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Bernc. C. 13.1.1917
Gestern hatte ich einen bewegten Tag, es war „ein Tag unter den Tagen“
und so reich an Eindrücken aller Art für mich, daß ich
jetzt in Ruhe ein wenig besinnen muß, um alles geistig zu verdauen.
Es begann vorgestern vormittag damit, daß Helene mich auf dem Amt
aufsuchte mit einer an mich gerichteten Depesche, in der es hieß,
am 12. ds. Monats vormittags zur ärztlichen Untersuchung erscheinen,
Bezirkskommando I Trier. Ich muß gestehen, daß ich mir selbst
zum Erstaunen, sehr ruhig blieb, während Helene ein wenig aufgeregt
war und sofort an Ausrücken ins Feld dachte. Aber so schnell schießen
selbst heute die Preußen noch nicht. Unser gleicher Gedanke war:
Jetzt muß aber das ärztliche Zeugnis vom letzten Kururlaub (Jan
- April 1916 Leysin) endlich vom Landratsamt zurückgeholt werden,
ich sollte es schon lange zurückbekommen. Zunächst wurden mal
erst die Hälfte der vorliegenden Akten erledigt, dann marschierten
wir los, wurden aber sofort von Hugo Thanisch abgefangen, der mich frug,
ob ich auch eine Vorladung bekommen habe, er und sein Bruder Paul seien
bestellt. Da dieser zu Kur in Partenkirchen weile, habe er ihn schon durch
das Landratsamt entschuldigen lassen. Dann erzählte er eine lange
Geschichte, daß „nur die Jäger“ vorgeladen seien. Ich hielt
das zunächst für Anulkerei, da ich dachte, er wollte mich wegen
meiner seltenen Jagdausflüge und wegen des Zeitungsartikels über
den „Jagdhamster“ (Ich hatte hierüber eine kleine humoristische Skizze
an die Kölnische Zeitung gesandt und diese veröffentlichte sie
als von einem „Bernkastler Leser“ stammend. Ich wurde als solcher bald
erkannt und die Herren Jäger hier waren verdrossen, weil sie tatsächlich
kräftig „hamsterten“, d. h. das Wild nicht ablieferten. Ich lachte
darüber und es half, wir hatten bald wieder etwas Wild!) anöden.
Später stellte sich heraus, daß er tatsächlich recht hatte.
Nach endlosem Suchen, bei dem ich Gelegenheit hatte, den nervös zappelnden
Kreisausschußsekretär inmitten seiner zahlreichen Papierhaufen
mit völlig ungeordneten Aktenstücken zu bemitleiden, fand sich
endlich das Zeugnis. Ich half selbst mit suchen. Was lagen da für
Papiere zusammen! Bald „Minister des Innern“, bald „Reichsgerstenstelle“
bald Gesuch eines Bauern wegen Schweineschlachten, Antrag eines Kranken
wegen Fetterhöhung, Zuckerbezug für die Winzer zur Weinverbesserung,
kurz alles Erdenkliche im buntesten Durcheinander, das Ganze in einer schmalen
engen Zelle von der Größe eines altrömischen Schlafgemachs,
ein Telefonapparat mit zahlreichen Schaltungen, der allzu klingelte und
ungeduldig bedient werden wollte. Wenn der Mann verrückt werden sollte
– es schien mir unvermeidlich – konnte man ihn ruhig in dieser Zelle lassen,
sie war kräftig am Fenster vergittert und ich konnte mir lebhaft vorstellen,
wie der tüchtige Kerl „makor bibas“ (in großen Schritten?) auf
den 2 ½ qm Fläche zwischen Tisch, Telefon, Stehpult und Aktenböcken
herumtoben würde. Zu Hause überlegten die Kinder bereits eingehend
den Fall, daß der Vater nach Trier und Soldat werden würde.
Marianne ahnte Schlimmes und behauptete, der Vater müsse wieder kommen,
sie beruhigte sich schließlich selbst mit der eigenen Feststellung,
daß er jedenfalls wieder da sein müsse, wenn es „Suppe zu essen“
gäbe. Nach dem Mittagsschlaf empfing sie mich beim Kaffee sofort mit
der Frage, ob ich schon von Trier wieder zurück sei. Herta dagegen
erörterte mit Verständnis die Uniformfrage und namentlich auch,
was Onkel Carl (der im Felde stehende Sohn unserer Hauswirtin) dazu sagen
würde, wenn Vater auch einen grauen Rock und einen schönen Säbel
bekäme. Den ganzen Nachmittag unterhielten sich die beiden über
diese wichtige Familienangelegenheit. Herta wäre sehr befriedigt,
wenn der Vater Soldat würde, Mariannchen aber wollte ihren Vater haben
und meinte schließlich ganz treuherzig zu mir, wenn du morgen in
„Tiä“ die Franzosen alle totgeschossen hast, dann kommst du wieder,
gelt Vater? Ich versprach ihr dies. „Bringst du auch was mit?“ Ja, auf
alle Fälle ein Jägerbrot oder ein Stück Hasenbrot. Nachmittags
wurden sämtliche Gerichtsakten erledigt, der Fall mit Dr. Schmitz
und Hugo Thanisch nochmals eingehend besprochen, und der alte Geheimrat
Schmitz schrieb noch ein Zeugnis über die letzte Blutung im Januar
1916 und auf dem Amt ließ ich von Referendar und Assessor über
die beste Fahrmöglichkeit, Lage des Bezirkskommandos und alle in Betracht
kommenden Militärsachen namentlich auch den Anspruch auf „Marschgebührnisse“
unterrichten, wobei ich viel
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lernte, denn beide besitzen schon hinreichende Erfahrung im Verkehr
mit den militärischen Ersatzbehörden. Also wohl ausgerüstet,
auch mit 2 Blutwurstbutterbroten von der Hausfrau getreulich versehen,
stelzte ich gestern morgen bei gelindem Schneetreiben in noch halbnächtlichem
Dunkel über die Brücke. Die beschneiten Dächer der Hospitalgebäude
mit einigen erleuchteten Fenstern boten ein stimmungsvolles Winterbildchen.
Auf Vorlage der Depesche erhielt ich eine Militärfahrkarte. Unser
Aktuar Reuter, der seit Jahresfrist jetzt als Gerichtsschreiber und Militärbeamter
in Offiziersuniform hinter Grodno wirkt, fuhr mit und unterhielt mich sehr
anregend durch Erzählungen aus dem polnischen Sprachgebiet dort, das
zwar noch als „Littauen“ bezeichnet werde. Der Winter bringt dort fortgesetztes
Schneewehen, Doppelfenster werden mit Papier verklebt, wie in den Ostseeregionen.
Sogar Pferde werden mitunter ganz eingeweht. Die Ziviljustiz blüht
und wird von der Bevölkerung eifrig in Anspruch genommen. Dabei kommen
natürlich allerlei Kuriosa vor: Kürzlich traf ein Bauer mit einem
wohl vollgepackten Korb ein, schritt sicheren Fußes durch den Sitzungssaal
und hinter das Richterpodium, setzte seinen Korb auf den Richtertisch neben
den Kruzifixus und hielt eine kleine Ansprache, er habe neulich den Richter
bei einer Ortsbesichtigung gesprochen, der habe ihm versprochen, ihn seinen
Prozeß gegen soundso gewinnen zu lassen und da bringe er ihm den
Korb voll Eier u.s.w. Der Mann muß ein dummes Gesicht gemacht haben,
als er durch den Richter und Dolmetsch einen scharfen Anpfiff erhielt,
der Korb beschlagnahmt wurde und er 100 Rubel Ordnungsstrafe aufgebrummt
bekam. Natürlich verlor er auch seinen Prozeß. Reuter meinte,
das Ganze hätte großen Eindruck auf die zahlreichen Zuhörer
gemacht, ich dachte mir: Mancher wird der Meinung sein, der deutsche Richter
verstehe es noch besser, den Parteien was abzunehmen als früher der
russische. Das ewig schaukelnde Moselbähnchen hatte endlich nach 2
Stunden alle Schlingen und Bogen des Moseltals ausgefahren, (Fortwährend
wechselte das Bild zwischen Weinbergsfelsen, Obstwiesen, flachen Ackerflächen
und kleinen Hügelketten und einheitlich blieb nur der hochgehende
Fluß und das Schneegestöber) da waren wir dann glücklich
in Trier. Ich fand sehr schnell und sicher meinen Weg zur Basilika und
mußte vor ihr ein Weilchen stehen bleiben, um mir dieses streng sachliche
und so modern anmutende Bauwerk anzusehen. Die etwas angefeuchteten roten
Ziegel leuchteten rot auf dem Hintergrund des weißen Schneetreibens
und das ganze sah sehr erfreulich aus. Einen scharfen Gegensatz bildete
das dahinter liegende Bezirkskommando, ein recht verfallen aussehendes
massives Bauwerk mit einem geradezu trostlos verschmutzten grünlich
grauen Anstrich und einem kleinen kläglichen Schild. Es hätte
ohne aufzufallen zu den Eingangsgebäuden in Dantes Fegefeuer dienen
können. Im Inneren natürlich recht ausgetreten und ähnlich
schmutzig grau machte es mehr einen liederlich behaglichen Eindruck, der
sich verstärkte durch die recht zwangslos auf den Fluren des II. Stockes
herumstehenden Männer, unter denen ich bald Bernkastler Bekannte traf.
Ich war schon vorher aufgerufen worden und kam so bald dran. Was sich da
versammelt hatte, war spaßig zu besehen. Es waren ganz deutlich 3
Gruppen: einmal Förster, dann „die Herrn Jäger“, teils bessere
Bauern, Weingutsbesitzer und dergleichen, und zum dritten Jagdaufseher
und zu solchen avanzierte Ströpper und Wilddiebe. Die Untersuchung
durch einen sehr rheinisch sprechenden Arzt ging sehr flott, nur einige
wenige wurden überhaupt untersucht und bei mir las er nur 2 ärztliche
Zeugnisse und sagte, es sei gut, ich könne gehen. Etwas von L 47 hatte
der Unteroffizier notiert. Draußen warteten wir dann wieder, um unsere
Papiere abzugeben und abgefertigt zu erhalten. Unteroffiziere und Ordonnanzen
wimmelten vielfach über den Flur, dabei einer, der Zuschneider im
Geschäfte Astor in Bernkastel war, er wurde angehalten und von uns
in das zuständige Lokal mit der Anfrage geschickt, ob wir nicht die
Papiere abgeben und nachmittags abholen könnten. Das ging dann auch
und ich fand mich bald über den Markt zum Justizpalast und wurde sofort
vom neuen Landgerichtspräsidenten Knapp, dem ich mich melden ließ,
freundlich empfangen. Der Mann war von väterlichem Wohlwollen, freute
sich ganz augenscheinlich sehr über meinen Besuch und wohl über
eine Stunde unterhielten wir uns auf das angenehmste. Knapp machte den
Eindruck eines etwas zerzausten kleinen Männchens,
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der sich von schlimmen Erlebnissen erholte und der sich über alles
sehr offen aussprach und für seine Beamten ein sehr warmes Herz zu
haben schien. Er war im Osten in entlegenen polnischen Teilen eine Zeitlang
Kolonnenführer und schilderte mir die Einsamkeit, Leere und Öde
der weiten Gegend dort sehr eindrucksvoll. Nicht mal einen Hasen habe man
zu sehen bekommen. Es sei so weltverloren dort gewesen, daß er von
den körperlichen Strapazen abgesehen in seinem Alter nicht mehr die
nötige seelische Spannkraft besessen habe, um nicht melancholisch
zu werden. Ich wollte ihm nun ein Langes und Breites erzählen, wie
es in den Ostseeprovinzen ganz anders aussehen müsse, er hatte aber
kein Verständnis dafür und zweifelte, ob es dort viel besser
sei. Dabei stellte sich gelegentlich heraus, daß er nicht wußte,
ob Wilna zu Kurland gehörte. Ich beschloß ihn durch spätere
Zusendung von Schriften des baltischen Vertrauensrats aufzuklären.
Er meinte schließlich, er müsse mich ordentlich davor warnen,
mir im Osten irgend was Wünschenswertes vorzustellen. Die übliche
Zusammenstellung von Bildern einzelner Schlösser, Naturschönheiten
u.s.w. gebe ein ganz falsches Bild, bezeichnend sei die grauenvolle Öde
und Leere. Wir besprachen dann noch tausend sachliche und persönliche
Fragen aus der Justizpflege. Er war sehr dafür, daß ich mich
aus Gesundheitsrücksichten versetzen lassen sollte, dann aber irgendwohin,
wo ich mein Leben lang bleiben und mich sozusagen ansiedeln könne.
Er selbst habe für heute noch nicht das Gefühl, festen Boden
und ein unveränderliches Dach über sich zu haben; er habe manche
Enttäuschung erlebt, so z. B. am Oberlandesgericht in Frankfurt, wo
er recht viel geistige Anregung von der schönen Stadt zu haben gedachte,
vor lauter Arbeit aber nicht dazu gekommen sei, davon Gebrauch zu machen
u.s.w. Schließlich trennten wir uns als herzliche Freunde und wiederholt
klopfte er mir väterlich auf die Schulter und auf die Hand.
Draußen wartete College Conrads von Rhaunen, den ich dabei endlich
kennen lernte, und ich wartete, da draußen wüster Schlackerschnee
niederging, bei dem Sekretär hinter einem Doppelfenster mit hübscher
Aussicht auf den Justizpalast im wohlbeheizten Zimmer bis nach 1 Uhr auf
Conrads. Die Zeit wurde mir durch fleißige Unterhaltung mit dem Sekretarius
und Beobachtung des geringen Lebens und Verkehrs auf dem verschneiten Platze
verkürzt. Mit Conrads hatte ich dann eine sehr lange Unterhaltung
auf der Straße, über das Mittagessen hin bis gegen 4 Uhr. Wir
saßen im „Franziskaner“, aßen gutes und reichliches Essen (Suppe,
Stockfisch mit Zwiebel- Öltunke, zum Nachtisch guten Mokai mit Zimmt.)
Alles schmeckte gut und wurde, was ich anfangs nicht für möglich
gehalten hätte, fast restlos aufgezehrt. Conrads machte mir einen
recht harmlosen und körperlich etwas schwächlichen Eindruck.
Er betreibt in dem abgelegenen Rhaunen auch „Ackerbau und Viehzucht“. Vom
Collegen Liell wußte er, daß dieser als schwerer Artillerist
demnächst ausrücken werde. Alle möglichen Fragen wurden
auch mit ihm eifrig besprochen und ein gutes Münchener Bier schmeckte
nicht übel dazu. Er hatte sich, als er vorgestern die Depesche erhielt,
gleich auf den Schlitten gesetzt und war über Morbach mit 9stündiger
Eisenbahnfahrt tags zuvor nach Trier gekommen und blieb auch die folgende
Nacht dort. Er hatte vor Jahren mal einen Jagdschein gehabt und wußte,
daß der Bürgermeister dort hatte eine Liste einreichen müssen
über die Leute, die mal einen Jagdschein hatten. Es war kein Zweifel,
das Generalkommando hatte eine Nachmusterung der „Jäger“ befohlen
und wollte noch gestern abend telegrafisch Bescheid über das Ergebnis
haben. Die meisten waren das geblieben, was sie vorher waren und nur bei
einigen ganz wenigen hatte man eine andere Verwendungsmöglichkeit
herausgefunden. Im übrigen ging alles furchtbar durcheinander, mit
mir wurde z. B. ein im Felde schwerkriegsbeschädigter Förster
untersucht, der bis zur Entlassung nach Hause beurlaubt war. Auch sonst
kamen allerhand Unsinnigkeiten heraus. Conrads war garnisondienstfähig
geblieben wie er war. Er erzählte mir auch allerlei von seiner Bewerbung
um Kriegsgerichtsratsstellen, worüber ich aber durch College Liell
viel mehr wußte, als er zum Besten zu geben für zweckdienlich
fand. Natürlich wurde auch die schlechte Versorgung unseres Kreises,
die Unfähigkeit des Landrats v. Nasse und dessen Hereinfälle
bei Kritik an Strafurteilen besprochen u.s.w. (Bei Conrads war er ebenso
wie bei mir gelegentlich damit angelaufen)
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Amtliche und persönliche Verhältnisse wurden auch mit ihm
ausgiebig erörtert, u. a. will er durch 3. und 4. Hand herum sich
erkundigen, ob College Hindersin in Castellaun von dort nicht wegzugehen
gedenkt (bzw. seine Frau!). Castellaun empfahl er mit wegen der hohen und
geschützten Lage, angenehmen Dienstwohnung u.s.w. sehr. (Der Präsident
hatte gemeint, ob Prüm nichts für mich wäre. Es liegt uns
aber zu abgelegen gegen Bonn hin.) – Schließlich brachte Conrads
mich noch auf den Weg zum Bezirkskommando und verabschiedete sich, da er
noch den Landgerichtsdirektor Schaltenbrand besuchen wollte. Auf dem Bezirkskommando
war ich jetzt schon bekannt, es standen draußen zwei Trupps junger
Burschen, die augenscheinlich einberufen waren und ihre kleinen Koffer
oder Packen zur Hand hatten. Ich bekam den ominösen gelben Ausmusterungsschein
bald zurück mit dem Vermerk „D.U.“ Auch hatte ich bald die Bude heraus,
wo die „Marschgebührnisse“ angewiesen wurden. Der junge Unteroffizier
wollte zwar erst Weiterungen machen, ich stellte mich aber breitbeinig
mit der Hand in der Hosentasche hin, behandelte ihn mit jovialer Grobheit
und erkundigte mich, wann Herr v. Bomer, der Vorsteher der neugebildeten
Versorgungsabteilung, zu sprechen sei. In der Kriegsbeschädigtenfürsorge
habe ich mit ihm einen regen täglichen Schriftwechsel. Das veranlaßte
den Schreiber, eine stramme Haltung anzunehmen und mich höflich nach
meiner „Charge“ zu befragen. Ich mußte nun gestehen, daß ich
noch nicht kommandierender General, sondern ungedienter Landsturmmann sei
und bekam daher nur 2 M. Die aber nahm ich mit und folgte dem weiteren
Rat, den Schriftführer der Versorgungsabteilung, Unteroffizier ...inski
auf Zimmer 30 aufzusuchen. Diese weite Höhle entdeckte ich endlich
und in ihr eine fast unübersehbare Fläche von aneinandergerückten
Tischen, an denen allenthalben Feldgraue, auch 2 Postbeamte eifrig am schreiben
waren. Nachdem ich mit dem jungen Unteroffizier die Fragen besprochen hatte,
die mir auf dem Herzen lagen (hauptsächlich über die Anstellungsscheine)
verließ ich das vielgeräumige Gebäude mit dem erhabenen
Bewußtsein, dem „preußischen Militarismus“ zwei neue Scheine
zu 1 M „entrissen“ zu haben. Das noch übrige Tageslicht benutzte ich
zu einem Besuch der Liebfrauenkirche, deren herrliche, männlich kraftvolle
Gotik mich entzückte. Ob die viereckige hochstrebende Kuppel restlos
gelöst ist, wollte mir etwas fraglich erscheinen, die Durchblicke
durch die Querschiffe ist unvergeßlich. Die Domfassade fesselte mich
diesmal besonders. Ob einer von denen, die heute in romanischen Stilbauten
herum stümpern, den Mut finden würde, eine solche Fassade mit
gelassener Kraft hinzusetzen. Unter dem Balkon der Wohnung des Regierungspräsidenten
fand ich eine trockene Stelle, wo ich sie mir mit Muße besehen konnte.
Auch den entzückenden barocken Eckbau des Kesselstädt’schen Palais
sah ich mir mit geschärftem Verständnis an. Sollte ich in Trier
wohnen müssen, so würde ich den Herrn „Grafen“ bitten, mir den
ersten Stock des anscheinend leeren Gebäudes zu vermieten. Da hätte
man sicher Platz drin. Mittlerweile wurde es dunkel und ich strich mit
der Freude des Kleinstädters an den hellerleuchteten Läden vorbei,
erinnerte mich Helenens Auftrag, nach Käse zu forschen, und kaufte
etwas Thee ein. Käse war nicht zu haben. Dagegen waren allenthalben
Wasserbrödchen und „Schrippen“ in Massen zu haben und ich bedauerte
es sehr, keine Brotmarken bei mir zu haben. Den Kindern hätte ich
damit eine große Freude machen können. Mariannchen, die von
Kriegsbrod aufgewachsen, ißt sie als Kuchen. Zu meinem Behagen fand
ich eine gute Buchhandlung mit übersichtlichen Auslagen draußen
und innen und legte das Militärgeld in einem blauen Buche: Madonna
im Rosenhag an; „Deutsche Bildnisse“ wurden noch dazu genommen. Bald begegnete
mir Tün Schmitz und nachdem ich ihn auf einem Gang zum Militärschneider
begleitet hatte, gingen wir zusammen zum Café Astoria, einem feinen
angenehmen und nicht großen Lokal, wo einige Tische von Offizieren,
andere von Feldgrauen und wenige von „Damen“ und Zivilisten besetzt waren.
Ein Trio spielte gar nicht übel einige Stücke und der Thee mit
„Süßstoff“ und winzigem Sahnetöpfchen schmeckte gut. Es
war mir in dem hellen warmen Raum ganz unwirklich zu Mut. Seit Jahren war
ich wohl in keinem Café mehr gewesen und alles hatte einen eigentümlich
prickelnden Reiz für mich, obwohl ich ganz gut sah, daß die
modernen Wand- und Deckenverzierungen hier und da roh oder kitschig waren
und auch wohl hörte, daß die Musik nichts als allbekannte Walzer
spielte. Bleiche, kranke und verwundete Offiziere erinnerten an den furchtbaren
Kampf draußen und wohl gerade das Bewußtsein der ganzen Zeit
und all ihrer Greuel ließ mir in diesem Lokale alles so seltsam unwirklich
erscheinen. Mit Schmitz, der doch die fürchterlichsten Kämpfe
an der Somme bei Thingval (?) miterlebt und oft in Gefahr war, englischer
Gefangener zu werden, wenn er überhaupt dort lebend herauskam, und
jetzt mit seinem sympathischen und grundehrlichen Gesicht mir beim Glase
Bier gegenüber saß, unterhielt ich mich über meine früheren
Reisen in Belgien und namentlich in Flandern. Ich war ja mal in Ypern gewesen
u.s.w. Ich wüßte nicht, daß ich je mit größerem
Genusse eine Stunde in einem Café gesessen hätte. Meist waren
mir diese Lokale widerwärtig. Schmitz wollte noch den Amtsgerichtsrat
Rey besuchen, ich saß nur kurz allein, als Walter Thanisch kam. Er
war auch wieder garnisondienstfähig geschrieben. Er brachte mich an
einen Nebentisch, wo wir uns noch eine Zeitlang mit Trierer Bürgern
unterhielten, die wegen der Kriegs-Vermögenssteuer in schwerer Sorge
waren und Walter auch damit beschweren wollten. Erst als ich mit Thanisch
durch den Schlackerschnee (sein Vetter Hugo hatte auch vorn im Lokale gesessen
und uns beim Herausgehen schnell noch die „aufregende“ Neuigkeit versetzt,
daß ein „D.U.“-Mann KV –kriegsverwendungsfähig– geschrieben
sei) zum Bahnhof ging, fühlte ich mich wieder in der Wirklichkeit.
Dort trafen wir auf den Nachbar Franz Heiden, der auch erstmals in seinem
Leben einen Jagdschein genommen hatte und daher auch ins „Jägerkesseltreiben“
geraten war. Ihn hatte man als Infanteriegarnisonsfähig oder Kraftfahrerfelddienstfähig
geschrieben. Letzteres zog er vor. Ich nahm eine Militärfahrkarte
für 50 Pf – die beiden hatten noch was vor und gingen wohl wieder
zur Stadt – und fuhr mit dem Bummelzug
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615 langsam und gemächlich auf Wengerohr zu. Mit zwei Frauen
kam ich bald ins Gespräch, nachdem ein 4jähriges Töchterchen,
das eine Dame mithatte, uns miteinander näher gebracht hatte. Die
ermüdete Kleine, Annemarie mit Namen schlief bald ein, draußen
jagte der Schneesturm und im gemütlich warmen Abteil drehte sich das
Gespräch bald um das übliche und unvermeidliche Thema. Da wurden
teilweise ganz schnurrige Sachen erzählt: Bauersfrauen legen in ihre
Wohnungen 1 Pfd Butter auf den Schrank, verlassen die Wohnung und
finden später statt der Butter 4 M dort liegen u.s.w. mehr. Die harmlosen
Leute glauben sich damit der strafbaren Höchstpreisüberschreitung
nicht schuldig gemacht zu haben. Es stellte sich heraus, daß die
Dame mit dem Kind – vielleicht eine Collegenfrau? – aus Wittlich war und
es zeigte sich wieder die alte Weisheit, daß dieser Ort und Kreis
viel besser versorgt ist als wir Bernkastler. Bei nur einem Kind hat sie
2½ l Milch – um diese tobt hier jetzt allgemach ein heftiger Hausfrauenstreit
– und neulich erst bekam sie sogar 3 Pfd Schweizerkäse! – In Ehrang
stiegen 2 Arbeiter ein, der ältere in blauem Mantel machte einen stattlichen
Eindruck, und nachdem ich mich nach den Servais-Werken erkundigt hatte,
entpuppte er sich als ein Meister aus dieser Fabrik, der dort schon 34
Jahre in Diensten steht. Er kannte die ganze Familie gut und namentlich
auch unseren früheren Assessor hier, von dem er mit großer Hochachtung
und Wärme sprach. Ich erfuhr, daß er jetzt in einem Ulanenregiment
und an der Front sei, daß die Witwe des gefallenen Landrichters Streng
mit 1 Kind zu Hause und leidend sei, neulich eine große Menge kostbarer
alter Möbel der verstorbenen Großmutter heimgekommen sei, wir
sprachen von Keramik, erfahrenem Brennen, Konkurrenz in Bonn und Witterschlick,
Verschiedenheit der Tonlagerungen und dadurch erschwerte Möglichkeit
für die Herstellung gleichmäßiger Waren und was weiß
ich alles. Chemiker aber haben sie nicht, was ich beanstanden zu müssen
glaubte. Es war ein prächtiger bejahrter Mann von gutem Schrot und
Korn. Jetzt wird das Werk auch auf Granatenpresserei und -dreherei „umgeschaltet“.
Daneben aber wird – auch zu Kriegszwecken – eifrig feuerfestes Zeug aller
Art weiter fabriziert. Später war ich mit der Dame allein und unterhielt
mich mit ihr aufs Beste. Sie war mit Mann und Kind im Sommer in Partenkirchen
gewesen und hatte die Ernährung dort sehr schlecht gefunden – die
Baiern wollten sich im Sommer 1916 nicht von den Preußen „ausfressen“
lassen. – trotz 13 M täglicher Pensionskosten pro Kopf hätten
sie 2 ½ Wochen keine Milch gesehen. In München dagegen sei
für gutes Geld fast alles wie früher zu haben gewesen. – In Wengerohr
gabs raschen Anschluß und außer einigen Feldgrauen saßen
die üblichen Bernkastler Bekannten bereits drin. Also gings auch hier
nicht ohne Unterhaltung ab und leise stechende Kopfschmerzen zeigten an,
daß der Schädel an Eindrücken aller Art gesättigt
war. Die Kinder waren zu Bett und nur Herta begrüßte ich noch
am Bett. Zum Abendessen entwickelte ich einen urtümlichen Hunger.
Die Durchblätterung der gekauften Bücher versprach manchen künftigen
Genuß und nach einem warmen Bad schlief ich mich gründlich aus.
Heute Schlackerschnee und Schnee. M.R.
17. Jan. 17. Es ist eine merkwürdige Zeit jetzt. Der „Friedensrummel“
ist anscheinend vorbei, auf allen Seiten wird eifrig gearbeitet, was wird
das Frühjahr bringen? – Das Generalquartier soll jetzt nach Kreuznach
verlegt worden und unser Gerichtsdiener frug mich heute schon ängstlich,
ob ich nichts davon gehört hätte, daß Trier zu „Operationsgebiet“
erklärt werden sollte. Es müssen wieder tolle Gerüchte herumlaufen.
Die Zeitungen sind an eigentlichen Nachrichten recht mager. Die letzten
Tage brachten uns anhaltenden Schnee, der fast bis in die Stadt hinein
liegen blieb. Sonntag, Montag, Dienstag waren jedesmal Saujagden hier:
im Bernkasteler, Graacher und Andeler. Ich trabte fleißig mit. Es
waren schöne Wintermärsche, von denen ich noch näher erzählen
will.
25.1.17. Donnerstag. Nun sitze ich seit Sonntag an einer neuen Erkältung
wieder im Stubenarrest und draußen ist schönstes sonniges Frostwetter,
freilich auch kalter Wind. Hugo Thanisch war Montag und gestern abend nach
Tisch bei uns und wir unterhielten uns vorzüglich. Für Anfang
Februar soll nochmals – diesmal für die Betroffenen angeblich letzte
Nachmusterung hier sein. Nun, was wird da eine erlesene Krüppelgarde
antreten! Über Tuberkulose im Heer bringt heute die Kölnische
Zeitung einen Leitartikel mit der Schlußwendung, daß aus den
Heilstätten viele wieder in den Heeresdienst hätten übernommen
werden können! Die neueste „Friedensnote“
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des Mr. Wilson (Anrede an den amerikanischen Senat) erscheint mir stark
doktrinär wenn nicht gar verdächtig. Ob England dahinter steckt
oder ob Amerikaner den Oberschiedsmann spielen will? – Der Eisenbahnwagenmangel
wird allmählich recht empfindlich bei uns. – Buchweizenmehl, das zu
haben war, ist derartig stickig, daß alle es wieder zurückgaben.
