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5. Jan. 1918. Erst heute komme ich nach Fest- und Arbeitstagen zu einiger Sammlung. Seit dem 3. ist unser Kinderfräulein im Krankenhause hier und da giebts daheim allerhand Mitarbeit und zumal viele Störungen durch unser unruhiges Mariannchen, der kleinen Unband. Hoffentlich giebt es bald Aushülfe. Gestern begruben wir in Traben-Trarbach den herzensguten edlen Cornelius Müller (Todesanzeige eingeklebt), der seit 1889 Richter dort, seit 1894 mit Gescher in treuester Freundschaft gelebt und ein gastfreundliches Haus geführt hatte, das moselauf, moselab und durchs ganze Rheinland allenthalben berühmt war. Es stimmte sehr wehmütig, daß ich zusammen mit der Kunde seines Todes die Ernennung Geschers zum Geheimrat erfuhr und ich schrieb diesem meine Empfindungen in einem herzlichen Briefe. Er erwiderte diesen sofort und lud mich zum Mittag ein. Ich kam dem gern nach, warf mich morgens in schwarze Kleider, erledigte bei Gericht einen ansehnlichen Stapel Akten und fuhr, nachdem ich 2 x je ½ Stunde auf das Züglein gewartet hatte, ½ 12 nach dort, wohlversehen mit Schirm, denn es stöberte von Schnee und mit dem Pelzfußsack, der mir die Beine wärmte. Zwischen Lösnich und Kröv war die Mosel zugefroren, das Treibeis hatte sich schon weit unterhalb gesetzt und staut sich von dort an dauernd zurück, so daß wir es wohl auch bald hier haben werden. War dort die Fläche, wenn auch rauh, so doch gleichmäßig dicht, so hatten vor Traben und dort weiter hinunter heftige Pressungen stattgefunden. Es dehnten sich im Flußbett weite Felder mit wildgetürmten Schollen, ganze kleine Gebirge von zusammengepreßten und dann regelmäßig auseinander geborstenen Eismassen stellten sich dar wie eine Nachbildung ausgewitterter Sandstein- oder sonstiger Sedimentgesteinbildungen im Kleinen und in weißem Zuckerstoff. Desgleichen öffneten sich große blanke Wasserspiegel, unbeweglich und schwärzlich, in dem sich das Saumeis und jene Packmassen beschaulich wiederspiegelten. Darüber eine blitzende Wintersonne, die mir um die Mittagsstunde, als ich auf der Trabener Seite zu Geschers Hause über den schlittrigen Weg ging – es war nach Tauwetter gefrorener Gußüberzug über den Weg und dieser leicht mit flockigen Schnee bedeckt – so gehörig auf den Pelz und Mantel brannte, daß ich ernstlich daran dachte, mich ein wenig auszupellen. In dem sonnebestrahlten Hause empfing mich die liebenswürdige Hausfrau, die einen recht gesunden und blühenden Eindruck machte. Was hat sie aber auch in langen Jahren des Leidens alles ausgestanden und durchgehalten, und wie elend war sie noch, als ich mit Helene im Sommer 1913 dort war. Sie erkundigte sich sehr nach Helene, erzählte manches von ihren Kuren und war lebhaft interessiert für die hohe Rhön und Frankenheim. Kurz vor Tisch kam dann auch der neue Geheimrat, noch feiner und zarter als früher geworden und wir unterhielten uns über mancherlei. Weinkäufe interessierten ihn auch besonders. Zu Tisch erschien auch der Sohn, der in 2 Monaten Abiturient zu sein hofft und bereits in Frankreich Erntearbeit mit verrichtet hat. Es ist ihm gut bekommen. Wir aßen und unterhielten uns aufs beste, ich hatte eine prächtigen Aussicht auf die Landschaft von meinem Platz aus. Nur allzu bald war die Zeit da, daß wir zum Begräbnis

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herüber mußten. Einige Bekannte wurden noch am Hotel abgeholt, und als wir die vielen Treppen zum „Schlößchen“ hinaufstiegen, rückten unten auch bereits die unterdessen mit dem Zuge angekommenen Bernkastler an. Im Hause herrschte im Treppenflur große Hitze und Enge, der Tote lag links. Paul Thanisch und ich gingen bald hinaus auf die Terrasse um eine Überhitzung und nachfolgende Erkältung zu vermeiden. Da bot sich dann ein reiches Bild dar. Ringsum die verschneite Landschaft, der vereiste Fluß, in dem sich mitten zwischen den wüsten Schollentrümmern eine schmale der Flußkrümmung sich nachschlängelnde Rinne mit fließendem Wasser gebildet hat, die Talmündungen rechts, die Gräfinburg gegenüber und über dem Kautenbachtal eine graue und finstere Wolke, die Wind und Schneeflocken in nahe Aussicht stellte. Über die vielfach über die Gartenterrasse sich hin- und herwindenden Wege kamen unaufhörlich lange Züge von Frauen und Kindern, darunter ein Kirchenschweizer in neuem leuchtend rotem Tuchrock, Chorknaben mit Kreuzen, Fahnen und dazwischen ein mit durchdringender Stimme unermüdlich beflissener Vorbeter, der den schmerzhaften Rosenkranz anführte. Von Zeit zu Zeit stets neue Herrn in blanken Zilindern und endlich auch 3 Geistliche, ein kleiner schmächtiger wachsgelber im Pluviale, rechts und links flankiert von 2 auffallend stattlichen hohen Geistlichen im langen Chorhemd bis zu den Füßen und übergeworfen schwarzgoldenen Kaseln. Bald kam der schwere dunkle Eichensarg, von einem ganzen Rudel von Männern getragen aus dem Hause und der Hausherr hielt dort seinen letzten Auszug, wo er als 29jähriger vor etwa 29 Jahren erstmals eingetreten und also fast genau die Hälfte seines Lebens zugebracht hatte. Welche Gastfreundschaft hat er dort bewiesen und wieviele sind dort ein- und ausgegangen. Dem Sarge folgten die beiden Töchter, die beiden Schwiegersöhne, der Bruder und etliche Angehörige, dann sein Freund Gescher u. a., darunter auch wir beide. Es ging den steilen beschwerlichen Weg geradeaus herunter. Ich selbst war zum 2. Male dort; damals hatte ich mit Helene einen Besuch dort gemacht, aber nur seine Hausdame angetroffen. Im Kriege hatte er uns hier aufgesucht und sich mit Helene lang unterhalten, während ich im Amt war. So war ich mit ihm nie in seinem Hause zusammen gewesen und hatte ihn etwa vor einem Jahr zuletzt gesehen, als er mit Gescher ihren gemeinsamen Freund, unsern Oberförster Baier hier aufsuchte. Unter diesen Gedanken waren wir zur letzten Kehrwende gekommen, wo ein Wagen den schweren Sarg aufnahm. Dann wand sich der lange Trauerzug quer durch die Stadt, über enge schmale Gäßchen, bis an einen schmalen steil aufsteigenden Weg, über den der Sarg wieder getragen werden mußte, durch eine malerisch verfallene Mauer mit altem verwittertem Steinbogen, dann über eine lange schmale Brücke, von der man links und rechts auf verschneite Rebstöcke hinuntersah, dann auf den engen, jäh abfallenden Kirchhof, in dessen Mitte sich ein kuppelbedeckter kleiner Bau mit weiter romanischer Bogenöffnung erhob. Dort ward der Sarg unter dem rituellen Gesang der Geistlichen feierlich versenkt. Am offenen Grab sang ein Chor und nachdem einige Vaterunser in die rauhe Winterluft mit krächzend umherfliegenden Raben und

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drohender Schneeschauer gesprochen war, flutete die Menge der Leidtragenden langsam wieder ins Städtchen hinab und zerteilte sich in verschiedenen Gassen. Manche folgten den Kellereinladungen, andere gingen mit hinauf aufs Trauerhaus, wo der Kaffeetisch gedeckt stand. Wir trafen uns mit etlichen Bernkastlern, darunter College Remy und Bürgermeister Simonis im „Wamsch“, wo der Verewigte manches Schöppchen geleert. Eine einfache anheimelnde Kneipe, in der es aus richtigen Viertellitergläsern, fest und mit kleinen Knuppen verzehrt ein prächtiges Schöppchen neuer 17er zu 1,20 M gab, das wir dem Verstorbenen weihten. Um ¼ vor 5 kam pünktlich der Zug und während die winterliche Abendsonne hinter der malerischen Burg von Wolf stand, ward im Zuge die letzte Flasche, edler 15er Trittenheimer geleert mit Bürgermeister Simonis, Paul Thanisch, AGR Remy, RA Theisen (ehedem Richter), Bürgermeister Felz und Wirt Popp. Ein eindrucksvoller Tag. (Mittags war bereits in den warmen Erdener Lagen aller Schnee weggetaut.)
10.Jan. Heute ist plötzlich wieder Tauwetter, nachdem wir Montag schon mal solches mit heftigem Regen hatten, wovon die Mosel bereits recht hoch geht und lange Schollen Saumeis treibt. Ich bleibe an solchen Tagen daheim und lasse mir die Akten nach Hause bringen, zumal ich gestern mit zahlreichen Rücksprachen und Terminen mich genügend ausgetobt. Im Hause geht es diese Woche vorzüglich, weil die altbewährte Rosa zur Aushülfe da ist, die schweigend und ruhig alles spielend erledigt. Das hört nun leider bald auf und dann beginnt die Hetze mit der völlig dösigen Marie von neuem. – Im Westen ist es nach den Tagesberichten noch immer unheimlich still, obschon wir vorgestern heftiges Trommelfeuer hier hören konnten. In Brest-Litowsk wird mit den Russen über den Frieden weiter verhandelt, der Zwischenfall, nämlich Einbläserei der Engländer, in Stockholm zu tagen – ja das könnte denen so passen – ist an unserer festen Haltung gescheitert, obwohl die Angstschreier in Berlin sich bei uns schon wieder gewaltig vernehmen ließen. Hindenburg und Ludendorf wurden eifrig mit ins Geschrei gezogen. – Landgraf werde hart! – Mit den neuen Hausleuten verstehen wir uns vorab aufs Beste, die Kinder gehen als mal hin, ich kann dort lustig fernsprechen, berate in Steuersachen, wofür er mir gestern nachmittag einen schönen Hasen brachte u.s.w. kurz es ist recht angenehm und ein gewaltiger Unterschied gegen früher. Sieburg ist nach mannigfachen Abenteuern einer sibirisch kalten Reise wieder aus dem Osten – vorab auf 3 Wochen zum Urlaub – zurückgekehrt. Seine Entlassungsgesuche, die regelmäßig zu verschwinden pflegen, sind anscheinend nicht an Land gekommen und er hat die schönsten Unannehmlichkeiten vielleicht nur dadurch, daß er sich zur rechten Zeit und an rechter Stelle nicht ein wenig menschlich-schändlich zeigte. – Mit Hugo Th. ist wieder das schönste Leid im gange. Die Frau kommt nicht hierher, dagegen verfolgt sie und ihre Familie wie eine rechte Jagdmeute den armen H. und suchen ihn völlig matt zu setzen, um ihm dann abzuzwacken, was ihnen gutdünkt. Neuerdings scheint sie sich mit der verbissenen Wut einer Hysterischen gegen mich kehren zu wollen, in dem sie vielleicht eine Stütze für H. vermutet. P’s gestriges Ansinnen, meinerseits ein genaues Protokoll über

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den Inhalt meiner zeugenlosen Unterredung (am 24.12.17 in Trier) abzufassen und damit das ihre förmlich der Lüge und maßlosen Verdrehung zu überführen, lehnte ich ab. Die Sache führt praktisch zu nichts, ich habe keine Lust, als Sprengpulver zwischen beiden zu wirken, zudem sind mir meine Nerven zu schade, um mich in den quälenden Zerrkampf mit einer Hysterischen zu stellen. Ich werde „es bedauern, gröblich mißverstanden zu sein und es ablehnen, irgend welche weitere Erklärung abzugeben“. Dabei bleibe ich, und nun mögen sie ruhig auf mich losbombardieren. –– Gestern nachmittag besuchte mich auf meine morgens ausgesprochene Bitte, der geistreiche, an familiären und geschichtlichen, zumal stadtgeschichtlichen Einzelheiten völlig unerschöpfliche Jos. Dillinger. Ich gab ihm ein altes Aquarell in Kirschbaumrahmen aus Frau Liells Nachlaß hier mit, der dargestellte Ort schien ihm vom Kochemer Krampen oder von der Untermosel zu sein. Er brachte eine Reihe alter Bücher mit. Ich gestand ihm den ärgerlichen Verlust des kleinen Heftchens über die Moselbande, was er ruhig aufnahm. Leider hat auch er den Titel nicht notiert und so werde ich es so leicht nicht wieder beschaffen können. Er erzählte unter tausend anderen Sachen auch dieses prächtige Stückchen:

Der verwechselte Säugling oder der fremde Einschlag in Graach.
Die ehemalige Collegiatkirche in Bernkastel hat für die Taufe eine gewisse Zwangs- und Banngerechtigkeit für die nähere und weitere Umgebung, dergestalt, daß beispielsweise Dörfer wie Graach, Monzelfeld, Annenberg u.s.w. ihre Säuglinge nur in diese Kirche zur Taufe bringen mußten. In einem sehr gestrengen Winter weigerten sich die Monzelfelder, dies fürderhin zu tun und erreichten es durch eine Abfindungssumme, daß sie in ihrer eigenen Kirche einen Taufstein aufstellen und daheim taufen durften. Graacher und Annenberger aber mußten weiterhin ihre Kleinen in der Kollegiatskirche taufen lassen. Nun muß man wissen, daß der reiche, im Moseltal gelegene berühmte Weinort Graach in großem Gegensatz zu der kleinen kümmerlichen und ärmlichen Ansiedlung Annenberg erscheint, die hoch oben im Hunsrück am wiesigen oberen Ufer des Hinterbaches mitten zwischen Wald und romantisch schroffen Felsbrocken in weiter Einsamkeit (mit dürftigen Ackerländchen und steinigtem Boden) liegt und man einen Annenberger natürlich mit einem Graacher nicht vergleichen kann. Nun trafen sich an einem Tauftage zur Winterszeit eine Graacher und eine Annenberger Taufgesellschaft in der Wirtschaft an der Straßenecke, von der eine mehrfach gebrochene hochaufführende Steintreppe den kürzesten Anweg zur Stiftskirche führte. Dort pflegte man in solcher Taufgesellschaft gemeinlich zunächst einzufallen, teils um sich der vielen soliden Winterhüllen zu entledigen, um ohne Gepäck jene Treppe hinaufsteigen zu können, teils um sich zuvor innerlich und äußerlich würdig auf die Taufzeremonie in der vermutlich recht kühlen Kirche vorzubereiten, wobei dann ein heißer Würzwein schwerlich gefehlt haben mag.
Solch ein Wein mit „Pund Wuscht“ soll noch heute zum mäßigsten Frühstückes eines wackeren, den Lebensgenüssen keineswegs abgeneigten Durchschnittsgrächer sein. Später, nachdem die Taufe vorbei, legte man die jungen Christen benebst den Kleiderbündeln in einer Nebenstube ab und

