise durch kleine Cueser Keller, wobei uns Gemeinde Waisenrat Zimmermann führte und beriet. Dort fanden wir dann nach verschiedenen Gängen 2 gesunde Fuder bei einer Witwe Port-Schwab, wurden aber erst, nachdem wir nochmals dorthin zurückkehrten und ausgiebig feilschten, auf 4100 M mit Faß und Abstich einig, Rückkauf der Fässer zu 25 M vorbehalten. Versiegelt. Schluß – Tante Emma meint, ob ich den Amtsrichter an den Nagel hängen und Weinkommissionär der Familie Brügelmann würde. Nun sind schon wieder 2 halbe Flaschen als Proben an Tante Maria unterwegs und für Onkel Albert suche ich Beteiligung an halbem Fuder. Über den Fudereinkauf schrieb ich eine kleine Skizze und und sandte sie an die Kölnische. Heute ist in Trier Versteigerung. Engländer machen großen Angriff an der Westfront, wie es scheint, nicht ganz ohne Erfolg. Wie mag es in Palästina gehen. Die Engländer kommen da mächtig vor. –
7. Dezember 1917. Ein nasser trüber Tautag, schmutzig und voller durchdringender Winterkälte. Sehr unangenehm nach drei leuchtenden Frosttagen mit heller Sonne und glitzerndem Schnee. Vorgestern war ein dicker schwerer Nebel nachmittags eingefallen. Scharfer Frost ließ ihn seine ganze Feuchtigkeit als Rauhreif an alle freistehenden

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Dinge absetzen und so bot sich gestern morgen ein herrliches Bild. Alle Zweiglein, Drähte, Gitter u.s.w. waren mit dichten weißen Rauhreif-Fähnchen besetzt und auf der Brücke baumelten allenthalben die Reste der Spinnweben als dicke weiche Federn von blendender Weiße in der Sonne und schaukelten in sanftem Luftzug. Dazu fror es Stein und Bein und ernste Bedenken stiegen ob der Kohlen- und Kartoffelfrage auf, wenns so weiter gehen sollte. Nun ist dieser erste Vorstoß des grimmen Winters gebrochen, nicht ohne daß etliche Saujagden stattgefunden, von vielem eingekreisten Schwarzwild aber nur ein Wuzchen zur Strecke gebracht, manches ausgelassen und ein Hauptschwein, weit über 2 Zt. schwer auf kurzen Schuß ganz und gar (unter allgemeiner Entrüstung) verpudelt wurde. – Der Wein steigt und steigt im Preise und der geringe 17er ist allgemach bei bereits bei 5000 M das Fuder angekommen. Für das Cölner Casino kauften Velten und ich 2 Fuder Enkircher zu 4750 M, angebotene bessere Keller von Cues zu 4 - 5 Fuder 5200 - 5300 M waren ihnen zu teuer und sind derweil schon um etliche hunderte höher verkauft. Selbst für die bedenklichen 16er wurden auf der Trierer Versteigerung tolle Preise (Doktor über 7000 M!) erzielt und Schorlemer erhielt für ein Fuder Brauneberger Juffer mal wieder über 30 Tausend Mark, Frau Liell aber bei der 2tägigen Versteigerung ihres Geschäfts- und Gutsinventars sowie etlicher Möbel 14000 M. Es war auch da ein großer Andrang und mitunter ein tolles Bieten. Ich erstand ein altes, etwas rokoko-geschnitztes eichenes Eckschränkchen zu 21 M und erzielte für einen s. Zt. zu 16 M gekauften schlechten Ofen 26 M. Im Weinprobieren erlange ich allmählich einige Ausbildung, versorgte die Kölner Verwandtschaft mit Wein, wobei auch für mich hier und da ein kleiner „Kriegsgewinn“ abfiel. In Bernkastel aber werden jetzt sogar Bücher gekauft, auch Luxusausgaben, vermutlich weil sie selten werden. Krebs hat sich zu einer ganz erfreulichen kleinen Buchhandlung herausgemausert. Bei Anton Th. ist ein amüsantes Intermezzo eingetreten: Eine sonst wenig beachtete alte Fayence (oder Porzellan) Gruppe hat den Geschäftssinn eines Berliner Kunstjuden in Bewegung gesetzt und seinen stets steigenden Angeboten wußten