Notar Sieburg ist nun im Telegr.Batl. in Coblenz, liegt in einer neuen
Kaserne und nimmt die Sache nicht tragisch. – Der Schleichhandel
mit Lebensmitteln zeitigt immer tollere Blüten: In Bonn kostet jetzt
solche Butter 9 M per ½ kg! Speckseiten zu 80 und Schinken zu 100
M sind keine Seltenheit.
31. Jan. 1917. Wir haben richtigen Winter. Es friert selbst bei uns
im warmen Moseltal nachts zwischen -5° - -10° und tagsüber
fällt dann und wann etwas dünner Schnee aus hellgrauem Himmel,
bald scheint die Sonne. Die Mosel, stark zurückgegangen, aber immerhin
noch reichlich Wasser führend, bringt in ununterbrochener Fülle
prächtige Eisschollen. Die Vögel sind ebenso wie das Wild arm
dran. An den aufgebrochenen Eisrändern am Strom sah ich gestern Bläßhühner,
Krähen, Schwarzamseln und allerlei Kleingevögel, die alle eifrig
auf der Nahrungssuche sind. Unser Vogelfutterhäuschen am Fenster des
Kinderzimmers erfreut sich eines recht lebhaften Verkehrs. – Am 27. soll
hier Nachmusterung der DU-Mannschaften sein, nach dem Wortlaut der gestrigen
Bekanntmachung wäre ich von ihr befreit, weil ich erst seit dem 1.
Dez. 1916 untersucht worden bin. Gestern schrieben wir an Stolte und seine
Frau und wünschten Glück zu dem Kriegsjungen, der kurze Zeit
nach dem Tode seines Großvaters Marfording in Paderborn zur Welt
kam.
Marianne hat keine rechte Freude daran, draußen zu sein, sie
bekommt kalte Füße und Hände und wünscht sich bald
heim. Trotz Dauerschnupfens und geringen Hustens sieht sie gut aus. Herta
geht es gut und sie kommt regelmäßig heraus. Beide entwickeln
namentlich mittags einen erstaunlichen Appetit und essen reinweg alles.
Jedenfalls lernen sie vieles essen, was wir in unserer Jugend nicht mochten,
und so hat der Krieg in der Kinderstube einen ganz vorzüglichen erzieherischen
Einfluß.
Der folgende eingerahmte Eintrag vom 5.2.17 ist mit roter Tinte geschrieben.
5. Febr. 1917. Von einer leichten Lungenblutung heute erstmals nach
4 Tagen Bettruhe wieder auf und bei strammem Winterfrost still im Wohnzimmer
sitzend bringt die Zeitung die Kunde vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen
durch Amerika. Nun, das wird uns den Arm hoffentlich ganz frei gegenüber
England und der ganzen Welt machen. Es wird ein tolles Mordrasen zur See
werden und hoffentlich werden dem britischen Löwen soviel Zähne
ausgebrochen, daß er klein bei giebt. –
8. Febr. 1917. Ich sitze immer noch in der Stube, draußen strahlt
hell ein eisiger Winter; die Mosel, schon längst voller Treibeis,
hat sich gestern auch hier zugesetzt und ist jetzt ganz erstarrt. Seit
1893 ist es das erste mal. In der Welt herrscht eine seltsame Stimmung.
Den Amerikanern scheint es vor ihrem eigenen Mute ein wenig bange zu werden
und sie möchten gern, daß die europäischen Neutralen „sich
ihrem Vorgehen gegen uns anschlössen“, d. h. ihnen die lästigen
Kriegsgeschäfte besorgten. Ob dieser naiven Zumutung ernten sie hier
und da verdienten Hohn und den Hinweis auf die Warnungstafel |Rumänien|.
Tatsächlich wird vor allem die Schweiz und anscheinend auch Holland
sich nicht aus ihrer
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Neutralität herauslocken lassen. Sie sind die nächstbeteiligten.
Schließlich werden durch den englisch-amerikanischen Druck die europäischen
Neutralen z. T. vielleicht doch noch – wenigstens wirtschaftlich – auf
die Seite der Mittelmächte, also zu „Mitteleuropa“ gedrängt.
Vor allem zeigt sich das jetzt bei der Kohle. Überall herrscht an
solcher jetzt Mangel. Schulen werden auch hier jetzt auf einige Zeit zur
Kohlenersparnis geschlossen. Holland, Schweiz, Schweden und neuerdings
Norwegen erhalten von uns Kohlen; deren Ausfuhr von England, Frankreich
und Italien wird scharf eingeschränkt und namentlich Italien, wo auch
große Kälte herrscht (bis -23°, in Deutschland stellenweise
bis -33°) wird bald kräftig frieren. Unter weiter günstigem
Wirken unserer Uboote könnte tatsächlich der Krieg sehr abgekürzt
werden. Denn ohne Kohlen brechen Frankreich und Italien zusammen. Die Engländer
halten alle neutralen Schiffe fest, vermutlich um sie erst dann auslaufen
zu lassen, wenn – wie jetzt schon geschehen – unsere Schonfrist abgelaufen
ist. Alle Welt aber scheint von dem Ernst und dem Nachdruck unseres neuen
Ubootkrieges fest überzeugt. – Unterdessen herrscht hier im Städtchen
lebhafter Betrieb. Gassen hat sein Hotel für kurze Zeit wiedereröffnet
und die Doctorweinstube ist täglich offen. Es ist Weinversteigerung
im Kasino und der wunderbare 1915er erzielt gute Preise. Helene besuchte
gestern Frau Emmy Th., die durch den Tod ihrer Mutter schwere Tage hinter
sich hat. Dort aber war alles erfüllt von der großen Neuigkeit,
daß ihr Schwager Hugo Th. sich verlobt hat. Die Geschichte ist ein
wenig sonderbar und vielleicht hat es einigen Wert, etliche Punkte davon
zu notieren: Am 22. und 24. war Hugo abends nach Tisch bei uns, am 26.
sah Helene seine Mutter mit dem „Besuch“. Sonntags zuvor war Hugo mit Mutter
in Frankfurt gewesen und früher hatte er schon einmal einen „Abstecher
nach Stuttgart“ gemacht. Auch fiel uns gestern ein, daß Schönberg
mit Schwester vor einiger Zeit in Stuttgart waren und dort auch bei „einer
Familie zum Thee“ waren ect. Kurz, die Geschichte scheint mir einfach die:
Die Mutter wünscht zumal nach Antons Tod und bei der Kinderlosigkeit
des Sohnes Paul, dringend, daß H. heirate und hat ihn anscheinend
zu einer Verlobung vermocht, die mir – trotzdem daß H. sich nun endlich
„erklärt“ haben soll, äußerst problematisch erscheint.
Wenn sie nur nicht ausgeht, wie s. Zt. die seines Vetters Anton Schmitz.
Ich möchte es ihm nicht wünschen. Im übrigen verkehrt er
nach wie vor eifrig bei Lauers, bei Paul ect. und läßt die „Braut“
bei der Mutter sitzen. Gespaßige Sache.
10.2.1917. Jetzt laufen allenthalben Nachrichten ein, nach denen der
Ubootkrieg mit voller Stärke eingesetzt hat. Soll man – auch feindlichen
Mitteilungen – ihnen trauen dürfen, so werden täglich 40-60000
Registertonnen versenkt. In England ist man auffallend kleinlaut geworden,
und die Vereinigten Staaten haben sich eine ausnahmslos glatte Absage aller
Neutralen geholt mit ihrer dreisten und naiven Aufforderung, gegen uns
vorzugehen. Unsere tatsächliche heute Land- und Seegeltung scheint
mir durch
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nichts charakteristischer bestätigt und zu sinnenfälliger
Erscheinung gebracht zu werden als gerade durch dieses Verhalten der Neutralen
und der darin liegenden starken diplomatischen Niederlage der Amerikaner.
– Der Frost hält an. Ich hoffe, heute erstmals ausgehen und die erstarrte
Mosel sehen zu können. Ant. Thanischs haben für 50 Fuder 1915
hier auf der Versteigerung ca ¼ Million erzielt, auch wohl noch
50 Fuder im Keller. Was aber haben sie von ihrem Geld?
13.2.17. Bis zum 10. sollen ab 1. Febr. 250000 t von unseren Ubooten
versenkt worden sein. Das wäre ein sehr großer, hocherfreulicher
Erfolg und in einer abschreckenden Wirkung noch nicht völlig übersehbar.
Amerika rüstet, mit großem Geschrei und vermutlich stets weiterer
kriegerischer Maske gegen uns, tatsächlich aber wohl gegen Japan.
Mit Österreich sucht es sogar diplomatischen Verkehr aufrecht zu erhalten.
Sämtliche Neutralen haben ihm abgewinkt, darunter Schweden mit einer
recht deutlichen Zurechtweisung. Hoffentlich gelingt es uns, nicht nur
England ans Hungern zu bekommen, sondern namentlich den Verkehr von dort
nach Frankreich und damit die große Offensive an der Westfront zu
hindern. Trotz der grimmigen Kälte geht der Krieg sogar an der Düna
weiter. Der Tagesbericht wird in letzter Zeit wieder länger und an
der Somme scheinen die Engländer wieder vorgehen und vor allem Serres
in ihre Gewalt zu bekommen wollen. = Aus der Trierer Stadtbibliothek erhielt
ich Viktor Helns Kulturpflanzen, eine riesige und hochinteressante geschichtliche
Darstellung, der leider ein wenig die naturwissenschaftliche Seite abgeht.
Ein verständnisvoller Moderner könnte aus dem reichen Stoffe
ein restlos genießbares Buch (vielleicht) machen. Ferner Nansen’s
Nordpolfahrt mit der Fram, aus dessen 2. Band wir uns abends regelmäßig
gegenseitig vorlesen. Seit gestern habe ich mich auch ein wenig um unsere
Wirtschaft gekümmert und schon allerlei erledigt. Morgen soll es die
sehnlichst erwünschten Braunkohlenbriketts geben; ebenso 100 kg gebrochenen
Gaskoks. Das sind heute Kostbarkeiten. Nicht minder eine Fuhre Pferdemist
vom Nachbar Thal. Trotz ihrer ganz vereisten Ställe sind die Karnickel
wohl und so werden wir wohl auf eine Zucht hoffen können. Das Frühgemüse
ist wohl leider vollkommen erfroren und ich werde wohl damit beginnen müssen,
meine Pflänzchen im Zimmer heranzuziehen.
26.II.1917. Mit England werden wir uns auf einen harten End(?)-Kampf
gefaßt machen können. Der Diktator Loyd George dort hat seine
hochtönenden Phrasen aufgegeben und wird ganz sachlich. Die Kohlen-Bergwerke
sind dort schon beschlagnahmt (bei uns kommt 20 % Steuer auf Kohle = 500
Millionen jährlicher Ertrag) und jetzt wird die Einfuhr aufs alleräußerste
dort beschränkt und der Schiffsneubau mit aller Macht betrieben. Damit
hoffen sie unsere Uboot-Bedrängung zu überwinden. – Die wenigen
nicht fettregulierten Lebensmittel werden stets teurer, freilich gewiß
die Kontrolle stets weiter. Gleichwohl wird noch viel „Schleich“handel
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getrieben und dieser giebt dann wohl die Preise an, wie wir sie im
freien Handel haben würden: z. Zt. 1 Schinken 100 - 150 Mark, 1 Gans
bis zu 50 M, 1 Pfd Butter 9 - 10 M; Öl: 15 - 18 M p. l.; Honig 6 M
per ½ kg (Öl und Honig außer Kontrolle!) u.s.w. – Mit
dem 1.4. tritt hier Kriegsküche in Tätigkeit, wir meldeten uns
für 2 Personen an; viele „Gebildete“ nehmen daraus, während die
Cueser Schweden (? Schno-den?) sich natürlich gar nicht gemeldet haben.
Sie sehen es als „Armenunterstützung“ und vermutlich für „beschämend“
an. Ich rechne, daß sie zu Anfang am besten kochen wird. Wir
können damit an eigenen Vorräten erheblich sparen und über
die kritischen Monate Mai, Juni hinüberkommen. – Das Begräbnis
des Kreisschulinspektors und Schulrats Müller hat dann noch den üblichen
klerikalen Zank entfesselt. Die katholische Geistlichkeit war ihm aus seiner
Amtsführung nicht grün, und verweigerte voll christlicher Nächstenliebe
das kirchliche Begräbnis, vermutlich, „weil er seit Jahren seinen
kirchlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei“ (Beim Collegen Anton
Thanisch war dies kein Hinderungsgrund!). Er wurde dann von evangelischen
Geistlichen auf dem kleinen „blauen“ Friedhof beerdigt mit sehr großer
Beteiligung, worunter auch –ärgerlicherweise?– der katholische Dechant
von Bischofsdrohn war. Ich kam zu spät und ging sofort wieder, weil
das triefend nasse Nebelwetter mir zu gefährlich erschien. – Mit Lesestoff
bin ich jetzt reich versehen, Mutter Reitmeister schenkte mir 2 sehr lesenswerte
Bücher zum Namenstag, und die Trierer Stadtbibliothek sandte mir höchst
wertvolle Reisebeschreibungen, wie Sven Hedin’s Durch Asiens Wüste
und Roald Amundsen’s Nordwestpassage u. a. Gestern hatte ich mich sehr
ruhig zu verhalten, da morgens gefärbter Auswurf Befürchtung
zu neuer Lungenblutung zu geben schien. Gottlob war es wohl nur aus der
Nase. – Mit Vater Erkleben wurde gestern abend der Mohnanbau entgültig
besprochen. Es sollen 300 qm besät werden, der Rest von ca 200 qm
wird mit Erbsen und Bohnen bepflanzt. Vielleicht, daß wir nach Mohn
noch Steckrüben in 2. Kultur ziehen können. –
28. Febr. Die Januar-Uboot-Beute ist schon bedeutend, wie werden die
Ziffern für Februar sein? Hocherfreulich sind heute morgen die Worte
unseres Unterstaatssekretärs (des auswärtigen Amts) Zimmermann
zu hören, mit denen in recht dürren Worten den Spaniern Vorschläge
zur Verwertung ihrer Früchte ect. gemacht werden. Er behauptet sogar,
der Krieg gehe dieses Jahr zu Ende. Hoffen wir, daß er Recht behält.
Daß man auch bei uns jetzt Lungenkranke als Heeresersatz gebrauchen
kann, ist zwar lange kein Geheimnis mehr, doch wurde es auch hier gestern
bestätigt: Während bei der wiederholten D.U.-Musterung die wirklichen
Krüppel außer Kontrolle gesetzt wurden, erhielt Paul Thanisch,
nachdem er noch vor 2 - 3 Wochen Bluthusten gehabt, die Kennzeichnung als
„zeitig kriegsverwendungsunfähig, 6 Monate. (z. Kr. v. u.) Wobei der
von seiner Krankheit wohl unterrichtete Oberstabsarzt Dr. Döblin („Sally“)
ihn hier untersuchte und auf seine ausführlichen Atteste ect. genau
einging. Er ist aber körperlich in vorzüglicher Verfassung und
seine Fettpolster fanden „wohlwollende Berücksichtigung“. Jedenfalls
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werde ich wohl in 6 Monaten auch mit einer erneuten Untersuchung zu
rechnen zu haben.
5. März 1917. Nachdem vorgestern endlich warmes Frühlingswetter
zu kommen schien, weht seit gestern ein durchdringend kalter Wind und es
friert auch wieder ein wenig. Hoffentlich keine neue Frostperiode. – Mit
der Ausgabe von Bezugsscheinen auf Bekleidungsstücke aller Art ist
es jetzt sehr streng geworden. Bisher war es meist in den Städten
sehr streng damit, und die besseren Frauen vom Lande und den Kleinstädten
kamen die Hände voll Bezugsscheine in die großen Städte
und kauften. Dem scheint man ein Ziel gesetzt zu haben. Hier sitzt der
Bürgermeister in höchsteigener Person mit strenger Amtsmiene
und rauhen Sitten 2 x wöchentlich und examiniert die bittstellende
Weiblichkeit eingehend. Stets giebt es gar nichts oder gewaltige Abstriche,
und die Geschäfte, die sich mit den begehrten Sachen wieder wohl versehen
haben, sind unglücklich (über) tropfenweise und langsame Entnahme
der Waren. – Eben lesen wir im General-Anzeiger, daß so gut wie sämtliches
Aluminiumgeschirr beschlagnahmt und enteignet wird. Da wollen wir uns sofort
die entsprechenden Geschirre in Eisenemail kaufen, ehe diese wiederum aufschlägt.
– Daß wir Mexiko und Japan für den Fall eines Krieges mit Amerika
zu gewinnen suchen, ist famos; wenn auch die verratene Anweisung an unseren
mexikanischen Gesandten jetzt gerade dem Präsidenten Wilson zu gut
kommen mag. Trotz aller Hetze wird es manchen Amerikaner abkühlen.
Die Uboote wirken sicher und riesig, gestern 91000 t gemeldet. In Marinekreisen
ist man fast davon überzeugt, die Engländer in einigen Monaten
zum Frieden zwingen zu können. Selbst Max Forstmann (Forstmann, Max),
der als Korvettenkapitän bei Helgoland eine Tropedobootabteilung führt,
schrieb ähnlich nach Hause; Auch daß die Nordsee leer von Schiffen
sei. Die Note an unseren Gesandten in Mexiko will ich mir hier ausschneiden.
Paul Thanisch, den wir gestern sprachen –er setzte uns einen wundervollen
10er Berncastler Ley vor– wußte von Brüning in Trier: „Die militärische
Lage sei vorzüglich, wie nie, die wirtschaftliche dagegen beginne
bedenklich zu werden.“ Letzhin las ich, daß unser Kurs so steht:
Schweiz 83 M = 100 fr. Spaßeshalber rechnete ich mir gestern die
Gewinnungsmöglichkeit aus, wenn man deutsches Gold zur Schweiz schmuggelt,
dort gegen Franken eintauscht (20 M = 25 fr) und diese in deutsches Papiergeld
zurückwechselt. Für 3000 M ergab sich dabei ein Gewinn von über
1400 M. Darin liegt doch ein sehr starker Anreiz zum Goldschmuggeln! –
Die Kölnische Zeitung brachte letzthin wieder 2 kleine Artikel von
mir, diesmal mit dem Zeichen (Beil) versehen. Liegt darin eine gewisse
Anerkennung als „Mitarbeiter“? Mir solls recht sein. Mein Namenspatron,
der Apostel Matthias trägt ein solches Beil als Zeichen und so paßt
es auch zu mir.
7. März 1917. Der kurze sonnige Schnee und Wintermorgen gestern
war von kurzer Dauer, mittags war alles ein Patsch und heute feucht unter
dem grauen Himmel ein kalter Schneewind, und verurteilt mich zu Stubenarrest,
den ich auch gestern, von einem frühen Morgenbesuch im Garten abgesehen.
Dort war es prächtig: Funkelnde Sonne auf blendendem Schnee, nur eine
Marder- oder Wieselspur zu sehen. Ich kam im übrigen dazu, mit Muße
einen längst bedachten „Kaninchenzucht“ Artikel zu schreiben. Heute
morgen bringt zudem die Kölnische den letzten der von mir eingesandten
und angenommenen Plaudereien und da muß ich als
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„fleißiger Mitarbeiter“ für neues sorgen. – Frau Paul Th.
war gestern da und erzählte Helene u. a. manche Einzelheiten, aus
denen zu entnehmen ist, daß sie einem scharfen Kampfe ums Gut von
seiten der neuen Schwägerin und deren offensichtlich gut unterrichteten
Vater entgegensieht. Letzterer hat sich zur Zeit der seltsamen Ver- oder
Nichtverlobung Hugo’s bereits angeboten, das Gut zu verwalten und alle
Geschäfte zu besorgen. Auch sei er gern erbötig, hierher zu ziehen.
Hierob große Entrüstung P’s und zumal seiner Frau mit Ausmalung
aller Folgen eines solchen Schrittes, an die der biedere H. natürlich
nicht gedacht hatte. Rechtzeitig ließ er sich von P. noch vor jeglichem
„Gütervertrag“ gewarnt, er hätte solchen sonst, wie er selbst
sagte, ahnungslos unterschrieben. Ich selbst wunderte mich, wie er mir
mit herzerfrischender knabenhafter Offenheit erzählte, „er habe morgens
noch nicht gewußt, daß er nachmittags verheiratet sein würde“.
Der geschickte Vater hatte alles bis ins Kleinste vorbereitet und – ob
er wohl genaue Personalkenntnis hatte? – ihm alle und jede Weiterung erspart.
Da er einmal eine Einberufung erhalten hatte, konnte eine aufgebotslose
Kriegstrauung inszeniert werden, Brautexamen wurde durch eine zwanglose
Plauderei mit einem „Prälaten“ ersetzt, der sich zu einem freundlichen
Besuche hier einlud, Trauung fand im Hause statt u.s.w. Das Paar rückte
mit einem neugekauften Flügel hier an und wohnt vorab bei der Mutter.
Die junge Frau geht mit der Mutter fleißig zur Kirche, besucht Verwandte
und vernachlässigt Onkel Jakob nicht. H. trinkt wieder was und war
vorgestern –ohne Frau– bis abends spät in die Nacht hinein bei Paul
und seiner Frau und ging hier so aus sich heraus, wie letztere ihn noch
gar nicht gekannt hat. Zwischen Emmy und Irene aber wird ein heißer
Kampf ums Gut entbrennen, für den schon ausgemacht ist, daß
die Brüder auf alle Fälle miteinander Freund bleiben und sich
in der Kneipe oder sonstigem neutralen Boden stets treffen können.
Soweit die Darstellung, ganz durch das eifersüchtig scharfe Auge Emmy’s
gesehen. Ich notiere mir dieses, weil wir als wenig beteiligte Zuschauer
da noch manches erleben und vielleicht hier und da etwas mit eingreifen
werden. Es ist ein reicher Stoff für eine längere Novelle, selbst
für einen Roman. Ich denke mir, die beiden Brüder werden von
den Frauen geschoben werden und wer den männlichen Erben zustande
bringt, hat das Spiel gewonnen. || Den Schwiegervater H’s kennen zu lernen,
soll mir ein wahres Fest werden; er läßt sicher nicht lange
auf sich warten, bis er hier mal erscheint. Mir will scheinen, daß
er –durchaus berechtigterweise– seine Tochter auch für den Fall, daß
ihre kinderlos bleibt oder „nur“ ein Mädchen kommt, gesichert haben
will, zumal H. alsbald einberufen werden kann. Eine von mir entworfene
Reklamation hat seine Mutter gestern abgeschickt. – Mr. Wilson scheint
mit seinen Vollmachten zum Kriege gegen uns beim Congreß ein wenig
hereingefallen zu sein und sucht jetzt –echt englisch!– China gegen uns
auf die Beine zu bringen! – In London steht man endlich auch Reihe vor
den Geschäften, und zwar um Kartoffeln. In Aachen soll es schlimm
aussehen und in Barmen bereits Krawalle gegeben haben. Im Februar sollen
unsere Uboote wohl 900000 t versenkt haben. Gehts so weiter, so
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wird England wirklich in 4 - 5 Monaten, also bis Juli 1917 klein beigeben
müssen. (?!) Was gäbe man darum, wenn sich das bewahrheiten sollte!
Sogar die mir vom 1.6. zustehende Gehaltserhöhung von 50 M monatlich!
– Mehr nicht? – Aber sicher! –
7.3.17. Allmählich erleben wir auch unmittelbare Kriegswirkungen
hier: Daß das große Hauptquartier in Kreuznach sich schon seit
längerer Zeit befindet, weiß allgemach so ziemlich jedes Kind.
Wer es nicht wüßte, dem müßte die wesentliche Verschärfung
der Fremdenpolizei hier in letzter Zeit auffallen. Eine Reihe Beschränkungen
sind in den Kreisen St. Goar und Bernkastel Cues eingeführt worden.
Heute abend ist in der Zeitung eine neue Verordnung, die das Abblenden
aller beleuchteten Gebäude gebietet. Ich bin neugierig, was noch folgen
wird. Morgen mittag giebts zum erstenmal Kriegsküche. Um welche Stunde,
wissen wir noch nicht.
9.3. Gestern 20 cm Schnee, heute blendende Sonne und - 5° / - 6°
C nachts. Echter Winter. Das Stadtgespräch war gestern die Kriegsküche,
die zum erstenmal ihre Gaben spendete. Während Bürgermeister,
Rechtsanwalt, Amtsrichter und Notar dort holten, findet das Volk, so z.
B. die Notariatsssekretäre dies zu unvornehm. Sie werden schon auch
noch dazukommen. Die Bohnensuppe war ganz ausgezeichnet und wir konnten
sie zu 4 (2 Port.) abends nicht alle aufessen. Die Frau Postdirektor ausgenommen
fanden alle einstimmig die Suppe für ausgezeichnet. Heute giebt es
Graupensuppe. –– Im preußischen Abgeordnetenhause hielt v. Schorlemer
eine recht männliche – Abzugs?- Rede, der neue preußische Ernährungsdiktator
dagegen eine noch schneidigere Rede, bei der sich die Rechte sehr ruhig
und kühl verhielt. Sieg der Stadt gegen das Land? Wir werden wohl
weitere Einschränkungen namentlich in der Brotrationierung bekommen.
– Gestern erhielt ich das v. Schorlemer’sche Zuchtkanin, ein prachtvolles
Tier, das freilich „hochgezüchtet und an Trockenfütterung gewöhnt“,
die erste Zeit noch einige Futtersorgen machen wird. Frau Knoll sagte Kartoffelabfälle
zu.
Eingeklebter Zeitungsausschnitt:
Graf Zeppelin gestorben
WTB Berlin, 8. März. (Telegr.) Graf Zeppelin ist heute vormittag
um 11 Uhr 45 Min. im West-Sanatorium Charlottenburg einer Lungenentzündung
erlegen.
10. März 1917. Leider habe ich diesen wackeren Deutschen nie gesehen, doch verdanke ich ihm 2 unverlöschliche Erinnerungen. Am 6. August 1908 erlebte ich im Sanatorium der Frl. Hering in Inner-Arosa die Kunde von seinem großen Unglück bei Echterdingen. Prof. Huber brachte sie halb weinend an unsern Tisch, sie war von Davos telefoniert worden. Am 7. hatten wir schon 400 fr. gesammelt; war das eine Zeit hoher und allgemeiner Begeisterung! Selbst einige Russen und Italiener steuerten ihr Scherflein bei. – Später stand ich mir mal am Bonner Rheinufer die Beine steif in den Leib, bis wir uns endlich verliefen. Der heißersehnte Z 4 hatte
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sich gegen heftiges Wetter bis Andernach durchgekämpft und hatte
dann vor einem Gewitter nach Frankfurt zurückfahren müssen. Wir
glaubten, ihn zwischen Godesburg und Drachenfels gesehen zu haben. – Sonntags
drauf sah ich ihn, d.h. das Luftschiff, dann zum erstenmal in Hersel in
nassem Nebel hart gegen den Wind ankämpfend, aber siegreich durchdringen
auf Cöln zu. Die Volksspende von 6 Millionen 1908 aber war eine unvergeßliche
Tat, die Einheit des deutschen Volkes hatte einen nationalen Pol gefunden
und brach mit Elementarwucht durch alle Trennungsdecken. Es war fast etwas
im kleinen, wie in den Augusttagen 1914 im Großen. Vom Ausland aus
gesehen, nahm sich diese Bewegung noch besonders stark und mächtig
aus. –
14. März. Die Engländer haben Bagdad genommen und sich damit
für Ktesiphon gerächt. Es ist im Orient ein großer Fortschritt
für sie. Ob die Türken dort zu schwach, oder eigensinnig waren,
oder ob man sie allein hat wursteln lassen, wer weiß es? Schönberg
gab mir gestern Fürst v. Bülow’s Buch „Deutsche Politik“. Die
Sprache ist klar und flüssig und sehr gewandt. – Leider macht heute
Regen anscheinend die dringend gewünschte Feldbestellung mit Mörchen,
dicke Bohnen ect. wieder unmöglich.
15. März 1915. (muß 17 heißen) Es wird jetzt von einer
Verkürzung der Westfront geredet. Was mag da vorgehen? Hängt
es mit der Seesperre zusammen? Heute endlich noch einmal ein Extrablatt,
knallrot und Inhalt entsprechend: Revolution in Petersburg! Wenn man daraus
nur auf einen baldigen militärischen Zusammenbruch der Russen an der
Ostfront hoffen könnte. Helene leidet entsetzlich an Zahnweh infolge
erneuter Kiefereiterung, diesmal am oberen letzten Molar rechts. Christine
arbeitete mit mir erstmals im Garten, flink und anstellig. Endlich scheints
Frühling zu werden.
16.3.17. Seit langem mal wieder mittags im Garten auf dem Liegestuhl.
Sonne und Wind, drängender Frühling. Gestern erste Saat ausgetan,
die Erde ist unter Spatenstichtiefe noch gefroren.– Die Kriegsküche
hat hier nach der ersten Woche mit ca 100 - 120 Teilnehmer in der II. Woche
bereits einige 400! gefunden. Vorgestern bekamen wir nichts, dafür
gestern 4 Portionen, wir werden versuchen, uns zu mästen. Alle größeren
Städte betreiben unter offener Duldung der Regierung eine umfangreiche
Falschmünzerei in Kleingeld. Hugo Thanisch, der junge Ehemann, gab
mir gestern 2 Trierer Groschen, die 8eckig sind und einen nicht üblen
H. Petrus (?) im Wappen zeigen. Bald werden wir wie in den Zeiten des alten
Reichs Kölner . . . Weißpfennige und was nicht alles haben.
Die Münzsammlungen werden blühen. Trierer Groschen werden hier
bereits genommen. – Die Revolution in Rußland ist noch recht unklar,
anscheinend von England und Frankreich unterstützt. Ob nicht schließlich
aber die Volksmasse die Oberhand behält und gegen den Krieg arbeitet?