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ging selbst dazu über, alle miteinander, das Tauffest in der größeren Wirtstube nach Herzenslust zu feiern. Wie stets, so ging auch hier darüber die Zeit hin und ehe man sichs versah, schien es dunkeln zu wollen. Die Annenberger, die auf Einladung und Kosten der hochfahrenden Graacher wackeres geleistet hatten und gern noch ein mehreres getan hätten, machten sich klar, daß es besser sei, den beschwerlichen und stellenweise nicht völlig ungefährlichen weiten Heimweg noch bei Tagesbeleuchtung anzutreten, drückten sich nach und nach und ohne, daß es den fortzechenden Graachern recht zum Bewußtsein kam, waren sie auf und davon. Sie mochten schon durch das malerische Tiefenbachtal hinauf und rechts in ein seitliches Wiesentälchen abgebogen sein, als die Hebamme der Graacher mit Geschrei in die Stube stürzte: Uns Kind ist fort, die Annenberger haben es gewiß mitgenommen. Die Graacher taumelten raus, besahen sich das zurückgebliebene Wurm nebenan, fanden es ein schönes gerade gewachsenes Kind und fanden es zweckmäßig, sich dabei zu beruhigen und ihr Gelage fortzusetzen. Sie nahmen später die das Kind mit und von ihm soll jene Rasse hochgewachsener schlanken Menschen (Kieren etc.) abstammen, die durch solides Wesen im verfressenen und versoffenen Graach, wo man alle 20 bis 30 Jahre einen gründlichen Bankrott zu machen pflegte, (indem man stets ein flottes Leben führte, auch unerachtet schlechter Weinjahre darin eifrig fortfuhr, sich Geld und Schweine bei den reichen Kirchspielbauern pumpte, und wenn es Zeit zur Zinszahlung ward, das Geld nebst weiterem bei einem 2. und 3. Kirchspielbauern pumpte, bis diese anfingen, erst Sonntags mit behäbigen Schritten, in festem Wams mit Krückstock wohlversehen, ins Dorf zu marschieren, sich vor dem Hause des Schuldners aufzupflanzen und dort ein eingehendes sachverständiges Gespräch unter genauer Bemusterung des Hauses und seines Zustands zu führen, als ob sie es bereits verpachteten u.s.w., bis dann endlich der verlorene Sünder, dergestalt „auf den Kopf gestellt“ wurde, daß ihm auch der letzte Brocken aus der Tasche fiel.) jene also, die sich dort Wohlstand und Ansehen erwarben und beides durch alle Wogen wirtschaftlichen Auf- und Niedergehens hindurchzusteuern verstanden und darum natürlich – dies bis auf den heutigen Tag, ebensosehr geneidet wie gehaßt, wie als die nun einmal nicht zu leugnende Aristokratie des Dorfes geachtet wurden.
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Freitag, 18. Januar 1918. Es liegen schwere Tage für die Mosel hinter uns: Von Montag bis Mittwoch abend tobte ein tolles Unwetter mit warmem Sturmwind und Regen (+12°!) und brachte gewaltige Schneemassen allenthalben zu jäher Schmelze. Es ließ sich voraussehen, daß Hochwasser kommen würde, und doch überstieg dies alle Erwartungen. Ohne daß ich den schon sehr stark ausgetretenen Strom gesehen hätte, wurde ich Mittwoch nachmittag heftig über unsere Kartoffel- und Gemüsevorräte im Wolfschen Gartenkeller sehr beunruhigt und trotz des schlechten Wetters entschloß sich Helene, obwohl sie  nicht ganz wohl war, mit Maria zum Garten zu gehen und dort den Keller zu räumen. Die Arbeit lohnte sich sehr, denn kaum hatten sie alles bis auf einen geringen Rest der Kartoffeln oben, als das Wasser schon auf der Kellersohle erschien. Als

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ich folgenden Morgens dort hinkam, war der Keller bereits 1,20 - 1,50 m hoch unter Wasser. Mittwoch abend versuchten wir noch, zu Thanischs zu gehen, es war schon nicht mehr möglich, da hinter der Post die Straße überschwemmt war. Über Nacht stieg das Wasser gewaltig. Wohl in sämtlichen Kellern der Kaiserallee stand es, bei uns spülte es im vorderen Weinkeller soeben im Ausguß der Entwässerungsgasse. Ich war schon früh auf, Leistner noch früher und er hatte schon festgestellt, daß der Fluß stehe. Von da ab stieg er nicht mehr, war freilich auch hoch genug. Auf der Schanz stand das Wasser bis zur Ecke des Landratsamtes nach hinten, das Amtsgericht war trockenen Fußes nicht zu erreichen, das Wasser stand bis zur untersten Stufe der Eingangstreppe, ich hatte Wasserstiefel angezogen und gab ein eiliges Aktenstück an Friedrich durchs Fenster. Dem sind 4 Hühner ertrunken. Nachmittags fuhren Helene und ich mit einem Nachen von einem Steg aus, der das Postamt mit dem Anwesen Liell gegenüber verband, in einem Dreibord über die Straße durch Thanischs Gartentörchen zu diesen, besahen dort den Graus (das bereits fallende Wasser hat das niedrige Erdgeschoß fast bis zur Decke gefüllt) und dann fuhren wir mitsammen zurück, tranken dann bei Mutter Anton Thanisch einen soliden Familienkaffee mit frischen Waffeln; später beriet ich noch Hugo und feierte dann mit ihm und Vetter Viktor Th., der aus Flandern bis zum Monatsschluß auf Urlaub, den historischen Tag bei etlichen Glas Wein und der für mich unerhörten und gebührend allseits gewürdigten Leistung von 2 Zigarren. Über Nacht fiel dann das Wasser wieder gewaltig, allenthalben dicken rotbraunen Schlamm zurücklassend. Jetzt wird dieser eifrig weggeräumt. Noch aber tobt der Strom mit lautem Gebrause unter den Brückenpfeilern durch. Die fast wie in den Boden versunkenen Villen, Häuser, Hospital u.s.w. stehen langsam wieder auf und das Moselbahnhöfchen, das wie auf die Knie gesunken aussah, steht wieder ordentlich auf den Beinen. Freilich stehen noch viele Keller unter Wasser. Ein gestern nachmittag von Paul Th. und mir leichtfertig unternommener Versuch, in einer Bütte eine Bootsfahrt durch die überschwemmten Gutswellen zu unternehmen, hätte beinahe mit Kippen und Sturzbad geendet. Morgens ging ich mit Frau Kreisarzt Dr. Knoll auf den Schloßberg und zum Wasserfall. Beides durchaus lohnend. Die Eindrücke von Mittwoch abend, wo ich mit Helene abends durch das Städtchen streifte und wir überall aufs Wasser stießen, sowie von Donnerstag vormittag, verarbeitete ich zu 2 Zeitungsaufsätzchen, die der Post trotz Abbruch aller Verbindungen anvertraut wurden und hoffentlich ihren Weg fanden (Zeitungsausschnitt „Hochwasser an der Mosel“ eingeklebt). Das 2. nahm Assessor Servais mit, der tags zuvor mit der Moselbahn noch bis zur Schloßbrauerei gefahren und nun eingeschwemmt war. Er fuhr 3 ½ mit der Post nach Morbach. Übrigens sah er vorzüglich als Ulanenleutnant aus, hatte Berncastel aus lobenswerter Anhänglichkeit besucht und wie ich hörte, Mittwoch abend sich gehörig angefeuchtet. Ich trank

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in der Post einen kleinen Frühschoppen mit ihm. Bezeichnenderweise saßen Hugo und Paul Th. dort hinter großen Flaschen, wie wohl das Absteigen der Gutskeller und alle mögliche sonstige recht dringende Arbeit schon eine andere Betätigung für zweckmäßiger hätte erscheinen lassen. Post und Bahn bleiben aus. Erst heute kamen 2 Kölnische Zeitungen. Die Bernkastler wird vermutlich Stoffmangels wegen heute nicht erscheinen. Heute vormittag sah ich in Schreinermeister Scherers Hause (dem alten Klausener Hof, ehedem dem Kloster zu Klausen gehörig) dessen prachtvollen, kreuzgewölbten Keller, der auch voll recht hellen, anscheinend gründlich durchfiltrierten Wassers stand, auf dem etliches Sauerkraut traurig einherschwamm. Der Hof aber stand voll riesiger Steinfässer mit Sauerkraut, der Stadt gehörig und zur Kriegsvolksküche im Frühjahr bestimmt. Viele Kartoffeln, gehamsterte wie rechtlich zugeteilte, werden durch das Wasser verdorben und auch als Futter kaum mehr zu gebrauchen sein, da bis Ende dieses Monates alles Vierfüßige, was Schwein heißt, ausschließlich der Zuchtschweine ohne Erbarmen geschlachtet sein muß. Für Schweine werden Fantasiepreise bis 2000 (zweitausend!) M geboten und jeder schlachtet, was er kriegen kann. Leider haben wir keins. Gestern sah ich u.a., wie aus einer Kellertreppe fürs Mittagsmahl die umherschwimmenden Kartoffeln herausgeangelt und im Eimer gesammelt wurden. 1882 hat das Hochwasser nur wenig höher gestanden. Jedenfalls war gestern völliger Gerichtsstillstand; schon früh morgens begegnete mir Faber mit dem Rechnungsrevisor auf der Brücke und da wußte ich schon, daß das Amtsgebäude im Wasser stand. Heute ist wieder Vollbetrieb mit Schöffensitzung u.s.w. gewesen und da Helene die Anwesenheit von Rosa (die gestern morgen glücklich wieder auf etliche Tage kam) ausnutzt und etliche Damen zum Kaffee daheim hat, so benutze ich die Stille und Wärme der Amtsstube, um diese Aufzeichnungen zu machen, während ich von draußen nur das Toben und Gurgeln des Flußwassers höre. Der Gerichtskeller ist noch überschwemmt, und das Söhnchen des Gerichtsdieners kratzte Kohlen aus den Kellerlucken auf der Straße heraus. – Mit dem verständigen Rechnungsrevisor hatte ich eine ausführliche Rücksprache heute morgen, bei der die Schwierigkeiten genugsam erörtert wurden, die uns scheinbar ohne Ende durch die fehlende Hand eines durchgreifenden tüchtigen ersten Gerichtsschreibers im Geschäftsbetrieb mit den nicht genügend gefestigten Bürokräften erwachsen. Auch wurde dem vorgebeugt, daß etwa ein künftiger Schwiegersohn F.S. diese Verhältnisse hier noch verschlimmert. –
19.1.18. Heute endlich Briefpost mit Zeitungen ab Montag. Mit Maintzers kleinem Pferdewägelchen wird die Post in Wengerohr abgeholt, denn seit dem 17. ist die Bahnstrecke Wengerohr - hier unterbrochen, die Lieser war durch Wolkenbruch in einen rasenden See verwandelt, der die Brücken wegriß und die Dämme unterspülte.

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Auf dem Kaffee, zu dem Helene gestern 3 Damen hatte, erzählte Frau Louis Hauth aus Wehlen, es sei in stürmischer Regennacht ein Wagen mit 10000 M schwerer Ladung geschlachteter Schmuggelschweine vermutlich aus der Eifel (Kreis Wittlich) unterwegs gewesen, habe erst eine, dann die zweite Brücke über die Lieser zerstört vorgefunden und sei endlich weit in die Berge schließlich auch stundenlang in die Irre gefahren. Die den Bauer begleitende Frau habe vor aller Angst und Aufregung auf dieser doppelt unheimlichen Nachtfahrt greise Haare bekommen.
27. Jan. 1918. Kaisers Geburtstag. Die rücksichtslose Offenheit, mit der ich mir diese Aufzeichnungen zu machen vorgenommen habe, erfordert die Wiedergabe von allerlei Unerfreulichem: Jedermann fast ist heute besser versorgt als vor Jahresfrist und z. T. daher, weil ein jeder – ich glaube kaum, daß es noch irgend bemerkenswerte Ausnahmen giebt, stramm hamstert, d. h. unter Nichtbeachtung der tausendfältigen Gesetzes- bzw. Verordnungsvorschriften sich Nahrungsmittel verschafft, wie und wo er kann. Naturgemäß gerät dabei der kleine Mann mit beschränkten Mitteln ins Hintertreffen. Doch ist wohl zu beachten, wer der „kleine“ Mann heute ist. Kaum 16jährige Burschen verdienen auch hier bereits einen Tagelohn von 3,40 M. Der Reichskanzler nannte kürzlich „Handwerker und kleine Beamte“ namentlich. Alles rennt nach Eßbarem. Kürzlich wurde in der Stadt hier ein fetter Ochse geschlachtet und ... erzählte mir, daß er davon 20 - 30 Pfd. zu 5 M (frisches Fleisch ohne Knochen) kaufte und räuchern ließ. Jetzt steht ähnliches für uns in Aussicht auf Nierenfett und kleinen Nebenabfall. Auch die Möglichkeit, eine Haut zum Gerben zu bringen, eröffnet sich; kurz, alles Dinge, die verboten sind, aber trotz stetig nach oben steigender Strafsätze nach wie vor fleißig betrieben werden. Jedenfalls ein glänzender Beweis dafür, wie rein utopisch ein „logischer“ Gleichheitsstaat sein muß. Immer wieder ist es kinderleicht, die Beobachtung zu machen, daß Leute mit Geld, Beamtenansehen u.s.w. gerade vom „Volk“, das nach Gleichheit schreit, bei jeder Gelegenheit nicht nur bevorzugt werden, sondern ihnen geradezu alles zum Greifen dargeboten wird. Es war vermutlich immer so und wird wohl auch so bleiben. Dabei predigen die Russen bei ihren Friedensverhandlungen die ödesten Freiheitsphrasen, während in ihrem Lande rohe Gewalt und völlige Anarchie, stellenweise auch heftiger Bürgerkrieg herrscht. Immerhin hatten sie den Anschein von Erfolg, daß die radikale österreichische Arbeiterschaft Lust zeigte, auf diesen revolutionären Leim hereinzufallen und ein bischen Friedensrevolution zu spielen. Die Ernüchterung kann angesichts der tatsächlichen Lage nicht ausbleiben. Unsere Regierung zeigt gottlob eine erfreuliche Festigkeit, nach der Grund zu hoffen besteht, daß Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen und Polen jedenfalls nicht bei Rußland bleiben. Mit der Ukraine, die freilich noch in heftigen Geburtsnöten liegt, scheint es zu einem baldigen Frieden und Warenaustausch zu kommen. Vielleicht verdanken dem die Schweinchen unter 25 K diesmal noch ihr Leben, denn es sollte alles Schwein bis auf Zuchttiere gemetzelt werden, erst bis spätestens halben, dann bis Ende Januar. Unser Versuch, uns unter Benutzung dieses Druckes ein „Wurstschweinchen“ zu sichern, kam eben einen Tag zu spät und ich war nicht mal böse darüber, sondern sandte einen humoristischen Artikel „Schweineglück“ darüber an die