sie kaum zu entgehen. Um ihn abzuschütteln, wurde ihm schließlich – stets alles per Draht – bedeutet, daß sie unter 5000 nicht zu kaufen. Schon kauft er sie. Nun Rechtsfrage, ob Kauf. Seit sie aber als Wertstück entdeckt ist, will Emmy Th. sie unbedingt haben, während ihre Schwiegermutter, Schwager und auch wohl der Mann mehr fürs Verkloppen sind (Geld haben sie sehr nötig, nachdem sie den 15er mit ca ½ Million verkauft, dagegen den 16er, den sie mit 1800 M das Fuder als Most abstießen, vielleicht ½ Million nicht gewonnen haben) das ist nun eine lustige Hatz, jetzt haben sie mir die Sache anvertraut und ich möchte sie einer öffentlichen Kunstsammlung zuschustern. Vielleicht aber giebts erst noch einen Prozeß. Das ganze rechter Stoff zu einer Satire. – Draußen aber geschehen große Dinge: An der Ostfront ist jetzt Waffenruhe auf 10 Tage von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und an der russischen türkischen Front im Orient. Angeblich sind oder werden von uns alle Leute bis zu 35 Jahren von dort weggezogen. Jedenfalls sind

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bedeutende Truppenverschiebungen nach dem Westen gemacht worden und wohl noch im Gange. In Bonn und Siegburg soll sogar Einquartierung in Bürgerquartieren bevorstehen. Vom Frieden wird wenig gesprochen, vielleicht so am besten. Im Westen sind die Engländer bei Cambrai wieder zurückgeworfen und im Süden die Italiener weiter hart bedrängt worden. Man rechnet auf russischen Sonderfrieden vielleicht noch in diesem Jahr und auf ferneren Frieden im nächsten Frühjahr. Im Orient aber muß noch manches geschehen. Die Engländer stehen weit in Palästina, fast bis Jerusalem und über Mesopotamien schwebt geheimnisvolles Dunkel. Die Uboote aber fressen weiter an Englands Nerven und Blutbahn. Walter Forstmann ist jetzt Uboot-Flotillen Inspektor oder ähnlich was, er bleibt in Kiel.
30.XII.17. Das Jahr geht zu Ende, was wird das nächste bringen? Uns hoffentlich ein gutes Frl. und eine Stütze für Helene. Unsere jetzige ist bei stets zunehmender Verkehrtheit auch anscheinend lungenkrank geworden, die Kinder haben wir schon lange bei uns auf dem Zimmer; nun hatte sie diese Nacht wieder Bluthusten und wird nun endlich nach wochenlangem eigensinnigem Sträuben den Auswurf dem Arzt bringen. Ich hoffe ihr eine längere Heilbehandlung verschaffen zu können. – Gestern abend war ich nach Tisch bei RA Schönberg zu einem Glase Wein, Hugo Th. war dort und wir unterhielten uns angeregt bis nach Mitternacht. Auf dem Heimweg hatte ich ein prachtvolles Naturschauspiel. Die allenhalben dick beschneite Landschaft war vom Vollmond geisterhaft grell und fast taghell beleuchtet, am zartblauen hellen Nachthimmel jagten hastig große weiche, ganz und gar weiß schimmernde Wolken daher. Von allen Dächern tropfte es im Tauwetter und alle Schatten und nicht schneebedeckten Flächen erglänzten in tiefer satter Schwärze. Dazu trieb die Mosel große Mengen Treibeis, das weiß und morsch sich mit weichem Zischen aneinander vorbei schob und es sonderlich eilig zu haben schien, unter den Brückenjochen davonzukommen. – Christabend verlebten wir fröhlich zusammen unter hellem Jubel der Kinder. Für mich hatte der Tag große Gegensätze gezeigt und mancherlei Erfahrungen gebracht. In aller Frühe war ich bei knirschendem Frost mit den beiden Brüdern Th. am Moselbahnhof zusammengetroffen. In Decken gewickelt machten wir mitsammen im ungeheizten Abteil die kühle Fahrt nach Trier. Unterwegs ging die rote Wintersonne strahlend über der frosterstarrten