Die heutigen Revolutionäre sind wütende Kriegsverfechter. – Vor
1 Jahre wurde Willy’s Elsbeth begraben.
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23.3. Gestern hatten wir, übrigens gerade zur rechten Zeit, einen
kleinen häuslichen Brotalarm: Die derzeitigen Brotkarten reichen bis
zum 14. April und wir bekommen insgesamt 25 Brote (à 4 Pfd) darauf
für 5 Wochen (6 Personen, für 1 eine Weizenmehlkarte). Nun waren
in 12 Tagen 11 Brote verzehrt worden, was viel zu viel war. Es kam, weil
das Brot nicht trocken genug war. Nun haben wir sieben zum Trockenliegen
und haben noch 6 zu bekommen. Die Brotfrage wurde nochmals eingehend besprochen
und heute kommt die Nachricht, daß wir künftig ¼ = 25%
Brot weniger bekommen werden. Das ist ein böser Ausfall, zumal in
den Städten, doch hoffen diese auf größere Kartoffelzufuhr.
Hier wurde grade zur rechten Zeit bekannt gemacht, daß 2 Wagen Erdkohlrabi
angekommen sind, wir holten 1 Zt. zu 4,50 M. In England solle für
die nächsten 15 Wochen pro Kopf und Woche ½ (!?) Pfd Kartoffeln
vorhanden sein. Wie diese Frucht nach lang entbehrtem Genuß munden
muß, erfuhren wir gestern abends beim Lesen in Amundsens Nordwestpassage,
wo die wackeren Gjoa-Leute nach 2 Jahren von amerikanischen Walfischfahrern
die ersten Kartoffeln und Zwiebeln bekamen. – Heute habe ich dann auch
endlich eine Fuhre Mist bekommen. Leider blieb der Lazarettsoldat aus,
der ihn vom Felde an Ort und Stelle karren soll. Bei hellem Sonnenschein
ist es kalt und rauh, mit etwas Halsentzündung halte ich mich zu Hause.
Morgen soll Willy kommen. Eben bringt die Abendzeitung die Nachricht von
der glücklichen II. Heimkehr der Möwe. Ich habe laut lachen müssen
aus Freude.
26. März 1917. Auf einen strahlend schönen Sonntag, den wir
gestern in Freuden mit Willy verlebten, haben wir heute einen trüben,
kalten schneewirbelnden und nassen Montag. Dazu schlug die Kriegsbombe
in unser Haus ein: Frau Liell’s einziges Kind, der prächtige Sohn
Karl ist gestern nachmittag bei Ripont als Vizefeldwebel gefallen. Immer
gerade die Tüchtigsten rafft der Krieg weg. Die Mutter ist heute in
Trier, der Pastor soll es ihr heute abend sagen, alle fürchten sehr
für sie. Helene und ich waren bei Frau Alf, der eine Tochter von Franz
Liell die Trauerbotschaft gebracht hatte. Franz Liell war kurz hier, ich
habe ihn nie so gesehen; ganz verstört. Nun ist der letzte männliche
Nachkomme seiner Familie dahin. – Ein schwarzer Tag. Der mit dichtem Nebel
verhängte Himmel ließ ohne Unterbrechung Schnee, Graupeln, Schlackerschnee
und schließlich kalten Regen fallen. Nirgends ein Ausblick. Die Verwandten
besuchen andauernd Frau Alf, es laufen schon Beileidsdepeschen ein und
die Mutter wird erst 822 zurückerwartet. Pastor Schmidt wird dann
hier sein und soll ihr das Schreckliche sagen. Eben waren wir zum 2ten
Mal bei Frau Alf, ich riet ihr, den alten Geheimrat zu bitten, sich bereit
zu halten, für den Fall, daß sie einen Anfall bekommt. Es liegt
wie ein grauer Bleidruck auf dem Hause. Unsere Kinder sprechen schon davon,
daß Onkel Karl krank geworden sei. –
27. März. Nun hat die heftige Spannung, der an 2 Jahre lang Frau
Liell unterlag, ihre Lösung gefunden. Wir hörten sie gestern
abend und nachts heftig weinen. Es war zuerst ein herzerbrechendes
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Wimmern, ganz unnatürlich, wie es nur ein Muttergeschöpf
ausdrücken kann, dessen Junges man genommen. Helene ist sehr aufgeregt
und schlief die halbe Nacht nicht. So nahe haben wir solche grausige Trauer,
die der Krieg überall hin bringt, noch nicht erlebt. Hoffentlich bleibt
das meiner Mutter erspart. –
30. März. Der Schmachtriemen wird enger gezogen. Vom 16.4. ab
giebt es nur mehr 3 Pfd = 1500 gr Brot per Woche (also 214,2,g für
den Tag) heute früh habe ich – Helene blieb gestern nachmittag im
Bett und heute desgleichen – neuen Brotalarm geschlagen, ein bereits angeschnittenes
Brot wieder verschlossen und Brotsperre verhängt. – Argentinien sperrt
die Ausfuhr von Getreide. In Rußland gewinnt die linke –auflösende–
Seite der Revolution anscheinend die Überhand.
1. April 1917. Wir erleben eben recht trübe Tage, draußen
und drinnen. Über dem ganzen Hause liegt immer noch der heftige Trauerschmerz
um den gefallenen Sohn, Helene liegt, ganz zusammengebrochen und recht
elend seit 3 Tagen zu Bett, Versuche aufzustehen waren noch Mißerfolge,
Herta hat noch heftigen Bronchialkatarrh mit Husten, geringe Dosen Codein
nutzen ihr sehr, gottlob hat sie guten Appetitt. Mariannchen hat trotz
heftiger Augenentzündung noch leidlich ihre gute Laune, ich selbst
habe Halsentzündung und noch tiefer sitzenden Bronchialkatarrh, kann
bei dem wechselnden Schnee, Hagel, Schlackerschnee, Regen, Wind und Sonnenschein
nicht aus und werde zu einem vorbestimmten Kriegsbeschädigtentermin
morgen Velten hinfahren lassen müssen. Trotz und alledem habe ich
große Lust zum Schreiben und entwerfe täglich Skizzen zu kleineren
Erzählungen von Begebenheiten aus meiner Umgebung oder aus meiner
Knabenzeit. Daß die Kölnische Zeitung eine Reihe solcher Skizzen
abgedruckt hat, macht mir besonderen Spaß. Ich erhielt auch kürzlich
von ihr die Aufforderung, etwas mit Hinweis auf die 6. Kriegsanleihe zu
versuchen und brachte eine etwas rührselige kleine Anekdote: „Sparstrumpf“
und eine längere Skizze „Der seltsame Gast“ betitelt, in der der St.
Bürokratius in eigener Person à la Haufs Teufel auftritt. Wider
Erwarten wurden diese angenommen. Das ermuntert zu weiteren Versuchen.
Durchschnittlich wird von 3 eingesandten Artikelchen eine angenommen und
es zeigt sich stets, daß es die bestentworfenen und ausgefeilten
sind. Jedenfalls lernt man etwas dabei. Helene lese ich hin und wieder
noch aus Amundsens Nordwestpassage vor. Die gründliche Schilderung
des Eskimovolkes im arktischen Nordkanada hat uns viele Freude gemacht.
Hoffentlich hält sich das Wetter einigermaßen, daß ich
vor Tisch wenigstens bei Wincklers zur Konfirmation der ältesten Tochter
Nora gratulieren gehen kann. Daß Winkler hierzu nicht daheim sein
kann, tut mir sehr leid um ihn. – Der Ubootkrieg macht gute Fortschritte.
Das Eismeer im Norden Rußlands haben wir jetzt auch gesperrt. Amerika
wird sich in der Kriegsfrage bald entscheiden müssen. In Rußland
geht die Revolution ihren weiteren Gang und scheint auch zum Glück
für uns das Heer mit zu erfassen. Vielleicht, daß es dort doch
noch zum Frieden kommt. Unser Reichskanzler machte
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dazu recht einladende Äußerungen im Reichstag. In Spanien
und Schweden scheint derzeit stark gegen uns gewühlt zu werden. –
Der Sonntag erinnert mich an den letzten, Willy’s (Reitmeister, Willi)
angenehmen Besuch und allerlei, was er erzählte. Er selbst arbeitet
an einem neuen sehr aussichtsreichen Patent: Verbesserung des Gebläses
am Martinofen durch Gegenwind, was eine große Ersparnis an dem hierdurch
kühler gehaltenen Luftschacht aus feuerfestem Gestein bedeutet. Dieser
tropft nämlich bei der großen Erhitzung ab. Er wird auch finanziellen
Vorteil davon haben. Vetter Max (muß Walter heißen) Forstmann
(Forstmann, Walter), den berühmten Ubootmann sprach er. Er ist derzeit
mit Frau (die aus St. Moritz zurück ist) und Kind in Godesberg und
hat lange Urlaub, da sein Boot gründlich erneuert werden muß.
Der Gesundheitszustand seiner Frau wird den dauernden Aufenthalt in Kiel
später unmöglich machen und so denkt dieser erfolgreiche Seemann
daran, später einmal Landratte und vielleicht „Bürgermeister“
zu werden, wie er sich selbst ausdrückte. Ich hatte ein unbehagliches
Gefühl bei dieser Nachricht und gedachte der vielen Reibungen und
Enttäuschungen, die er in solchem Berufe haben wird, ganz abgesehen
davon, daß es einem recht störend ist, sich solchen „Uboot-Helden“
– das deutsche Volk empfindet sie nun einmal als solche und das ganz mit
Recht! – als Bürgermeister in irgendwelchem Krähwinkel vorzustellen.
– Willy war auch vor einiger Zeit auf der Versammlung der Eisenhüttenleute
in Düsseldorf und aus dem vielen, das er hiervon wiedergab, ist mir
ein Doppeltes in Erinnerung geblieben: Es soll gelungen sein, auch aus
Kohle den sog. Niedrigtemperaturteer zu gewinnen, wodurch das Gas reiner,
wir aber durch ein geeignetes Maschinenschmieröl und darin völlige
Unabhängigkeit vom Ausland in diesem Artikel gewinnen würden.
Bei Braunkohle gewinnt man solchen Niedrigtemperaturteer schon länger,
dessen Öl sich auch verseifen läßt. – Ferner habe ein Fachmann
des genaueren ausgeführt, daß aller Wahrscheinlichkeitsberechnung
nach die Engländer nur mehr für etwa 80 Jahre Kohle im eigenen
Lande hätten und eine Kriegsursache ihr Bestreben sei, sich Kohle
in Flandern zu sichern. – Eben erhielt Helene von Mutter Reitmeister (Reitmeister,
Helene) einen längeren Brief, aus dem hervorgeht, daß es am
Rhein mit Kartoffeln, namentlich Saatkartoffeln schlimm aussieht. Walter
F. (Forstmann, Walter) war mit seiner Frau dort zu Besuch. Seine Schilderungen
von Versinkenden, die er nicht retten konnte (angeblich auch deutsche Frauen
aus Alexandria) waren schrecklich. Geht es aber – und wir müssen dies,
so grausam es ist, – zuversichtlich erhoffen und erwünschen – weiter
so mit den Ubooten, so wird England klein beigeben müssen. – Mit Brot
sind wir auch jetzt recht knapp und ich werde die tägliche Ration
herausgeben müssen, damit richtige Einteilung bleibt, wir nicht in
den Rückstand kommen und vor allem, trockenes Brot durch längeres
Aufbewahren erzielen können. Wir haben schon Suppe zum Frühstück
gegessen.
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5. April 17. Gründonnerstag. Endlich ein heller Frühlingstag
mit lauer Luft und feinem Regen. Dr. Brockes war heute morgen bei uns,
Helene soll viel liegen, Ruhe und Stärkung haben. Nach Ostern fährt
sie mal nach Bonn. – Amtsgerichtsrat Rey ist eingezogen und Remy soll vorab
Neumagen mitversehen. –
6. April 17. Es scheint ein strahlender Tag werden zu wollen. Diese
Nacht hatte ich eine bis zu den Morgenstunden andauernde bedrückende
Beklemmung, bei der mir stets das Kriegsgeschrei der Amerikaner im Kopfe
herumging. Dort wird man wohl mittlerweile den – eigentlich gänzlich
gegenstandslosen – Krieg gegen uns erklärt haben. Ich fühlte
mich mit Rücksicht auf das körperliche Unbehagen lebhaft erinnert,
an jenen dumpfen Schlag, den ich zweimal auf der Brust zu verspüren
meinte: einmal, als ich am Brückenpfeiler hier die Depesche von der
Ermordung des österreichischen Thronfolgers las und das andere Mal
an gleicher Stelle bei der Lektüre einer Depesche, die Bryan’s Rücktritt
meldete. (Er trat s. Zt. als auswärtiger Minister zurück, weil
Wilson dem Kriege zusteuere). Heute hat er Recht behalten. – Es machte
mir Freude, kürzlich in der Kölnischen Zeitung eine Skizze „ein
seltsamer Besuch“ abgedruckt zu sehen, die ich auf deren Aufforderung etwas
zur Werbung für die 6. Kriegsanleihe zu schreiben, eingesandt hatte.
Gestern brachte sie eine kleine Plauderei über dicke Bohnen, die ich
vor einiger Zeit einsandte.
Ostermittwoch, 11.4.17. Montag und Dienstag lag ich mit geringem Bluthusten
still zu Bett, sammelte meine Gedanken und schrieb mancherlei auf. Heute
morgen in aller Frühe hatte ich eine kleine Blutung, danach einen
Schwächeanfall, bei dem ich glühend heiß und frierend kalt
wurde, auch wollte der Magen revoltieren. Nun ich etwas gefrühstückt
habe, geht es besser. Die Zeitung brachte gestern abend inhaltsschwere
Nachrichten: Bei Arras tobt eine heftige Schlacht. An einem einzigen Tage
wurden 44 feindliche Flugzeuge vernichtet (mehr als sonst in 1 Monat) wobei
wir selbst 5 einbüßten. Die kurze Angabe: Im zähen Ringen
erlitten 2 unserer Divisionen erhebliche Verluste, ist erschütternd
und ich werde sie nicht los. Der Kaiser richtete eine Botschaft an den
Kanzler (und preußischen Ministerpräsidenten) über neues
Wahlrecht in Preußen mit unmittelbar und geheimer (auch gleicher?)
Wahl unter Abschaffung der Klassenwahl. Auch das Herrenhaus soll sich verschönern.
Das wird noch was geben! Daß der Friede in naher Zeit bevorstehe,
hofft der Kaiser zuversichtlich. – Bruhns (Bruhns, Leo) schrieb recht interessanten
Brief. Er ist glücklich bairischer Staats- und damit deutscher Reichsangehöriger
geworden, erstaunt, daß es ihn nur 20 M kostete, wurde bereits gemustert,
für w. unf. befunden und auf 6 Monate zurückgestellt. Über
die Friedensrede des Kanzlers ist er sehr verstimmt. Ich glaube, er
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nimmt Bethmann als den friedlichen Biedermann, als den er sich zu geben
ausgezeichnet versteht, während er tatsächlich vielleicht ein
weitblickender und gerissener Politiker ist. – Heute scheint die Sonne,
gestern brauste ein Schneegestöber hinter dem anderen. – Ob nicht
bald sich etwas von der Löwentatze Hindenburgs an der Westfront zeigt
und einige Aufklärung über die Frontzurücknahme bringt?
Reims wird jetzt völlig von uns, St, Quentin von der Gegenseite in
Trümmer geschossen.
12.4. Ich schreibe viel im Bett. Endlich ist nachmittags mal stilles
mildes Wetter, Helene mit Kindern und Mädchen im Garten. Der blutige
Auswurf läßt nach. Die Post bringt erfreuliche Kunde: Der Ubootkrieg
zeitigt fortgesetzt die schönsten Erfolge. Die Abrechnung der Kölnischen
Zeitung für die im März abgedruckten Beiträge beziffert
sich auf 77,50 M, wobei sie mir eine Erhöhung des Zeilenhonorars von
ca 18 auf 25 Pf bewilligt, was ich dankbar begrüße, da jetzt
das Geld uns knapp ist. Dabei stehen noch 58 M aus für weitere bereits
gedruckte Artikel. Hoffentlich gehts langsam so weiter. Gestern erst hatte
ich eine Satyre hingepfeffert, heute soll mit der Quittung ein Osterhase
hinhüpfen. (er hoppelt sicher auch wieder zurück) und die Mappe
ist voll von Entwürfen. Also zu! Ich habe einen förmlichen Schreibdrang
und werfe von Jugenderinnerungen täglich ganze Brocken aufs Papier
einer dicken Kladde. Die absolute Bettruhe giebt Gelegenheit zu beschaulicher
geistiger Arbeit. Am liebsten möchte ich es mal mit einer Novelle
versuchen.
14.4.17. Während im Westen die blutige Schlacht bei Arras tobt,
scheint mit Rußland Fühlung wegen Friedensverhandlung genommen
zu werden. Dort haben die radikalen Arbeiter die beste Aussicht, das Ruder
des Staatsschiffes ganz in die Hand zu bekommen und es erscheint daher
gar nicht töricht, daß der Führer unserer Sozialdemokraten,
Scheidemann, sich jetzt nach Schweden zu einer Zusammenkunft mit russischen
Arbeiterführern begiebt. Endlich bringt auch die Kölnische mal
einen herzhaften –wohl offiziösen– Kriegszielartikel (Zeitungsausschnitt
eingeklebt), den ich wiederholt mit Vergnügen las und der mich zu
dieser Zuschrift anregte, die heute abgeht:
Zu dem Kriegsziel, das nicht vergessen werden darf, gehört auch,
zu verhindern, daß England sich nicht auch in den baltischen Ostseeprovinzen
festsetzt und dort den in Flandern mißlungenen Versuch einer Bedrohung
unserer Flanke wiederholt. Es sprechen Anzeichen dafür, daß
England dies versuchen wird. Es fühlt, wie sich die uns zugedachte
Hungerschlinge langsam und sicher um den Hals legt, und wird, ehe es sich
ergiebt, die wahnsinnigsten Anstrengungen machen, um sich Luft zu verschaffen.
Die militärische Schlagkraft Rußlands wird ihm
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nachgerade zweifelhaft, und mit der ihm eigenen rücksichtslosen
Brutalität wird es darauf ausgehen, sich mit Faustpfändern auch
bei seinen Verbündeten schadlos zu halten. Der ganze Plan ist für
britische Denkweise und Politik nur zu einleuchtend. Denn abgesehen vom
militärischen Standpunkt bekommt man damit die „nordische Brücke“
fest in die Hand, beherrscht den riesigen Transithandel nach Sibirien und
Innerasien und sichert sich einen Landweg nach – Indien, nachdem der Seeweg
durch die Ubootpest ungemütlich geworden ist.
Der Brite hat es von jeher glänzend verstanden, an jedem inneren
und äußeren Brande in einem europäischen Lande unter der
Maske des hilfreichen Feuerlöschers seine eigene Rinderschnitte möglichst
billig zu rösten. Die Bewegung in Finnland bietet eine zu schöne
Gelegenheit, dort den „Befreier“ zu spielen, d.h. tatsächlich von
Norden her einzumarschieren, das Land zu besetzen, Estland und Livland
in gleicher Weise zu beglücken und sich zugleich dicht vor den Toren
Petersburgs festzusetzen. Finnen, Esten und Letten mögen sich vor
dem reißenden Wolf im Schafspelz vorsehen. Sie könnten gar zu
leicht aus dem russischen Regen in die englische Traufe geraten und ihr
weiteres Schicksal nach dem Muster Griechenlands ausmalen. Rußland,
Schweden und Norwegen aber würden die Augen noch auf und übergehen,
wenn sie erst einmal zum englischen Sprungbrett geworden wären.
Für uns aber gilt der Ruf gegen England: Hände weg von Finnland
und den Ostseeprovinzen! ––
Der Schriftleitung der Kölnischen Zeitung in Cöln
stelle ich vorstehende Zeilen zur Verfügung mit dem Ersuchen,
sie in die Tiefe des Papierkorbes zu versenken, wenn sie etwa „einen Wurf
mit dem Pflasterstein“ bedeuten würden oder sonst nicht angebracht
erscheinen. Hochachtend. Berncastel Cues, 14.4.17. gez. Dr. Rech (örtlicher
Vertrauensmann des baltischen Vertrauensrates in Berlin)
1000 M zur 6. Kriegsanleihe habe ich denn auch noch hoffentlich rechtzeitig durch Brühler Sparkasse aus Hertas Buch gezeichnet.
Weißensonntag, 15.4.17. Gestern war ich den ganzen Tag fast ohne allen Auswurf, außer Bett und ganz munter in den Wohnzimmern – das Eßzimmer war auch angeheizt worden – schrieb allerlei und fand mich äußerst wohl, da kommt abends beim Einschlafen – vielleicht in folge eines Gähnstreckens und damit verbundener Druckerhöhung in der Lunge, wieder eine kleine, diesmal helle und dünne Blutung mit abscheulichem Hustenreiz, den ich aber mit zusammengebissenen
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Kiefern verbiß und mit etlichen Kodeinpastillen herunter spülte.
In aufrechtem Sitz schlief ich recht gut und ausgiebig, habe aber einen
zu dem traurigen Wetter draußen gutstimmenden dösigen Kopf und
wohl infolge des Alkaloids einen zu störrischem Eigenwillen stark
aufgelegten Magen. Die Kölnische erfrischte mich durch den Abdruck
einer kleinen Skizze vom „Strecken“ und ich schrieb mit rechter Lust einen
Artikel über Kinderwagen und Leiterwägelchen in entgültiger
Fassung als humoristische Anregung zu einer volkswirtschaftlichen Doktorarbeit,
das wird dann wohl auch angenommen werden. –
Mariannchen, die gestern an Wasserpocken litt, hat argen Husten und
muß die Stube hüten. Es ist ein rechtes Elend. –
Der Ubootkrieg hat auch im März glänzende Erfolge gebracht.
Ich werde hier eine Darstellung darüber einheften. Den Engländern
muß es nachgerade mehr als schwül zu Mut werden. Mit Rußland
wird anscheinend in Schweden in aller Offenheit wegen Frieden verhandelt.
In der Schlacht bei Arras ist der Vormarsch der Engländer zum Stillstand
gekommen. Was mag dieses Frühjahr noch alles bringen? – Helene war
mit der tüchtigen Christine gestern nachmittag wieder in Feld und
Garten. Für das Legen der schön angekeimten Frühkartoffeln
sind die Löcher fertig. Hoffentlich können sie Montag gesetzt
werden.
16. April 17. Herta ist nun voller Erwartung, daß sie nur noch
einmal schlafen muß, um – in die Schule zu gehen. Welch schöner
Abschnitt der Kindheit damit zu Ende geht, ahnt sie nicht und das
ist gut so. Die Schule wird ihr wohl nicht sehr schwer fallen und zumal
der Anfang ist in diesen Zeiten arger Schulbedrängnis für die
Kinder doppelt leicht. – Kaum ist die Christine gut eingearbeitet und erweckte
namentlich für meine Feld- und Gartenbestellung große und berechtigte
Hoffnungen, da muß sie heim, „die Mutter ist krank“, hols der Teufel.
Wir gehen gleich energisch auf Suche nach einer neuen aus. Doppelt fatal
für Helene, die sich endlich ein wenig zu erholen begann. –
17.4. Vormittag bis gegen 5 außer Bett. Wenig, doch hellen Auswurf.
Lästig. Herta dann glücklich erstmals zur Schule, jetzt mit Mutter
zur Stadt, Tafel, Griffelbüchse und Fibel kaufen. Leider ist und bleibt
auch die Schule ungeheizt. Sie ist schon gleich erkältet, schadet
es ihr, so halten wir sie draus.
In Rußland scheint trotz aller Gegenarbeit unserer Feinde die
revolutionäre Arbeiterpartei allmählich die Macht in die Hand
zu bekommen und sich auf den Friedensschluß vorzubereiten. Wir kommen
ihnen freilich sehr entgegen.
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18. April 1917. Wir leben in einer sehr kritischen Zeit: Gottlob ist
die 6. Kriegsanleihe mit 12,7 Milliarden eine große Sicherung. Die
größte Schlacht tobt bei Arras und in gewaltiger Breite. Sie
ist geradezu entsetzlich. Auch den Franzosen ist mit dem ersten Stoß
kein Durchbruch geglückt. Wie lange mag das Wüten dort noch dauern.
Mit gekrampftem Eifer sucht man zwischen eine russisch-deutsche Annäherung
zu treten, vielleicht zu unserem späteren größeren Glück,
aber ob Engländer und Franzosen wirklich einen „letzten Verzweiflungsdurchbruch
erzwingen wollen“, ehe unsere Ubootsperre sie so stark zu schwächen
vermag, daß sie sich zu ähnlicher Anstrengung nicht mehr aufzuraffen
vermögen.
Der Tag war recht trübe für uns: Helene sehr melancholisch,
aus dem Kirchspiel die Nachricht, daß dort kein Mädchen zu haben
u.s.w. Ich richtete mich mit Bett und Nachttisch behaglich im angeheizten
Eßzimmer ein und kann da vorab ganz für mich leben. Wollte doch
wenigstens das Wetter endlich besser werden! Jugendliche Arbeiter männlichen
und weiblichen Geschlechts mimen in Berlin Ausstand mit Umzügen. Könnte
man den unreifen Früchtchen einzeln mit einigen Ohrfeigen die Erkenntnis
beibringen, wie viel Blut, Leben und gesunde Knochen das ihre Väter
und Brüder kostet! Zum Schreiben habe ich nicht viel Lust, obwohl
mir der Kopf voll ist. Für Frau L. bearbeitete ich eine Reihe von
Anfragen auf ihr Angebot von Weingut, Geschäft und Haus. Hoffentlich
kann ich ihr etwas Ersprießliches herausdrehen. – Herta ist selig
mit Griffelkasten und Lesebuch, sie hat gleich heute schon Kälteferien.
Die Zeit wird mir keineswegs lang. Velten geht morgen für 1 ½
Tag nach Morbach, wie gerne wäre ich hingegangen. Aber einstweilen
Geduld. Heute kam fast nichts, da kann ich morgen vielleicht ein wenig
länger aufstehen und mich herumlümmeln. Geschrieben habe ich
noch nie so viel im Bett und die Lust hieran wird auch nicht abgestumpft,
wenn – wie heute morgen – mal wieder 2 Artikelchen: Osterhase und Leiden
und Freuden des Kaninchenzüchters fröhlich zurückhoppelten.
Ich tröste mich und denke: Jetzt ist schlechte Zeit, denn die Kölnische
hat jetzt mal wieder ne Geschichte mit „Fortsetzung folgt“ unterm Strich
und da leiden „Kunst, Wissenschaft und Leben“. Famos? Was? –
21.4. Seit einigen Tagen liege ich ganz still für mich im Eßzimmer,
ununterbrochen in halber Rückensitzlage und noch immer ist geringer
Blutauswurf da. Ich übe mich gewaltig in Geduld, aber hols der Teufel.
Jetzt liege ich zwei Wochen fest. Frühling giebt es diesmal anscheinend
nicht, ebensowenig ein neues Mädchen. Rosa war heute hier, äußerstenfalls
kommt sie Helene zur Hülfe, meist auch andere Hülfe. Den Bauern
gehts jetzt schlecht. Schärfste Kontrolle.
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26.4.17. Endlich hört das Blutspucken auf und ich gewöhne
mich langsam wieder ans Aufstehen. Auch die Schreiblust ist wieder erwacht
und ich schmiere allerlei in die dicke Kladde. Bald möchte ich es
gern mal mit Novellen versuchen, habe mir erst den Kopf über Stoff
zerbrochen,
so ist er jetzt plötzlich in Fülle da wie ein angestauter Mühlenbach.
Der Zustand Kellers, des großen Züricher Gottfrieds in seiner
Berliner Zeit wird mir allmählich klar. Hätte ich weder Amt noch
Familie, ich brächte es auch fertig, derart stets innerlich mit mir
beschäftigt zu sein und in mir und an mir zu arbeiten. Ob freilich
mit einigem Ergebnis? Mein Inneres sagt recht zuversichtlich ja, der schnöde
kritische Verstand aber hat seine wohl abgezählten Bedenken. Doch
Verstand allein ist eine hohle Nuß. ––
Welche Herzerquickung, heute morgen den Jubel der Kinder zu beobachten
ob eines Paketes von der Großmutter. Außer Spinat aus dem Herseler
Garten enthielt es etwas der jetzt so seltenen Schokolade, jedes bekam
ein Stückchen und mit diesem beseligenden Besitz sprangen sie zum
Vater herein. Mariannchen führte dabei einen allerliebsten Freudentanz
mit kurzen trippelnden Schrittchen vorwärts und rückwärts
auf dem roten Teppich an Mutters Schreibtisch auf, die Händchen bald
hoch über dem Kopf erhoben, bald vorne ganz famos damit herum gestikulierend.