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Kölnische Zeitung. – Erinnerungen an August Macke (Macke, August), die ich auf Cohens Ersuchen für ein „Kunstblatt“ geschrieben, scheinen dort durch ähnliche Arbeit von D-Bombe nicht recht zum Platzen zu kommen. Bruhns sandte Brief mit erfreulichen Nachrichten, er scheint demnächst einen „Brummer“, d. h. irgend eine größere literarische Arbeit loslassen zu wollen. – Im Hause haben wir jetzt gute Aushülfe durch eine Bahnhofsvorsteherstochter aus Plettenberg, ein sachlich arbeitendes, ruhiges und sympatisches Westfalenmädchen. Auch zeigt sich Aussicht auf ein Fräulein freilich noch ein wenig aus weiter Ferne.
5.II.1918. Mit Heiserkeit und Halsschmerzen vertreibe ich mir daheim die Zeit, leider muß ich vormittags in Remy’s Abwesenheit zum Amt. Schönberg erzählte mir heute morgen einige Streiche, die aufzuzeichnen wert sind: Die große Weinfirma K. hatte einen Posten von einigen 60 Fudern Luxemburger Ober Moseler (vermutlich halb Apfel-, halb Traubenwein, Apfelwein ist lediglich durch Zungenprobe festzustellen, im übrigen „analysenfest“, da er gleiche Zucker-, Säure- und Salze-Bestandteile wie Wein aufweist). Staatsanwalt W. in Tr. ist scharf hinter diesem Wein her, läßt ihn beschlagnahmen und versteht sich aller Vorstellungen unerachtet, nicht dazu, ihn freizugeben, wiewohl er bereits so gut wie nach England verkauft ist u.s.w. Gelegentlich einer Fastnachtssitzung verfällt Schönberg auf diesen Ausweg, der sofort ins Werk gesetzt wird. K. hat auch eine „englische“ Firma. Es wird ein großes, von dieser ausgehendes und daher später in Englisch abgefaßtes Schriftstück aufgesetzt, in dem im Tone echtester englischer Entrüstung von der Beschlagnahme eines Weines geredet wird, der britischen Untertanen gehöre, und nur auf dem Transit von LG. nach England in Deutschland lagere u.s.w. Das Schriftstück geht vom britischen Generalkonsulat (dieser nicht unbekannt mit K.) im schönsten Englisch mit diplomatischem Begleitschreiben an die Staatsanwaltschaft. Man wolle, bevor der diplomatische Weg beschritten werde, zunächst dort Kenntnis ... geben, vielleicht, daß sich die Möglichkeit einer anderweitigen Erledigung fände u.s.w., ohne daß die grand fleet auszulaufen brauchen. Allgemeine Bestürzung bei der Staatsanwaltschaft und W. –  der sich in seiner glänzenden Laufbahn abgeschnitten, auch schon kriegerische Entwicklungen, Knurren der Reichsbehörde und lautes Schimpfen der Landesbehörden hört, sich selbst im Geiste in weindürren Gegenden des Masurenlandes sieht u.s.w. – schreibt einen Privatbrief an K., den beantwortet dieser nach Schönbergs Anweisung kühl und zurückhaltend, das Vorgehen der Engländer sei auch ihm sehr peinlich, Ausweg schwierig, vielleicht neue Ermittlungen, Feststellung durch Notar (!), Zungenprobe, Gutachten u.s.w. Freigabe! –– Später verrät ein Schönberg befreundeter Tr. Anwalt (Wolido) diesen Streich in der Weinlaune dem Staatsanwalt W, der Schönberg seitdem haßte und allerlei Nachstellungen versuchte, so z. B. ihn wegen Beihülfe zu strafbaren Handlungen wegen der „Doktor“-Bezeichnung. Das verhält sich so: Vermutlich steckt die Firma Deinhart dahinter. Komm. Wegeler in Coblenz ist mit allen Mitteln darauf aus, den Doktor hier ganz in die Hand zu bekommen. Dem Weingut Anton Thanisch

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hat er den schönen Doktorweinberg nebst Keller am Graben abgeluchst: Großer Prozeß gegen fast alle Doktorbesitzer, in dem ich noch als Assessor hier Zeugen vernahm. Trotz der keineswegs ungünstigen Rechtslage ließen die Erben Anton Th. sich in einem, angeblich von Schönberg unbeachteten Augenblick gelegentlich einer in seiner Abwesenheit stattfindenden Ortsbesichtigung und daran anschließender Zeche in der Doktorweinstube (Gescher war mit dabei) zum Verkauf breitschlagen, nachdem man reichlich Andeutungen darüber gemacht hatte, daß H.Th. in seinem Weingeschäft allerlei als Doktor verkauft hat (vermutlich im Kleinen, wie es von Deinhart & Co allgemein im Großen behauptet wird). H. muß dies s. Zt. maßlos aufgeregt haben, jedenfalls trank er fleißig, Anton war es wegen Tr. Landgericht unangenehm, kurz, sie machten den Kapitalfehler und verkauften Weinberg und Keller um 100000 M, einem Apfel und 1 Ei,  an Deinhardt, der nichts schleunigeres zu tun hatte, als ihn selbst als unstreitigen „Doktor“ zu bezeichnen. Wären sie Schönberg gefolgt und hätten gegen Deinhard Prozeß gemacht, indem dieser der Eid darüber zugeschoben wurde, ob und wieviel „Doktorwein“ er außer dem auf seinen Doktorweinstöcken gewachsenen verkaufe – in England allein bestand besondere Gesellschaft zum Vertrieb seiner Doktorweine –, so brachten sie ihn bös in die Klemme, den Eid zu verweigern und sich zu blamieren oder ihn zu leisten und sich von seinen Leuten damit abhängig zu machen. – War dieser Streich bei Anton gelungen, so wurde die Staatsanwaltschaft auf Frau Ww. Dr Hugo Th gehetzt wegen der Bezeichnung „Doktor und Graben“. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren wegen dieser angeblich gesetzwidrigen Bezeichnung ein, Schönberg bestärkte die Familie nachdrücklichst in ihrer bisherigen Bezeichnung fortzufahren – in dieser Sache suchte Wegeler Schönberg einmal persönlich auf und wollte Einigung verhandeln, was Schönberg ablehnte. (Die Tochter Margarete war am standhaftesten!) – und schließlich drohte die Staatsanwaltschaft die Versteigerung in Trier zu „sistieren“, was sie gar nicht konnte, oder dort Widerspruch zu erheben, auf die Folgen der Bezeichnung hinzuweisen. Gegendrohung: Persönliche Haftbarmachung des 1. und des Staatsanwaltes W. Versteigerung, die mit Spannung erwartet, verlief ohne jeden Zwischenfall und die Preise kamen recht hoch. Gelegentlich eines Verschnittes der Erben Dillinger (die kein ½ Fuder aus ihren Doktorstöcken zusammen bekamen) kam es zu einer Schöffensache hier, in der Kollege Winckler ein ausführliches Urteil über die Zulässigkeit des Verschnitts mit benachbarten Lagen machte, das in II. Instanz aufgehoben, in III. bestätigt wurde. Damit war dieser Angriff D’s abgeschlagen. Der Gegenstoß brachte unter des Landwirtschaftsministers v. Schorlemer’s offensichtlicher, wenn auch hinterwärts der Kulissen dirigierter Leitung die Konferenz in Trier, in der ein von Schönberg stammendes Gutachten zu allgemeiner Billigung gelangte. Folge: Ortsstatutarische Änderung bzw. „Berichtigung“ der Katasterbezeichnung in „Doktor überm Graben“ und „Schloßberg“, Niederberg ect in Lieser u.s.w. Beides vermerkte ich s. Zt. noch selbst im Grundbuch.

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Diesen Winter kam der Dillinger’sche Doktorweinberg zu öffentlicher Versteigerung. Natürlich ließ Walter Th. ihn sich entwischen und Deinhard hat ihn nun und sitzt dem Weingut Dr Hugo Thanisch damit mitten in seiner Doktorlage. Neugierig, ob und wie nun weitere Vorstöße von D’s Seite gemacht werden. (Frau Liells Steinkaul wollte er auch mit der Kreszenz 17 zusammen für etwas über 100000 M kaufen, verhandelte mit mir deswegen in Bonn, doch schrieb ich ihm ausführlich, daß er 50 % höher gehen müsse. Darauf weiter nichts mehr. Erlös nachher 103000 für Weinberg, 48000 für Wein =151000).
Schönberg erzählte noch einen Streich, mit dem er auch D. überlistete: Jene Firma K. teilte ihm und T. mit, eine große Weinfirma in München beginne zu krachen, er sei dort mit so erheblichen Lieferungen und Ausständen beteiligt, daß damit seine Existenz bedroht sei. Bereits genau formulierte Vorschläge des Schuldners, K. nimmt Schönberg mit zu Beratung der Gläubiger nach Wiesbaden oder Frankfurt. Unterwegs treffen sie Wegelers Schwiegersohn Hasslacher und betasten sich gegenseitig vorsichtig über ihre Pläne u.s.w. Auf der Versammlung sind alle Weinberggroßfirmen und Sektfabrikanten vertreten, der Schuldner hat gewandten Anwalt, Schönberg schlägt vor, die „gemeinsamen Interessen“ dadurch zu stärken, daß K’s große Weinlieferungen dem Schuldner in „Kommission“ verbleiben, dafür aber die Kaufverträge anulliert werden. Der andere Anwalt, der seinen scharfen Gegner erkennt, stimmt dem zu und auf Hasslachers Befürworten kommt allgemeine Abmachung dahin zustande, nachdem Schönberg es noch als ein „Entgegenkommen“ der Firma K. dargelegt habe, daß sie sich hierzu verstehe, anstatt sich auf nichts einzulassen. Ergebnis: K. gewinnt das Eigentum am Wein zurück, Wegeler hat dies kaum erfahren, als er wütende Briefe schreibt und 3 Monate später ist die Weinfirma in München vollkommen verkracht. – Man muß die Menschen kennen und nach ihren Fähigkeiten behandeln!
11. Febr. 1918. Ich erwarte schon seit 2 Tagen vergeblich die Nachricht, daß wir den russischen Schwätzern und impotenten Politikern den Waffenstillstand gekündigt haben, da kommt heute morgen die Kunde: Mit ganz Rußland sei der Friede abgeschlossen (Im eingeklebten Sonderblatt der „Bernkasteler Zeitung“ wird der „Friede mit der Ukraine“ gemeldet). Das wäre dann doch gewiß ein Erfolg unseres Auftretens. Wir wollen es dankbar begrüßen und hoffen, daß wir damit bis nach Hungerburg kommen. –
Damit hätten wir dann endlich eine Lösung der letzten merkwürdigen leeren Tage, in denen die Zeitungen nichts rechtes berichteten und die dem Vergnügen sich zuwendenden – jung und alt – hier und vermutlich auch anderwärts in kleinen Zirkeln Fastelabend zu feiern begannen. Es ist unverkennbar, daß ein starker Drang nach Feste feiern, eben jetzt das Volk durchzieht. Die jahrelang zurückgestaute Welle sucht sich einen Weg und finden sich nicht irgend welche Kanäle, durch die der Überdruck abziehen kann, so giebts schließlich einen Dammbruch. Gegen derlei Elementargewalten giebts nur besonnenes Eindämmen, unterdrücken lassen sie sich nicht.

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12.2.18. Die tüchtige Atta (Agnes Stöver aus Plettenberg) ist gestern früh weg und Helene hat gerade alle Hände voll zu tun mit Fleisch- und Knochenverwertung (Stenografie eingefügt) dafür kam vormittags die Neuigkeit: Friede mit ganz Rußland. Die Abendzeitung brachte die Aufklärung. Trotzki, durch den Friedensabschluß mit der Ukraine (und vermutlich unsere Kündigung des Waffenstillstands) in die Enge getrieben, hat diese famose Erklärung abgegeben. Damit sollen wir wohl die moralisch Gebundenen sein. Hoffe, daß wir über solche Zwirnsfäden nicht stolpern. Abends las ich bereits in der Kölnischen Zeitung den ungefähren Wortlaut des ukrainischen Friedenstextes. Hauptsachen scheinen mir 3 Punkte: Austausch der Güter bis 31. Juli, Kriegsgefangenen können, wenn sie wollen, bleiben und Deutschland hat besondere Abmachungen, auch über Ersatz von Zivil- und völkerrechtswidrigen Kriegsschäden. Darin scheint noch allerlei zu liegen. Die Rumänen, völlig eingekeilt, werden nun sich beeilen müssen, Frieden zu machen. Im Westen stets noch das große Schweigen. Der Ubootkrieg aber anscheinend in voller Blüte und England in ernster Sorge.
19.2.1918. Nun hat der Krieg auch hier eingeschlagen. Gestern nachmittag brummte bereits ein Flieger hier herum, angeblich ein Deutscher. Abends gegen ½ 10 hörten wir bei Krings Fliegergeräusch. Helene auch. 2 dumpfe Schüsse, als wir 10 ¼ nach Hause gingen, fiel mir auf, daß das Tor am Hospital weit offen und ein Mann im Mondschein dort sichtlich stark erregt wartete. Heute die Lösung: Gestern tagsüber starker Fliegerangriff auf Trier, angeblich Treffer ins Regierungsgebäude und 1 höherer Beamter tot, dann Verfolgung der Flieger durch deutsche Flieger, solche jagten vermutlich ein feindliches Flugzeug in unsere Gegend. Bei dem hellen Mondschein standen die Leute in Wehlen bei der Kirche vermutlich auf der Straße statt im Keller zu hocken, eine Bombe schlägt ein: 2 Tote, einem beide Beine weg, eine Frau erhält viele Splitter u.s.w. Vermutlich ist heute großer Betrieb auf Landrats- und allen Bürgermeisterämtern. Hoffentlich wird auch ein klappender Signaldienst zur öffentlichen Warnung eingerichtet; jedenfalls habe ich mich sofort mit unserem Hausherrn über passende „Kellerorganisation“ besprochen. Besser Vorsicht als Nachsicht. Die Frau ist nach gräßlichen Qualen gestorben. – Im Westen stehen große Dinge bevor. Im Osten ist die Lage durch eine sehr gute Erklärung von uns stark gereinigt, ich hoffe heute schon sind die Unsrigen in Livland, Estland und nach Finnland unterwegs. Die Ukraine bittet um Hilfe, die wir gewiß nicht versagen, zumal es dort heißt, Getreide für uns zu retten. Die Engländer haben sich an der Westfont anscheinend unter den Befehl der Franzosen beugen müssen, was heftige Empörung in England absetzte.
23.2.18. Hier haben sich keine Flieger weiter gezeigt. Am 19. ist in Trier durch Bombenabwurf die Vormundschaftsabteilung des Amtsgerichts abgebrannt. Gestern abend war Louis Hauth hier und fragte bereits wegen Rentenansprüchen des tötlich getroffenen Küfers. Dieser war im Felde gewesen und bezog 40 M monatliche Rente als Kriegsbeschädigter. Nun steht die Witwe ganz ohne Anspruch da. Eine monatliche Zuwendung von 25 M