Mosellandschaft auf. Dort angekommen, holte uns in leise beginnendem Schneetreiben Bankdirektor Dr. Br. ab und ich ging mit ihm nach Hause und besprach allein mit ihm den Stand der Ehesache von Hugo Th. Dann mit diesem zum Hotel, wo seine Frau und Schwiegermutter, nach Drahtansage auf eigene Faust von Stuttgart nach einer ziemlich ergebnislos gebliebenen Aussprache in Würzburg unter Ausnützung der Weihnachtsstimmung hierher gekommen und von Br. mit Recht wenig gnädig empfangen, nur auf ihn wartete und uns auch gleich auf der Straße abfingen. Erst spazierten wir dann eine Weile auf der kalten Straße herum, H. mit seiner Frau voraus, ich mit der unaufhörlich schwatzenden und von intimen Einzelheiten überströmenden Alten hinterdrein. Endlich verstanden sie sich zu einer Rücksprache im Gasthof und nachdem ich mit Mühe die Alte endlich losgeworden, hatte ich mit der jungen Frau eine längere ernste Aussprache, die ihr wohl über viele größere Gesichtspunkte die Augen ernstlich öffnete. Trotz aller innerer und äußerer Schwierigkeiten blieb sie entschlossen, die Ehe nochmals mit ihrem Manne, vorab an einem anderen Ort, zu versuchen. Und wenigstens darin sind die Gatten sich einig. Im roten Haus oder Steige trafen wir dann wieder Bruder P. und Herrn Br. Wieder Rücksprache, bei Austern, vorzüglichem altem Bordeaux und gutem Mittagessen und dann 340 heim, wieder

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im zunächst ungeheizten, später langsam sich erwärmenden Abteil. Es fuhren da 2 junge Leutnants mit, die in Heimurlaub kommen und Entsetzliches ... in Cambrai und Paschendaale erlebt hatten. Sie waren munter und wohlauf und guten Mutes und meinten zum Schluß untereinander: Im Februar sind wir hoffentlich in Calais und im May ist Frieden! –
Wenn man es auch nur so optimistisch ansehen könnte. Es wird ja wohl im Osten vielleicht schon in recht naher Zeit zu einem Frieden kommen, im Westen aber werden wir noch lang und heftig mit dem zähen Engländer kämpfen müssen, den verblendeten, aber militärisch noch am befähigsten Franzosen nicht zu vergessen, bei dem allerdings politische Wandelprozesse im Inneren des Landes schon bedenklich wetterleuchten, dessen Wachsamkeit an der Front aber nach wie vor unvergleichlich ist. – Der Markkurs beginnt in den anstoßenden neutralen Ländern bereits zu steigen. Ob das bald eine Verbilligung von Nahrungsstoffen ect. bringen wird? Mit den Russen ist bereits wieder Handelsverkehr angeknüpft. Wir haben da merkwürdig bescheidene, allen Demokraten sehr entgegenkommende Friedensformulierungen aufgestellt, hoffentlich benutzen unsere Diplomaten dieses an sich nicht törichte Instrument, um die russischen Doktrinäre, die an ihre eigenen Weltbeglückungsgedanken zu glauben scheinen, gehörig einzuseifen. In Estland sieht es böse, sehr böse aus. Wie im 30jährigen Kriege, schreibt Freund Bruhns ganz trüb und traurig. Die russischen Soldaten hausen dort wie tolle Bestien.
Nun gehts zum neuen Jahr! Wir sind diesmal zuversichtlicher als voriges Jahr, Helene und mir geht es gesundheitlich sehr viel besser. Natürlich darf Krankheit nicht fehlen und so ist dann das Kinderfrl. an Husten und Bluthusten so ernstlich erkrankt, daß wir sie nicht länger halten können. Endlich habe ich es durchgesetzt, daß neue gesucht wird, die jetzt schon längst zur Stelle sein müßte. Die Sache ist leider sehr gegen meinen Willen immer wieder hinausgeschoben worden. Es wird nicht lange dauern, so sitzen wir ohne Ersatz da. Hoffentlich läßt sich das irgendwie vermeiden.