Dabei kann man auf kurze Augenblicke vergessen, welch ungeheurer Kampf
auf der nördlichen Westfront tobt, Engländer und Franzosen in
großer Übermacht gegen uns anstürmen und ganze Regimenter
hinsinken und verschwinden. Solcher Gigantenkampf war noch nicht auf der
Welt. Der gestrige Tagesbericht ist erschütternd. Und dabei ist und
bleibt man kleinlich. Wie freute sich Helene heute morgen, als ihr die
treue R.(osa) 70 Eier brachte, die sie dort vor drohender „Nachprüfung“
retten, hier aber zur Vorbeugung der Hauptnot einlegen wollen. – Die Engländer
haben sich wohl schwer blutige Köpfe geholt, aber ehe diese zähe
Rasse nachläßt, muß sie wirklich schon ernsten Hunger
leiden. Sie werden sich jetzt daran gewöhnen müssen. Unsere Uboottätigkeit
scheint sich fortgesetzt zu steigern. – Als ich gestern zum erstenmal wieder
auf war, hab ich gleich an dringenden Rückständen der Kriegsbeschädigten
Fürsorge zu arbeiten begonnen und auch einen Hümpel (?) geschafft,
bis ich darüber und vor Hitze im Zimmer einschlief. Rest vielleicht
heute und morgen. Das giebt wenigstens den Schein einer moralischen Existenzberechtigung
heute. – Helene plagt sich arg ab und will auch im Feld und Garten allerhand
zustande kriegen. Ein hübsches isabellfarbenes Kanin war jetzt derart
toll geworden, daß ich es gestern Assessor Scherer zusenden ließ,
dessen blauer Wiener Rammler
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es schon lange Zeit anverlobt war. Der Bräutigam tat seine Schuldigkeit
und nun ist es angeblich ruhiger. Das soll uns nächsten Winter Sonntagsbraten
geben, wenn mittlerweile „unser“ Viehbestand scharf angegriffen sein wird.
26.4. (muß offensichtlich 27.4. heißen) In Baechtold’s
Bemerkungen zu den prächtigen Briefen Gottfried Kellers lese ich eben
dessen innere Anteilnahme am deutschen Siege 70/71 und der Reichsgründung,
während damals die deutschen Schweizer uns insgemein wenig hold waren.
Was würde er heute denken und ob er nicht dem Vater Spitteler einen
derben Text lesen würde? – Wer weiß? – Eben ist Musterung der
jungen Landsturmpflichtigen, die 1899 geboren, also rund 20 Jahre jünger
sind als ich. Wie im Frieden ziehen sie buntgeschmückt in festem Schritt
und lautem Gesang durch die Straßen. Höre ich ihre Lieder: „Haltet
aus“ und „Drei Lilien“, so erbebe ich und die Tränen kommen mir in
die Augen. Wann wird diese gewaltige Prüfung für unser Volk ein
Ende haben? –
28. 4. Jetzt bin ich wieder auf und schlurfe in den Zimmern herum,
wie könnte alles schön sein, hätten wir erst wieder ein
Mädchen als Ersatz für die Christine. Es ist schlechterdings
nichts zu bekommen jetzt. Auch Pastor Storkebaum vom Wolfer Waisenheim
schrieb mit lebhaftem Bedauern ab. Es werden für Helene schwere Zeiten
kommen. – Aus etlichen Briefen, Reden und Veröffentlichungen Gottfried
Kellers klitterte ich einen Artikel zusammen, der ihn „aus dem Grabe“ zu
unserer Sache Stellung nehmen läßt. Sandte ihn auch gleich ab.
Mittags vertrieb ich mir die Zeit im Bett mit Ausschneiden und Einkleben
der bisher erschienenen Zeitungsartikelchen in ein Heft mit dem Titel „Eintagsfliegen“.
Freund Bruhns soll es nächstens zu vernichtender Kritik zugesandt
werden.
29.4. Endlich ein warmer sonniger Frühlingstag, ein wahrer Festtag.
Mittags mit Helene bis zum Garten aus.
30. 4. Ein herrlicher Tag. Ich liege bereits morgens im Gartenhäuschen
auf dem Liegestuhl. Ein dritter Riesenangriff der Engländer bei Arras
ist wieder abgeschlagen. Es hat den Anschein, daß der Ubootkrieg
ihnen den Hals nachgerade doch allmählich zuhält und sie sich
nun mit aller Gewalt einen Erfolg in Flandern verschaffen wollen. Der Bonner
General-Anzeiger bringt wieder Friedensgerede aus Genf ect. Mir scheint
es noch zu früh für den deutschen Frieden zu sein. Nun ist auch
der kleine blonde, recht kluge Gasinspektor Reidt gefallen, der bereits
bei Dr. Wolf hier an der Gasfabrik war. Mutter Reitmeister (Reitmeister,
Helene) schreibt allerhand Betrübliches aus Hersel, Siegburg und Bonn.
Willy (Reitmeister, Willi) hat natürlich Abschluß seines Mietvertrages
versäumt und wird nun wohl bald ausziehen müssen. Meine Mutter
(Rech, Anna Maria) sitzt ohne Mädchen. Ob wir eins bekommen, scheint
mehr als fraglich. || Heute gleich ein Tag voller Ereignisse: Nach
längerem Liegen machte ich vom Garten aus einen kleinen Spaziergang,
auf dem Heimweg kam mir bereits vor dem Garten Herr Leistner entgegen,
Zwiesprache im Garten. Er bot jetzt 90000 M, nämlich für Frau
Liells Haus und Garten. Interessante Unterredung mit ihm. Frau L. kurz
mitgeteilt, war ganz glücklich, doch hoffe ich, ihn noch ein wenig
höher zu schrauben.
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Frau L., der ich bei ihrer ganzen Vermögensliquidation auf ihren
Wunsch mit Rat und Tat beistehe, wird trotz hoher Verbindlichkeiten noch
ein schönes Vermögen herausschlagen. Auf Weinberge, Inventar
und Wein ist riesiger Anlauf; einige Schwierigkeit wird noch der Verkauf
der Firma machen. Vielleicht daß L(eistner) sie auch noch übernimmt.
|| Helene hatte allerlei Abenteuer mit Herta, die nicht mehr zur
Schule wollte, sie brachte sie hin und ließ sie von der Gärtnerei
Mock ab die letzten 200 Schritt allein gehen; während sie mit Mock
wegen Tomatenpflanzen verhandelte, lief Herta statt zur Schule, nach Hause,
wurde dann hin eskortiert. Nachher war sie wieder gern drin, auch heute
nachmittag hin. Erste Pflichtschmerzen! Es wäre ihr natürlich
sehr viel lieber gewesen, vormittags mit mir in den Garten zu gehen. –
Kauft Leistner das Haus, so werden wir zwar wohnen bleiben, vermutlich
oben dritte Überbewohner bekommen. – Heute bin ich nach Tisch gleich
zum Garten und trinke hier auch Kaffee.
7. Mai 1917. Nur wenige Tage sollte ich mich des herrlichen Wetters
draußen erfreuen, es gab einen kleinen Rückfall, der schon andern
Tags beseitigt schien, dann kams schlimmer und jetzt liege ich schon mal
wieder über 1 Woche, diesmal aber recht hübsch still und unentwegt
auf dem Rücken, schlafe auch vorzüglich und lese viel. Auch ist
mir die Prosa-Muse, die überhaupt mich seit der Wintererkältungen
im Dezember besonders lieb gewonnen zu haben scheint, stets eifrig beiseite.
Ich schreibe unentwegt in eine dicke gelbe Kladde und einer aus Jugenderinnerungen
projektierten Novelle scheint sich – horribile dictu atque aspectu! – ein
länglicher Roman herauszuschlängeln. Aber ob solches Unkraut
je irgendeinen Herausgeber finden wird? Wollen das Beste hoffen. Im Hause
aber sieht es bös aus. Helene arbeitet sich ganz und gar auf den Hund,
ein Mädchen steht erst in ferner Aussicht und wir sind schon froh
an der geschickten Ältesten des Gerichtsdieners Grohn, die noch zur
Schule geht, eine gute Nachmittagsaushilfe zu haben. Heute aber war Helene
mit der tüchigen Stundenarbeiterin Steffens sogar auf dem Felde und
haben tüchtig gepflanzt. – So geht es, wenn auch schwerfällig,
langsam weiter. Von Dr. Kaufmann in Wittlich erhielt ich den dringenden
Rat, alsbald in ein Sanatorium auf etliche Monate zu gehen. Was wohl auch
geschehen wird. Dann aber soll für die Zukunft jede – auch die kleinste
körperliche Arbeit, also auch jede Bastelei strengstens verpönt
sein. Das wird einen harten Kampf kosten aber durchgesetzt werden müssen,
und wenn Bienen und Gemüsezucht darob aufgegeben werden müßten.
Ich werde dann um so mehr Zeit finden zur Zwiesprache mit der bewußten
Prosa Muse
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und das macht sich vielleicht noch besser bezahlt. – Während ich
so im Bett liege, lese, schreibe und heftigen Durst verspüre – Flüssigkeit
jeglicher Art wird um Blutdrucksteigerung und Blutverdünnung (?) zu
verhindern, möglichst vermieden – geschehen draußen die größten
Taten der bisherigen Weltgeschichte. Es tobt eine neue große 4. Schlacht
bei Arras und auch die Franzosen stürmen mit dem Mut und der Kraft
der Verzweiflung gegen unsere Westfront. 300000 sollen die Gegner dort
jetzt schon verloren haben. Der Ubootkrieg geht immer tiefer und weiter.
Aus April sind bis 5. Mai über 1000000 versenkte Bruttoregistertonnen
gemeldet. Englische Nachrichten lauten jetzt sehr besorgt. Kartoffeln sind
bald zu Ende und mit Brot wird es knapp dort. Dazu wird die unentbehrliche
Handelsflotte mit jedem Tag sichtlich kleiner und gegen die Uboote giebt
es nichts. In Rußland aber löst sich anscheinend langsam alles
in Wohlgefallen auf. Argentinien und Brasilien haben die Sache erfaßt
und wollen keinen Krieg gegen uns, dafür aber neuerdings – Haiti!!
–
9.5.17. Endlich geht es mir besser. Gestern hat Frau L. – natürlich
verfrüht und daher zu billig, ich konnte ihr mündlich leider
nicht helfen – das Haus an Leistner verkauft. Nun so bleiben wir wenigstens
in unserer Wohnung ungeschoren. Ich habe Mietvertrag mit ihr auf 2 Jahre
verlängert. Am 25. März fiel Carl, morgen soll seine Leiche kommen
und am 25. Mai ist wohl schon aller Grundbesitz verkauft. Um die sämtlichen
Gegenstände in Keller, Geschäft ect. schlägt man sich fast,
es ist ein ununterbrochenes Wettrennen, die Weinbergsversteigerung verspricht
interessant zu werden und wenn irgend möglich gehe ich hin. Von Freund
Bruhns (Bruhns, Leo) kam gestern ein Brief und ich schrieb ihm gleich einen
zurück. Auch er scheint Kur machen nötig zu haben. Sein Bruder
Oscar ist glücklich frei, kann aber von Minusinsk nicht weg und bleibt
wohl auch vorab besser dort. –
Pfarrer Storkebaum war heute hier und besprach sich mit Helene. Leider
hat er auch kein Mädchen, und Helenes Kräfte gehen sichtlich
zu Ende. Elend übereinand! – Bei alledem, daß ich heute frei
gleich 2 Verträge für Hausverkauf und Firmenübertrag entwarf
und hier kritzele – ist mir der Kopf so voll von Bildern aller Art, daß
ich allzu schreiben möchte. Immer noch tobt in fürchterlicher
Heftigkeit die Schlacht an der Westfront. Gottlob scheinen die Russen aller
englischen und amerikanischen Anstachelung zum Trotz des Krieges endgültig
müde geworden zu sein. Hätten wir nur erst noch Livland und Estland!
Ob und wie England aber über die nächsten 3 Monate hinwegkommen
will, wird stets schleierhafter.
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Jetzt sind im April schon 1 Million t an Schiffsraum versenkt, der
doch schon ausschließlich den allernotwendigsten Bedürfnissen
dient. Geht es so weiter, so müssen sie in einem halben Jahre klein
bei geben und mag sich ihnen unterdessen noch der Rest der Welt gegen uns
anschließen. Man hört jetzt wenig mehr den alten Kampfruf
„Gott strafe England“
und doch wird er jetzt allgemach Wahrheit.
10. Mai 1917. Nachmittags hörte ich schwere Nagelschuhschritte
unten an der Haustreppe: Soldaten brachten den Sarg mit Carl Liell’s Leiche.
Die Mutter ist merkwürdig gefaßt. Helene war in schwarz dort
und Mariannchen legte einige Blumen auf den Sarg, besah sich ernst den
dunklen Raum und meinte schließlich: „Ich glaube, das Christkindchen
ist hier.“ Frau L. fand das besonders tröstlich. Übrigens ist
Marianne heute unausstehlich und quengelich ohne Unterbrechung. Hoffentlich
geht sie gleich zum Garten. – Wie phantastisch ist eigentlich solch Fliegerkampf,
tausende Meter hoch in den Lüften, und heute wie ernst nüchtern
und alltäglich. Über 360 Flugzeuge haben wir im April abgeschossen
und 70 selbst verloren. Vor 10 Jahren erlebte ich es in Arosa, daß
die beiden Brüder Wrigt in Amerika die ersten längeren Flüge
mit dem Motor-Zweidecker machten, während der deutsche Lilienthal,
der Erfinder des Doppeldeckers schon lange Jahre zuvor (80er Jahre?) ohne
Motor kurze Gleitflüge gemacht und sein Leben dabei eingebüßt
hatte. Morgen werde ich wohl ein wenig aufstehen dürfen, ohne die
so langsam zunarbende Lungenwunde zu gefährden. –
15. Mai 17. Am 11. war ich ganz fröhlich einmal etliche Stunden
auf, bald wieder zu Bett, nachts mit Schreck wieder wach: wieder kleine
Blutung, also glücklich das 5. Mal. Nun nach langem absoluten Stilliegen
heute und gestern endlich besser, vielleicht weil gestern Arzt, der alte
Schmitz kam und neues Mittel in Tabletten verordnete, das den putzigen
Namen „Stipticin“ trägt. Hoffentlich „stippt“ es diesmal gut und ich
falle nicht wieder um. Die Zeit ging nicht völlig verloren, etliche
Briefe geschrieben, Sanatoriumsprospekte studiert, Möglichkeiten erwogen.
Schließlich auch ganze Reihe von Büchern über Mosel: Sagen,
Geschichte ect. gelesen, die mir der wackere Sammler Josef Dillinger hier
in liebenswürdigster Weise geliehen. Darin eine Menge dankbaren Stoffes
gefunden, aus dem sich schon allerlei herauszukristallisieren beginnt.
Gestern und die Tage vorher sommerliche Hitze. Kuntz sah nach Bienen, 2
Völker weisellos, sollen mit Nachbarn vereinigt werden. Schade gerade
jetzt. Schöne Tracht in Aussicht. Alles treibt wie ein Warmbeet: 30°
sollen gestern gewesen sein. Das könnte herrliche Ernte geben. 50
Bohnenstangen werden morgen vom Stadtbürgermeister geholt, er hat
sie mir besorgt. Glücklicherweise kommt Rosa auf 8 - 14 Tage.
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Eingklebt ist ein Zeitungsausschnitt mit dem Bericht über die
Weinversteigerung in Trier vom 1. Mai. Handschriftlich:
Ober(?) Rhein schon 1 Stück für über 90000 M versteigert!
(Flasche über 80 M).
17.5.17. Den Kanonendonner hören wir dieses Jahr schon lange,
vielleicht schon seit Mitte oder Ende April nicht mehr. –
Nachträglich eingefügt:
Die Grafen Eltz versteigerten zu Eltville ein Stück (1200 l) zu
132080 M! (Juni 1917) Wohl der höchste Preis, der je für Wein
gezahlt wurde. 15.6.17
25. Mai 1917. Frühlingsausbruch an der Mosel. Am 1. Mai war ich zuletzt draußen gewesen. Dann hatte ich durch gesundheitliches Mißgschick 25 Tage lang zu Hause und ganz still im Bett verhalten müssen und konnte nur im Spiegel beobachten, wie eine schlanke Rotbuche vor dem Fenster ihre Blätter entrollte. Heute aber, bei erstem Ausmarsch zum Garten, der am Flusse liegt, hatte ich einen fast betäubenden Eindruck. Der Roggen, der am 1. nur wenig mehr als handhoch gewachsen war, stand schon in Ähren, die vordem kahlen Gemüsegärten waren von grünem Flor bedeckt und damals gekeimte dicke Bohnen standen in voller Blüte. Hatte damals eine grelle Sonne durch den hellen blattlosen und winddurchsausten Garten geflirrt, so herrschte heute darin, das nur hier und da mit einem sonnigen Fleck durchsetzte stille Dunkel eines wildwachsenden Waldes. Die Üppigkeit der Laubmasse ist ganz unerhört und ich habe eine solch dichte Fülle hier in 7 Jahren noch nicht erlebt. Davon, daß fast ½ Dutzend Bäume dieses Frühjahr sämtlicher Äste und Zweige beraubt worden war, um anderen Licht und Luft zu machen, war auch nicht die Spur zu merken. Hatten damals die Frühkirschen eben ihre Blüten erschließen wollen, so waren jetzt schon die Apfelblüten vorbei und selbst die Roßkastanie, die am 1. noch die klebrigen Hüllen ihrer Blattknospen abwarf, stand nicht nur in üppigem Volllaub da, auch ihre großen Blütenkerzen brannten schon bedenklich herunter.
Seite 31
[Die Weinhänge, damals noch völlig kahl, hatten sich mit
grünem Flaum überzogen und an den Hausstöcken sah ich Triebe
von mehr als 1 m Länge und übervoll Gescheine.] (Der geklammerte
Satz ist ausgestrichen) Die Grashänge an den Ufern, die sich damals
erst langsam mit Grün bedeckten (nachdem der ungewöhnlich harte
Winter sie zu einer gelblich braunen Filzdecke verwandelt hatte) stehen
üppig und kindshoch in saftigsten Wiesenkräutern und harren der
Sense. Sie bilden nach unten, im Flusse sich spiegelnd bilden sie den unteren
Rahmen der in bunten zartgebrochenen Tönen wie Opal schimmernde Weinhänge,
die damals noch kahl, heute mit graugrünem Flaum überzogen scheinen.
Oben aber geben die welligen Linien der frischen weichen Laubwälder
den Abschluß zum flimmernd hellen, mit weißen zarten Wölkchen
durchzogenen Himmel. An verschiedenen Bergterrassen erfreut sich das Auge
an den weichen, zart graugrünen Laubballen der Walnußbäume,
die wie von innen rot durchleuchtet scheinen. Die Rebe hat ihren Rückstand
mit Riesenschritten eingeholt und an den Hausstöcken kann man Triebe
von 1 m Länge beobachten, dicht besät mit knospenden Gescheinen,
die sich bald zur Blüte öffnen werden. Dieser riesige Fortschritt,
den die Natur in der Frist von 3 ½ Wochen unter selten günstigen
Bedingungen gemacht hatte, wirkte geradezu gespenstisch, da ich von der
Zwischenstufe so gut wie nichts bemerkt hatte. Noch einige Wochen weiter
so und wir dürfen einer guten Ernte uns mit tröstlicher Gewißheit
erhoffen. Nie, so will mir scheinen ist der Mai so wie dieses Jahr, wenigstens
hier an der Mosel – und zwar an dem Teil, der die höchste mittlere
Jahrestemperatur hat – seinem Dichter so treu geblieben:
Im Mai, im holden Monat Mai
Da alle Knospen sprengen.–––
(Kölnische Zeitung, unterm Strich)
Frankenheim im Rhöngebirge, Kurhaus Sophienhöhe.
7. Juni 1917. Seit gestern abend sind Helene und ich nach 2tägiger
Reise in dieser herrlichen Gegend mit weitem Ausblick, in gutem Haus mit
angenehmen Leuten, in erquicklicher Gesellschaft unseres Freundes Bruhns
gelandet und sehen auf 2 Tage zurück, die so voller Eindrücke
waren, daß wir uns erst besinnen müssen, um alles zu ordnen.
Um nicht vieles mehrfach zu schreiben, notiere ich mir das wichtigste auf
losen Blättern, sende sie als Brief nach Bonn und hefte sie später
hier ein.
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Frankenheim
14. Juni 1917. Wir sind nun 8 Tage hier, hatten ununterbrochen schönsten
Sonnenschein mit einigen schwachen Gewittern, angenehmste Gesellschaft
durch unseren lieben Freund Bruhns und haben uns beide schon zusehends
erholt und gekräftigt. Helene hat fast 1 Pfd zugewogen und ich ...
Wir fühlen uns äußerst wohl, wissen die Kinder daheim in
guter Obhut, machen kleinere und ein über den anderen Tag mit Bruhns
je einen längeren Spaziergang, den wir ebenso wie kurze Bummelgänge
nach dem Abendbrot oder gemeinsames Zusammensitzen gegen abend durch angeregte
Unterhaltungen über Stoffe aller Art recht von Grund auf genießen.
Die weiteren Gänge bringen uns vornehmlich zu solchen Punkten, von
denen wir mit eine weite Aussicht auf ferne, in großen Linien sich
hinziehende bewaldete Gebirgszüge mit angebauten Tälern und etlichen
rotbedachten Dörfern dazwischen unsere Augen erfrischen und weithin
schweifen lassen können, während sie sich daheim seit Jahr und
Tag an den nahen Weinhängen und den nicht viel weiter entfernten Waldbekrönungen
des Flußeinschnittes förmlich wundgestoßen haben. Die
Zeit vergeht dabei wie im Fluge: Morgens und nach Tisch wird auf der sonnigen
Loggia vor unserem hellen, luftigen und geräumigen Zimmer auf einem
Ruhebett und einem Klappliegestuhl fleißig Kur gemacht, dazwischen
fallen die guten und reichlichen Mahlzeiten und einiges An- und Umziehen
hierfür und etliches Briefschreiben. Lesen von Zeitungen und etlichen
guten Büchern bildet bei der Liegekur einen oft so anregenden Zeitvertreib,
daß darüber die rechte Zeit des Aufstehens versäumt wird
und die nötige Vorbereitung zum Erscheinen in der jetzt recht zahlreich
(36) gewordenen Tischgesellschaft, mitunter sehr heftig betrieben werden
muß. Eben tritt ein fast völliger Wechsel in der Gesellschaft
hier ein, leider nicht zum Besseren, doch sind unter den erst jüngst
und nach uns Angekommenen noch eine ganze Reihe von Menschen, mit denen
wir ohne Beschwerde einen angenehmen persönlichen Umgang haben werden
von jener Leichtigkeit und Unbefangenheit, wie ihn ein solcher Sommer-
und Erholungsaufenthalt mit sich bringt. Gestern fuhr eine ebenso stattliche
und aristokratische, wie einfache und nette alte Dame ab, eine Frau v.
d. Schulenburg geb. v. Maltzahn, die bereits seit April hier und mit Bruhns
als ihrem Zimmernachbar – er ist schon seit Anfang April und der älteste
Gast hier – näher bekannt war. Er erhält noch ihre Kreuzzeitung,
die ich jetzt auch hintereinander lese. Jedenfalls ist sie technisch vorzüglich
gedruckt und enthält wenig Anzeigen und macht einen ihren Lesern entsprechenden
vornehmen Eindruck und tritt jedenfalls nachdrücklich und offen für
einen uns so nötigen Frieden mit ausgedehnten Grenzen und Sicherungen
auf Kosten unserer Feinde ein. Ein seltsames Gegenstück zu dieser
durchaus angenehmen und eindrucksvollen Dame (deren Sohn Oberpräsident
von Brandenburg ist) ist ihr Gegenüber, ein alter pensionierter General
Kruska aus Cassel. In seiner Jugend mag er ein frischer und fröhlicher
Draufgänger gewesen sein, kennt auch die baltischen Provinzen, spricht
eben noch ganz gut Russisch und hat eine lustige und forsche Art, mit allen
Leuten zu reden; hiermit aber verbindet er ein offen betontes
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streng rechtgläubiges Christentum so strenge Art, daß es
geradezu grotesk wirkt. Einen Gegensatz z. B. von Staat und Kirche giebt
es für ihn gar nicht, auch den Pfarrer erkennt er als Vorgesetzten
an und handelt nach seinen Angaben, auch wenn dieser damit eine Dummheit
macht. Seine Ansichten machen oft riesigen Spaß. – Freund Bruhns
war durch eine heillose Nachlässigkeit seiner fahrigen Hausmieterin
Ina Willich in Leysin in höchster Gefahr, finanziell vollkommen trocken
zu sitzen – auch längst fällige Miete zahlte sie nicht – den
Verbleib eines Wertbriefes mit über 1000 fr. Inhalt vermochte er erst
mit Hilfe eines Bremer Anwaltes festzustellen, nachdem Briefe, Depeschen
ect. alles unbeantwortet blieb und die Sache sich schon seit dem 20.4.
(!) so hinzog. Ich konnte ihn bei der Abwicklung beraten. Hoffentlich bleibt
die Summe für ihn erreichbar. Morgen fährt er zur Beglaubigung
einer Vollmacht nach Fulda und bringt abends seine Frau heim, die über
Berlin (wo sie 2 Tage bei Frau Fritz Trendelenburg, geb. Schwartz zu Besuch
ist) aus Ostpreußen vom Gute ihres Bruders heimkehrt. Wir freuen
uns besonders darauf, daß Helene sie kennen lernen wird und wir alle
4 hier noch etliche Tage zusammen sein werden. Es sind wahrhaft „blaue
Tage“ für uns hier angebrochen. Aus dem Fenster und der Loggia unseres
Zimmers haben wir einen weiten Blick ins fränkische und thüringische
Bergland hinein, wie man ihn sich schöner nicht ausmalen kann. Dazu
durch ein langgestrecktes reichgruppiertes Wiesental, in dem in der Mitte
zwischen mächtigem Basaltgewölb ein kleiner Bach hinabrauscht,
bestanden von Weiden und Erlengebüschen. Links und rechts treten Laub-
und Fichtenwald wie Kulissen in mannichfacher Abwechslung bald mehr bald
weniger nah ins Tal hinein, umsäumen die reichblühenden Wiesen
und bilden mit vereinzelten großen und prächtig allerseits entwickelten
Bäumen reiche und stets wechselnde Gruppen. Zur Zeit benutzen die
Leubacher das herrliche Sommerwetter zur Heuernte, die Luft ist ganz von
dem würzigen Duft erfüllt, Frauen und Kinder, auch vereinzelte
Männer sehen wir vom frühesten Morgen bis zum späten Abend
eifrig beschäftigt und eben rüsten sich im warmen Abendsonneschein
3 hochbeladene Wagen mit Ochsengespannen zur Heimfahrt.
Hinter weiteren schmalen Waldstreifen und Ufergebüschen des hin-
und herschlängelnden Baches glänzen grausilbern die weiten Kornfelder
der Leubacher Flur, das Getreide beginnt eben zu reifen. Die Flächen
dehnen sich in weiten bogenförmigen Planen bis zur hochgelegenen Waldgruppe;
an der gegenüberliegenden Talseite ziehen sich terrassenförmig
in weiten Bögen die Kartoffeläcker, Gemüse- und Futterfelder
hin, alle mit niedrigen Büschen umsäumt und reich mit großen
Obstbäumen durchsetzt. Die Sicht auf den hübschen Ort selbst
benimmt uns ein Trupp hoher Fichten, der sich zur Talsohle an den Bach
herabschiebt und über dessen Spitzen unser Blick hinüber in ein
weiteres sanft abfallendes Tal mit reichen Feldern gleitet und an einem
kleinen mit rotbraunen Dächern schimmernden Städtchen hängenbleibt,
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das mit Türmen und Mauern umgeben, wie aus einem Spielzeugkasten
angebaut, allerliebst dort unten liegt. Über ihm zieht sich auf langgestreckter
Höhe ein weiter dunkler Wald dahin, über diesem erscheinen weitere
lange Waldrücken, das wiederholt sich einige Male, bis schließlich
im fernen Dunst des äußersten Horizontes eine feingezeichnete
lange Berglinie mit 2 großen Spitzen das Bild abschließt. Jene
Berge sind ...
Je nachdem die Wolken und Sonne die Landschaft beleben, blüht
mitunter ein kleines Nest, wie etwa Henneberg mit seiner Burgruine, zwischen
den verschiedenen Berg- und Waldlinien auf. Daß dem ganzen weiten
Bilde der kräftige Rahmen nicht fehle, tritt linker Hand der Buchenwald
mit hohen Stämmen bis auf etliche Schritte dicht ans Haus heran und
schließt an seiner Ecke gegen die Wiesen im Vordergrund mit einer
alten hochragenden Linde ab; rechts läuft um einen dichten hohen Vorsprung
des Tannenwaldes das Wiesengelände bergauf und verwandelt sich hinter
einer schmalen Zunge von Laub- und Nadelbäumen in die weite große
und fast leere, nur hier und da von großen Basaltblöcken übersäte
Weidefläche, die hinter- und oberhalb des Hauses und namentlich nur
einige Minuten aufwärts gelegenen Dorfes Frankenheim den Charakter
der hohen Rhönlandschaft beherrscht. Dort ist das Bild ganz anders.––
15.6.1917. Obwohl jedermann und auch wohl fast jederzeit an den Krieg
denkt, ist hier nicht viel die Rede davon. Es ist dies auch eine gewisse
Entspannung. Der Tagesbericht liegt abends vor Tisch in einem sehr kurz
gefaßten Auszug handschriftlich als Depesche auf dem Tisch, der die
Briefschaften aufweist und die Herren nehmen ihn meist schweigend zur Hand
und legen ihn mit kurzer Bemerkung wieder beiseite. Das Vordringen der
Engländer im Bogen von Wytschake schmerzte, das gestern gemeldete
Schießen unserer Großflugzeuge (im Geschwader!) über London
erfreute. Auffallend gut und reichlich ist das Essen und von den meisten
Gästen wird, zumal in den ersten Tagen ihrer Ankunft, hiervon ein
weitgehender Gebrauch gemacht. Ein alte, greise dürre und hakennäsige
platte Jungfrau aus Hamburg, die wir die „Wanze“ nennen, stellt alle weitaus
in den Schatten, sie vertilgt unglaubliche Mengen und erweckt, wie Bruhns
zutreffend meint, die Vorstellung als ob bei ihr alles ohne weiteres wie
durch eine Röhrenleitung ins bodenlose Innere der Erde verschwände.