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aus der Nationalstiftung wird da gute Dienste tun. Maschinengewehrfeuer ist festgestellt, dagegen nicht, ob ein deutscher Flieger etwa von der Front, dabei war. Von Trier aus keiner. ||  Vom Collegen Liell erhielt ich einen erfreulichen Brief, ist Vizefeldwebel bei einem Landsturm Fuß Artillerie Batallion und lag am 16. nach langer Untätigkeit an der Düna, jetzt wohl in scharfem Marsch nach Norden. Ich sandte ihm allerlei, auch Führer durch Liv- und Estland, Brief an die Eltern Bruhns u.s.w. Wenn unsere Zeitungsnachrichten über die Zustände nicht absichtlich aufgebauscht sind, so muß es dort den Deutschen gräßlich ergehen. Hoffentlich befreit und trifft der deutsche Vormarsch sie meist noch lebend an. Im Westen ist immer noch bleierne Schwüle. Die Großrussen, besser gesagt, ihre tolle revolutionäre Juden Regierung macht jetzt Waih-g’schriee und winselt um Frieden. Wir werden sie mal hübsch hinhalten, bis unsere Truppen die Randländer besetzt haben, des weiteren wird sich schon finden. Dr. Kühlmann ist mal vorab nach Bukarest, um dort mit den Rumänen zu verhandeln, die jetzt klein beigeben müssen. Das ganze reizt zu einer komischen Satire im „Jiddisch“! –
Hier im Nest hat man sich über die Fliegersache bereits wieder beruhigt. Nach Wehlen war eine förmliche Völkerwanderung sich die Sachschäden dort anzusehen. Jedenfalls wirds eine ernste Lehre sein, sich sofort von der Straße zu machen, wie man Fliegergeräusch hört. – Mit Veltens Hülfe zwei weitere Fuder an Cölner Casino verkauft, so daß nunmehr 6 ½ bis heute „umgesetzt“. Hugo Th. ist froh mit dem Ehering, der Katzenjammer wird nicht ausbleiben, wenn es erst nur auch mal eine wirtschaftliche Frage zu lösen giebt.
28. Febr. 1918. Die Ereignisse überstürzen sich derart, daß es schwierig ist, den Kopf klar zu behalten. Der Vormarsch in Liv- und Estland geht geradezu im Laufschritt, in der Ukraine sogar teilweise mit der Eisenbahn vor sich. Vorgestern waren wir in Wehlen, besuchten Louis Hauth und Frau dort und ich probierte die erdigen und wenig zusagenden rumänischen Weine. Mit besonderem Interesse besah ich mir einen kofferartigen (Grünberg?) Filter, der flott arbeitete. Natürlich drehte sich das Gespräch hauptsächlich um die Bombenwerferei. An Bruhns schrieb ich gestern eine Karte, die Freude über die Einnahme Revals und Dorpats war zu groß. Auf unser wirklich schneidiges Ultimatum haben die Großrussen anscheinend prompt nachgegeben und machen Frieden. Wie man diesen macht, ist damit mal wieder bestens erwiesen. Im Reichstag werden die Konservativen hauptsächlich wohl des preußischen Wahlrechts wegen, scharf an die Wand gedrückt und wehren sich mit Getöse. Hertling redete nicht übel. Im Westen immer noch alles in banger Spannung. Dr. Wiesemer entwickelte auf einer kürzlichen Unterhaltung bei Schönberg, wo sich mit Mumbauer aus Piesport allerlei Vögel eingefunden hatten, einen Plan, an einer Stelle ohne Artillerievorbereitung überraschend und so schnell vorzustoßen, daß unsere Handgranadiere bereits an der feindlichen Artillerie sein sollen, ehe die recht zum Feuern käme, während unsere Leute in der vorderen Linie ruhig liegen bleiben. Eine schauerliche Sache. – Mondhelle Abende veranlassen uns jetzt, Decken u.s.w. zu einem etwaigen

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nächtlichen Kellermarsch bereit zu legen. – Das heimliche Schlachten der Rinder ist jetzt so ziemlich unmöglich gemacht, das Rindvieh bekommt so etwas wie ein Standesregister. Gestern abend erzählte der Kreisausschußsekretär Kehl, der sich nach Tisch wie wir bei Krings (dem „Kreisnährvater“) einfand, von allerlei namenlosen Anzeigen, Haussuchungen und Fleischbeschlagnahmen, daß es Helene ganz angst und bange wurde. Das Rindfleisch ist nämlich eben aus der Sulze gekommen, soll etliche Tage lufttrocknen und dann am Samstag sachkundig geräuchert werden. Intra muros perratur et extra. Sogar Frau Landrat giebt neuerdings Kuchen bei Kaffee zum Besten. Sie hat „einen Onkel in Rumänien“, der ihr Mehl besorgt. Dergleichen Onkels sind brauchbar, ich muß sehen, mir einen in der Ukraine zuzulegen. Während sie sonst mehr für „Steckrüben“ waren, sind sie’s heuer mehr für „Süßstoff“. Die Bienchen sollen 15 Pfd. Zucker aufs Volk haben, wenn der Imker sich dafür verpflichtet, 5 Pfd. Honig abzugeben. Ich werde mich auch in diese Liste einzeichnen, vielleicht, daß für die Ablieferung nachher „Erleichterung“ gewährt wird, wie es so schön in der Bekanntmachung heißt. Für Branntwein ist angeblich jetzt ein Höchstpreis von 25 M das Liter festgesetzt worden, was zur Folge haben wird, daß der Preis, der bisher so 16 - 18 M stand, sofort auf 25 schnellen wird. Da ich daran zu Tauschzwecken ein ansehnliches Quantum besitze, so bin ich sehr interessiert daran.
1. März 1918. In der Stadt ist man nicht mit Unrecht aufgebracht darüber, daß der Bürgermeister alle Sachen, die er seit November für die städtischen Lebensmittelgeschäfte überwiesen erhalten hat, mehr oder weniger aufspeichert, um im Frühjahr damit die Kriegsküche in Gang zu setzen. Der Bäcker Nalbach sucht stets unter allerhand Ausreden das Mehl, das man statt Brot auf Brotkarte zu verlangen berechtigt ist, zu verweigern. Ich sprach daher eben mit dem Kaufmann Koch, der die Mehlausgabe hat, er ist gern bereit, mir Mehl, sogar Weizenmehl, allerdings nur grobes auf etliche Abschnite zu geben. Gütliches Zureden hilft. = Vom Westen steht merkwürdig wenig im Tagesbericht, am 23. sogar gar nichts, was wohl noch kaum vorgekommen ist. Dazu hören wir gar keinen Kanonendonner schon die längste Zeit über mehr. In England scheint starke Friedensströmung zu herrschen. Ob am Ende? – Nein, im Westen muß wohl bald und das heftig gewütet werden.
5.III.1918. Gestern das erste Friedensgeläute. Friede nun auch mit den Großrussen und  binnen kurzem mit Rumänien, das bedeutet Frieden im Osten!
Und welche Beute noch und welch glatter Friedensschluß. Schon wird der Japaner im fernen Osten munter und hat allerlei in Sibirien zu schützen. Die Amerikaner sitzen in der Patsche. Fehlte nur noch, daß Japan sich uns nähert. Unterdessen marschieren wir in Finnland ein und und drängeln die Schweden wieder von den Alandsinseln herunter. „Bitte meine Herren, sie wollten früher nicht, so bemühen Sie sich auch heute nicht.“ – Kurz und gut, mit meinem Hauswirt Leistner trank ich gestern eine schöne Friedensflasche 15er Brauneberger. Papa bekommt 2 schöne Brauneberger Juffer zum Geburtstag. Seit Samstag wieder der lange nicht gehörte ferne Kanonendonner, diese Nacht heftiges Trommelfeuer, daß die Scheiben klirrten. Schlagartiges Aufhören – und los geht der Sturm. Unheimlich, sich dies im Bett und Halbschlaf auszumalen. Der Erfolg im Osten ist

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durchschlagend; schade, daß die russische Flotte nach Helsingfors entwischte. Dort ist sie freilich eingefroren und wird uns wohl in die Hände fallen, ist im Vertrag aber ausgenommen. Es wäre noch ein schöner Brocken. Der Friedensvertrag liest sich gut. Nun fehlt noch die Karte mit der Linie, auf der sich Osten und Westen scheiden. Der 30° Längengrad östlich Greenwich wäre nicht übel. – Aktuar Schmitt berichtet, daß in östliche Pelze gehüllte Maschinengewehr-Abteilungen Wengerohr passieren. Mitunter hat es fast den Anschein, als ob es in England rumore und der Engländer langsam mürbe würde. Jetzt nur keine Friedensschalmei auf unserer Seite blasen! Die Kinder haben heute schulfrei, Behörden und Häuser geflaggt. Aber im Westen blutet noch mancher Mann bis zum bitteren Ende. –  Vom Kaufmann Koch bekamen wir sogar auf 5 Brotkartenabschnitte Weizenmehl, was 13 4/10 Pfd. ausmachte, ein schöner Vorrat. – An Frl. Tholen, von der eine besorgte Karte kam, schrieb ich langen Brief und ließ zugleich einige der letztgedruckten Eintagsfliegen auf sie los. Sonntag war ich mit Helene bei Paul Th, hatte mit ihm und seinem Bruder H. Besprechung wegen Testament, Erbverzicht, Ehe u.s.w. Es scheint nach kurzem Anlauf wieder alles in den alten Zustand der Versumpfung zu geraten. Wohnungsmiete, die mir für Frau Liell am Herzen liegt, macht er vorab noch von allerlei anderem abhängig; alles frühere ist als Ehescheidungsgrund durch „Verzeihung“ in Frankfurt ausgelöscht. Es wird wohl noch öfter so gehen. Sonntag abend hatten wir Frau Knoll mit ihrem Vater Gohlke zum Glase Wein bei uns. Es schmeckte dem Alten gut, ebenso einige Kässchmierchen, die Helene gemacht. Wir unterhielten uns aufs Beste, ich zumal auch mit dem alten Herrn, der nettes aus seinen Kriegserlebnissen anno 66 in Coblenz zum Besten gab, wo die Artillerie pomphaft zur Belagerung von Mainz ausrückte, bald aber welche zurücksenden mußten, weil sie die Schlagröhren vergessen hatte. Bei den Mainzer Bundesbrüdern herrschte eben solche Aufregung, „daß die Preußen kämen“ wie bei diesen, „daß die Baiern kämen“. Wie hört sich sowas heute an. Ein Kamerad gab Gohlke, der damals auf dem Laboratorium arbeitete, den heldenmütigen Rat, beim Abmarsch, falls der Feind käme und er sähe keinen Abzug, so solle er sich mit seinem Labor in allen Ehren in die Luft sprengen! Seltsam klingts heute und doch trägt der Baiernkönig heute noch eine preußische Kugel im Leibe. –
Sonntag, 17. März 1918. Seit wie langem! liege ich erstmals wieder nach Tisch im Garten auf dem Liegestuhl. Warme Frühlingssonne, die Bienen summen munter und schleppen unentwegt Pollen und schweres Trommelfeuer rollt ununterbrochen vom Südwesten her. Die letzten Tage brachten allerlei Bewegung. Heute morgen kam Bruhns Karte, daß er am 12. etwa in Bonn Vater seiner kleinen Gerda geworden ist. Mutter und Kind wohlauf. Der Großvater erlebte hoffentlich heil und gesund am Abend seines 75. Geburtstags den Einzug der Deutschen in Dorpat. Was muß das diesen deutschen Mann nach langer entsetzlicher Leidenszeit in tiefster Seele gefreut haben! Leider fehlt seit Mitte Januar noch jede Nachricht von ihm. Am 27. soll Bruhns nach Würzburg zur Nachmusterung. Nun es wird wohl nicht

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eilig sein. Sein Bruder Fritz freut sich, nun keine Stellung in Deutschland bekommen zu haben, da er in der Heimat notwendig sei. Vermutlich ist er Dolmetsch. Am Donnerstag und Freitag vorvoriger Woche vertrat ich in Traben-Trarbach Geheimrat Gescher, aß auch einmal bei ihm zu Mittag. Es waren recht unterhaltsame Tage. England steigt das Wasser langsam bis an den Hals; jetzt erpreßt es von den Holländern die Schiffe. Hoffentlich werden diese damit nicht nur wirtschaftspolitisch dahin zurückgedrängt, wohin sie gehören, nämlich zu uns. Mitteleuropa taucht stets deutlicher aus der Versenkung, nach Asien zeigen sich neue Wege, selbst Spitzbergen tritt in unsere Berechnung ein und zwischen Japan, das sich die sibirische Küste mit Hinterland sichert, und den Nordamerikanern wächst der Gegensatz unverkennbar. Rumänien wird von uns feste ausgepreßt und Italien wird wohl bald ähnlich an die Reihe kommen. Kurland wird soeben ein deutsches Herzogtum, Liv- und Estland werden auch bald was werden und in Finnland rüsten wir uns zum Aufmarsch. Die Früchte unseres Sieges im Osten beginnen zu reifen. Odessa haben wir besetzt, wer weiß, was noch geschieht. Läßt sich die Ukraine dauernd halten, so ist für Menschengedenken unser Übergewicht im Osten besiegelt. Allmählich gleitet die Westfront in den fürchterlichen Endkampf hinein, in dem schlimme Gase unsere Hauptwaffe bilden sollen. Wann und wo der Hauptstoß, ob von uns oder vom Gegner, alles ist noch völlig schleierhaft. Die 1900 geborenen Jungmannschaften werden demnächst hier gemustert. Im Garten hat der arbeitstüchtige Herges Brösch Licht und Luft geschaffen, auch im Feld und Gärtchen fleißig gespatet. Wir verbrannten im Garten große Feuer, räumten auf und schafften Ordnung und kaum damit fertig, erschien gestern auch der Garteneigner Dr. Wolf und freute sich, daß die vorjährige Wüstenei ein wenig beseitigt war. – Krings und Frau habe ich sehr zugeraten, ein schönes Landstück hier in der Nähe an der Mosel vom Rapedius zu kaufen und sich darin Obst- und Gemüsegarten anzulegen. Sie scheinen nicht abgeneigt. Die Kinder arbeiten eifrig an einem Sandhaufen. Das letzte Hochwasser hat viel Sand auf die Moselwiesen gebracht und jedermann versorgt sich daraus mit Sand. ||  Helene, die jetzt bei guten Dienstboten rechte Ruhetage bekommen soll, ist in letzten Tagen recht schwach und elend. Diese Nacht gab ihr eine andauernde Unruhe Mariannchens den Rest. Sie hat sich auch über eine Erkrankung ihrer Mutter in Bonn, eine leichte Rippenfellentzündung, sehr aufgeregt. Leider ist die Sache auch nicht unbedenklich, da zur rechten Erholung der erforderliche Appetit fehlt. Wir sind froh, durch gelegentliche Zusendung besonders kräftigender Lebensmittel uns ein wenig erkenntlich zu erzeigen für das, was wir in früheren Jahren dort reichlich genossen. – Hier sind wir durch eine Reihe geradezu schändlich zusammengeklatschter Brote des Bäckers Nalbach arg ins Gedränge gekommen und werden längere Zeit brauchen, um wieder ins rechte Geleise zu kommen. Mein tüchtiger Sekretär Brinckmann, der hoffentlich zum 1.4. nicht wegbraucht, war ganz krank davon. Helene hat es auch mitgenommen. Mir geht es bei aller Arbeit auffallend gut. Gottlob leben noch 3 Bienenvölker.