Auch sonst geht es uns wirtschaftlich besser. Wir haben zwar diesmal kein Schwein geschlachtet, aber allerhand Ersparnisse machen können und gehen mit reichlichen Vorräten an Lebensmitteln ins neue Jahr. Das weitere bleibt abzuwarten. – Auf das Jahr zurückblickend können wir wohl zufrieden sein. Trotz aller Krankheiten blieben wir am Leben und sind heute frischer und kräftiger als zuvor. Ich war zwar von Juni bis November von den Kindern und von hier weg, lernte eine prächtige deutsche Landschaft auf der rauhen Rhön kennen und war lange in Bonn. Die Lunge spielte mir allerhand Streiche, doch läßt sie mir jetzt Ruhe. Freilich nehme ich mich sehr in acht, mache keine Liegekur mehr draußen, sondern lege mich tag-täglich nach Tisch nur ins Bett. Es bekommt mir am besten. Mit meinen Zeitungsartikelchen hatte ich allerlei Glück und fast allmonatlich eine hübsche kleine Nebeneinnahme. Dazu kommen die Kriegszulagen und einige Gewinne, die mir der Krieg nun doch auch noch zuwarf: Die Beratung von Frau Liell nach dem Tode ihres Sohnes erwies sich als sehr fruchtbringend, einige kleinere und größere Weinkäufe brachten etliche Sümmchen und schließlich hatte ich auch für die kürzliche Trierer Reise erstmals etwas für eine derartige Vertrauenssache, aus der sich vielleicht noch anderes künftig entwickeln kann. Auch fühlen wir uns hier fester eingewurzelt, und wenn sich meine Gesundheit auf die Dauer hier hält, so wollen wir es wohl zufrieden sein. Was uns einzig fehlt, ist die Nähe zu Bonn und den lieben Eltern. Gottlob blieb uns Wohnungssuche und Umzug erspart, wie er bei dem heftigen Grundstückswechsel jetzt so manchen hier trifft. Wir haben angenehme Hausleute in

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Herrn Leistner mit Frau, 2 Töchter, 1 Söhnchen und Dienstboten eingetauscht, die uns weniger lärmvoll vorkommen als Frau L. ehedem mit ihrer rastlosen Unruhe bei Tag und Nacht. Zumal zur Nachtzeit gleicht das Haus, wie ich es gern ausdrücke, einem Nervensanatorium, wir hören weder jemanden zu Bett gehen noch aufstehen und gedenken des heftigen Polterschritts von Frau L., die zwischen 12 u. 3 zu Bett ging und bereits ½ 6 wieder sich herausarbeitete, wie einer längst vergangenen Zeit.
Heute sind die Kinder selig: Sie haben Sieburg’s Kinder zu Besuch, tranken zusammen Kakao und tafelten herrlich mit Mariannchens prächtigem Geburtstagskuchen, der aus Diätgründen bis heute aufgespart worden war. Herta hat bereits eine von ihr aus mit Hartnäckigkeit betriebene Freundschaft mit Heinrich Leistner, dem kleinen Jungen unseres Hauswirts, den sie aus dem „Unterricht“ (=evangelische Religionsstunde) bereits lange kennt. Der nette schüchterne blonde Junge erinnert mich lebhaft an meine eigene Jugend. Ich war nur 1 Jahr älter, als ich 1890 als Sextaner die Familie Reitmeister, Willi und Helene und deren Eltern in Bonn kennen lernte. Helene hat der gleichen Sache kürzlich gedacht. –
Für mich selbst habe ich mir zu Weihnachten mal ein wenig Ausschweifung erlaubt, indem ich mir für gut 60 M Bücher anschaffte. Freilich wird es schwer halten, sie passend unterzubringen, denn der Bücherschrank schwillt bedrohlich über. – Notar Sieburg mußte trotz aller befürworteter  Entlassungsgesuche vor Weihnachten als Telegrafist nach Kowno zurück. Vermutlich hat er es übersehen, an geeigneter Stelle sich liebenswürdig zu zeigen oder auch ein kleines Schmierpflaster geschickt anzubringen u.s.w. und nun hat er noch allerlei Umstände bis er, wie mir wahrscheinlich dünkt, entlassen werden wird.