Die starke und ununterbrochene Sonne bräunt die bleichen Gesichter
der Ankömmlinge oft schon nach wenigen Tagen und die herbe frische
Luft mit ihren Reizwirkungen auf die Haut tut ein übriges dazu. –
Allgemach erscheinen auch die Kinder Israels, bei Tisch von den christlich
evangelischen Hausleuten hübsch beieinander gefaßt. Sie haben
sich für den Tagesaufenthalt dicht beim Hause im Buchenwald angesiedelt,
machen sich nicht störend bemerkbar und werden dort wohl nächstens
Laubhütten bauen.
Die Abende sind unvergleichlich schön. Wir verbringen sie meist
gemeinsam auf einer unserer Lauben, bequem auf die Liegestühle ausgestreckt
und die erquickliche Abkühlung genießend. Vereinzelte Waldvögel,
namentlich Waldamseln sorgen für leise Musik, die fernen Berge
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verschwinden im Abenddunst, hin und wieder glänzt noch ein warmer
Sonnestrahl durch die Waldbäume ins Wiesental und läßt
die warm angehauchten gelbbraunen Zugochsen am letzten Heuwagen in
einem sanften Gegensatz zu den im Abendschatten kühl grau schimmernden
Weiden erscheinen. Bruhns erzählte von seiner estländischen Heimat,
wir von unseren Kindern, und wenn es nach 10 Uhr zu dunkeln beginnt, so
werden wir schläfrig, trennen uns mit Händedruck und verschlafen
die kühle Nacht bei weitoffenem Fenster und Balkontüre, bis die
warme Morgensonne uns schon in aller Frühe aus dem Bette zu einem
kleinen Luft- und Sonnenbad herauslockt. ––
18.6.17. Der schöne gestrige Sonntag war uns ein wenig dadurch
verdorben, daß sich im Auswurf etwas weniges Blut fand und ich Angst
bekam, es würde sich eine Blutung erneuern. Wie wir heut früh
einwandfrei feststellten, war es nur eine winzige Absonderung in der Nase,
die ich auch bereit vorgestern gehabt und die sich heute wiederholte. Helene
machte dann also gestern und heute – ich ging zur Vorsicht auch trotz besseren
Wissens auch heute nicht mit – morgens je einen größeren Spaziergang
mit. Gestern abend hatten wir eine prächtige Unterhaltung auf unserem
Balkon, wozu Bruhns nicht nur eine Flasche Wein, sondern auch einige seiner
Märchen zum besten gab, auf daß ich nicht allzu viel zum Sprechen
sollte angeregt werden. Den seelischen Druck von gestern aber bin ich wieder
völlig los und munter wie ein Fisch im Wasser. Helene aber versteht
sich mit Frau Bruhns aufs beste; schade, daß sie übermorgen
bereits abreisen werden. Das Heu wird jetzt auch unmittelbar unter dem
Hause hier geerntet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß infolge irgendwelchen
feinen Staubes von dem dürren Heu ich (und etliche andere hier) seit
etlichen Tagen einen stets belegten Hals habe. In Berncastel sind es nachmittags
5 Uhr noch +32°C auf der Nordseite des Hauses und Mariannchen läuft
nachts der Schweiß im heißen Schlafzimmer herunter. Frl. Hedwig
aber sorgt gut für alle und Helene ist nach einem eben eingetroffenen
Briefe sehr beruhigt.
19.6.17. Helene litt gestern abend an heftigem Kopfweh und legte sich
nach kurzem gemeinsamen Spaziergang zu Bett. Ich saß noch mit Bruhns
und Frau zusammen, wir schlürften ein köstliches Glas alten wundervollen
roten Burgunders, den Frau Bruhns (gewiß noch aus alten Beständen
der Weinhändlerfamilie Friedrichs) mitgebracht hatte. Bruhns erzählte
höchst anschaulich einen Besuch als Knabe mit seiner jungen Mutter
in deren Heimat (Wyk) im westlichen Teil von Estland auf dem Gut einer
sterbenden alten Tante, das mit großem alten Park auf einer schmalen
Landzunge mit flachem Sandstrand weit hinaus ins Meer liegt (Rennenkampfsches
Gut) Ich ermahnte ihn, alle Eindrücke seiner reichen Kindheit in Estland
in ein Buch zusammenzubringen und so weiten deutschen Volkskreisen die
Möglichkeit eines Einblickes in das Leben der äußersten
Vorposten deutscher Kultur zu verschaffen. Ich verspreche mir davon ein
schnelleres Verständnis vieler Leute für das entlegene Estland
als von allen Aufklärungsschriften historischen, wirtschaftlichen
und volksgeschichtlichen Inhalts. Auf dem Spaziergang
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hatte er uns anschaulich Schilderungen von den begabten künstlerisch
veranlagten und hier und da ein wenig exzentrischen Nachkommen der rheinischen
Malerbrüder v. Kügelgen gegeben. Hier ist ein Vermerk in Stenografie
eingefügt.
Sa 23. Juni 1917. Mittwoch nachmittag hatten wir um 3 Uhr bereits
mit Bruhns’ens Kaffee getrunken, und nach herzlichem Abschied von den christlichen
Haus- und Wirtsleuten Dümmeler, die ihnen noch verschiedene Butterbrote
und eine Schachtel Reisemundvorrat mitgaben, marschierten Helene und ich
mit ihnen bei glühender Mittagshitze durch Frankenheim und ein Stück
auf der schattigen Lauballee auf Birx zu. Wir hatten angenehme Tage und
schöne Abende miteinander verlebt und trennten uns nicht ohne Bewegung
auf vielleicht lange Zeit. Sie waren keineswegs ohne Sorgen. Ihre Mieterin
in Leysin ist anscheinend in nicht unbedeutenden Zahlungsschwierigkeiten,
mit Mühe und Not ist unter erheblichen Abzügen für allerlei
selbstherrliche Verwendungen der Mietzins bis Ende Juni eingegangen, zum
1. Okt. kündigte Bruhns und der für die Zeit bis dahin erfallende
am 1. Juli fällige Zins erscheint gefährdet. Durch ein wirres
höchst unglückliches Zusammentreffen allerlei widriger Umstände:
Depeschensperre, Abwesenheit von Frl. Willichs von Leysin, leichtsinnige
Schlamperei ihrer Vertreterin u.s.w. ist ein großer von Rußland
nach dort überwiesener Geldbetrag fast an 2 Monate unauffindlich und
erst durch Hülfe eines Berner Anwalts wieder ans Licht gebracht worden;
diese Sache hatte Bruhns in äußerste finanzielle Verlegenheit
gebracht und ihm manche Sorge verursacht. Hoffentlich löst sich demnächst
auch diese Sache zur Zufriedenheit. Es war mir eine Genugtuung, ihm dabei
mit kleineren Ratschlägen u.s.w. helfen zu können. Aus Gesundheitsrücksichten
und zur Regelung der Hausvermietung werden sie nun im Winter wieder nach
Leysin zu gehen trotz aller Paß- und sonstiger Schwierigkeiten. Leider
sieht er sich dadurch um erhebliche Zeit – er glaubt mindestens Jahr –
in seinen Plänen zurückgesetzt; denn da er in Würzburg mit
Rücksicht auf einen seltsamen und etwas verbitterten Extraordinarius
für Kunstgeschichte (Knapp), der nicht Ordinarius wird und ängstlich
bemüht ist, keinen neben sich aufkommen zu lassen, wenig Aussicht
auf gedeihliches Fortkommen hat, trotzdem die reichhaltige und noch keineswegs
wissenschaftlich durchgearbeitete Sammlung des kunsthistorischen Instituts
der dortigen Universität ihm ein dankbares Arbeitsfeld bietet und
ihn mit dessen Vorsteher, dem Professor der Archäologie Bulle, eine
nähere Freundschaft verbindet, so will er sich in Frankfurt an der
neuen Universität habilitieren, gedenkt aber eine recht gründlich
durchgearbeitete Habilitationsschrift zu liefern und hat Beziehungen zu
dem ihm wohlwollenden Professor Kautsch dort angeknüpft. Auch hat
er die Bearbeitung eines gewissen Abschnittes besonderer Denkmale in historischer
Folge für ein in Berlin gesammeltes Generalarchiv übernommen,
war im Winter auch zu diesem in Berlin und hat sich so ziemlich dazu verpflichtet.
Hoffentlich gelingt es ihm, im Herbst trotz aller Schwierigkeiten im Reisen,
Photographieren, Literaturbeschaffen u.s.w. sein Material so weit zu fördern,
daß er im Winter auch in der ihm so unsympathischen Atmosphäre
von Leysin daran weiter arbeiten kann. – Seine Frau war auf dem ostpreußischen
Gute Davidshof ihres Bruders gewesen, dann in Berlin 1 oder 2 Tage bei
Fritz Trendelenburg und seiner Frau geb. Schwartz – von Arosa her gut bekannt,
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die zwar einen kräftigen Kriegsbuben von ¾ Jahren hat,
selbst aber leider ganz und gar erschöpft ist, und blieb zum Schlusse
5 Tage hier, „innert“ welcher Zeit sich Helene gut mit ihr verstehen lernte.
–
Am Tage nach dem Abschied schlug das Wetter um, die Rückkehr vom
Begleiten am 20. war uns fast unerträglich vor schwüler Hitze
und unglaublich zudringlichen Insekten. Dann kam am Abend ferne Sicht,
die Luft wurde feucht und klar und eben hatten die Leubacher alles Heu
heimgefahren, unser Wirt dagegen das seine erst gerade gemäht bekommen,
da brachte ein heftiger Weststurm über Nacht Regen und starke Abkühlung,
so daß wir unserer mitgebrachten wärmeren Sachen ordentlich
froh sind. Wir sahen nun sausende Wolkenmassen von Westen her über
die kahlen weiten Höhen der Rhön herüberkommen, sich bald
zu blendenden Gebilden zusammenballen und auftürmen, bald in der Ferne
sich zu langen unten scharf abgegrenzten Wolkenbänken, eine stets
hinter der anderen breit hinlagern, oft in herben und grellen Tönen
sich färbend. In weiter Ferne tauchen hinter dem schatten- und sonnescheinüberjagten
breiten Waldrücken des nördlichen Baiernzipfels stets neue ferne
Berglinien Thüringens auf und jene nachdem ein breites Strahlenbündel
durch die Wolkenlücken ein entferntes Tal mitunter in magischem Glanze
von blaugrünen Tönen und farbigen Rändern aufleuchten läßt,
sehen wir einen bis dahin unsichtbar gebliebenen Ort wie z. B. Henneberg
mit seiner Burgruine oder das ferne Römhild am Fuß der hohen
Gleichberge. Dazu braust der feuchte West ununterbrochen über die
Höhen und läßt die starren Tannengehölze mit ihren
Spitzen in feierlich schaukelnde Bewegung, die Zweige der Laubbäume
mit dem seine helle Unterseite zeigenden Blattwerk in heftigem Hin- und
Herwogen aufrauschen und peitscht seltsam verzerrte und gerissenen Wolkengebilde
in eiligem Flug vor den schweren dunkeln und scheinbar unbeweglichen grau-
und blaufarbenen Wolkenkulissen daher, in denen sich unschwer jede Erfindung
der eigenen Phantasie so gut wie die Gestalten das alten wilden Heeres
in stets wechselnden Gebilden erkennen lassen. (Ca 10 Wörter stenografiert)
– Alle aber, Kurgäste wie Bauern und selbst der Wirt sind eines Herzens
daüber, daß der durchdringende Regen höchst nötig
war, sollte die Ernte nicht Gefahr laufen zu verdorren. Es ist erstaunlich
zu beobachten, wie selbst der städtische Sommerfrischler, dem es in
Friedenszeit meist nur um heiteres und sonniges Wetter zu tun ist, ein
inniges Verständnis für die landwirtschaftlich notwendigen Wettererscheinungen
gewonnen hat, mit den Bauern im Heu um den Bestand des Sonnenscheins bis
zum Einscheuern bangte und froh aufatmete bei dem rauschenden Regen, den
die Kartoffeläcker mit vollen Zügen tranken und der in wenigen
Tagen die bräunlichen Rasen der abgemähten Wiese zu frischem
Ergrünen bringt. Sogar die Notwendigkeit des Windes für die Bestäubung
der Roggenblüten auf den fernhin wogenden Getreidefeldern bleibt weder
unbekannt noch unerörtert. Und wem verdankt der sonst nur so obenhin
für die Natur „begeisterte“ Sommerfrischler diese Vertiefung seines
Naturempfindens oder besser gesagt seiner Naturbetrachtung, die
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immerhin dem Landmann ein wenig näher zu bringen vermag? Wem anders
als den – Engländern!!
25. Juni 17. Heute ist ein trüber regnerischer Tag, der uns aber
gestattet, auf der Laube vor dem Zimmer zu liegen. Aus der vorstehenden
Landschafts- und Wetterschilderung machte ich einen Artikel an die Kölnische
Zeitung zurecht, der mit der Quittung für eine überwiesene Zahlung
heute oder morgen abgehen soll. Wir haben jetzt einen regen Spazier- und
Ausflugsverkehr mit unseren Zimmer- und Tischnachbarn, einer sehr anregenden
älteren Dame (v. Eichel-Streiber aus Eisenach) und deren sehr sympathische
junge Nichte Lotte Büsgen (aus Hannoversch Münden) wo der Vater
Dozent an der Forstakademie ist. Mit der Nichte, die sich besonders an
Helene angeschlossen hat, machten wir Sonntag nachmittag einen erquicklichen
Ausflug zum „schwarzen Moor“, das im Glanz der Sonne, seinen blühenden
Gräsern und den wehenden Wollgrasfähnchen – sie beginnen langsam
zu zerflattern und bilden an allen möglichen anderen Blumenstengeln
förmliche weite Höschen – mit seinem kleinen Bestand an
krüppeligen Birken einen sehr hübschen Anblick bot. Wir lagerten
uns auf den mitgebrachten Mänteln unter einer kleinen Kiefer und ruhten
eine Zeitlang im Blust der stark brennenden Sonne und unterhielten uns
aufs beste. Es berührte ganz eigen, von Frl. B. in ihrer ruhigen und
fast beschaulichen Sprache und Ausdrucksweise zu hören, wie sie auf
der letzten größeren Gesellschaft in ihrem Vaterhause nur so
gleichsam durch den Türspalt ein wenig hatte zusehen dürfen,
und der Krieg ihr dann die Türe zu derartigen, von ihr natürlich
sehr ersehnten Tanzvergnügungen mit rauher Hand zugeschlagen hatte.
Nun ist sie inzwischen schon volle 3 Jahre älter geworden, ohne mit
den wohlberechtigten Ansprüchen ihrer Mädchenjugend irgendwie
auf die Kosten zu kommen. Unsere Mädels gerade in diesem Alter haben
es wirklich nicht leicht, und wir trösteten denn auch nach Kräften
mit Hinweis auf die Junggesellenmüdigkeit und mannhafte Reife der
heimkehrenden, von denen sicher eine größere Zahl gegen früher
in jüngeren Jahren zu Stellung und Brot kommen und nach den Feldzugsanstrengungen
das Familienheim doppelt erstreben werden. Leider wird das sympathische
Mädchen übermorgen mit seiner Tante bereits abreisen, zunächst
nach Weimar, wo es, wie die Kleine ernsthaft zu erzählen wußte,
besonders angenehm für ledige ältere Damen zu wohnen sei. Sie
hätte sich das mit ihrer älteren (27j.) Schwester schon alles
überlegt. Nun, wir hoffen, daß es damit nicht ernst zu werden
braucht. – Die Tante interessiert sich sehr für Gartenblumen und Gemüsebau,
verfügt augenscheinlich über einen recht großen Park und
Garten mit Gewächshaus in Eisenach, kennt alles mögliche und
ist ebenso unterhaltend wie angenehm. Schade, daß sie nicht wenigstens
bis Samstag bleibt, wo Schwager Wilhelm Reitmeister (Reitmeister, Willi)
erscheinen und neben neuer Abwechslung einen starken geistigen Geruch und
Hauch aus der Munitionsherstellung mitbringen. – Uns gegenüber sitzt
bei Tisch ein Ehepaar v. aus . . . Der Mann ist
Regierungspräsident und erledigt von hier aus zwischendurch Dienstreisen;
ein Sohn, Offizier der Kameruner Schutztruppe, bei Buea (Bula?) gefangengenommen,
sitzt in einem englischen Musterlager, wo
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es ihm verhältnismäßig recht gut geht. Es war mir aus
seinem Munde recht erfreulich zu hören, daß er ganz von sich
aus die Ansicht bekannte, daß uns mit Kurland allein ohne Livland
und Estland nicht gedient sei. Zur Reichsregierung hatte auch er kein rechtes
Vertrauen.
28. Juni 17. Ein schöner Sommertag heute, die Ferne wird wieder
dunstig und die Luft bei auffrischendem Ostwind trockener. Unsere Zimmer-
und Tischnachbarn fuhren heute vormittag ab, nachdem wir gestern nachmittag
noch mit ihnen einen sehr unterhaltsamen und an herrlichen Natureindrücken
reichen Spaziergang gemeinschaftlich zum schwarzen Moor und weiter zum
Eisgraben gemacht hatten, wobei wir trotz des gegen alle Berechnung recht
langen Weges und ausgiebiger Ruhepause noch rechtzeitig zu dem freilich
etwas verspätet beginnenden Abendbrot kamen.
29.7.17. Eine Reihe unangenehmer Eindrücke möchte ich mir
hier ein wenig von der Seele abschreiben: Der gegen den Reichskanzler geführte
Kampf wegen Unentschiedenheit in der rücksichtslosen Anwendung vorzüglicher
neuer Kampfmittel und wegen Unklarheit und Dämpfung unserer Kriegsziele,
kurz wegen Unentschlossenheit und ewigem Zickzack in unserer Politik richtet
sich zum guten Teil und leider allem Anschein nach nicht mit Unrecht gegen
den Kaiser selbst, der als Urheber dieser, nach außen stets den Eindruck
der Schwächlichkeit mahnenden Art gilt. Es ist wirklich tief bedauerlich,
daß uns zur Stunde ein Bismarck oder sonst ein vollwertiges politisches
Gegenstück gegen Hindenburg und Ludendorf fehlt. Letzter könnte
vielleicht mal einen prächtigen Reichskanzler geben. Der seit einiger
Zeit hier abgereiste General Kruska aus Cassel, ein amüsanter, etwas
seniler aber im Gedächtnis noch frischer Herr mit sonst ganz vernünftigen
Ansichten gab durch seine geradezu grotesk übertriebene streng orthodoxe
(protest.) Frömmigkeit, die er keineswegs allein in stillen Gebeten
vor den Mahlzeiten still für sich pflegte, sondern bei jeder Gelegenheit
in einer oft lächerlich und albern anmutenden Form zum Besten gab,
einen höchst bedauerlichen Abklatsch jener auch bei S. M. beliebten
frömmelnden Richtung. Angeblich hat Kr., der ehedem ein Gefangenenlager
befehligte, beim Ausbruch einer Typhusseuche dort statt rechtzeitig alle
nötigen Maßregeln zu ergreifen, dies als eine Fügung und
Schickung Gottes angesehen und so lange sich auf kräftiges Beten verlegt,
bis bereits ein großes Sterben eingerissen (Maler Knackfuß
soll als Landsturmmann dabei mit zu Grunde gegangen sein) und man ihn alsdann
absträngte (?) – Mit dem Kaiser aber soll ein höherer Marineoffizier
das Beten geradezu gewerbsmäßig betreiben, es läßt
sich ausdenken, zu welch bedenklichen Erscheinungen derartige krankhafte
Auswüchse führen müssen. Wie sagte doch jener witzige rheinische
Geistliche?:
„Er Bure, he nötz dat Bedde nüs, he moß Möß
dran!“
Frau Bruhns erzählte, daß in Königsberg zeitweise Unruhe
wegen Nahrungsmittelmangel war; dergleichen wird noch an manchen Orten
der Fall gewesen und noch sein. Auch ist es ausgeschlossen,
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daß die Revolutionsbewegung in Rußland, die doch nach allen
Ländern ihre Wellen schlägt, gerade unsere Volksmassen, die schweres
erdulden, sollte unberührt gelassen haben. Man wird gut tun, sich
auch über unsere Verhältnisse im Inneren keiner Täuschung
in der Weise hinzugeben, daß man durch die ewig einseitige Brille
der Zeitungen stets gespannt auf die inneren Verhältnisse Rußlands,
Englands und Frankreichs sieht. Hier, in unserem Kurhaus, giebt es reichlich,
daß es tatsächlich ärgerlich wirkt, wenn manche sich zu
Frühstück ect. noch privatim weitere Butter, Eier und Fleischauflage
mitbringen. Es sind freilich durchweg widerliche Menschen, meist Juden,
mit denen nur das mindere Volk verkehrt. – Die Ernährung aber ist
vielerorts geradezu traurig und wird vermutlich nächstes Jahr noch
schwieriger werden. Der Kölner Oberbürgermeister Wallraf, gewiß
ein energischer und rühriger Mann, hat es trotz aller persönlicher
Verwendungen und aller eingeheimster Versprechungen nicht vermeiden können,
daß die Stadt Köln derzeit mit 300000 Zentner Kartoffellieferung
(fest zugesagter!) im Rückstand ist, die sie vermutlich auch nie wird
bekommen können. Von den so oft wiederholten Nachrichten über
die bevorstehende und hereinbrechende russische Hungersnot in Rußland
aber werden weder die Kölner noch andere Leute satter.
Gottlob arbeiten die U-boote jetzt wieder mit Volldampf. Es scheint
wirklich hin und wieder fraglich zu werden, ob der Krieg den Winter überdauern
wird. Ich selbst freilich glaube, daß er noch recht lange dauern
wird, selbst schließlich als reiner Zweikampf zwischen England und
Deutschland. – Ich lese jetzt Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. Wie
weitet einem das den geistigen Horizont! Und welche überlegene Herrschaft
der Sprache und des Gedankens! –– Bruder Josef (Rech, Josef) ist
jetzt in Bonn in Urlaub und erzählte: wer sich von Hause zur Front
schicken läßt, bekommt keinen Urlaub. Was dagegen in der Heimat
weggeholt wird, geht alles zur Front. – Es beginnt wieder heiß zu
werden, das Wetter ist ja geradezu unglaublich schön, aber jeder wünscht
weiteren Regen. Die erst jetzt hier oben gehäufelten Kartoffeläcker
stehen sehr schön.
3. Juli 1917. Vorgestern morgen holten wir in dichtem, naßtriefendem
Nebel Willi (Reitmeister, Willi) ab und trafen ihn etwa in der Mitte zwischen
Frankenheim und Dirx auf der Landstraße. Er kam ganz fröhlich
daher, wir zogen die Wettermäntel an und trabten miteinander ganz
fröhlich heim, trotzdem wir kaum 30 m weit sehen konnten und Mantel
und Gesichter sich alsbald voll silbern glänzender Wasserperlchen
setzten. Von daheim wußte Willi mancherlei, meist wenig Erfreuliches
zu erzählen. Die Eltern Reitmeister sind alt, unbehülflich und
schwerfällig geworden, Papa (Reitmeister, Peter) glaubt sich immer
noch mit eigenem Vorreden über die schlimme Not der Zeit hinwegzusetzen,
behauptet, es gebe keinen tatsächlichen Mangel, solcher sei nur künstlich
herbeigeführt u.s.w. Für sich verlangt er nach wie vor gehörig
zu essen, Mama (Reitmeister, Helene) weiß ihn nicht satt zu bekommen,
und meiner Mutter (Rech, Anna aria) geht es recht schlecht nach
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einer Influenza (Josef schreibt heute von Fieber, schlechtem Aussehen
und höchst mangelhafter Ernährung, z. T. sicher alles Folgen
davon, daß sie eine Zeitlang ohne Mädchen da saß.) Von
Josef erzählt Willi eine ganz abenteuerliche indianerhafte Geschichte,
wie er allein, mit einem als schwimmende Grasinsel maskierten kleinen Floß,
Grasbüschel um den Kopf eine Flußreise unternommen, vermittels
mitgebrachter Sprengmunition eine wichtige Brücke in die Luft fliegen
ließ und in eiliger Flucht gerettet nur mit Schwimmhose bekleidet
vom General empfangen und belobt worden sei. Statt des für ihn in
Aussicht genommenen E.K.I.KL. habe er sich lieber einen 4wöchentlichen
Urlaub erbeten, den er jetzt daheim, die letzte Woche bei seinem Schwager
D. Probst in Gemünd verbringt. Ich beantwortete ihm heute einen Brief
und gebe gerne meine Zustimmung dazu, daß er sein Büro in mein
altes Zimmer im elterlichen Hause verlegt. – Gestern hatten wir nun den
ganzen Tag bei frischem Ostwind einen dicken wolkenartigen Nebel, der unablässig
nach Westen über die Hochflächen dahergetrieben wurde. Morgens
gab es noch mancherlei zu erzählen, unser Zimmer war durch die weiten
Tür- und Fensteröffnungen nach draußen kühl und ungemütlich,
auf Willi’s Erkerbude hingegen war es recht angenehm und wir saßen
dort, plauderten und schrieben nachcher, als Willy trotz Nebel und Nässe
spazieren ging. Nachmittags marschierten wir dann nach dem Kaffee aufs
schwarze Moor, begegneten unterwegs erst einer großen Rinder- und
Ziegenheerde, die sich in dem hin- und herwallenden Nebel malerisch genug
zwischen den blauleuchtenden felsigen Basaltbrocken auf der öden grünen
Weidefläche ausnahm, später auch einer großen Schafheerde,
die von fern unter der sich bald etwas hebenden, bald wieder bis zum Erdboden
sich senkenden Nebel- und Wolkendecke in silbrigem Lichte mit ihren kurzgeschorenen
Vließen sichtbar wurde. Nachdem wir erst ein wenig am Moor vorbeigelaufen
waren, entdeckten wir bei gelegentlicher Lüpfung der Nebeldecke seine
Krüppelbirken und steuerten quer über die saueren Wiesen und
das Bruchland darauf zu. Hier und da waren Flecke darauf hinweggemäht,
vermutlich um als Streu zu dienen, dicht dabei lagen hohe Moospolster,
auf denen man tief einsank und nur schwankend und unsicher gehen konnte.
Mit den ringsum sich stets bewegenden Nebelmassen bot das Ganze mit den
krüppeligen Birken und etlichen ganz und gar verknorrten Baumleichen
im Vordergrund, der weiten dunklen, von spärlichen Heidebüschen
und weiten Moospolstern besetzten Fläche und dem höchst knüppelhaften
Kleingehölze ringsum, wo sich Erde und Wolken berührten, einen
seltsam traurigen und düsteren Anblick, der doch einer gewissen Heimlichkeit
nicht entbehrte. Das Gefühl der letzteren ging uns eine kurze Zeitlang
ganz verloren, als wir auf dem Heimweg von der Pfahlreihe an dem recht
unbestimmten Wege abwichen, auf scheinbar unendliche, rings von Nebel umwallte
Weidefläche gerieten und schließlich nicht mehr Weg noch Steg
fanden. Vermittels unserer Ohren fanden wir uns zu jener Schafheerde, entdeckten
auch endlich nach langem Suchen deren Hirten, der uns die Richtung
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zum Weg wies und fanden diesen auch, nicht ohne daß wir durch
ein recht nasses hochpolsteriges und wüstes Stück wildverwachsener
Weide hatten hindurchstapfen müssen. Zu Hause konnten wir uns
vor Tisch noch etwas ruhen, erfuhren aus dem Tagesberichtauszug, daß
in Galizien 16 russische Divisionen angegriffen haben, daß ihr Angriff
aber von deutschen und türkischen Truppen (wo bleiben die Österreicher?)
in der Riegelstellung (nachdem als die vorderste Stellung verloren war)
aufgefangen und abgeschlagen wurde. Nach Tisch saßen wir bei wunderbarem
Abendsonnenschein auf unserer Laube vor dem Zimmer und Willi erzählte
allerlei aus seinem Fabrikbetriebe. Aus seinen früheren Schilderungen
war mir schon eine jugendliche Kranführerin aufgefallen und ich hatte
mich gestern nachmittag entschlossen, sie zu einem Aufsatz zu verarbeiten.
Heute morgen wurde er sofort in Reinschrift angefertigt und nach Willi’s
sachkundigen Angaben überprüft und heute mittag bereits zur Post
an die Kölnische Zeitung aufgegeben. Hoffentlich kann sie ihn für
ihre neue Überschrift „Die Frau in Staat, Beruf und Haushalt“ gebrauchen.
Willi und Helene fanden ihn gut. – Heute ist ein Tag voll strahlender Sonne
und hellleuchtender Wolken. Eine Menge Briefschaften wurden erledigt, und
nach Kaffee soll es zum Ellenbogen gehen. Etwa 2 ½ kg habe ich hier
schon zugenommen.
Eingeklebter Zeitungsausschnitt über Plünderung von Lebensmittelläden in Düsseldorf und „Kartoffelkrieg in Köln“.