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22. März 1918. Mit dem 1. April treten die Gefängnisse unter Justizverwaltung. Ich werde mich evtl. um Gefängnis-Direktorposten dabei umsehen.
23. März 1918. Jetzt steht neben dem Beginn der großen Westschlacht – vor Verdun hat der große Geschützkampf eingesetzt – der Schiffsraub der Entente von Holland im Vordergrund. Wir verlangen Ausgleich von Holland und man redet allgemein von starker Spannung in unseren Beziehungen. Unsere Marie, das tüchtige Zweitmädchen, überlegt als Kind holländischer Eltern bereits den Kriegsfall und daß sie dann mit ihren Brüdern schnell auf Holland zu marschieren will. – Im Garten wird eifrig geputzt, Tag für Tag altes Holz, Gerümpel, Unkraut, Laub u.s.f. verbrannt, so daß der Aschenhaufen stets wächst. Regelmäßig werden auch einige Kartoffeln gebraten und die Prunusbäume stehe nach warmem Regen in herrlicher Blüte, fleißig umschwirren sie die Bienen. Die Kinder tummeln sich wacker im Garten, finden Eiertatsch fürs Kaninchen und Sauerampfer für sich selber. Das Hochwasser hat reichlich Sand angeschwemmt, jeder holt sich den hier raren Stoff, soviel er braucht. Der eine zu heimlichen Stallanbauten, Mauerausbesserungen und ähnlichem, der andere, seine Spargelbeete damit aufzuhäufeln, ein dritter legt ihn sich auf Vorrat für künftige sanddürre Zeiten hin und bei uns wird für die Kinder allmählich ein stattlicher Spielhaufen gesammelt. Der lang angesammelte Düngerhaufen findet eifrig Verwendung und der Spinat gedeiht zusehends. Vorgestern nachmittag machte ich mit Hospes Leistner einen Ausflug nach Graach. Das Bähnchen brachte uns hin, wir stiegen die kieselsteingepflasterte holprige schmale Gasse hinan, landeten am großen Haus des Vaters Kieren (Hauer III) (?) und wurden von seiner Frau belehrt, er sei am Heiligenhäuschen im Weinberg. An der Kirche fanden wir bald die Straße und waren beide erstaunt über den breiten wohlausgebauten Fahrweg, der sich sehr im Gegensatz zu dem engen und steilen daheim, in gemächlicher Steigung und wohliger Breite den Berg hinanzieht und dem Blick freien Lauf über Mosel und Berge gestattet. Die Weinberge standen dort vorzüglich. Den Alten fanden wir am Heiligenhäuschen, er war gern bereit, alsbald Feierabend zu machen und mit uns heim zu gehen. Auf meinen Vorschlag machten wir erst noch etliche Schritte zu jenem stattlichen Heiligenhäuschen hin und das lohnte sich wahrlich. Eine prächtige lebensgroße Kreuzigungsgruppe, flotte und ernste Barockarbeit aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts (von einer Familie Schunk gestiftet) war recht bemerkenswert. Noch fast besser wollte mir gefallen, die etwa gleichaltrige, volkstümlich einfache Figur eines Hl. Wendelinus als Schäfer. Auch die Erscheinung des gekreuzten Hirsches vor dem erstaunten Hl. Hubertus war in zwar naivem Flachrelief mit der schönen Unterschrift zu finden: „Gott schütze das edle Waidwerk.“ Auf dem Heimweg, den wir erst die breite Weinbergstraße, dann unter Vermeidung der Dorfstraße auf schmalem Pfad oberhalb der bergwärts liegenden Hausgärten machten, zeigte Kieren uns mit berechtigtem Stolz die schönen Lagen: die große gewaltige Wand des Abtsberges hinter dem Heiligenhäuschen, darunter Josefshof, dann Lilienpfad, den vorzüglichen Hochstöck, Lay u.s.w. Zu Hause wurde das

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ganze, was vordem theoretisch erörtert worden war, praktisch an den 15 prächtigen Fudern durchprobiert. Da gab es die schweren, auf starken Böden gewachsenen und vollen Graacher Weine, die auf dem Faß sich zumal mit ihrer Blume noch recht zurückhaltend verhalten, deren gehaltvoller Weinkörper aber eine besonders breite und edle Entwicklung auf der Flasche verbürgt. Ganz anders wie die Bernkastler Weine, die schon jetzt ihr volles feuriges Temperament und ihren spritzigen Leichtsinn voller Geistreichigkeit zeigen, die Zunge schmeichelnd umprickeln, aber hinterher an stofflichem Gehalt ein wenig zu kurz sind. – Die „Frohe Welt“ versprach ein lustiges feines nicht allzu schweres Weinchen, während mehrere Fuder Domprobst miteinander um die Palme rangen, wer in Zukunft von ihnen den stärksten, wuchtigsten und saftigsten Edelwein abgeben würde. Daneben hielten sich prächtig die Weine aus dem Hochstöck mit ihrer feinen, an Honiggeschmack mahnenden Süße. Den tüchtigen, keine Kosten scheuenden Bau des alten Kieren (eines der ersten Winzer dort) verrieten mehrere Fuder mit einem leisen, zunächst nur dem Kenner verspürbaren, auf starke Mistung zurückgehenden Böxergeschmack. Behagt dem einen dieser Beigeschmack wenig, so findet der andere, zumal wenn der Wein erst völlig ausgebaut ist und der Böxer sich damit auch entsprechend verfeinert hat, gemach sein besonderes Gefallen daran. Leistner lehnte ihn ab, mir ist er nicht so ganz unsympathisch. (Das III. Lieserer Fuder daheim sei ein schwer zu behandelnder „Schwefelböxer“ (im Gegensatz zum Mistböxer!) Die Beurteilung der Fuder gegeneinander, wie Leistner sie machte, schien mit den Ansichten des alten Kieren zu stimmen, ich selbst war nur in 2 - 3 Fällen anderer Geschmacksmeinung. Vom Preise wurde wenig gesprochen, der Alte will 7000 M Durchschnittspreis (an 100000 M!). Der Posten ist für einen einzelnen Käufer zu groß. Versteigern gefällt dem Eigner wenig, weil er dann „nicht mehr Herr im eigenen Keller“ sei. Der war freilich so trocken und sauber aufgefegt wie die Wohnstube. Die Fässer lagen, von elektrischem Birnenlicht beschienen, sorgfältig in schnurgraden sauberen Reihen in dem verhältnismäßig kleinen Keller, zeigten statt der üblichen Kreideaufschriften, kleine ovale Blechschilder mit eingepreßten Nummern, alles war peinlichst aufgeräumt; kurz er war wohl zu verstehen, daß er nicht gerne fremde Leute in seinem eigenen Hof und Hausbering (?) haben mag, ganz abgesehen davon, daß ihm für den nächsten Herbst der Keller frei sein muß. Es war schon reichlich spät, als wir bei leicht verschleiertem Mondlicht unter anregendem Gespräch die Graacher Straße entlang nach Hause trabten. Mit wahrem Bärenhunger fiel ich übers Abendbrot her, schlief wie ein Murmeltier und träumte von herrlichen Weinernten und den schöngeschriebenen genau geführten Eintragungen des Vaters Kieren in sein Hausbuch. Darin hatte er alles genau verzeichnet, u.a. wie viel Bürden es seit 20 Jahren jeden Herbst

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aus jedem seiner trefflichen Wingerte gegeben hatte u.s.w. ... Ein sehr wertvolle und künftig hochinteressantes Buch!
25. März 1918. Gigantentage! Die größte Schlacht gewonnen und uns gleich einen unvergleichlich siegreichen Schlag gegen unseren stärksten Feind, den Engländer gebracht. Man schaudert vor Freude und Schrecken, liest man den gestrigen Tagesbericht (Seite 1 der Kölnischen Zeitung vom 25.3. ist eingefügt.) Eben wurde hier Sieg geschossen. Und mit dem 120 km Geschütz ists wirklich wahr und Paris wurde 8 Stunden damit beschossen. Welche Aussichten! Der stille Ort war hier in einiger Unruhe heute. Die gemusterten 18jährigen zogen mit Fahne und Gesang durch die Straßen. Die alte deutsche Stoßkraft zeigt im Westen ihre herrliche Blüte. Freilich, was kostet das Menschenleben, Gesundheit, Glieder, Qual und Tod! Ich komme mir ordentlich dumm dagegen vor, als ich heute früh wieder ein wenig kleinmütig war; denn glücklich nach ½ Jahr Ruhe warf ich unversehens wieder etwas Blut aus. Freilich sehr wenig. Ich ging trotzdem zum Gericht, bewegte mich mit Vorsicht und stand auch nachmittags zum Kaffee wieder auf, nachdem ich nach Tisch geruht hatte. Außer der Verbrennungsarbeit im Garten mag der mir sonst recht gut bekommene Weingenuß in letzter Zeit den Blutdruck unverhältnismäßig gesteigert haben. Bis jetzt kam noch nichts nach und hoffentlich bleibts so. Etwas Ruhe tut gut auch für die innere Besinnlichkeit. Ein Kriegsanleiheartikelchen konnte als erste Frucht davon gleich heute nachmittag noch abgehen. Nun, die 8te Kriegsanleihe wird unter dem Eindruck solcher Schläge schon tüchtig gezeichnet werden. – Gestern war ein prächtiger Sonnentag. Wir gingen vor Tisch zu Wincklers zu Hellmuts Konfirmation glückwünschen. Der Vater war noch eben zur Zeit angelangt, auf Güterzug gefahren und von Wengerohr zu Fuß marschiert. Er sieht schlecht aus, ist „abgekämpft“ und geht zur Ersatztruppe voll Bedauern, die große Schlacht nicht mitzumachen. Auf ihr Drängen kamen wir abends zum Essen hin und aßen und tranken vorzüglich. Vorher hatten wir bei Paul Th. noch 2 wundervolle 17er ausgiebig probiert. Um Mitternacht flogen etliche Flieger hier herüber, von denen wir nichts merkten. Heute ist es rauher geworden. Hoffentlich kann ich mit etlichen Tagen scharfer Ruh mich wieder in Reih und Glied bringen. Samstag abend war ich mit Leistner bis etwa ½ 12 in der Wirtschaft Geis, jetzt wirklich Weinstube, wo die Gäste noch einen hübschen 15er zu dem ganz märchenhaften Preis von 3 M (nur an Stammgäste) trinken. Die Unterhaltung war sehr angeregt.

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Charfreitag, 29. März 1918. Mit einer Spannung wie fast in den Augusttagen 1914 erwarten wir jetzt von Post zu Post jede Zeitung und jede Depesche. Die Frage ist, bleiben Engländer und Franzosen zusammen oder werden sie auseinandergerissen? Jedenfalls ist die Niederlage der Engländer groß und man muß Achtung vor ihnen haben, wie sie mit Entschlossenheit die Zähne zusammenbeißen. Im Felde scheint freilich ihre Führung stark versagt zu haben. – Der Frost hat leider den Blüten zugesetzt. Aprikosen giebts wohl keine, hoffentlich noch Pfirsiche. Heute rieselt ein feiner Staubregen vom grauen Himmel und die Charfreitagsstimmung fehlt nicht. Mariannchen setzte alles durch Verschlucken eines 2 Pf.stückes in Aufregung. Sie selbst spürt nichts mehr davon, nachdem sie es glücklich durch den Schlund gewürgt. Abends ist mit ihr jetzt seit etlichen Tagen ein großes Schauspiel mit viel Wehgetöse, da eine Wurmkur nach Onkel Jan’s (Rech, Johannes) Angaben jetzt mit Ernst und Wucht betrieben wird. – Zum großen Sieg hatte das Städtchen, freilich mäßig genug geflaggt und selbst etliche Böllerschüsse krachten los, so daß unsere treffliche Marie – „wir sind neutral“ ist ihr Wort, da sie Holländerin ist, im übrigen hat sie eifrigen Briefwechsel mit Feldgrauen, kennt alle Soldatenlieder und hat großen Respekt vor den Fliegern von ihrer Heimat Trier her – ganz verstört hereinstürzt und meint, die Fliegerbomben krachten nieder. Neulich hat man 6 Bomben auf Cöln und selbst in Bonn abgeworfen. Es kam keiner zu Schaden. Mit meiner Lunge scheints Montag nur ein warnender Schreckschuß gewesen zu sein. Trotz genauer Beobachtung konnte weiter nichts mehr festgestellt werden. Gestern abend holten wir uns im Schutz der Dunkelheit das von Vater ... geräucherte Rindfleisch. Es ist recht gut und zart geraten und dient als Schinkenersatz. Zugleich fiel noch etliches an Nudeln und Suppenzeug ab, so daß fürs erste mal wieder gesorgt ist. Rfdr. Weinz hat jetzt jene Kreisverteilungssachen unter sich und löst den Baumeister Koch anscheinend ab. Er wird allmählich dahin zu belehren sein, daß für Schwund beim Abwiegen, Verteilen und Lagern ect. auch etwas berechnet werden muß. Denn bis aufs letzte Gramm läßt sich alles genau nur auf dem Papier verteilen. Die Praxis sieht immer noch ein wenig anders aus. – Ich hatte bisher nie rechte Lust, die genaueren Karten der Westfront zu studieren. Jetzt, wo die Riesenschlacht dort begonnen und in aller Welt jeder Deutschfühlende an nichts anderes als die Westfront denkt, ist das gründlich anders. Die Tage Stubenarrest geben Zeit und Gelegenheit. Aus Frau Liells altem Andree (?) holte ich mir die französische Karte heraus, der große Plan von Nordfrankreich wird eifrig mit dem Glase abgesucht und bis jetzt habe ich alle in den großen Tagesberichten genannten Orte finden können. Dazu tritt der Zirkel, zumal für die Fernwirkungen unserer neuen Märchengeschütze eifrig in Tätigkeit und Buchhalter Velten, der mir die