Frankenheim, Rhöngebirge, Sonntag 8. Juli 1917. Der erste kräftige und durchdringende Regen ohne Gewitter. Er tut sehr not hier. Denn so schön Kartoffeln und Roggen auf der dürftigen Flur hier stehen, der Hafer ist geradezu kümmerlich und fast ohne Halm und die neuerdings in Ähren gehende Gerste kann den Regen auch sehr vertragen. Alles lechzte darnach. In Galizien tobt wieder ein fürchterlicher Kampf. Die Russen haben dort eine rücksichtslose Offensive begonnen und eine schwere blutige Niederlage erlitten. Unsere großen Flugzeuge haben, nachdem sie kürzlich in London so ungeheure Verwüstungen angerichtet haben, neuerdings Harwich mit großem Erfolg beworfen. Sie müssen ungewöhnlich leistungsfähig sein, können riesige Lasten, auch bis zu 16 Mann mitnehmen, fast 8000 m hoch (mit Sauerstoffatmung) fliegen und die Strecke von Dover bis Calais oder noch weiter ohne Motor zurücklegen. Es scheint, daß die Engländer vorab
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noch hilflos gegenüber dieser neuen Waffe sind, das Wutgeschrei
nach Vergeltungen beweist es am besten. In China gehen merkwürdige
Dinge vor, der militärisch kräftige und energische Norden scheint
wieder die Führung in die Hand genommen zu haben. Auch ist das Kaisertum
anscheinend wiederhergestellt. Alles zum großen Verdruß unserer
Gegner, zumal der Engländer, deren Truppen in Tientsin den chinesischen
bereits in bedrohlicher Nähe gegenüberstehen. – Wenn Bruder Josef
in einem Brief an mich in den letzten Tagen meint, der Krieg werde gegen
Oktober zu Ende gehen, so scheint mir vielmehr alles darauf hin zu deuten,
daß es noch einen weiteren und zwar recht harten Kriegswinter geben
wird. Selbst die fast verzweifelnden Franzosen scheinen sich mit diesem
Gedanken abzufinden wenigstens zu beginnen. In Österreich sieht es
toll aus, Polen, Tschechen und alles Sklavengesindel hat die Oberhand und
der anscheinend völlig versklavte junge Kaiser begnadigt das gesamte
Verräterpack. Dabei versucht man, getreu der alten österreichischen
Politik, mit diplomatischer Gerissenheit, auf unsere Kosten Frieden mit
Rußland zu machen. Hindenburg und Ludendorf waren jüngst in
Wien und jetzt kommt unser Kaiser dahin. Diese und der Russenangriff in
Galizien wird sie wohl wieder ein wenig an die Kandare nehmen. – Bruder
Johannes (Rech, Johannes) sitzt ohne Mädchen in Halle und nach einer
Karte meiner Mutter dort recht im Schlamassel. Dabei sind die beiden Kinder
noch zur Zeit in Düsseldorf. Den Ernst des Lebens mit 2 Kinder-Haushalt
in diesen Zeiten wird ihm gründlich zu Gemüt geführt und
die alte Redensart wertlos werden: „Ich werde wohl nicht dazu kommen können“.
Mutter Rech (Rech, Anna Maria) aber kann sich nur schwer und langsam von
ihrer Krankheit erholen.
Eingeklebter Zeitungsausschnitt: Der U-Boot-Krieg im Juni.
11. Juli 1917. Helene ist nun schon längst zu Hause. Willi desgleichen.
Aus seinen Äußerungen muß ich mir noch einiges notieren:
Die Wamba (Waffen- und Munitions-Beschaffungsamt) verfügt ohne jede
Rücksicht über die Rohmaterialien auch der Königlichen Geschoßfabrik.
Um sich nun für alle möglichen Defekte an Lagern von „Sparmetallen“
u.s.w. das nötige Messing ect. zu sichern, haben sie auch dort im
Wege allerwärts betriebener Selbsthilfe kräftig gehamstert und
sich dergleichen beiseite geschafft. Unter einem großen Kalklager
liegt eine bedeutende Menge hochgehaltigen Manganeisens verborgen und „die
Wamba kann kommen und revidieren!“ Ja, gegen die Auswüchse der überorganisierenden
Zentralisierung muß man sich zu helfen wissen! In Berlin wird jetzt
„innere Krisis“ gemacht und Erzberger, der Hansdampf in allen Gassen, hat
eine „Bombe“ geworfen. Es soll auf Demokratisierung gehen. Viel Gestank
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und vermutlich wenig Wolle. Schließlich giebts ein „Reichskoalitionsministerium!“
Ob wir es wirklich unbedingt nötig haben, das den anderen nachzumachen?
Freund Bruhns hat wohl mit Recht nicht viel Vertrauen zu dem was da allerhand
Köche in der Reichsküche sich zusammenkochen werden. –
Meine Mutter schreibt leider etwas traurig, sie ist wieder nicht gut
und leidet anscheinend auch wirklichen Mangel. Davon spürt man hier
nichts.
13. Juli 1915 (muß 1917 heißen). Also allgemeines Wahlrecht
in Preußen! (Zeitungsaus-schnitt mit „königlichem Erlaß“
vom 11.7.1917 eingeklebt) Endlich einmal ein Blitz- und Donnerschlag aus
dem innerpolitischen Gewitter in Berlin. Aber ist das alles? Und genügt
es, um dem Reich eine feste Führung zu geben???
15. Juli 1915 (muß 1917 heißen). Habeamus papam, hallelujah!??
Beim Frühstück hieß es, v. Bethmann Hollweg sei abgegangen
und Michaelis, angeblich ein Mann mit festem Willen, klaren Zielen rückhaltloser
Willenskraft u.s.w. sei an seine Stelle getreten. –– ? –– Was war Bethmann?
Der ewig Langweilige? Der Schädling? oder doch vielleicht unter der
Maske des absoluten Biedermannes ein ganz gerissener? Wann und wie wird
man aus diesem Manne einmal klug werden, der mir trotz und alledem so deutsch
vorkommen will. Und die Preußischen Minister? v. Schorlemer, der
schon lange mit Michaelis, dem „preußischen Batocki“ rang? werden
wir ihn nächstens daheim haben? Was will das alles bedeuten gegen
das eine: England, das wir anscheinend fest an der Kehle gepackt haben,
jetzt nur nicht loszulassen! Onkel Gustav (Forstmann, Gustav) schrieb,
daß Walter (Forstmann, Walter) (im Mittelmeer) auf seiner letzten
Ausfahrt wieder 32500 t versenkt hat und bald wieder in See geht. In einem
halben Jahre müssen die Engländer mit ihrem Latein am Ende sein.
Und nun dieser Reichsspektakel in Berlin, „dat Jehirn von Deutschland“;
man möchte fast eher glauben, das sei jetzt der kranke Darm des deutschen
Reichskörpers. Nun, auch das werden wir überstehen und wer weiß,
zu was Gutem es schließlich noch führen mag. Wir leben in einer
großen Zeit und erleben vielerlei häßliche Kleinigkeiten.
Die Berliner Blätter sind ganz aus dem Häuschen geraten und manche
fast tollhausmäßig. – Hier weht starker West und obs was mit
dem Feldgottesdienst heute wird, ist mir fraglich. Will aber doch versuchen,
mal hinzugehen. –
16. Juli 17. Der Feldgottesdienst gestern war würdig und erhebend.
Ich war gegen den heftigen Westwind hart ankämpfend bis zum Dorf vorgedrungen
mit dem Entschluß, wieder umzukehren, da mir der Wind zu stark schien.
Dort aber traf ich unter mancherlei Sommergästen auch Herrn Neumann,
wir kamen ins Gespräch, ließen die Jugendwehren von Frankenheim,
Birx und Oberweid vorbeimarschieren, dazu den stark zusammengeschmolzenen
Kriegerverein, dessen stattliche wehende Fahne auf der linken Seite die
Landesfarben (schwarz gelb grün), auf der rechten
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die Reichsfarben zeigte. Kinder und Jungfrauen, auch Männer und
Frauen marschierten im Gliede hinterdrein und es kam wie von selbst, daß
ich mich den in formlosen Haufen nachtrottenden Sommergästen anschloß,
wiewohl der ununterbrochene heftige West eine Unterhaltung nicht gestattete.
Die Luft war weich, warm und durchsichtig und die klar in leuchtenden blaugrünen
Tönen zu sehenden Rhönberge schienen in dem heftigen Winde, wie
durch eine bebende Glaswand gesehen, zu zittern und zu schüttern.
Etwa ein Drittel des Weges nach Birx ging es links ab auf einen Feldweg,
nach dem von unserem Gasthaus zum Moor führenden Weg zu. Dort formte
sich der Zug, der oft den Anblick einer Prozession gewährte und sich
namentlich recht malerisch ausnahm, als er sich auf dem Feldweg zwischen
Hafer- und Roggenfeldern auf der einen und langen Gebüschhecken auf
der anderen Seite hinzog, zu einem Viereck. Ein Bläserchor unterstützte
die Gemeinde beim Gesang, den der Lehrer Schneider im Gehrock mit einem
riesig ausladenden breitkrämpigen schwarzen Filz anstimmte, dann folgte
die Liturgie, bei der der gedrungene bärtige Pfarrer in Schaube und
Barett auf einer niedrigen mit Tannenzweigen geschmückten Kanzel stand,
deutsche Responsorien mit gleichem Text wie beim katholischen Gottesdienst,
bei denen die Gemeinde die Antworten singend gab. Dem Evangelium: Christi
Predigt am See, vom Kahne Simons aus. Predigt kurz und bündig: Gottes
Segen in Feld und Flur, Kartoffel- und Kornäcker . . . Wir sahen Birx
und Frankenheim von jenem Fleck aus. Die Gestalt des gestikulierenden Pfarrers,
dessen gewaltige Stimme auch gegen den unablässig herstoßenden
Westwind drang, – ich stand mit dem Rücken in Luv, den flatternden
Mantel um die Schultern gehängt – hob sich gegen den leuchtenden Himmel
und dicke weißschimmernde Wolkenballen prächtig ab. Auf meiner
Seite zu standen außer den Jugendwehrführern ein älterer
General mit einem jüngeren Offizier in Uniform, die älteren Bauernfrauen
hatten sich auf eine Steinumwehrung der Wiese gesetzt, das ganze war ein
sehr ansprechendes Bild und bewegte mich heftig, denn der Gedanke an die
draußen Kämpfenden und die Reichserschütterung in Berlin
kam wohl jedem nicht aus dem Sinn. Nach dem Gottesdienst begann eine Felddienstübung,
zu der die Jugendwehren abmarschierten, voran den Pfarrer, der – seines
Ornats entledigt – jetzt mit mächtigen Schritten den Anführer
machte. Auf einer weiter abwärts gelegenen Wiese erfolgte Neuaufstellung,
ich war nach kurzem Gespräch mit dem Lehrer Schneider im großen
Heckerhut, weitergegangen und hörte von fern noch, wie unter Tusch
und Trommelwirbel ein dreifaches Hurrah auf Kaiser und Großherzog
zugleich ausgebracht wurde. Ich hatte die Zeit gar nicht beachtet und gelangte
eben im Hause an, als alles in den Eßsaal strömte.
Ich hatte unterwegs einige Proben von den Früchten des Traubenhollunders
mit korallenroten Beeren abgebrochen, Sambucus racemosa, die nach einem
Zeitungsausschnitt nicht nur Fruchtgelee, sondern auch Öl! geben sollen.
Nachmittags fand ich noch schönere an den Waldrändern auf der
rechten Seite unseres Wiesentals. Dort gab es auch viele große Haselnüsse
und Hagebutten, beide aber noch nicht reif. Ein Postpaket schicke ich mal
jedenfalls heim davon. ––
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25. Juli 1917. Nun haben wir wieder einen großen Durchbruch im
Osten erreicht. Heute sind unsere siegreichen Truppen wohl schon über
Tarnopol heraus und die ganze Ostfront wird lebendig. Ob es noch mal einen
Vormarsch giebt wie 1915? Dann hoffentlich im Norden bis Petersburg. Den
Engländern muß der steigende Schiffsverlust wenn auch langsam
aber sicher den Hals zuziehen. Freilich liegen noch schwere Zeiten vor
uns. Z. Zt. scheint allenthalben Ruhr aufzutreten, wenn auch in leichten
Formen. An der Kost allein kann es nicht liegen, denn hieran fehlts uns
hier auf der Hohen Rhön keineswegs und doch ist auch Darmerkrankung
allgemein. Ich selbst hatte es fast 8 Tage und bin’s jetzt wieder glücklich
los. 1½ Flaschen Rotwein haben mit vorsichtiger Diät und Leibbinde
geholfen. Willi (Reitmeister, Willi) freilich hat keine Kartoffeln und
er wird zwar welche von hier bekommen, aber vielleicht erst in 14 Tagen.
|| Walter Forstmann (Forstmann, Walter) ist sehr ehrend im Marinebericht
(Zeitungsausschnitt eingeklebt) erwähnt. Er wirkt im Mittelmeer wie
ein gefährlicher Riesenhai. Hoffentlich hat er weiter Glück wie
bisher und entgeht allen Nachstellungen und Fallstricken. In Rußland
geschehen bunte Dinge. Wie lange mag es dort noch dauern bis zur Diktatur
und Frieden? –
27. Juli 17. Ein auffälliges Zusammentreffen: Vor einiger Zeit
bringe ich den langgehegten Plan, Collegen Hindersin in Castellaun anzufragen,
zum Entschlusse und erkundige mich nach seiner Feldadresse. Diese Anfrage
ist eben weg, da fällt mir beim Beerentrocknen eine Nummer der Kölnischen
Zeitung in die Hand, in der ich eine vordem übersehene Todesanzeige
seines Schwiegervaters Fritz Feuerhake in M-Gladbach lese und bald darauf
bekomme ich seine Adresse und ein bereits fertig gestellter Brief an ihn
geht ab. Zugleich höre ich, daß Mitschüler Trautmann Simmern
und Castellaun z. Zt. als Richter versieht. Ich schreibe auch an ihn wegen
meines Planes, dort eventuell während des Krieges Richterdienst zu
tun und das gute Klima zugleich zur Kur zu benutzen. Gleich darauf erhalte
ich von Wilhelm Langewiesche Brandt eine liebenswürdige Antwort auf
mein Schreiben über Eindrücke seines Buches „Jugend und Heimat,
Erinnerungen eines 50jährigen“. In diesem Antwortschreiben entpuppt
er sich als Hindersins Schwager, der dessen Frau noch vorigen Oktober in
Castellaun besuchte und der von ihm jetzt, da H. größeren Heimaturlaub
antritt, Ergänzung seines Weinkellers erhofft. – Das müßte
eigentlich nach verschiedenen Seiten zu schönsten Hoffnungen Veranlassung
geben. Ich schickte heute den Brief an Helene und bat sie, durch Frau Liell
(eventuell auch durch Herrn Leistner) an Langewiesche guten Wein anbieten
zu lassen. – Auf Kuntz Ersuchen erkundigte ich mich gestern in Leubach
nach Bienenvölkern und Schwärmen. Dort war weder etwas zu machen
noch bekannt, wo solches möglich wäre. Es ist ein reiches Honigjahr,
doch gab es keine Schwärme.
2. August 1917. Nun liege ich seit 5 Tagen wieder ruhig zu Bett, nachdem
mich am Samstag wieder eine kurze Blutung morgens nach dem Waschen überraschte,
die 6te und hoffentlich letzte für dieses Jahr. Dümmler namentlich
der alte sorgte geradezu rührend für mich. Ein hier zur Kur weilender
Sanitätsrat besuchte mich 2 x und Montag mittag war Helene wieder
hier. Nach schwül-heißen Tagen haben wir nun Regen, der sehr
ersehnt. Es ist bei mir nichts nachgekommen und so werde ich bald wieder
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auf sein. Helene hatte sehr anstrengende Einmachswochen zu Hause hinter
sich, ist aber frisch und wohlauf. Änne (Frau Dr. Ludwigs geb. Rittershaus)
ist daheim bei Frl. und Kindern, die sehr an ihr hängen. Ich fühle
mich ausgezeichnet, nur die Flüssigkeitsbeschränkung erzeugt
mir wieder allerhand Durstphantasien. Im Codeinrausch erlebte ich angenehme
Träume und zimmere daraus eine lange Märchengeschichte für
Herta zusammen. Des Grafen Dohna Buch über seine 2. Möwenausfahrt
las ich gestern ganz begeistert in einem Zug durch. Solange wir solche
Leute haben, werden wir unsere Seestellung nicht verlieren. In Wolfgang
Mangel’s Geschichte der Deutschen lese ich mit viel Vergnügen, derzeit
im letzten Bande, der recht traurig nach den Tagen von Olmütz aber
mit sichererm Gottvertrauen auf die Zukunft schließt. In den 60 Jahrern
seither ist freilich etwas geschehen, was damals keiner ahnen konnte und
selbst heute vermögen wir uns doch nur ein sehr schwaches Bild von
den künftigen Möglichkeiten zu machen. Bruhns (Bruhns, Leo) sandte
eine Flugschrift über den Ubootkrieg, in der es zum Schluß heißt,
daß die heute gebauten Boote um die Erde fahren können. Damit
werden wir England – nur hierauf kommt es an –niederzwingen und dauernde
Seegeltung behalten. Es kommen schon seltsame Stimmen aus Japan. Es wäre
in der Tat eine mögliche Kombination. Wir - Rußland - Japan
gegen Amerika - England. Wer weiß, was die Zeit noch bringt. Während
unsere Truppen den Österreichern Galizien und jetzt auch wohl schon
die Bukowina säubern – die Rumänen dürften in Kurzem bös
ins Gedränge kommen – nagelt der Reichskanzler die Franzosen öffentlich
auf ihre Rheineroberungsziele fest. Kommt die ganze russische Front abermals
ins Wanken wie 1915, so dürfte Rußland mit diesem Jahre entgültig
erledigt sein. In Flandern findet die größte bisher bekannte
Artillerieschlacht statt und z. Zt. eben wohl ein mörderischer Infanteriekampf.
Es ist betrüblich, das alles vom Bett aus erleben zu müssen.
–
8. August 1917. Seit etlichen Tagen bin ich die längste Zeit des
Tages wieder außer Bett, hüte aber das Zimmer und mache bei
Windstille Liegekur draußen auf der Laube. Ich habe nur mit Hustenreiz
zu tun, gegen den ich fleißig Codein nehme. Der Auswurf ist ohne
jede koloristische Färbung und der körperliche Zustand sehr gut.
Ich beschäftige mich mit Lesen, Schreiben, Phantasieren, Fidibusfabrikation
und ähnlichem und habe nicht die geringste Langeweile. Vermisse höchstens
ein Sopha. Helene, die ab und an etwas ausgeht und nun schon über
1 Woche hier ist, ist insofern übel dran, als ihr Koffer nicht mitkam
und alle Nachfragen und Forschungen bis heute noch ergebnislos geblieben
sind. Das könnte noch eine hübsche Schadensforderung werden.
Leider hat ihr Änne von Bernkastel aus nicht alle die verlangten Stücke
im Postpaket abgehen lassen, so daß da allerlei Mangel herrscht.
Herta ist derzeit in Hersel zur großen Freude der Großmutter.
Willy (Reitmeister, Willi)
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nahm sie Sonntag auf der Rückfahrt aus dem Saargebiet in Wengerohr
mit, war mittags mit ihr bei meiner und nachmittags in Hersel bei seiner
Mutter. In Bernkastel macht das emsige Frl. Hedwig nun Bohnen ein. Ich
hoffe, geht es weiter so gut mit mir, heute in 8 Tagen etwa mit dem Dampfer
nach Bonn (von Coblenz zu schwimmen. Hoffentlich ist die Kofferfrage bis
dahin gelöst. – Wir lesen mit „Belang“ ein populärphilosophisches
Schriftlichen des Schulmanns Mathias darüber, „wie wir Kinder des
Glücks werden“. Ich glaube trotz allen Pechs, Krankheit und Ungemach
sind wir immer noch echte Kinder des Glücks. Nächstens giebt
es sogar noch eine neue Kriegsgehaltszulage.
Hersel, den 16. September 1917. Ein herrlicher warmer Spätsommertag.
Leider sieht es hier schlimm aus. Mutter Reitmeister(Reitmeister, Helene),
die Mitte der Woche Herta (Rech, Herta) nach Bernkastel zu bringen gedachte
und sich hierauf innig freute – dort ist die kleine Marianne von einem
schweren und langwierigen Darmkatarrh glücklich endlich wieder auf
dem Wege der Besserung – ist Samstag nacht plötzlich stark an Ruhr
erkrankt und liegt mit heftigen Beschwerden und völlig matt im Bett.
Sie hat ihre alte Krankenschwester wieder, auch für Arzt sorgte ich
gestern. Mit Papa (Reitmeister, Peter) sind wieder die bei ihm üblichen
Schwierigkeiten. – Seit einer Woche mache ich die in der inneren Klinik
in Bonn in der 2. Hälfte des August unter Prof. Dr. Gerhartz’s Aufsicht
begonnene Bestrahlungskur mit 2 elektrischen Bogenlampen mittels ein Paar
aus dem Beueler Krankenhaus geholten Lampen, die Willi (Reitmeister, Willi)
s. Zt. dorthin gegeben hatte, bei meiner Mutter zu Hause. Anscheinend beginnt
diese Kur, die die Haut schon stark angebräunt hat, auch an der Lungenspitze
selbst günstig zu wirken, wie ich aus der Veränderung des Sputum
entnehmen zu können glaube. Freilich werde ich daheim mit der gleichen
Anlage noch geraume Zeit weiter arbeiten müssen, um zu einem dauernden
Ergebnis zu kommen. Meiner Mutter (Rech, Anna Maria) geht es, seit ich
bei ihr wohne, ganz augenscheinlich besser. Meine allerorts betriebene
Jagd auf Lebensmittel scheint von günstigem Einfluß zu sein.
Herta hat sich in 6 - 7 Wochen in Hersel geradezu prächtig gemacht.
Wir müssen sehen, wie wir sie diese Woche wieder heim bekommen. Vielleicht
holt Helene sie am besten hier ab und sieht bei der Gelegenheit einmal
nach ihrer Mutter. Ich lebe jetzt, wie auch die letzte und manche andere
Zeit in Frankenheim ein halbes Traumleben. Während ich auf der einen
Seite mit festen Füßen in den mich umgebenden tatsächlichen
Verhältnissen stehe, als erstes stets die regelmäßige Bestrahlungskur
im Auge habe, bald für dieses, bald für jenes in Bonn oder Hersel
sorge, in Bonn eifrig Apfelschnitzel an der Sonne trockne, Herta bald nach
Bonn, bald nach Hersel bringe und mir die Tage so schnell dahin schwinden,
als ob ich wer weiß was alles zu tun hätte, lebe ich auf der
anderen Seite wie ein Nachtwandler in einer sicheren, fast gespenstisch
gleichgültigen Stimmung, die mir alle Dinge auf einen gewisse Entfernung
von mir abzuhalten und gleichsam durch eine klare dicke Glasscheibe zu
trennen scheint, so daß ich selbst innerlich fast unbekümmert
durch alle Schönheit der Landschaft, des Wetters, der Familie nicht
minder auch durch alle Sorgen, Krankheiten und Mühen des Alltags hindurchschreite.
Der Kopf ist mir völlig eingenommen von Büchern, die ich seit
einiger Zeit mit einer knabenhaft unersättlichen Gier verschlinge.
Das wogt und webt mir alles durcheinander, Schillings afrikanische Jagden,
Bartsch’s süße und klingende Romandichtung, des Deutschböhmen
Hans Watzlitz prächtiger Phönix, erotisch schillernde, seltsam
an- und aufregende Schriften des Dänen Jensen u.s.w. Alles das liefert
die Benutzung eines von Willi (Reitmeister, Willi) s. Zt. nach Elsbeths
Tod unterbrochenen Leseabonnements bei der Buchhandlung Röhrscheidt
in Bonn in endlosem Strom. Außer regelmäßigen Karten und
Briefen an Helene schreibe ich nur etliche Tagebuchnotizen, mein Rechnungsbüchelchen
und etliche Briefe an die Kriegsbeschädigtenfürsorge daheim.
Alles übrige fließt in einem flimmernden hellen und strahlenden
Sonnenlicht
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in seltsam verträumter Stimmung zusammen, die auch nachts mit
in Schlaf und Traum hinübergeht und mich wie ein sanft fließendes
Wasser leise schaukelnd ins Weite trägt. Eine beschauliche Besinnlichikeit
geht mir zur Zeit völlig ab und ich komme daher nicht dazu, irgend
etwas vernünftiges zu schreiben. – Es ist ein schwer goldener Sommertag
mit warmer Luft und tiefen funkelnden Farben, alles überflossen von
flüssigem Gold. Am Ufer unten spielen die Mädchen Ringelreigen,
Herta unter ihnen. Die arme Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) aber
liegt nebenan und stöhnt leise wohl nur bei halbem Bewußtsein.
Die Schwester ist still und dauernd um sie bemüht. Schließlich
habe ich mich entschlossen, doch bis zum Abendessen.
Bonn, 1. Oktober 1917. Vor 14 Tagen fiel Mutter Rr. (Reitmeister, Helene),
deren Körper durch allzu große Arbeitslast erschöpft war,
an schwerer Dysenterie zusammen. Ich ging am anderen Tage sofort dorthin,
besorgte Arzt und Schwester, die beide noch am gleichen Tage kamen und
nach etlichen Tagen schweren Fiebers ging es besser, dann kam Helene, um
Herta dort abzuholen; Herta erkrankte – Mariannchen war daheim mittlerweile
wieder auf die Beinchen gekommen, prompt an heftigem Magenkatarrh, der
die Abreise mit ihr eine Woche hinausschob und noch ehe sie wegwaren, hatte
ich – wir hatten schon lachend geraten, wer der nächste in der unvermeidlichen
Reihe sein würde – schon zwei Tage einer kleinen Blutung hinter mir,
die mich knapp 8 Tage ans Bett band, von Prof. Gerhartz für fast unbeachtlich
gehalten und doch die Ursache wurde, daß ich heute noch hier bin,
statt daheim im Dienst zu sein. Die Bestrahlungen habe ich gerade 1 Woche
ausgesetzt und gestern aber wieder begonnen und mit meiner Mutter in der
leuchtend goldenen Herbstsonne einen fast einstündigen Spaziergang
gemacht. Immerhin geben die Tage der Bettruhe eine nicht unwillkommene
Rast und Gelegenheit, der tausendfachen Eindrücke in der lieben und
jetzt so sonnig durchschienenen Heimat in aller Gemächlichkeit Herr
zu werden. Eine kurze Erinnerung an Bernkastel wurde als ein kleiner Zeitungsartikel
unter „Gestern und heute in einem Weinort“ wie eine eruptive Steinkugel
heraus- und gleich in die Redaktionsstube geschleudert, dann begann ein
langes Träumen und Denken im Halbschlaf bei gänzlicher körperlicher
Unbeweglichkeit. Merkwürdigerweise fehlte ganz die Lust dazu, das
aufzuzeichnen, was ich fertig im Kopf hatte und so versuche ich jetzt,
es nachträglich ein wenig zusammenzustoppeln.
Nachmittags liegt ein breiter bunter Sonnenschein auf den langsam sich
färbenden Laubmassen der behaglichen Kastanienbäume draußen.
Von Zeit zu Zeit ist die milde weiche Herbstluft ganz erfüllt vom
Lärm der Kinder, die eifrig hinter den herabfallenden Kastanien her
sind und sich mit viel Geschrei und großer Wichtigkeit bemühen,
den Wind durch Stöcke und Steine im Hinabwerfen der Früchte zu
unterstützen, dazu klappern unausgesetzt die hölzernen Schuhsohlen
auf dem Pflaster der großen flachen Zementschienen. Schon seit Jahren
– auch vor dem Kriege – suchten sich kleine Straßenjungen mit dem
Aufsammeln der Kastanien einen kleinen Verdienst zu verschaffen: Damals
wurden diese nur als Futter für Freiwild verwendet, heute weiß
jeder, daß er davon Waschlauge und Stärke selbst machen kann;
wie alles, so ist auch ihr Wert gestiegen, so daß der Einsammler
schon 5 Pf für ½ kg erhält.
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Selbst ältere Herren und Damen lassen kaum eine der glänzenden
Früchte liegen, die mit der leuchtend braunen Schale und dem zarten
weißen Schimmer an der matt bräunlichen Herzstelle gar zu verlockend
aussehen. Ein jeder bückt sich im Vorübergehen, hebt sie auf
und steckt sie zu sich. Ab und zu vertobt sich der Kinderlärm, dann
liegt die Straße still und schweigend da. Ferne höre ich das
leise Schnurren der elektrischen Straßenbahnwagen, ein Zug rollt
am fernen Straßenende voll singender Soldaten nach Flandern zu der
großen Engländerschlacht. Erst leiser dann stets stärker,
schließlich schlagartig ganz laut brodelt hoch oben ein Flieger durch
die Luft, ein leiser Windhauch wirbelt die Blätter mit dürrem
Rascheln umher. Der Flieger ist nicht mehr zu hören. Nachts ist es
so still, daß ich vor lauter Stille erwache. Sonst pflegte in etlichen
benachbarten Studentenhäusern der Lärm fast nie oder erst gegen
den frühen Morgen zur Ruhe zu kommen. Aus einer großen Pension
voller Studenten nebenan dringt bei Tag und Nacht kaum ein Laut herüber.
Sonst durchbrauste um Mitternacht der Orientexpreß mit eisernem Gebrüll
die Mitternachtsstunde, jetzt rollt kaum ein Güterzug durch die schweigsame
Nacht. Eine reife Kastanie löst sich los, knistert durch Gelaub hinab
und platzt mit leisem Knall auf dem Boden auseinander, wobei die elastische
Kugelfrucht noch einige Sprünge über die harten Steinplatten
macht, dann ist alles wieder so still, daß mein halbwaches Ohr nichts
mehr zu ergreifen vermag, an dem ich wieder in den Schlaf hinübergleiten
könnte. Ich sinne und die Gedanken jagen sich in wirrer Hetzjagd.
An Hals und Brust beginnt die Haut zu brennen, die starken Rotstrahlen
der beiden Bogenlampen, mit denen ich eine stündliche Bestrahlungskur
am Tage mache, wirken wie die Sonne im Hochgebirge und erzeugen förmlichen
Gletscherbrand. Meine alte Mutter höre ich nebenan ruhig schlafen
und im halben Traum der frühen Kindheit gedenkend, in der sie mich
mit den Brüdern allabendlich zu Bett brachte, schlafe ich mit einem
unbeschreiblichen Heimatsgefühl langsam wieder ein.
2. Okt. 17. Ich war in der stadt und ließ mir die Haare schneiden.
Der würdige Haarschneider, bei dem ich vor mehr als 20 Jahren als
fröhlicher Pennäler sehr gern hinging, hatte sich vor 4 Jahren
zur Ruhe gesetzt, war aber jetzt als Vertreter seines eingezogenen Geschäftsnachfolgers
wieder in voller Tätigkeit. Er erzählte von seinem Sohn, der
170 Pfd schwer, 182 lang und Bankbeamter und jetzt als Kraftwagenführer
in Deutz ausgebildet sei. – Die öffentlichen Gebäude haben geflaggt,
es ist heute Hindenburgs 70 (71) Geburtstag.
Die Bestrahlungskur muß stark auf die Nerven wirken, diese Nacht
schlief ich sehr schlecht und unruhig und man sagt mir, daß ich recht
nervös sei. Ich selbst spüre weiter davon nichts, als daß
ich eine Neigung zu scharfem Widerspruch bei mir entdecke.
Täglich fast erzählt Mama mir allerlei aus ihrer Jugend und
Kindheit, die voller Arbeit, Sorgen und Mühe war. Und doch war sie
bei alledem stark
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und blühend und ist heute mit ihren 71 Jahren noch eine gesunde
und starke Frau, die nur schwer Ruhe halten kann und am liebsten ununterbrochen
im Haushalt tätig ist. Dabei leichtsinnig wie ein kleines Kind und
bald hier, bald da erkältet. Macht sich aus alledem nicht viel.
3. Okt. 17. Gestern abend besuchte ich nach Tisch noch mal Frau Elisabeth
Erdmann Macke (Erdmann-Macke, Elisabeth)., traf sie allein und recht müde
an. Sie hatte die Jungens zu Bett, war ohne Mädchen und Mutter und
hatte die Anstreicher in der Küche. Später kam ein Frl. Priene.
Wir unterhielten uns sehr angeregt. Sie zeigte mir prächtige Aquarelle
von Hellmuth Macke (Macke, Hellmuth), Vetter ihres gefallenen Mannes. Namentlich
eins mit der Cote Lorrain gefiel mir sehr gut. Wir sprachen u. a. davon,
daß die Säuglinge jetzt kein Brot mehr bekommen, ihr ist das
natürlich unangenehm, da sie den kleinen Jungen hat. Es hatte sich,
wie ich erzählen konnte, bereits der Brauch herausgebildet, das erste
Brot des Säuglings der Hebamme zu geben, so daß diese – meine
Mutter hat im Hause Bonngasse 38 eine solche wohnen –stets Brot in Fülle
hatten! – Das hat nun ein Ende.
6. Okt. Heute ist trübes regnerisches Herbstwetter. Regen ist
freilich dringend nötig. In Hersel wird der Elektromotor bald weggeholt
und eine neue Verordnung verbietet Neuanlage von elektrischen Einrichtungen,
so daß ich in Bernkastel auch wohl noch Schwierigkeiten bekommen
werde. – Ich packe hier schon nach und nach alles ein und gedenke,
etwa Dienstag nach Hause zu fahren, von wo ich fast 4 ½ Monat weg
war. Gestern morgen kaufte ich noch etliche Bücher, auch darin beginnt
jetzt ein gewisses Hamstern, desgleichen einiger Röhrchen Codein Pastillen,
die ich zu Hustenberuhigung gebrauche. Mit den Opiaten geht es nämlich
langsam auch zu Ende. Den alten Göbbels traf ich am Kaiserplatz, seit
April haben sie von Karl in Südwest-(afrika?) keine Nachricht mehr.
Ich suchte ihn auf künftige Auslieferungsmöglichkeit hinzuweisen.
– In Flandern haben die Engländer wieder einen Riesenangriff gemacht,
der gestrige Tagesbericht ist erschütternd zu lesen. Dr. Probst aus
Gemünd erzählte heute, daß Josef beinahe versetzt worden
wäre. Es hat noch mal eben gut gegangen. Er hat dort in Hauttonnerie
einen vielbegehrten Posten und bei Urlaub pflegt ja dergleichen öfter
zu kommen. Gestern nachmittag war ich bei Prof. Gerhartz. Er zeigte mir
den künstlerisch hervorragenden Aufriß seiner Vorfahren in etwa
½ Dutzend Generationen, ich hatte ihm den Baringius Claris diplomatica
zur Anregung der Schriftart mitgebracht. Ich soll nur fleißig weiterbestrahlen.
Seltsam, daß wir alle Papa innerlich Glück dazu wünschen,
daß ihm mit der Wegnahme des Motors sozusagen da Herz seines Betriebes
aus der Fabrik gerissen wird, so daß in absehbarer Zeit an eine Wiederaufnahme
kein Gedanke sein kann – und er selbst empfindet es als einen schweren
Verlust, dabei wird er demnächst 73 Jahre. –
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8.Okt.1917. Gestern abend sah ich bei Elisabeth (Erdmann-Macke, Elisabeth).
die letzten Bilder von August Macke (Macke, August). Er hat in den letzten
sechs Wochen nach der Heimkehr vom Thunersee und dem Kandertal (ich schreibe
nun am 13. Okt in Bernkastel weiter –) eine Unmenge gearbeitet. Es ist,
als ob er noch schnell eine Ernte hätte halten wollen, nachdem er
sich im Winter und Herbst am Thuner See, im Frühjahr auf einer Reise
durchs Rhonetal, Südfrankreich und Nordafrika voller Eindrücke
gesogen hatte. Vor allem standen auf dem Atelier 2 vorzügliche Gemälde,
ein recht großes, auf dem allerhand Frauenfiguren sich in weichen
vollen Bewegungen durchs Grüne bewegen, und ein etwas kleineres, auf
dem ein Mann im Grünen auf einer Bank sitzt. Die Farbe ist wieder
voll und weich geworden, alles lebt in der Farbe. Es ist mir kein Zweifel,
daß August ein echter Kolorist war. Die Bilder zeigen eine große
Reife und nach ihnen wär sicher Großes und Schönes zu erwarten.
– Geradezu verblüffend waren die kleinen meist mir etlichen farbigen
Stiften ausgeführten Studien und Skizzen des jetzt erst 7jährigen
Walter Macke (Macke, Walter), Bubi genannt. Neben prächtigen Einfällen
gut beobachtete kleine Menschenfigürchen in kennzeichnender Bewegung,
Pferde in kühnen Linien, dabei sorgfältige ins Einzelste gehende
Studie von militärischen Ausrüstungsgegenständen, Fuhrwerken,
alles natürlich von kindlicher Hand, aber hier und da mit erstaunlicher
Sicherheit und unbeirrtem Geschmack hingesetzt. Darunter eine geradezu
verblüffende, als Karrikatur anmutende Porträtstudie mit der
schönen Beischrift „Das ist Fabri“. Der Betreffende soll sich nicht
schlecht darüber gefreut haben. – Elisabeth zeigte mir auch einige
sehr erfreuliche Aquarelle von Augusts Vetter Hellmuth Macke (Macke, Hellmuth).
Eine breite Landschaft mit den Steilabhängen der Cote Lorraine, die
Elisabeth sich ausgewählt hatte, gefiel auch mir am besten. Ich hätte
diesen Vetter gern kennen gelernt, lag aber in den Tagen seines Dortseins
gerade zu Bett. Er hatte bei Kriegsbeginn 2 Jahre gedient und ist nun 5
Jahre Soldat, des Krieges bis zum Halse überdrüssig und arg daran
leidend. Eine von Lübbeke in Wiesbaden veranstaltete Ausstellung seiner
Feldarbeiten hatte er aus Gründen körperlicher Erschlaffung nicht
besuchen können. Schade, wenn solch begabter Künstler auch noch
zu Grunde gehen müßte. – Macke’s Ruf wie der seines gefallenen
Freundes Franz Mark (Marc, Franz) beginnt sehr stark zuzunehmen. Des letzteren
Witwe soll schon 15000 M für gute Bilder bekommen. Das wäre mal
eine überraschend schnelle Anerkennung eines deutschen Malers. Freilich
kann sich kein Einsichtiger der großen Wirkung entziehen, die von
seinen guten Bildern ausgeht. Bei Elisabeth sah ich ein glänzendes,
etwa 1 Fuß im Quadrat großes Bild, das er bei einem Besuche
dort auf Glas gemalt und der Zerbrechlichkeit halber dort gelassen hat.
Ein auf Beute lauender Tiger hängt im Dickicht eines Dschungelgrüns.
Prachtvoll! – Von den verschiedenen Besuchen dort in dem kleinen Häuschen
hatte ich eine entschiedene geistige Erfrischung und Anregung. Man konnte
über anderes als nur und ausschließlich die ewigen laufenden
Alltäglichkeiten reden.
Auch das Biederehepaar Schneiders besuchte ich noch einmal.
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Meine Mutter hatte sich in den Wochen meines Bonner Aufenthaltes so
an mich gewöhnt, daß ihr mein Weggehen ordentlich schwer fiel.
Ich reiste mit 4 Gepäckstücken, die ich schon vorher aufgegeben
hatte, an kühlem Tag mit Regen und Sonnenschein heim; bemerkte in
Koblenz auf einem Güterbahnhof einen Eisenbahnwagen mit zertrümmerten
Scheiben, bei dessen Anblick es mich eigentlich durchzuckte: Nun sind wir
schon tief im 4. Kriegsjahre und du siehst zum erstenmal eine unmittelbare
Kriegszerstörung! Es waren dort nämlich kürzlich feindliche
Flieger gewesen. Während ich kurz vor Wengerohr bei längerem
Stillliegen Sorge ob des Anschlusses bekam, wurde mir die Hohlheit derartiger
Erwägungen treffend vor Augen geführt dadurch, daß wir
bald darauf an einem Militärzug vorbeifuhren, auf dem, von kaltem
Regen völlig durchnäßt, Artillerie mit schwerem Geschütz
ect. nach dem Westen fuhr, und stille stehen mußte, um uns vorbei
zu lassen! Ein krasser Widersinn: Unsere Verteidiger müssen im Regen
auf offenem Wagen warten, während wir im wohlgeschützten Wagen
vorbeifahren. Daß noch im Laufe dieses Monats erhebliche Einschränkung
des Personenverkehrs auf der Eisenbahn durch Verdoppelung des Fahrpreises
kommen soll, kann einen nicht wunder nehmen. Freilich fuhren auch genug
Feldgraue in unserem Zuge, auch 2 Offiziere in meinem Abteil und von Wengerohr
der alte Major Tobias zusammen mit mir. || Wie freue ich mich, nach
4 ¼ Monaten wieder daheim bei den Meinen zu sein! Der Himmel empfängt
mich freilich unwirsch: Regengüsse und Wind um die Wette. ––
14. Okt. 17. Eine kleine Blutung giebt mir wieder Bettruhe und Gelegenheit
zu beschaulichem Schreiben. – In der Familie Th. nimmt die Tragikomödie
der Ehe des knabenhaften H. ihren programmmäßigen Fortgang.
Nachdem die beiden jungen Schwägerinnen sich gründlich und ausgiebig
miteinander verzankt hatten, der Kampf um die künftige Gutsfolge hatte
ihnen schon die heftigsten Formen angenommen – nachdem H. sich seiner angeborenen
Trinkerleidenschaft wieder genügend hingegeben, seine Schwiegereltern
aber den noch rechtzeitig vereitelten Versuch gemacht hatten, hierher zu
ziehen, wobei der Alte die „Verwaltung des Gutes“ gern hatte übernehmen
wollen, scheint nunmehr der Bruch in der jungen Ehe da zu sein, oder vielmehr
die Haltlosigkeit dieser schon durch ihren seltsamen Abschluß fundamentlosen
Ehe kommt auch den Beteiligten nunmehr unverhüllt zum Vorschein, und
die Etern der jungen Frau scheinen daraus die nüchternen Geldfolgerungen
zu ziehen. Die junge Frau ist zumeist nach Hause, schreibt von dort: Schicke
mit Honig, Wein und Geld, selbst – wenn es sich nicht um boshafte Erfindungen
der Schwägerin handelt – um Tresterschnaps u.s.w. Die arme Mutter
ist dabei völlig zwischen die Scheerenschneiden geraten. H. entzieht
sich allen Unannehmlichkeiten und Auseinandersetzungen, wie stets, durch
einfache Flucht auf die Eisenbahn.
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Die Mutter aber erlebt Auftritte wie diesen: H. ist weg, die Eltern
der Frau rücken mit dieser trotz schriftlicher Absage der Mutter einfach
an und machen sich im Hause breit. Die Alte hat sich auf ärztliches
Anraten ihres Schwagers ins Bett gelegt mit der strengen Anweisung an die
Dienstmädchen, daß sie unter keinen Umständen jemanden
empfangen können. Die Ankömmlinge sind nicht weniger entschlossen,
unter allen Umständen, eine Unterredung zu erzwingen. Es entsteht
ein kleiner Belagerungszustand, bei dem sich die Belagerer den Umstand
zu nutze machen, daß das Dienstmädchen aus dem Zimmer kommt,
die geöffnete Tür wird durch eingeklemmten Fuß am Zuschließen
gehindert, alle dringen bei der Mutter ein, die bei der beginnenden Auseinandersetzung
von heftigem Weinkrampf geschüttelt hilflos im Bette liegt. Die Sünden
ihrer Söhne, vermutlich auch die ihres Mannes werden ihr gründlich
vorgehalten und ihr der Vorwurf nicht erspart, daß sie ihr hiervon
nichts gesagt habe u.s.w. Nach diesem Angriff läßt die Mutter
ihr Zimmer abschließen und das Dienstmädchen im ausschließlichen
Besitze des Zimmerschlüssels. – Die Aktien der jungen Schwägerin
sind seitdem mächtig gestiegen, sie ist Liebkind bei der Schwiegermutter,
diese soll sogar trotz ihrer streng Kathol. für eine Scheidung von
H’s Ehe sein. Ob es dazu kommt, ist fraglich. Ihm geht die Sache doch nicht
so tief, daß er sich darüber etwa ein Leid antun würde.
–
14. Okt. Merkwürdig, wie der erste Tag der Bettruhe bei jeder
Blutung bei mir geistig der fruchtbarste ist. Ich habe gleich wieder einen,
wie mir scheinen will, ziemlich wohlgelungenen Artikel über Weinherbst
17 geschrieben, dann hier das Geschreibsel und den Kopf dick voll von Entwürfen,
Plänen und Fortführungen. –
Wie stets in solchen Fällen, kaum daß ich liege, kommen
in bunter Reihe Frau Bürgermeister Pfeiffer, Frau Liell (Schwager
Franz ist mit Frau da und will Weinbergskauf gleich fest machen! Nur Ruhe!).
Pfarrer Kraum, mit dem ich einige Minuten gesprochen, u.s.w. Commen’er
Nährvater Hermann, der noch 11 Zentner Kartoffeln, Möhren ect.
bringt. Kraum war älter natürlich auch magerer geworden, der
Kopf mit kühner Nase und ausdrucksvollen Augen aber viel vergeistigter
und – schöner. Helene fand es auch. || Trotz Regengusses sind die
Kinder mit Frl. nach Filzen, wo sie Butter zu hamstern gedenkt. Jetzt scheint
die schönste Sonne. Alles goldig. –
16. Okt. Den gestrigen grauen Nebeltag erhellte die frohe Kunde, daß
wir Ösel und Dagö besetzt haben. Das ist recht bedeutsam. Hoffentlich
kommen wir auch in den finnischen Meerbusen und erobern Estland von der
Meerflanke aus. Ich lag zu Bett und hielt mich still, tue das auch heute
noch. Leider hat Helene allzu viele Arbeit, gestern kamen 11 Zt. Kartoffeln,
Stroh, Roggen, Hafer, Mohrrüben, heute will sie Äpfel an Mama
einpacken u.s.w. Leider bin ich mal wieder hilflos. Mit Frau Liells Weinbergen
scheint es gut zu gehen. Ihr Schwager Franz
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ist bereit, sie zu dem Preis zu kaufen, der ihm abverlangt. Commerzienrat
Wegener dagegen bietet eine fast gleiche Summe mit dem diesjährigen
Wachstum, das allein seine 50000 M wert scheint. Man möchte ihm fast
nicht antworten.
21. Okt. Unsere Flotte entwickelt eine unheimliche Geschäftigkeit:
Außer der großen Operation in der Ostsee fängt man dicht
vor dem Ankerplatz der englischen Flotte einen Geleitzug von 13 Schiffen
von Norwegen ab und vernichtet ihn einschließlich der schützenden
Zerstörer, dazu Angriffe auf Dünkirchen von der See her. Alles
in allem soll die englische Flotte wohl mit aller Gewalt zum Auslaufen
und Angriff gereizt werden. Hoffentlich werden die Eltern Bruhns nicht
bei der jetzt statthabenden „Räu-mung“ Revals nach dem inneren Rußland
verschleppt. Vielleicht gelang es ihnen noch aufs Land nach Pernama, zu
entkommen. Die Esten scheinen entschlossen, den russischen Sengereien bei
vollem Abzug mit der Waffe entegen zu treten. In Finnland geschieht allerlei.
Die baltische Flotte verlor 1 Linienschiff Slawa (wir auch eins?) ––
Eingeklebt sind drei Zeitungsausschnitte (17.-19.10.17, Köln.
Ztg.), in denen über die Operationen des U 39 unter Kapitänleutnant
Forstmann berichtet wird. Ferner ist die Abschrift eines Briefes von Walter
Forstmann beigegeben: Abschrift von Walter Forstmanns Brief
Walter erhielt folgendes Telegramm:
„Seine Majestät der Kaiser lassen zur Abendtafel im Neuen Palais
am Donnerstag den 8. November Abends 8 Uhr einladen. Zu dem Zug um 7.20
ab Berlin Potsdamer Bahnhof wird in Wildpark Wagen zur Abholung bereit
stehen.
von Gontard, Generaladjudant.
Walter schreibt also. So langsam kommt man in bessere Kreise.
Alles Nähere sofort nach Rückkehr.
Kiel, den 10. Nun kommt der versprochene Bericht. Donnerstag früh
6 Uhr fuhr ich nach Berlin und stieg im Hotel Fürstenhof ab. Um 7Uhr20
Nachmittags gings mit der Eisenbahn nach Station Wildpark. Mit mir war
ein Kamerad geladen, der aus Cadiz s. Z. ausgekrazt war. Am Bahnhof war
der Hofwagen und schon gings auf Gummi zum Schloß. Unser Anzug war:
Rock, Dolch, kleine Ordensschnalle, braune Handschuhe. Im Schloß
zunächst viele Diener etc. Dann wurden wir in den I. Stock geführt.
Die Thüre ging auf und ich stand vor den allerhöchsten Herrschaften,
die uns ganz allein empfingen. Als Ältester meldete ich mich zuerst:
Kptl. Forstmann meldet sich alleruntertänigst als Kommandant Euer
Majestät Unterseeboot 39. S. M. gab mir die Hand und stellte mich
Ihre Majestät mit sehr ehrenden Worten vor. Wir kamen dann ins Gespräch
und wurden nach vielen Dingen gefragt. S. M. sah glänzend aus, sehr
frisch und gar nicht gealtert wie man sonst immer hört. Er hatte auch
nicht mehr das scharfe Gesicht das die ersten Kriegsbilder zeigten. Er
trug Generaluniform, Pour le mérite, die 3 eisernen Kreuze und kleine
Ordensschnalle. I. M. ist eine imposante Erscheinung, tadellose Figur,
nur sehr gealtert, ganz weiß. Kein Goldschmuck, aber viele Perlen.
Es wurde zu Tisch gemeldet. Nun dachte ich, daß jetzt wenigstens
mehrere Personen erscheinen würden. Zu meinem größten Erstaunen
lagen nur 4 Gedecke. S. M. nahm mich bei Seite und überreichte mir
allein sein Bild mit eigenhändiger Unterschrift „Wilh. I. R. 1917.“
Er sagte: „Ich habe das Bild der Zeit entsprechend in eisernen Rahmen stellen
lassen.“ Das Bild ist zum Aufstellen auf den Schreibtisch eingerichtet
sehr hoch im ganzen 44 Cent. Der Kaiser steht in Feldgrau vor einem Wald.
Der Rahmen ist schwarz, geschmückt mit einer eingelegten Kette vom
Schwarzen Adler Orden. Die Ecken tragen W und Adler abwechselnd. Über
dem ganzen steht in der Mitte eine matt vergoldete Kaiserkrone. Über
diese besondere Ehrung habe ich mich riesig gefreut. Sie wird mir immer
eine schöne Erinnerung an diesen ehrenvollen Abend bleiben. Wir setzten
uns dann zu Tisch. Tischordnung
von Welltin
IM. O S.M.
ich
Es gab zu essen sehr einfach. Geflügel mit Kartoffelbrei, dann
allein lange grüne Bohnen, dann Pfannkuchen mit etwas süßem
gefüllt, dann Obst. Rotwein, Weißwein, Seckt. S. M. trank nur
während des Essens zu. Die Unterhaltung war ganz zwanglos, die Stimmung
war glänzend. Was nun Alles gesprochen wurde, kann ich natürlich
nicht schriftlich von mir geben, aber das Gefühl hatte man, das man
Alles tun wollte und uns sehr gern bei sich sah. Der Kaiser kam auf meine
Erfolge zu sprechen, wußte manche Einzelheiten, besonders von der
Versenkung der „Minas“ mit den serbischen Offizieren, sprach von Werden
und Kettwig, von Pola, Rußland, Italien, den Engländer etc.
I. M. erkundigte sich nach meiner Frau, sprach von den Sorgen der Ubootfrauen,
Verpflegung an Bord etc. Als die Tafel aufgehoben wurde, überreichte
I. M. je ein Blumensträußchen. Dann gingen wir in einen anderen
Saal, wo im Kamin ein offenes Feuer brannte und der ganz den Eindruck eines
Familienzimmers machte, denn zahlreiche Familienbilder standen auf Tischen
und in Nischen. Ganze 2 Stunden waren wir allein. Der Kaiser erklärte
uns an der Hand einer Karte die Lage in Italien. Dann um 10 Uhr 10 erschien
gleichzeitig der engere Hof, die Ober Hofmeisterin Gräfin Brockdorff
und noch 2 Damen, der General Adjudant Ex v. Gontard und 2 Flügel
Adjudanten. Wir bildeten einen großen Kreis. Ich saß wieder
neben S. M. und unterhielt mich eigentlich bis 11 Uhr ausschließlich
mit ihm. I. M. häckelte an einem großen wollenen Schal, also
es war sehr gemütlich. Auf fiel mir, daß die Damen sowohl vor
S. M. wie vor I. M. beim Eintreten sehr tiefe Hofknixe machten. Um 11 Uhr
meldete der General Adjudant, daß wir fort müßten, um
rechtzeitig zum Zuge zu kommen. Wir verabschiedeten uns, ich nahm mein
Bild wohlverpackt unter den Arm und der Wagen brachte uns nach Potsdam.
Nachzutragen wäre noch, daß es nach dem Essen Bier gab, aber
keinem der Herren wurd etwas zu rauchen angeboten, während S. M. allein
Cigaretten rauchte. Aber am Portal vor der Abfahrt wurde uns dicke Cigarren
angeboten, die uns auf der Rückfahrt ausgezeichnet schmeckte. Ich
glaube Recht zu haben, wenn ich zum Schluß bemerke, daß ich
nie wieder in so intimer Beziehung zum Herrscherpaar treten werde. Ja es
war eine große Sache für mich, da ich der Ältere und Ritter
Pour le mérite war, hatte ich dem Kameraden etwas voraus. Das Ganze
verdanke ich nicht einem großen Namen der Geburt nach, auch nicht
meinem Alter oder Verbindungen, sondern nächst Gottes schützender
Hand meinem Waffenglück und meinen Leistungen. Zum Schluß wir
sind gesund und sehr zufrieden in Kiel.
Straßenbild. Graacher Straße im Herbst.
21. Okt 1917. Seit einer Woche war ich gestern nun mal wieder erstmals
aus, ging nach Tisch bei windstiller kühler Luft und erquicklichem
Sonnenschein über die Brücke (seit fast 5 Monaten mal wieder!)
und bummelte die Graacherstraße hinunter an den Weinhängen entlang.
An der Lay stellte ich zu meiner Befriedigung fest, daß die Lese
noch nicht erfolgt, und die Stöcke noch voller köstlich reifer,
leicht gebräunter Trauben hingen. Die Reben sind noch voller gesundem
Laub, das nur hier und da einen leisen stich ins Gelbe zeigt, sonst noch
recht frisch grün ist. Ein höchst erfreulicher Anblick. Auf dem
eisernen Straßengeländer nach dem Bahndamm zu mich ein wenig
ausruhend hatte ich ein in Linien und Farben entzückendes Bild vor
mir, das einen Maler wie einen Radierer gleicherweise hätte reizen
können. Über die helle Landstraße zog sich der breite Schatten
des Eisengeländers wie ein blaues hin und wieder ein wenig hin und
her windendes Band hin und bildete zusammen mit dem die Straße nach
links abgrenzenden Eisengeländer eine prächtige Einführung
in die Tiefe. Die Eisenbahnböschung, von mannigfachem mächtig
aufgeschossenen Kraut und allerlei Sträucher und riesigen Brombeerranken
überkrochen, gab eine farbige Einfassung nach links – zumal leuchtend
rot gefärbte Brombeerblätter nahmen sich darin recht lustig aus
– während rechts die Weinbergsmauern jede durch Alter und Kalkanstrich
ein wenig anders getönt, alle aber umsäumt von den grün
und lichtgelb schimmernden Reben, der Straße einen famosen Abschluß
und mit eine gleichfalls in die Tiefe führenden Linienzug begleiteten.
In der Ferne alles abgeschlossen durch den ruhig fließenden, in allen
sanften und kräftigen
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Herbsttönen wiederspiegelnden Fluß, lichter Berghang und
darüber einen lichtblauen Himmel mit etlichen leuchtend weißen
Wölkchen. Ganz im Vordergrund ragten hochoben die grell beleuchteten
Felshänge der Lay in diesen leuchtenden Himmel hinein. –
Nachträglich eingefügt: Wäre das dumpfe Brummen nicht
zu hören, – Friede.
Pferdemusterung Straßenbild. Schräg gegenüber an der
Ecke, wo die Gasse in die Kaiserstraße einbiegt, hat sich ein Kranz
kleiner Knaben um einen Gegenstand versammelt, den die vorspringende Hausecke
dem Auge verbirgt. An dem regelmäßigen Quietschen und einer
bald aufflackernden Feuerlohe, die durch den nachmittäglichen Oktobernebel
leuchtet, erkennen die eifrig aus dem Kinderzimmer spähenden Mädchen,
daß dort eine kleine Feldschmiede brennt. „Mutter, Pferde, Pferde,
die in den Krieg gehen!“ Die Kleine hat recht gesehen. Mitten auf der gepflasteren
Straße ist ein schmales Band gelben Sandes gestreut, plötzlich
stehen etliche grüngraue Uniformen in Mützen und Ledergamaschen
da, unter ihnen eine hohe Figur eines reitenden Jägers, die wir seit
Kriegsbeginn schon so oft dort beobachteten. Ein Junge bringt aus dem Hintergebäude
einen schweren braunen Gaul, der alte hinkebeinige Pferdehändler in
Mantel und breiter Schirmmütze schwingt die Peitsche und knallt scharf,
das Pferd setzt sich in Trapp, wendet und galoppiert, der Junge am Zügel
neben her springend, mit dröhnendem Hufgeklapper durch die Uniformierten
hindurch, wendet abermals und trabt zurück. Einige Worte, eine Eintragung
auf einer Liste und ein Unteroffizier tritt mit 2 glühenden Eisen
heran und tupft damit dem Gaul leicht auf die beiden glänzenden Hinterschenkel.
Es flammt wenig ein auf, das Pferd macht keinerlei Bewegung, als ob es
etwas spüre und wird zurückgeführt. Schon steht ein anderes
bereit, der Alte knallt und in rumpelndem Trab gehts von neuem los. Aus
den benachbarten Bürgerhäusern sind etliche Erwachsene hervorgetreten,
sie sehen, ebenso wie die Knaben, der Musterung schweigend zu. Nur an der
Feldschmiede gehts etwas lauter zu, da dort stets mehrere den Gebläsetrethebel
bedienen wollen. Nach einer Weile ists zu Ende, die Uniformen verschwinden
mit dem Händler in dessen Hausflur, und die Kinder, zu denen derweil
eine Menge kleiner Mädchen herzugekommen sind, spielen erst getrennt
in kleinen Gruppen, dann gemeinsam in einem großen Kreise quer über
die Straße einen Ringelreigen von der Frau, die sich einen „Kirmeß-Sohn
kaufte“: „Da mußt er in den Krieg, da mußt er in den Krieg,
da wurd er totgeschossen.“ ––
25. Okt. 17. Heute liege ich den 2. Tag zu Bett, nachdem vorgestern eine geringe Blutspuckerei begonnen hatte, die noch nicht weichen will. Aus Andeutungen, die Dr. Schmitz mir gestern gelegentlich seines Besuches machte – er sah recht frisch nach langem Frontdienst aus und sehnt sich zur Abwechslung mal nach Flandern oder lieber noch nach – Mesopotamien – entnahm ich, daß unsererseits Vorbereitungen für größere Unternehmungen im Zweistromland im Gange sind. Hoffentlich findet sich dort während der Wintermonate Gelegenheit, den Engländern Bagdad wieder abzunehmen. Und nun kommt die Nachricht, daß wir mit den Österreichern einen Angriff an der
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Isonzofront erfolgreich begonnen haben. Währenddem toben die Franzosen
in heftigstem Ansturm gegen unsere Westfront. Ob wir Reval noch nehmen?
Ich selbst muß mal wieder große Geduld im Bette üben.