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Fürsorgesachen mittags zur Unterschrift bringt, meinte gestern, ob ich Hindenburg Konkurrenz machen wollte. Daß heute morgen mit der 2. Post auch die Zeitungen von gestern ausbleiben, ist mir fatal, obwohl ich sonst gar nicht nervös und begierig aufs Neueste bin. Vorgestern abend hieß es, „langsames Vorrücken in Gefechten beiderseits der Somme“. Was mag der gestrige Tagesbericht bringen?
Ostersonntag, 31. März 1918. Dem trüben, rauhen und stürmischen Wetter draußen entspricht einigermaßen unsere ernste und etwas getrübte Stimmung. Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) liegt, durch mancherlei Aufregungen zumal auch über das recht trostlose Leiden ihrer Schwester Henriette (Neitzer, Henriette) in Krefeld zu Bonn mit arg geschwächtem Herzen äußerst matt darnieder und kann nicht mehr zu Kräften kommen. Donnerstag nachmittag hatte Willi (Reitmeister, Willi) mit Papa (Reitmeister, Peter) die bei dessen verbohrtem Eigensinn und seiner heimliche Angst gegen alles Fremde unvermeidlichen heftigen Auseinandersetzungen wegen Zuziehung eines von Mama sehr gewünschten Arztes und dieser stellte dann geringes Fieber und starke Schwäche fest. Papa und Will schrieben darüber fast übereinstimmend. Natürlich ist Helene darüber sehr bewegt und erregt. Doch ist keinerlei Möglichkeit, helfend einzugreifen. Gegen das einzig Vernünftige, eine alsbaldige Kur in Kurort oder Anstalt, wird Papa sich ja mit äußerster Erbitterung zu wehren wissen, bis die Sache mal ein böses Ende nimmt. – Täglich haben unsere Truppen weitere Erfolge. Hinter Mondidier scheint jetzt der verzweifelte Widerstand der Franzosen zu beginnen. Vor Amiens dürften wir in höchstens 20 km Entfernung stehen. Das Schlachtfeld muß entsetzlich aussehen, die englische Führung scheint zu hapern. Jetzt sind 70000 Gefangene und 1100 Geschütze gemeldet. Die berühmte Armee Foch scheint Paris decken zu sollen. Ist sie erst irgendwo hin„manövriert“, wo wir sie haben wollen, so wird wohl ein neuer Schlag von uns einsetzen, in Flandern? oder Lothringen? oder Venetien? – Es soll schon derartiges im Gange sein. Der März 1918 mit dem Frieden im Osten und der großen Siegesmorgenröte im Westen wird wohl weltgeschichtliche Bedeutung behalten. – Die Kinder aber haben die größte Sorge um den Osterhasen, der bei der Nässe draußen vermutlich in seiner wichtigsten Beschäftigung  arge Störungen erleiden wird. Herta geht die Krankheit der Großmutter sehr nahe und sie betet von sich aus abends für sie. Mit ihr verbindet sie seltsamerweise ein stetes Band des Verständnisses und der Liebe. Sie fängt auch an, ihr körperlich ähnlich zu werden. Heinz (Reitmeister, Heinz)  schrieb an Herta einen Brief, den sie zwar sehr gekritzelt findet, aber sorgfältig aufhebt. – Der tüchtige Herges - Brösch schleuderte gestern nachmittag den ganzen Inhalt der kleinen Grube im Garten – recht scharfe - dicklich - fette Jauche – auf die künftigen Gemüsefelder und nächtlicher Regen sorgt für baldiges Eindringen und Zersetzen in der Erdkrume. Bienchen, blühende Bäume und Menschen aber sehnen sich nach baldiger Sonne. Anscheinend ist im Sommegebiet besseres Wetter, wenigstens wollen die Engländer u. a. auch diesem z. T. unsere Fortschritte dort zuschreiben. In den Tagen, in denen jetzt die Zeitungen ausbleiben, können sich große Dinge abspielen.

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[Vor 8 Tagen muß abends in der Doktorweinstube hier eine außergewöhnlich große Besauftheit bei stärkster Besetzung (auch mit Damen!) geherrscht haben. Hugo Th. hat angeblich auf den Knien liegend der dicken Marta Wehr einen Verlobungsantrag gemacht. Das wird seine Frau in Stuttgart alsbald erfahren und zu neuen Forderungen auszunutzen verstehen.]
So, 14.4.18. Die Ereignisse in letzter Woche überstürzen sich. Erst der Vorstoß gegen die Franzosen auf dem linke Flügel der großen Schlacht und jetzt der Einbruch in die englischen Stellungen auf dem rechten Flügel. Dazu scharfe U-boottätigkeit. Ein unvergleichlich herrliches Frühlingswetter mit prächtiger Baumblüte. Mittwoch beerdigte ich Leistners Schwiegermutter mit in Dusemond, mittags in schönster Frühlingssonne. Von Papa und Willi kommen fortgesetzt aufgeregte Briefe über Mamas bösen bzw. guten Gesundheitszustand, Streit wegen ärztlicher Behandlung u.s.w. Helene ist so ziemlich erledigt, ständig erregt und ganz ab. Ich werde daher Dienstag fahren und Mariannchen mitnehmen. Selbstredend gehe ich zu meiner Mutter, werde zusehen, was zu tun ist und mich durch nichts beirren lassen. Helene ist z. Zt. zu dergleichen gar nicht im stande.
1. Mai 1918. Im Westen geht es in Flandern und Nordfrankreich schrittweise mit unerbittlicher Wucht vorwärts. Es kann wohl nur eine Frage der Zeit sein, daß die Engländer und Franzosen auseinandergerissen und erstere ins Meer gedrängt werden. Es muß stellenweise fürchterlich und über alle bisherigen Maße verlustreich dort zugehen. Unsere Leute leisten augenscheinlich Übermenschliches und ist es wohl keine Phrase, wenn mancher nach Hause schreibt, seine Angehörigen sollten nicht trauern, wenn sie hörten er sei gefallen, sondern sich freuen, daß er diese unerhörten Anstrengungen nicht weiter mitzumachen brauche. Die Zeitungen wollen einem nie so voll von Todesanzeigen gefallener Krieger geschienen haben. Jedermann erörtert die Frage, was geschieht, wenn wir die Engländer von diesem Kriegsschauplatz vertrieben und entgültig geschlagen haben werden? Der Krieg geht weiter, vermutlich noch jahrelang, lautet die Antwort der Einsichtigen. – Zudem führen wir in Finnland wie in der Ukraine regelrechten Krieg. Dort wird es schließlich noch bis zu einem Vordringen bis zur neuesten Republikgründung an der Murmanküste und dort zum Zusammenstoß mit Engländern und Franzosen kommen, hier werden wir die Süd- und Kleinrussen zur Arbeit wieder erziehen müssen, damit es wenigstens 1919 eine regelrechte Ernte und damit gewaltigen Überschuß für uns giebt. Litauen, Liv- und Estland scheinen sich uns langsam anzugliedern, in Belgien sind kaiserliche Gerichte jetzt eingerichtet, seitdem die belgischen Collegen angeblich streikten. Vielleicht hat die Erfindung der neuesten Ferngeschütze den Plan der entgültigen zum mindesten militärischen Besetzung von Flandern und Wallonien, wie es jetzt wieder heißt, selbstverständlich gemacht. Inzwischen hatten wir im Westen große Erfolge, desgleichen eine glänzende VIII. Kriegsanleihe, zu der ich selbst auch 2500 aus eigenen Mitteln zeichnen

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konnte. Gestern vor 8 Tagen kehrte ich von einem einwöchigen Aufenthalt mit Mariannchen in Bonn bei meiner Mutter zurück und gestern reiste Helene mit Herta für 8 Tage dorthin. Die ernstliche Erkrankung von Mutter Reitmeister (Rückfall von Ruhr nach vorausgegangener Influenza mit Lungenaffektion, und großer Herzschwäche ect.) gab eine traurige Veranlassung dazu. Leider verschlechterte das neblich-kalte nasse Wetter meine schmerzhafte Halserkältung, so daß ich in keinem besonderen Zustand heimkehrte. Trotzdem konnte ich in Bonn alles Vorgenommene gut durchführen, nahm auch in Cöln mit Personal- und Baudezernent OLGRat Kuttenkeuler wegen Aussichten über Ankauf und Verkauf von Amtsgerichtsgebäude – evtl. stände für uns nach Wincklers Verzicht Dienstwohnung in Aussicht – Fühlung, so daß er schon Mitte voriger Woche sich hier einfand und alles, insbesondere den Leutzgenschen Kasten besichtigte, der z. Zt. vom Raiffeisenverband zu haben ist. Leider scheinen sich neuerdings die Aussichten, das Gerichtsgebäude dem Kreis anzuhängen, wieder stark zu verflüchtigen; immerhin suche ich den wackeren Zach. Bergweiler dafür zu gewinnen, werde ihn nächstens heimsuchen und dann namentlich seinen Brauneberger über die Schnur loben. – Auf der Rückreise von Cöln, wo ich Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich), auch Tante Maria heimsuchte, machte ich bei Sturm und Regen, – der Schirm erlitt dabei ernstliche Havarie, – einen Hamsterflankenstoß nach B-dorf, der zur glücklichen Hebung meines dortigen Erbsen-Depots von 15 K führte. Ein wahrer Schatz in heutigen Zeiten, zumal bei ihrer ganz vortrefflichen Güte! Heute empfiehlt mir rauhes Wetter trotz Maibeginn etwas Stubenarrest, um die Halserkältung loszuwerden. – Freund Bruhns, dessen Eltern gottlob unbeschädigt aus dem tumultuarischen Übergang ihre estnischen Heimat an uns hervorgegangen sind, sandte heute nette Bildchen seines Töchterchens Gerda. Es gleicht der Mutter. –
Meine Mutter (Rech, Anna Maria), bei der ich mit Marianne eine Woche in Bonn wohnte, fand ich recht gut, die Schwiegermutter dagegen recht schwach; doch tat auch ihr unsere und des Kindes Gegenwart dort augenscheinlich gut. Mariannchen, seit 2½ Jahren nicht in Bonn, sehnte sich schließlich heftig nach hier zurück und hatte nicht die geringste Lust, gestern mit Herta die Mutter zu begleiten. Diese aber fuhr mit größter Freude zu ihrem geliebten Bonn und vor allem ihrer, ihr so nahestehenden Großmutter Reitmeister. – Morgen geht die Rehbockjagd auf und jeder hofft bei der derzeitig sehr knappen Fleischversorgung auf einen Braten. – Mit Holland stehen wir zur Zeit auf recht gespanntem Fuß. Augenscheinlich machen auch wir an diese biederen Stammesgenossen, die uns als „duitse Moffen“ nun gar nicht recht leiden mögen, recht kräftige Anforderungen: Rheinschiffahrtsfragen, Wagengestellung, Lebensmittel – ob nicht auch bezüglich Maastricht und der Scheldemündung? Die Engländer machten jüngst einen höchst kühnen Angriff auf Seebrügge, anscheinend ohne großen Erfolg. Bölkes großer Nachfolger, Rittmeister Frh. v. Richthofen fiel nach dem 80. Luftsieg; nach dem Eindruck des ersten Berichtes aufgrund Angabe deutscher Flieger

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hatte jedermann den Eindruck, er sei von Australiern abgemurkst worden, nachdem er gelandet war. Diese Meinung bleibt trotz aller öffentlicher Widerrufe an der Front fester Glaubenssatz. – Sonntag soll hier eine kleine, geschlossenen politische Versammlung alldeutschen Charakters sein, zu der ich eine Aufforderung erhielt. Ich gehe wahrscheinlich hin.
28. Mai 1918. Heute sind es schon 8 Tage her, daß wir unsere herzensgute unvergeßliche Mutter Reitmeister in Bonn auf dem nach Buschdorf zu gelegenen Nordfriedhof zur letzten Ruhe brachten. Es waren traurige, ernste aber keineswegs stille Pfingsten für uns und obschon wir seit Freitag voriger Woche bereits hier wieder in Ruhe sind, so fühle ich mich noch recht erschöpft. Helene, die nahezu einen Monat seit Ende April in Bonn gewesen und dort den gesamten schwachen körperlichen Erfolg ihrer vorigjährigen Erholung restlos daran gesetzt hat, kann jetzt wenigstens wieder fest und lange schlafen. Um gleich mit dem Ende zu beginnen: Ich hatte es gegen allerlei Gegenströmungen auch bei Helene glücklich durchgesetzt, daß wir Freitagnachmittag heim fuhren. Gleich mußten wir hier Herta eines verschleppten Darmkatarrhs wegen ins Bett stecken, der Arzt verordnete Diät und Sonntag morgen bekam infolge leichtsinnigen Hergebens von Obstsaft durchs Fräulein Ida das Kind einen schmerzhaften Kolikanfall, was einige Aufregung verursachte.
Von Frl. Schönberg und Frau Emmy Thanisch wurde ich sofort wegen des angeblich dicht bevorstehenden Ablebens von Rechtsanwalt Schönberg in Anspruch genommen. Kaum, daß ich mittags etwas Ruhe fand. Schönberg ist Mittwoch nach mehrtägigen Pfingstferien nachts an 8 m tief von der Wehlener Brücke gestürzt und liegen geblieben, bis ihn morgens Wingertsarbeiter fanden. Jetzt liegt er an einer schlimmen Lungenentzündung, deren schlimmste Gefahr jedoch beseitigt erscheint. Über sein Begräbnis wurden schon eifrig Erwägungen angestellt, auch Pastor Mombauer aus Piesport schon in Bewegung gesetzt, doch er selbst glaubte ans Leben und verlangte nach seiner langen Pfeife. – Alles wächst und grünt wie toll und die Gartenarbeit scheint sich zu lohnen; auch daß ich diesmal den Wolf’schen Garten pachtete; denn er hat überreiche Früchte angesetzt. Ein Artikelchen über Moselmai und Bernkastler Weinversteigerung brachte endlich mal wieder die Kölnische nach langer Pause wegen Papiernot. An Sieburgs Stelle ist ein mit mir im gleichen Dienstalter stehender aus Reydt gebürtiger Assessor Heincke gekommen, kinderloser Ehemann, evangelisch. –
Nun zurück zu unserem großen Verlust: Helene schrieb mir einen Eilbrief, den ich Donnerstag mittag erhielt; obschon ich ihn längst erwartet hatte, erfüllte mich sein Inhalt doch mit einer dumpfen Leere. Ich ließ durch Frl. Ida meine Sachen zusammenpacken und ging nachmittags zur Weinversteigerung, wo Anton Thanisch’s für

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über 618000 M 17er versteigerten. Vom vielen Probieren und der inneren Aufregung hatte ich abends betäubende Kopfschmerzen, fuhr Freitags nach Bonn. Dort traf ich Helene in Willis heißem Zimmer recht elend im Bett, und quartierte sie mal vorab gleich mit mir bei meiner Mutter ein. Das bewährte sich sehr, indem sie nachts und mittags Ruhe hatte und Papa sich ans Alleinsein gewöhnen mußte. Samstag morgen sah ich Mama das letzte Mal; sie lag in schwerer Lethargie mit letalem Ausdruck, die Feinheit des Gesichts zeigte sich deutlich in den vereinfachten todesblassen Zügen. Es war für mich sehr erschütternd. Papa konnte sie selbst im Sterben nicht in Ruhe lassen und versuchte ihr fortwährend alles Mögliche einzuflößen. Nachts schellte er uns heraus – ich hatte ihn auf dem Heimweg vom Krankenhaus, wo ich einen Flieger im Mittagssonnenglanz beobachtete – in Cöln war ein großer Angriff gewesen, bei dem angeblich Hunderte tot blieben – recht unverblümt meine Meinung darüber gesagt, daß Mamas Zusammenbruch die naturnotwendige Folge ihrer jahrelangen Überbürdung und des gänzlichen Mangels jeglicher Ausspannung sei – Nachts also schellte er uns heraus, Mama hatte kurz vor Mitternacht ausgelitten und wir saßen in warmer Sommernacht über eine Stunde bei meiner Mutter zusammen und besprachen alles Nötige. Die Pfingsttage brachten tolle Laufereien, aber trotz alledem ging alles glatt. Ich besorgte so ziemlich alles. Nun ist Papa in Hersel und hat Muße darüber zu philosophieren, wie er sich und Mama das Leben hätte bequemer einrichten können. Wie es stets zu gehen pflegt: Solange Mama lebte, war es unser sehnlicher Wunsch, nach Rheinbach zu kommen. Kaum ist sie tot, so wird dort durch Meller’s Ableben eine Richterstelle frei. Ich werde mich erst eingehend nach den Wohnungsmöglichkeiten erkundigen, ehe ich mich dorthin melde. Vielleicht, daß es jetzt nicht schwer fiele, dorthin zukommen.
Die vergangene Woche war ein solcher Hitzevorstoß, daß alles vorschnell schoß, kein Salatkopf läßt sich mehr bändigen. – Bei Gericht erzählte ein Trierer Anwalt heute morgen, unser großer Angriff habe begonnen. Die Kronprinzenarmee habe den vielumstrittenen Damenweg genommen. Das wird wieder bittere Verluste kosten. In Bonn saß ich die Tage über 2 x im Keller wegen Fliegeralarm. Die Engländer scheinen neuerdings die Friedensflöte blasen zu wollen.

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Bonn, 6.6.1918. Die Fahrt war bei strahlender Sonne nach kühler Nacht ganz erquicklich schön. Allenthalben sah man die Leute schon beim Heu beschäftigt und ich fürchte, es wird mit unserer Hauptbienentracht nichts Rechtes werden. In Wengerohr unterhielt ich mich mit dem Post-Scholz sehr angenehm und fuhr von dort, zunächst allein in einem ganz verdatterten alten Wagen aus Kattowitz, der schon bessere Zeit erlebt zu haben schien. Es fuhr sich aber trotzdem ganz gemütlich und trotz ziemlicher Verspätung gelang in Coblenz der Anschluß, obschon ich schon mit dem nächsten Nachmittagszug gerechnet hatte. In Sinzig verzehrte ich am Bahnhof zu einem Fläschchen Limonade mein Mittagsbrot und bummelte ins Nest. Ein leichter Regen dauerte nur allzu kurz. Ich entdeckte das wahrhaft fürstliche neue Amtsgericht, in dem auch das Katasteramt ist. Es hat über 77 Räume! und es wäre wohl reichlich Platz für eine bequeme Dienstwohnung darin. Eine solche scheint übrigens vorgesehen, denn nebenan gehört noch ein freiliegender Bauplatz mit dazu. Sinzig hat vielleicht noch eine Entwicklung vor sich. Durch die Einmündung der Bahn über die neue Rheinbrücke dort, soll auch die Einmündung der Ahrtalbahn in die Rheinstrecke nach dort verlegt werden. Die Straßen waren menschenleer und erst allmählich gabelte ich jemanden auf, der mir mit Hülfe einer allerdings sehenswerten uralten gewaltigen Linde die Wohnung des Steuerinspektors Scherer zeigte. Dort war man schon auf meinen Empfang gerüstet, ein allerliebster kleiner Junge öffnete mir, die Türe stand schon offen, die gute Stube und hieß mich setzen. Bald erschien der Alte, im Wesen seinem jüngeren Bruder sehr ähnlich. Er hatte noch junge Frau und 2 Söhne, der jüngste auf Sexta. Alsbald gingen wir zum Bienenstand, er hatte 20 Völker und das in einem 2 Morgen großen Garten, der sich zwischen Eisenbahn – über diese steht gegenüber die Wandplattenfabrik – bis zur Chaussee ausdehnt und z. T.  mit dem Pflug beackert wird. Scherer hatte sich zeitig zur Ruhe gesetzt und trotzdem mehr zu tun wie früher. Mit den Gerichtscollegen steht er auf freundschaftlichstem Fuß. Seit 86 dort ansässig erbaute er sich 1892 sein schönes geräumiges Haus. Wir besprachen Wohnungsverhältnisse. Sein Garten liegt unvergleichlich: nach Süden, Osten und Norden freien Blick über das weite Rheintal mit prachtvoll abgestuften Bergterrassen ringsum. Obst und Gemüse die Hülle und Fülle. Fruchtbarer rheinischer Lehmboden. Nachdem ich seine Frau, eine liebenswürdige frische 40-50erin kennen gelernt und diese die bestimmte Einladung zum Kaffee wiederholt hatte, marschierten wir durchs Nest und besahen so ziemlich alle in Betracht kommenden Wohnungen. Dann zum Amtsgericht, wo ich den prächtigen hinkenden Geheimrat Gerber, einen echten Rheinländer, kennen lernte und zu AGR Dr. Geyer, der im Hauptfach Gärtner und Landwirt und uns in seiner Wohnung gleich am Bahnhof genau im grünen Strolchkostüm empfing, wie ich es nachmittags trage. Dann solenner Kaffee, Vater Scherer hatte morgen 65. Geburtstag und feierte ihn heute schon. Notizen über Wohnungen. Begleitung bis zum Bahnhof und Abschiedwinken bis auf Verschwinden. Eine Aufnahme, wie sie allerseits nicht herzlicher gedacht werden könnte! Mit wertvollen Winken und Fingerzeigen bedacht.

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Hersel, 8.6.1918. Liebe Helene,
gestern lag eine strahlende Morgensonne über Stadt und Land, als ich schon ¼ vor 8 nach reichlichem Frühstück bei Mama nach Rheinbach hinaus dampfte. Lebhaft erinnerte – eben schnarrte ein Doppeldecker dicht über die Inselbäume mit Getöse vorbei – ich mich meiner vielfachen Märsche als Knabe nach Alfter; später kamen dann die uns so gut bekannten schönen Straßen bei Duisdorf, Witterschlick u.s.w., wo wir unsere prächtigen Radfahrtouren machten. Das waren doch schöne Zeiten und ich hoffe, wir erleben sie wieder. Allenthalben stehen die Feldfrüchte herrlich. Die Fahrt nach Rheinbach verging mir im Fluge. ½ 9 war ich schon dort und lief mit 2 Schritten vom Bahnhof gleich in das Haus des Kreisarzt Kessel. Von dem jungen, leider in seiner Gesundheit doch wohl arg geknickten Studenten, der noch beim Frühstück saß, ebenso von seiner bald von draußen herzukommenden Mutter aufs herzlichste begrüßt und zum Frühstück eingeladen – sie hatten Butter, Käse, Wurst – ich lehnte ab, da ich genug daheim gehabt, waren wir bald in angeregtem Gespräch über Rheinbacher Verhältnisse. Die anscheinend sehr ruhige ehrgeizige Frau hofft jetzt ihren Mann nach Coblenz natürlich mit Hülfe des Herrn v. Groote zu dirigieren, vorigen Herbst wollte sie noch, soweit ich mich erinnere, nach Cöln. Sie hat eine Schwester und einen Bruder in Rheinbach, AGR Simon. Papa erinnert sich der Simons als einer reichen Familie, die mit allem dort handelte, wie die Fischers in Euskirchen. Ihr Haus zeigte sie mir von oben bis unten, sehr luftig, sehr geräumig und sonnig, aber wohl zu üppig für uns. Großer, doch sehr verzettelter Garten ohne Tiefe und ohne Form. Sie gab mir allerlei an; der Sohn, der schlecht Atem hatte und mir vorher seine Bestrahlungsanlage gezeigt hatte, die bei 120 V Spannung Wechselstrom gut funktioniert, es liegt anscheinend nur am Widerstand, den ich mir genau abzeichnete – ging einige Schritte mit. Ich besuchte Geheimrat Hölzel auf dem Amtsgericht, erhielt wertvolle Aufschlüsse, besah mir noch etliche Häuser und war gegen 12 wieder bei Kessels, wo es ein treffliches Servelatbutterbrot mit Glas Milch gab. Dazu Onkel Simon, der mich zur Bahn begleitete. 2 Uhr aß ich schon wieder bei Mama, schlief nach Tisch und verzehrte mit ihr zum Kaffee deine letzten Fleischbutterbrote und 1 Ei, das ich noch in der Tasche hatte. Leider vergaß ich, ihr Butter mitzubringen. Emma (Rech, Emma) sprach ich kurz; sie meinte, ich hätte mich mit Josef (Rech, Josef) verabredet. Er kommt in den nächsten Tagen. Nach Hause zurück, war Papa schon dort und bald kam auch Willi (Reitmeister, Willi), der etwas weniger gut aussah als damals. Er hatte sich Schuh- und Sohlleder und Hemd aus Militär Depot geholt. Hierüber später mehr. Auch brachte ein Junge 20 prächtige fette Heringe, von denen 10 Mama zu 4 M(?) übernahm. Das Mädchen nahm sie gleich aus und legte sie sachgemäß ein. 10 nahm Papa mit. Wir verabredeten uns auf Sonntag und Willi begleitete mich zur Bahn. Hier, wo es inzwischen trüb und die Luft ganz unsichtig geworden ist, schlief ich mich mal gründlich aus.
Papa ist doch etwas schlapp, bei aller körperlicher Rüstigkeit. Er liest nicht mal die Zeitungen mehr ganz aus. Wir vertragen uns aufs beste. Die Testamentabschrift las er gestern abend, wo wir noch bis ½ 11 zusammensaßen, mit großem Interesse.
Nun hoffe ich, die Post bringt gleich Nachricht von Dir. Ich gebe ihr diesen Brief mit mit den innigsten Wünschen für Dein und der Kinder Wohlergehen.
  Mit herzlichen Grüßen und innigem Kuß Dein
         Matthias.

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28. Juni 1918. Von einer 8tägigen Reise nach Hause, Sinzig, Rheinbach und Cöln mußte ich fast 8 Tage lang hier mich ausruhen und viel Schlaf nachholen, um einigermaßen wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Herta hat unterdessen ihren langen Darmkatarrh langsam verloren, hält aber noch Diät und vermeidet im Garten mit bewundernswerter Ausdauer alle Kirschen, Erdbeeren, Johannistrauben. Mariannchen ist um so eifriger dabei, wenn diese gepflückt werden, was jetzt oft geschieht. Denn jetzt, wo wir erstmals den Garten fest und schriftlich auf 1 Jahr vn Dr. Wolf gepachtet haben, hängt er voller Früchte. 2maliges Schleudern brachte 75 Pfd. Honig. In Bonn traf ich Bruder Josef (Rech, Josef), den ich lange schon nicht mehr gesehen und war mit ihm und Mutter auch einen Nachmittag in Olsdorf. Die beiden älteren Kinder sind arge Krüppel, die jüngeren stattliche schöne Mädchen, von denen das Jüngste ganz unserem Großvater gleicht. Tags danach wurde die Mutter an Strafkammer in Bonn wegen Höchstpreisüberschreitung beim Obstverkauf im vorigen Herbst zu fast 4000 M Geldstrafe verurteilt. – Ohm  (Bruder von Konrad Hubert Rech?) hatte ein schlimm geschwollenes Bein gehabt. Jetzt aber gings ihm nach Heißluftkur bedeutend besser. In Hersel kommt Papa wieder ziemlich zu sich. Hier (in Bernkastel)  wurde ich nach meiner Rückkehr gleich für RA Schönberg heftig in Anspruch genommen, der Pfingstmittwoch 8 m hoch von der Wehlener Moselbrücke nachts herabgestürzt war und an Lungenentzündung ect. in schwerer Krise lag. Die kirchliche Beerdigung ect. wurde ausführlich erörtert, auch Mumbauer aus Piesport bemüht, doch blieb er fest als Ketzer. Heute gehts ihm wieder gut und er schleicht sich schon wieder ins Casino. Gestern war Amtsbruder Reinecke auf 1 Tag Urlaub hier, trank nachmittags Thee bei uns, besuchte mit uns seine Möbel im Hauth’schen Keller und bei Frau Kreisarzt Dr. Knoll und deren Vater Major Gohlke. Eine gute Flasche Wein dort half gegen das wüste naß-kalte Windestoben draußen. Reinecke war uns dann zum Abendessen ein lieber Gast und später tranken wir unter anregenden Gesprächen noch etliche feine Flaschen bei Leistner, unserem Hauseigner. Heute in der Frühe ist Reinecke, der das EK. I hatte und kürzlich bei dem Vorstoß bei Noyen war, wieder auf Metz zurück. Papa schreibt, daß Bruder Josef 8 Tage vor Urlaubsende telegrafisch zurückberufen wurde. Es scheint allerhand Neues, vermutlich der 4. große Abschnitt unserer Westoffensive bevorzustehen. In Italien sind Österreich, das plötzlich mal wieder dringendste Versorgungsschwierigkeiten hatte und von uns ausgeholfen bekam, und Italien anscheinend gegeneinander beiderseits mit Offensive losgegangen. Man wird nicht recht klug aus dem Ganzen. Immerhin sind die Österreicher etwas über den Piave gekommen und meldeten 40000 Gefangene. – Nach langer Hitze ist jetzt nasses, aber leider auch recht kaltes Wetter, nachts nur 8 - 9° C., wobei es nicht recht wachsen will. Die Weinblüte kommt nicht voran, im Herbst wirds Ausfälle geben und die Weinpreise werden ins Ungemessene steigen. Leider scheint es auch mit unserer Brotfruchternte schlimm auszusehen, hoffentlich giebts wenigstens genug Kartoffeln. Das Sommergetreide will gar nicht vorwärts. Winterraps wird bereits geerntet. Heuernte ist herein. Gestern morgen