Hols der Teufel. ––
1. November. Seit einigen Tagen wieder auf und mit Schreiben, Lesen,
Ordnen und Basteln im Hause reichlich beschäftigt, machte ich heute
nach Tisch mit Frau und Kindern den ersten Ausgang bei milder Spätherbstsonne
auf der Graacher Seite. Die öffentlichen Gebäude, auch etliche
private hatten geflaggt und das hat seinen guten Grund. Ein Sonderblatt
am Brückenpfeiler kündigt an, daß die Italiener eine selbst
in diesem Kriege fast beispiellose Niederlage erlitten: 60000 Mann ergaben
sich auf der Flucht vor dem Tagliamento, auf den die Geschlagenen beider
Armeen losflüchten. Damit 150000 Gefangene und 1500 Geschütze
bis heute. Das Herabstürmen der Deutschen (diese in der Mitte und
an der Spitze der Österreicher und Ungarn) in die oberitalienische
Ebene hat etwas herzerfrischendes, erinnert an alte Römerzüge
und Völkerwanderungen und die Genugtuung über das Unglück
des Verräterischen alten Bundesgenossen ist wohl allgemein. Der liebe
Verband scheint seinen Bundesgenossen wie stets in der Patsche sitzen zu
lassen. Hoffentlich gelingt es vor dem Winter noch ein ordentliches Stück
der Ebene zu erobern, dann giebts wohl Wein, Seide und am Ende auch Korken!
– 45 Pf kostet ein Weinpfropfen. 120000 (19000?) Fuder rumänischer
Wein sind im Anmarsch und 30000 sollen auf die Mosel kommen, zur Pflege
erhält der Weinhändler, der sie unter Verschluß und Kontrolle
der Zollbehörde nimmt, 200 M fürs Fuder. Leider jagte uns Frl.
Hedwig heute mittag einen bösen Schrecken ein. Ihr ewiger Husten brachte
diesmal Blutauswurf. Nur kurz und ohne Wiederholung hoffentlich! – Das
wird eine schwer zu behandelnde Patientin werden.
3. November 1917. Die Niederlage der Italiener – Freund Bruhns wird
auch mit grimmem Spaß der „Maestri commaccini“ gedenken – ist eine
geradezu klassische. 180000 Gefangene, 1500 Geschütze. ––––
Die Schweizer fühlen sich von einer schweren Sorge befreit und
der „Verband bebt bis in die Knochen“. Es sind jetzt hier geradezu triefende
Novembertage voller Kälte und Nässe, das Pflaster klebt von schwarzem
schmierigem Überzug und die buntgefärbten Blätter der Laubbäume
weinen ordentlich.
Auffallend, wie nach etlichen Monaten Abwesenheit man die Leute hier
zunächst durch viel schärfere Brille betrachtet und vieles, was
schon sonst an ihnen kleinlich und spießig schien, nun erst recht
ganz und gar lächerlich einem vorkommen will. So kam Allerheiligen
abends Frau ... aus W. uns besuchen. Ich konnte mich fast nicht ernst halten
und brachte mit Fleiß die Hand kaum vom Mund, um mein freches Lächeln
zu verdecken, das ich mir nicht verbeißen konnte über den horrenden
Ernst, mit dem sie allergewöhnlichste Nebensächlichkeiten erzählte
und dabei den Kopf verdrehte und die Augen verschob, so daß der Hals
sich wie eine mehrfach aufeinandergeschichtete Leberwurst sich in eleganten
Krümmungen hin und her schob. Mit naiver Offenheit berichtete sie
u.a. daß man jetzt auch nicht zufrieden sei, man hätte all das
Geld und wisse sich nichts dafür
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zu leisten. Arme Menschen, bei denen alles Glück in dem liegt,
was außerhalb ihrer selbst ist, Vermutlich nach hohem ...ler Vorbild
wird nun das Jagdhüttenleben Mode und sie hats mit ihrem Mann auch
fleißig geübt. Na, wenigstens etwas. –
5.XI. Neuer Reichskanzler ist der in Baiern bisher recht bewährte
dortige Ministerpräsident Graf v. Hertling, ehedem Zentrumsführer.
Was – ob –, wer weiß? ==
9.XI. Polen an Österreich, Kurland und Litauen an Preußen??!––
250000 Gefangene und 2300 Geschütze in Italien! Revolution in Petersburg,
wo die Bolschewicki die Oberhand haben und sofortigen Frieden verlangen.
Es stürmt wie toll auf einen ein. Am Ende doch noch Frieden vor dem
Winter? Seit einigen Tagen schaffe ich zu meiner großen Befriedigung
wieder bei Gericht, eine wahre Erquickung auf die langen Monate, in denen
ich ja freilich auch nie eigentlich gefaulenzt, aber doch keinen rechten
Mittelpunkt meiner Tätigkeit hatte. In Registerakten finde ich auf
einer Kölnischen Zeitung vom 31.XI.98, die wie ein Idyll aus längst
verklungenen Märchenzeiten anmutet: Speck zu 56 und 60 Pf, geräucherten
Vorderschinken zu 65 und reines Schweineschmalz zu 45 Pf. Dazu Süßrahm
Tafel Margarine zu 60 Pf. Daß es mal solche Zeiten und vor noch nicht
ganz 20 Jahren gegeben hat! – Ich trage fortgesetzt kleinere und größere
Hypothekenlöschungen ein, und die Winzer bezeichnen den 17er als ihren
Hypothekenwein, der sie von alten Schulden befreit.
21.XI.17. Einige Kriegserscheinungen verdienen aufgezeichnet zu werden:
In letzter Zeit waren hier verschiedene Versteigerungen von alten Möbeln
und sonstigem Hausgerät, auf denen ganz fabelhafte Preise, wie 600
M für ein Bett, ja 90 M für einen abgeschabten Linoleumteppich
bezahlt wurden, den die Erben (Wwe Veltin) als wertlos gar nicht hatten
verkaufen wollen. Unsere Hauswirtin, die bereits Wohnung in Wiesbaden gemietet
hat, läßt sich dort erkundigen, ob es noch Teppiche zu kaufen
giebt, alsdann will sie ihre alten hier auch mit versteigern lassen. Auf
ihrer Versteigerung wird es u. U. bunt zugehen. Gestern habe ich ihr noch
glücklich das letzte Restgrundstück zu 3200 M an Leistner verkauft.
Nun bleibt nur noch das Gerät und das Wachstum 17 zu verkaufen. Sie
will mal vorab 6300 M das Fuder verlangen, Leistner will nicht mehr als
5000 M zahlen. Ob sie dazu zu haben ist. Für Onkel Dietrich kaufte
ich vergangenen Samstag mit sachverständiger Hülfe von GWR. Zimmermann
in Cues 2 nette Fuder, die einen leichten Tischwein versprechen, zu 4100
M mit Faß und Abstich. Tolle Preise. Alles verlangt 4500 M. Ich schrieb
einen Artikel für die Kölnische hierüber. Sie nimmt derzeit
schlank einen jeden, der vom Wein handelt, auf den sich ein allgemeines
Interesse zusammendrängt. –– In Köln kaufte sich Frau Liell ein
paar prächtige blitzende Diamantohrringe, und Herr Leistner erstand
seiner Tochter einen Zobelpelz! Letzterer ist nun mit einem großen
Hause, aber noch schwach mit Möbeln gesegnet. Seine größte
Sehnsucht ist daher ein solides großes Eßzimmer, womöglich
mit Sopha.
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Solche kosten heute 5000 M, für die man sich früher eine
ganze Möbelausstattung kaufte. Freilich wäre es auch zu schmerzlich,
das große Eßzimmer unten unmöbliert zu haben. Unsere Hoffnung,
daß sie dort schlafen und wir dadurch oben ein Schlafzimmer gewinnen
würden, scheint zu Essig zu werden. Holz läßt er klein
gehackt, bereits in großen Mengen auf dem Geschäftsspeicher
aufstapeln. Er freut sich mit uns darüber, daß uns Uckermann,
der treffliche Unteroffizier aus Josefs Pionierkompanie, der 2 mal etliche
Tage hier war, eine höchst solide ausgiebige Lichtleitung anlegte.
Vorgestern war ich mit ihm abends auf seinem Keller, wobei er einige köstliche
Flaschen 15er Brauneberger zum Besten gab und Uckermann auch einige Flaschen
für seine Frau mitnahm. Bei einer Unterhaltung, die sich über
dem Weintrinken entspann, zeigte sich die alte lösende Wirkung des
Weines und es kamen da allerhand Dinge zutage, über die sonst Stillschweigen
beobachtet wird, die aber durchaus mit ins Bild unserer Zeit gehören.
Da wußte U. Hilfe für Seife und Schuhe, hatte aber gar keine
Möglichkeit, an Essig zu kommen. L. versprach ihm solchen, sogar unberechnet
in kleinen Posten, falls er ihm Schinken besorge, was U. wieder leicht
fiel. Dieser hatte Bezugs- und Versendungsmöglichkeit für Mehl
trotz strenger Bahnhofsbewachung, hatte sogar schon 1 Zt Mehl gegen 1 Zt.
rohe Kaffeebohnen getauscht, während L. Kaffee mit 38 M das ½
kg bewertete. Auch kam zum Vorschein, daß die v. Schorlemer’sche
Verwaltung eine Schrotmühle habe, während U. schon mehrere solche
gebaut habe.
Die erstere Kenntnis wurde heute Frau (Name gestrichen, Krings?) hier
verraten, die darüber morgen sofort mit dem Wirtschaftsfrl. Schmitt
reden wird, so daß Hoffnung besteht, den bei ihr vorhandenen Weizen
in Mehl gewandelt zu bekommen. – Mit U. ging ich gestern durch die Bernkastler
Schweiz, auch tranken wir abends nach Tisch noch eine Flasche zusammen
(im Weinschrank machte ich die freudig überraschende Feststellung,
daß 2 Flaschen Cognak fehlten, die heute jede gut 26 M wert sind,
und nahm den Weinschlüssel nunmehr an meinen Bund) Er ist ein seltsamer,
außergewöhnlich tüchtiger und praktischer Mann, der sich
auf fast alle Techniken versteht, 4 Jahre in Cöln die Fachschule als
Elektromonteur besuchte und in Porz Telegrafenaufseher im Postdienst ist.
Im Felde ist er Josef so unentbehrlich, da er alle Maschinen, Motore repariert,
kurz zu allem zu gebrauchen ist, wo andere bereits versagt haben. Trotz
aller behördlichen Reklamationen hat sein Hauptmann, unser Bruder
Josef ihn beim Kriegsministerium siegreich für sich behauptet. Er
selbst möchte natürlich gern heim, Schwager Willi könnte
solchen Mann gut in seiner Kgl. Geschoßfabrik gebrauchen und dahin
ginge er wohl gerne. Vielleicht, daß sich da etwas machen läßt.
Mein erster größerer Weinhandel.
Von Onkel Dietrich erhielt ich den Auftrag, ihm 2 Fuder Tischwein 1917er
zu besorgen. Leider kam mir zunächst meine Krankheit unangenehm dazwischen,
indem ich daurch gehindert wurde, von Baumann Meyer aus Graach, Frau Liells
langjähriger und zuverlässiger Baumann, der mir wohlbekannt,
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1¾ Fuder guten Graacher Abtsbergs noch als Most zu kaufen. Er
hatte ihn zu 3600 und später 3800 M vergeblich Frau L. angeboten,
mir fragte er 4000 M ab und ehe ich auf die zusagende Antwort aus Cöln
mit ihm verhandeln konnte, hatte er ihn an Leistner verkauft. Nun geriet
ich an den Roisdorfer Landsmann Krings, der aus seinen Wingerten dieses
Jahr, wie alle kleinen Besitzer, einen guten Herbst gemacht hatte, und
probierte mit Helene seine Fuder durch, unter denen uns zwei geringere,
Pfaffenberg und Altenwald (Bernkastler Lagen) leidliche Tischweine zu versprechen
schienen. Nach langem Hin und Her gab er sie, nachdem er noch mit seinen
Hinweisen auf die Frau u.s.w., auch durch öfteres Hinauslaufen eine
kleine Komödie aufgeführt hatte, beide Fuder auf 8 Tage zu je
4000 M fest an die Hand, ebenso ein fertiges Fuder 15er Rosenberg, der
recht gut mundete, zu 6000 M, dieses fertige bot ich Onkel Albert B. an,
der aber abwinkte, während Onkel Dietrich dem Ankauf jener zustimmte.
2 Tage vor Ablauf der an Handstellung entnahm ich kleine Proben, wobei
Krings ein herrliches Schauspiel aufführte, vielfach kollerte und
später, als ich inzwischen mit Frau L. und Herrn Leistner die Proben
geprüft und für mäßig befunden hatte, erst 200, dann
100 M pro Fuder anbot, wenn ich ihm das Gebot zurückgäbe. Alles
natürlich nur Spiegelfechterei, weil er genau wußte, daß
ich solchen Räuberverdienst nicht annehmen würde. Es schien ihm
also sehr am Verkauf gelegen und das machte mich äußerst mißtrauisch.
Dadurch, daß er stramm dabei blieb, die Hefe beim Abstich unberechnet
zu behalten und mir den Füllwein mit 13 M das l zu berechnen, auch
die Fässer zum Herbst 1918 bestimmtestens frei haben wollte, ließ
mir die Sache als unzutreffend erscheinen und ich machte Samstag abend
mit Velten eine Kellerreise durch kleine Cueser Keller, wobei uns Gemeinde
Waisenrat Zimmermann führte und beriet. Dort fanden wir dann nach
verschiedenen Gängen 2 gesunde Fuder bei einer Witwe Port-Schwab,
wurden aber erst, nachdem wir nochmals dorthin zurückkehrten und ausgiebig
feilschten, auf 4100 M mit Faß und Abstich einig, Rückkauf der
Fässer zu 25 M vorbehalten. Versiegelt. Schluß – Tante Emma
meint, ob ich den Amtsrichter an den Nagel hängen und Weinkommissionär
der Familie Brügelmann würde. Nun sind schon wieder 2 halbe Flaschen
als Proben an Tante Maria unterwegs und für Onkel Albert suche ich
Beteiligung an halbem Fuder. Über den Fudereinkauf schrieb ich eine
kleine Skizze und und sandte sie an die Kölnische. Heute ist in Trier
Versteigerung. Engländer machen großen Angriff an der Westfront,
wie es scheint, nicht ganz ohne Erfolg. Wie mag es in Palästina gehen.
Die Engländer kommen da mächtig vor. –
7. Dezember 1917. Ein nasser trüber Tautag, schmutzig und voller
durchdringender Winterkälte. Sehr unangenehm nach drei leuchtenden
Frosttagen mit heller Sonne und glitzerndem Schnee. Vorgestern war ein
dicker schwerer Nebel nachmittags eingefallen. Scharfer Frost ließ
ihn seine ganze Feuchtigkeit als Rauhreif an alle freistehenden
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Dinge absetzen und so bot sich gestern morgen ein herrliches Bild.
Alle Zweiglein, Drähte, Gitter u.s.w. waren mit dichten weißen
Rauhreif-Fähnchen besetzt und auf der Brücke baumelten allenthalben
die Reste der Spinnweben als dicke weiche Federn von blendender Weiße
in der Sonne und schaukelten in sanftem Luftzug. Dazu fror es Stein und
Bein und ernste Bedenken stiegen ob der Kohlen- und Kartoffelfrage auf,
wenns so weiter gehen sollte. Nun ist dieser erste Vorstoß des grimmen
Winters gebrochen, nicht ohne daß etliche Saujagden stattgefunden,
von vielem eingekreisten Schwarzwild aber nur ein Wuzchen zur Strecke gebracht,
manches ausgelassen und ein Hauptschwein, weit über 2 Zt. schwer auf
kurzen Schuß ganz und gar (unter allgemeiner Entrüstung) verpudelt
wurde. – Der Wein steigt und steigt im Preise und der geringe 17er ist
allgemach bei bereits bei 5000 M das Fuder angekommen. Für das Cölner
Casino kauften Velten und ich 2 Fuder Enkircher zu 4750 M, angebotene bessere
Keller von Cues zu 4 - 5 Fuder 5200 - 5300 M waren ihnen zu teuer und sind
derweil schon um etliche hunderte höher verkauft. Selbst für
die bedenklichen 16er wurden auf der Trierer Versteigerung tolle Preise
(Doktor über 7000 M!) erzielt und Schorlemer erhielt für ein
Fuder Brauneberger Juffer mal wieder über 30 Tausend Mark, Frau Liell
aber bei der 2tägigen Versteigerung ihres Geschäfts- und Gutsinventars
sowie etlicher Möbel 14000 M. Es war auch da ein großer Andrang
und mitunter ein tolles Bieten. Ich erstand ein altes, etwas rokoko-geschnitztes
eichenes Eckschränkchen zu 21 M und erzielte für einen s. Zt.
zu 16 M gekauften schlechten Ofen 26 M. Im Weinprobieren erlange ich allmählich
einige Ausbildung, versorgte die Kölner Verwandtschaft mit Wein, wobei
auch für mich hier und da ein kleiner „Kriegsgewinn“ abfiel. In Bernkastel
aber werden jetzt sogar Bücher gekauft, auch Luxusausgaben, vermutlich
weil sie selten werden. Krebs hat sich zu einer ganz erfreulichen kleinen
Buchhandlung herausgemausert. Bei Anton Th. ist ein amüsantes Intermezzo
eingetreten: Eine sonst wenig beachtete alte Fayence (oder Porzellan) Gruppe
hat den Geschäftssinn eines Berliner Kunstjuden in Bewegung gesetzt
und seinen stets steigenden Angeboten wußten sie kaum zu entgehen.
Um ihn abzuschütteln, wurde ihm schließlich – stets alles per
Draht – bedeutet, daß sie unter 5000 nicht zu kaufen. Schon kauft
er sie. Nun Rechtsfrage, ob Kauf. Seit sie aber als Wertstück entdeckt
ist, will Emmy Th. sie unbedingt haben, während ihre Schwiegermutter,
Schwager und auch wohl der Mann mehr fürs Verkloppen sind (Geld haben
sie sehr nötig, nachdem sie den 15er mit ca ½ Million verkauft,
dagegen den 16er, den sie mit 1800 M das Fuder als Most abstießen,
vielleicht ½ Million nicht gewonnen haben) das ist nun eine lustige
Hatz, jetzt haben sie mir die Sache anvertraut und ich möchte sie
einer öffentlichen Kunstsammlung zuschustern. Vielleicht aber giebts
erst noch einen Prozeß. Das ganze rechter Stoff zu einer Satire.
– Draußen aber geschehen große Dinge: An der Ostfront ist jetzt
Waffenruhe auf 10 Tage von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und an der
russischen türkischen Front im Orient. Angeblich sind oder werden
von uns alle Leute bis zu 35 Jahren von dort weggezogen. Jedenfalls sind
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bedeutende Truppenverschiebungen nach dem Westen gemacht worden und
wohl noch im Gange. In Bonn und Siegburg soll sogar Einquartierung in Bürgerquartieren
bevorstehen. Vom Frieden wird wenig gesprochen, vielleicht so am besten.
Im Westen sind die Engländer bei Cambrai wieder zurückgeworfen
und im Süden die Italiener weiter hart bedrängt worden. Man rechnet
auf russischen Sonderfrieden vielleicht noch in diesem Jahr und auf ferneren
Frieden im nächsten Frühjahr. Im Orient aber muß noch manches
geschehen. Die Engländer stehen weit in Palästina, fast bis Jerusalem
und über Mesopotamien schwebt geheimnisvolles Dunkel. Die Uboote aber
fressen weiter an Englands Nerven und Blutbahn. Walter Forstmann ist jetzt
Uboot-Flotillen Inspektor oder ähnlich was, er bleibt in Kiel.
30.XII.17. Das Jahr geht zu Ende, was wird das nächste bringen?
Uns hoffentlich ein gutes Frl. und eine Stütze für Helene. Unsere
jetzige ist bei stets zunehmender Verkehrtheit auch anscheinend lungenkrank
geworden, die Kinder haben wir schon lange bei uns auf dem Zimmer; nun
hatte sie diese Nacht wieder Bluthusten und wird nun endlich nach wochenlangem
eigensinnigem Sträuben den Auswurf dem Arzt bringen. Ich hoffe ihr
eine längere Heilbehandlung verschaffen zu können. – Gestern
abend war ich nach Tisch bei RA Schönberg zu einem Glase Wein, Hugo
Th. war dort und wir unterhielten uns angeregt bis nach Mitternacht. Auf
dem Heimweg hatte ich ein prachtvolles Naturschauspiel. Die allenhalben
dick beschneite Landschaft war vom Vollmond geisterhaft grell und fast
taghell beleuchtet, am zartblauen hellen Nachthimmel jagten hastig große
weiche, ganz und gar weiß schimmernde Wolken daher. Von allen Dächern
tropfte es im Tauwetter und alle Schatten und nicht schneebedeckten Flächen
erglänzten in tiefer satter Schwärze. Dazu trieb die Mosel große
Mengen Treibeis, das weiß und morsch sich mit weichem Zischen aneinander
vorbei schob und es sonderlich eilig zu haben schien, unter den Brückenjochen
davonzukommen. – Christabend verlebten wir fröhlich zusammen unter
hellem Jubel der Kinder. Für mich hatte der Tag große Gegensätze
gezeigt und mancherlei Erfahrungen gebracht. In aller Frühe war ich
bei knirschendem Frost mit den beiden Brüdern Th. am Moselbahnhof
zusammengetroffen. In Decken gewickelt machten wir mitsammen im ungeheizten
Abteil die kühle Fahrt nach Trier. Unterwegs ging die rote Wintersonne
strahlend über der frosterstarrten Mosellandschaft auf. Dort angekommen,
holte uns in leise beginnendem Schneetreiben Bankdirektor Dr. Br. ab und
ich ging mit ihm nach Hause und besprach allein mit ihm den Stand der Ehesache
von Hugo Th. Dann mit diesem zum Hotel, wo seine Frau und Schwiegermutter,
nach Drahtansage auf eigene Faust von Stuttgart nach einer ziemlich ergebnislos
gebliebenen Aussprache in Würzburg unter Ausnützung der Weihnachtsstimmung
hierher gekommen und von Br. mit Recht wenig gnädig empfangen, nur
auf ihn wartete und uns auch gleich auf der Straße abfingen. Erst
spazierten wir dann eine Weile auf der kalten Straße herum, H. mit
seiner Frau voraus, ich mit der unaufhörlich schwatzenden und von
intimen Einzelheiten überströmenden Alten hinterdrein. Endlich
verstanden sie sich zu einer Rücksprache im Gasthof und nachdem ich
mit Mühe die Alte endlich losgeworden, hatte ich mit der jungen Frau
eine längere ernste Aussprache, die ihr wohl über viele größere
Gesichtspunkte die Augen ernstlich öffnete. Trotz aller innerer und
äußerer Schwierigkeiten blieb sie entschlossen, die Ehe nochmals
mit ihrem Manne, vorab an einem anderen Ort, zu versuchen. Und wenigstens
darin sind die Gatten sich einig. Im roten Haus oder Steige trafen wir
dann wieder Bruder P. und Herrn Br. Wieder Rücksprache, bei Austern,
vorzüglichem altem Bordeaux und gutem Mittagessen und dann 340 heim,
wieder
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im zunächst ungeheizten, später langsam sich erwärmenden
Abteil. Es fuhren da 2 junge Leutnants mit, die in Heimurlaub kommen und
Entsetzliches ... in Cambrai und Paschendaale erlebt hatten. Sie waren
munter und wohlauf und guten Mutes und meinten zum Schluß untereinander:
Im Februar sind wir hoffentlich in Calais und im May ist Frieden! –
Wenn man es auch nur so optimistisch ansehen könnte. Es wird ja
wohl im Osten vielleicht schon in recht naher Zeit zu einem Frieden kommen,
im Westen aber werden wir noch lang und heftig mit dem zähen Engländer
kämpfen müssen, den verblendeten, aber militärisch noch
am befähigsten Franzosen nicht zu vergessen, bei dem allerdings politische
Wandelprozesse im Inneren des Landes schon bedenklich wetterleuchten, dessen
Wachsamkeit an der Front aber nach wie vor unvergleichlich ist. – Der Markkurs
beginnt in den anstoßenden neutralen Ländern bereits zu steigen.
Ob das bald eine Verbilligung von Nahrungsstoffen ect. bringen wird? Mit
den Russen ist bereits wieder Handelsverkehr angeknüpft. Wir haben
da merkwürdig bescheidene, allen Demokraten sehr entgegenkommende
Friedensformulierungen aufgestellt, hoffentlich benutzen unsere Diplomaten
dieses an sich nicht törichte Instrument, um die russischen Doktrinäre,
die an ihre eigenen Weltbeglückungsgedanken zu glauben scheinen, gehörig
einzuseifen. In Estland sieht es böse, sehr böse aus. Wie im
30jährigen Kriege, schreibt Freund Bruhns ganz trüb und traurig.
Die russischen Soldaten hausen dort wie tolle Bestien.
Nun gehts zum neuen Jahr! Wir sind diesmal zuversichtlicher als voriges
Jahr, Helene und mir geht es gesundheitlich sehr viel besser. Natürlich
darf Krankheit nicht fehlen und so ist dann das Kinderfrl. an Husten und
Bluthusten so ernstlich erkrankt, daß wir sie nicht länger halten
können. Endlich habe ich es durchgesetzt, daß neue gesucht wird,
die jetzt schon längst zur Stelle sein müßte. Die Sache
ist leider sehr gegen meinen Willen immer wieder hinausgeschoben worden.
Es wird nicht lange dauern, so sitzen wir ohne Ersatz da. Hoffentlich läßt
sich das irgendwie vermeiden.
Auch sonst geht es uns wirtschaftlich besser. Wir haben zwar diesmal
kein Schwein geschlachtet, aber allerhand Ersparnisse machen können
und gehen mit reichlichen Vorräten an Lebensmitteln ins neue Jahr.
Das weitere bleibt abzuwarten. – Auf das Jahr zurückblickend können
wir wohl zufrieden sein. Trotz aller Krankheiten blieben wir am Leben und
sind heute frischer und kräftiger als zuvor. Ich war zwar von Juni
bis November von den Kindern und von hier weg, lernte eine prächtige
deutsche Landschaft auf der rauhen Rhön kennen und war lange in Bonn.
Die Lunge spielte mir allerhand Streiche, doch läßt sie mir
jetzt Ruhe. Freilich nehme ich mich sehr in acht, mache keine Liegekur
mehr draußen, sondern lege mich tag-täglich nach Tisch nur ins
Bett. Es bekommt mir am besten. Mit meinen Zeitungsartikelchen hatte ich
allerlei Glück und fast allmonatlich eine hübsche kleine Nebeneinnahme.
Dazu kommen die Kriegszulagen und einige Gewinne, die mir der Krieg nun
doch auch noch zuwarf: Die Beratung von Frau Liell nach dem Tode ihres
Sohnes erwies sich als sehr fruchtbringend, einige kleinere und größere
Weinkäufe brachten etliche Sümmchen und schließlich hatte
ich auch für die kürzliche Trierer Reise erstmals etwas für
eine derartige Vertrauenssache, aus der sich vielleicht noch anderes künftig
entwickeln kann. Auch fühlen wir uns hier fester eingewurzelt, und
wenn sich meine Gesundheit auf die Dauer hier hält, so wollen wir
es wohl zufrieden sein. Was uns einzig fehlt, ist die Nähe zu Bonn
und den lieben Eltern. Gottlob blieb uns Wohnungssuche und Umzug erspart,
wie er bei dem heftigen Grundstückswechsel jetzt so manchen hier trifft.
Wir haben angenehme Hausleute in
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Herrn Leistner mit Frau, 2 Töchter, 1 Söhnchen und Dienstboten
eingetauscht, die uns weniger lärmvoll vorkommen als Frau L. ehedem
mit ihrer rastlosen Unruhe bei Tag und Nacht. Zumal zur Nachtzeit gleicht
das Haus, wie ich es gern ausdrücke, einem Nervensanatorium, wir hören
weder jemanden zu Bett gehen noch aufstehen und gedenken des heftigen Polterschritts
von Frau L., die zwischen 12 u. 3 zu Bett ging und bereits ½ 6 wieder
sich herausarbeitete, wie einer längst vergangenen Zeit.
Heute sind die Kinder selig: Sie haben Sieburg’s Kinder zu Besuch,
tranken zusammen Kakao und tafelten herrlich mit Mariannchens prächtigem
Geburtstagskuchen, der aus Diätgründen bis heute aufgespart worden
war. Herta hat bereits eine von ihr aus mit Hartnäckigkeit betriebene
Freundschaft mit Heinrich Leistner, dem kleinen Jungen unseres Hauswirts,
den sie aus dem „Unterricht“ (=evangelische Religionsstunde) bereits lange
kennt. Der nette schüchterne blonde Junge erinnert mich lebhaft an
meine eigene Jugend. Ich war nur 1 Jahr älter, als ich 1890 als Sextaner
die Familie Reitmeister, Willi und Helene und deren Eltern in Bonn kennen
lernte. Helene hat der gleichen Sache kürzlich gedacht. –
Für mich selbst habe ich mir zu Weihnachten mal ein wenig Ausschweifung
erlaubt, indem ich mir für gut 60 M Bücher anschaffte. Freilich
wird es schwer halten, sie passend unterzubringen, denn der Bücherschrank
schwillt bedrohlich über. – Notar Sieburg mußte trotz aller
befürworteter Entlassungsgesuche vor Weihnachten als Telegrafist
nach Kowno zurück. Vermutlich hat er es übersehen, an geeigneter
Stelle sich liebenswürdig zu zeigen oder auch ein kleines Schmierpflaster
geschickt anzubringen u.s.w. und nun hat er noch allerlei Umstände
bis er, wie mir wahrscheinlich dünkt, entlassen werden wird.