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paarten wir unsere graue Silberhäsin mit Scherers prächtigem blauen Wiener Rammler. Nach Rückkehr aus unser bis auf Anfang August berechneten Ferienreise nach Oberhessen, wird sie Junge setzen. Aus dem vorigen Satz sind unter 6 Stück 5 Rammler und 1 Häsin. – Stadtbürgermeister Simonis ist gestern fast einstimmig auf weitere 12 Jahre hier wiedergewählt worden, woran sich eine tüchtige Zecherei im Rathaus bis tief in die Nacht hinein anschloß.
3. Juli 1917 (muß 1918 heißen). Einige Tage voll stiller innerer Aufregung und Unruhe liegen hinter mir und noch ist sie keineswegs beseitigt. Am 1. erhielt ich prompt an handgroßem Zettel aus dem Justiz-Ministerium die vom JM Spahn selbst unterzeichnete Mitteilung, daß ich auf meinen Antrag nach Rheinbach zum 1. September versetzt sei. Helene, z. Zt. bei Papa in Hersel zu Besuch, streifte mit ihm in Rheinbach alles an Wohnungen ab, und eben kommt von ihr die betrübliche Karte: Ergebnis = nichts. Vorab sitzen wir hier noch warm und auf Kriegseinquartierung in Bonn u.s.w. lasse ich mich nicht ein. Läßt sich an Wohnung rein gar nichts dort finden, so bleibe ich hier und versuche mit allen Mitteln, die Versetzung gleichwohl aufrecht zu erhalten. Wie, das wird sich finden. Gern gehen wir ohnehin nicht von hier weg und ich habe es daher auch bisher nur einigen wenigen mitgeteilt. Unserem Hauswirt Leistner tut es besonders leid, wiewohl er sein Haus in dieser Weise frei bekommt (?).
Sonntag 24. August 1918. Ich sitze vorige Woche bei Schönberg, es klopft und herein tritt eine schlanke hohe Figur, das glattrasierte Gesicht mit ausgeprägter Nase und fein geschnittenem Profil mit ein paar tiefliegender klug und lebensfreudig funkelnder brauner Augen belebt und den Kopf von einer grauschwarzen Mähne üppigen Langhaares in großen Lockenlagen unweht. Den Leib umschließt ein hellblauer Schoßrock altertümlichen Schnittes, den breitkrämpigen schwarzen Filz hat er draußen abgelegt. Er folgt der freundlichen Aufforderung zum Sitzen, wehrt den Wein am Vormittag ab und als die Flasche guten 15er Ürziger in unseren Gläsern perlt, schlürft er schluckweise mit Zungenrollen und Kennerblick das köstliche Naß. Das war Professor Merckle, der berühmte katholische Kirchengeschichtler, Ordinarius in Würzburg (ehedem in Tübingen) der –seltsam zu berichten – von Irene Thanisch und vermutlich ihrem Vater vorgeschickt ist, um mit der Geistlichkeit hier in Fühlung zu treten und eine neue „Versöhnung“ zu versuchen. Er wohnt bei dem „Ketzer“ Mombauer in Piesport. Den Dechanten hat er bereits besucht, vom Bürgermeister hat ihn Schönberg mit kluger Hand abgelenkt und da Schönberg nicht ausgehen kann, so bekomme ich den guten übrigens recht angenehmen und prächtigen Professor für den Rest des Tages in Schutzhaft anvertraut, damit er keine Dummheiten macht. Mit Hugo, der herbeigerufen, hat er eine kurze Besprechung. Der ist recht mißtrauisch und hat sogar den richtigen, von uns aber damals noch als unzutreffend abgelehnten Gedanken, seine Frau sei im

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Anzuge. Tatsächlich ist sie mit ihrer Mutter seit 2 Tagen hier, wohnt bei Laues, da die Mutter Th., die vor Aufregung gleich einen Darmkatarrh bekam, sie mit Recht nicht empfangen will. Sie hat Hugo bereits gesprochen, nachdem dieser sich bei mir und Schönberg ausgiebig Rat für sein Verhalten geholt hat. Sein Bestreben, mit Zeugengegenwart eine Unterhaltung mit seiner Frau zu pflegen, mißglückte. Schönberg hat sich nach Morbach verdrückt und ich lehnte strikte ab. So berichtete er denn gestern morgen, als ich mit Paul und ihm vor Tisch im Casino bei drei rasch hintereinander ausgeschütteten Flaschen edlen Braunebergers erst eine Besprechung über die Beteiligung an einer Neugründung der Schmittgen’schen Brauerei gehabt hatte – Leistner betreibt diese wie mir scheinen will recht aussichtsreiche Sache und ich möchte mich auch gern mit einigen 10 Tausend und als „Jurist“ daran beteiligen – berichtete H. also, daß er mit seiner Frau allein eine Unterredung gehabt habe, bei der sie ihm wieder dicke Pflaumen gab, die einen Rückschluß auf starke querulatorische Wahnvorstellungen zulassen: Ihr „Rückenmarksleiden“ (wozu sie stets Branntwein benötigt – Geld, Wein, Branntwein ist die stete Parole) sei eine Folge von H’s Mißhandlung, ihr „Unterleibs-leiden“ eine Folge seiner „Geschlechtskrankheit“, sein Bonner Zeugnis sei erschlichen, indem ein anderer für ihn sich habe untersuchen lassen, er und seine Mutter würden demnächst schwören müssen, sie mache Bedingungen für künftiges Zusammenleben, verlange insbesondere vertragliche Festlegung eines ausreichenden Vermögens für sie u.s.w. – Die tüchtige Emmy geht derweil stramm ins Zeug. Auf einer Bemerkung der Frau „Posteuse“ fußend (sie verschulde das ganze Zerwürfnis) muß Paul erklären, er müsse vorgehen. Ich regte Hugo dazu an, die Briefe Irenes mit den tollen Behauptungen über seine Schwägerin dieser und seinem Bruder bekannt zu geben und sich darüber auszusprechen, was auch heute oder morgen geschehen soll. . . . Warum ich dies hier niederschreibe? Derlei lenkt einen heute ab von den großen schweren Sorgen der Zeit, die wieder wie eine graue Bleidecke trotz aller Hoffnungsfreude und Zuversicht alles zuzudecken drohen. Unser Vorstoß an der Westfront, den wir in der 2. Hälfte Juli in Alsfeld erlebten = ich war mit Helene und Herta 2 ½ Wochen dort, während Mariannchen mit ihrer Frl. Ida Menn in deren Heimat Helberhausen bei Hilchenbach war, wir trennten und vereinigten uns auf Hin- und Rückfahrt in Wetzlar, einem prächtigen schönen Städtchen, in dem es ordentlich nach – – Leder! roch = = begegnete einer gewaltigen Offensive unserer Gegner Franzosen, Engländer und Amerikaner, die eben noch in gewaltigster Form tobt und uns langsam zurückdrückt. Was Hindenburg machen wird, ist völlig dunkel. Optimisten wie ich hoffen auf eine Wiederholung der großen Ereignisse von 1915 in Polen, wo die Russen entscheidend geschlagen wurden, nachdem wir bis aufs äußerste zurückgegangen waren.

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Gebe Gott, daß dem so sei. Am 1. August fuhren wir heim, ich über Bonn, Rheinbach, Cöln, wo ich abends bei Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich) Otto Brügelmann (Brügelmann, Otto) mit seiner jungen Frau (v. Pustau) (Brügelmann, Asta) traf. Ich hatte ihn seit seinen Kleinjungenjahren nicht wiedergesehen und so sah ich einen hageren, gewandten und augenscheinlich mit zäher soldatischer Energie begabter Artillerie-Hauptmann einer bairischen Division, der sich bei dem ersten Hauptanprall der Gegner um die zähe Verteidigung des Rückzuges westlich von Reims große Verdienste erworben hat. Nach seinen Schilderungen waren unsere Divisionen zu dünn aufgefüllt und bedürften dringend der Zusammenlegung. Trotz seines forschen Wesens sprach er sich im ganzen recht pessimistisch aus: Die Kanalküste bekämen wir nicht, mit dem Ubootkrieg sei es nichts, die Alldeutschen solle der Kuckuck holen u.s.w. Alles das ist ja recht gut aus den überwältigenden Eindrücken an der Front zu verstehen, richtig ist es deswegen noch lange nicht. Vorab haben die Amerikaner anscheinend wie seiner Zeit die Engländer ihre besten Leute, nämlich ihre aktiven Soldaten im Feuer, sind die verbraucht, so kanns sich zu unserem Besten wenden. Auch Bruder Josef (Rech, Josef), um den wir in den ersten Alsfelder Tagen sehr bangten und der auch richtig am ersten Großkampftag (am 16. Juli) unserer großen Offensive zwischen Soissons und Tahüre mit seiner Pionier 1. mob. Landw. 8. A.K. im allerschwersten Feuer eine 12 m breite Bohlenstraße vermutlich für riesige Kampfwagen zu bauen nicht fertig bekam, 75 Tote in der Kompanie hatte und selbst durch ein Geschoß eines riesigen Schiffsgeschützes 30 m weit geschleudert, durch den neben ihm stehenden, völlig zerfetzten Adjudanten von dem sicheren Tod bewahrt und von seinen Leuten an den hervorstehenden Stiefeln erkannt, ferner herausgezogen wurde und sich im Lazarett mit Nervenchok und Weinkrämpfen wiederfand, auch er berichtete mir, welche gewandten und unerschrockenen Gegner die auf ihrem Abschnitt frisch eingesetzten Amerikaner seien und wie mutig sie sich, als Gefangene bei ihnen im dichtesten Feuer zum Bohlenschleppen benutzt, dort benommen hätten ohne jeden Versuch sich zu drücken, obschon es sehr schwere Verluste bei ihnen abgesetzt hätte. –– Nun braut sich auch im fernen Osten mit Japan etwas zusammen, ob es uns neue Belastung oder plötzliche Erleichterung bringen wird, wer kann es wissen. Auf den neuen Staatssekretär des auswärtigen Amt, v. Hintze, möchte man gern große Stücke setzen. Gottlob ist eine reiche Körnerernte so gut wie gesichert. Denn mit Brot waren wir am Rande äußerster Knappheit und wir leben seit Wochen nur von Frühdrusch. Dazu diesmal die erste fleischlose Woche. Natürlich haben wir heute mittag noch ein Stück Salzfleisch im Topf. Aber langsam wird es immer weniger werden. Jedoch „dä Preuß jitt net noh!“ und das ist recht so! –

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Nun zu Erfreulicherem: In dem oberhessischen Städtchen Alsfeld verlebten wir herrliche und richtig gehende Sommerferien. Die fleisch- und butterreiche Kost – vorzüglich von Frau Schweizer im Deutschen Haus selbst zubereitet – brachte uns ordentlich auf die Beine. Bei Herta zeigte sich die Wirkung am ehesten. Sie blühte ordentlich auf und bräunte sich an der Sonne. Zum Schlusse gabs hie und da Gewitterregen, der uns aber nicht hinderte, täglich 2 x auszugehen. Ich schrieb allerhand Artikelchen und versuchte, mit der Allgemeinen Norddeutschen Zeitung dieserhalb in Verbindung zu treten. Leider war es mit den Sachen unterm Strich nichts, dagegen brachte sie kürzlich einen recht scharfen Artikel über die Notlage der Beamten, den ich mir dort im krassen Gegensatz zu der Umgebung zurechtgebaut hatte. Geistig genoß ich eine ganz außerordentliche Erfrischung dort durch die witzige, leicht ironische, stets lebhaft bewegte, echt rheinländische Unterhaltung mit einem Prof. Dr. Knögel, Studienrat am Lessinggymnasium zu Frankfurt, der sich dort in der Feyerleinstraße ein Haus in Erbbaurecht auf 50 Jahre erbaut hatte. Ein ganz famoser alter Herr, Konabiturient von Clemens Gescher, den er seit Pennälerzeit nicht mehr gesehen und aus seiner Erinnerung nach seinem vornehmen und feinen Wesen ganz genau so schilderte, wie er heute noch ist. Er selbst stammte als Sohn des Gymnasialdirektors aus Montabauer. Seine Sommerfrische wurde ihm durch das von ihm und seiner Frau, zeitweilig auch von einer Tochter betriebene tägliche Hamstern auf den reich versehenen umliegenden Bauernhöfen (nach Butter, Eiern, Milch) arg beeinträchtigt. Wir waren wohl die einzigen im Hause, die nicht hamsterten, wie ich in anl. Artikelchen zu schildern versucht habe, der leider weder bei der Norddeutschen noch bei der Kölnischen Gnade fand. Ich klebe ihn deshalb hier ein, weil er einen guten Abglanz unserer schönen Sommertage für mich aufbewahrt. (Siehe Tagebuchseite 33 bis 36) –
Kaum, daß ich von einer recht anstrengenden Rheinreise – ich besuchte am 1. Aug. Willy in Siegburg, traf abends 10 ½ meine Mutter seit Tagen ohne Mädchen, Kartoffeln und Brot und recht brav am Hungern und ebenso hilflos wie verkehrt an, war den 2. August in Rheinbach, dann in Bonn und schließlich sonntags in Hersel, wo ich mit Papa noch zum Schluß auf dem Wege zur Bahn seiner ewigen Redensarten müde in eine recht erregte Auseinandersetzung geriet, war nachmittags und abends bei Onkel Dietrich in Cöln und fuhr Montags über Trier nach hier zurück – von dieser anstrengenden Reise zurückkam, erwartete mich hier, nachdem ich meinen Urlaub um 4 - 5  Tage überschritten hatte, eine rasende Arbeit. Auf dem Amt arbeitete Brinckmann mit seinem alten Eifer bis er Mitte des Monats seine erneute militärische Einberufung nach Inf. Rg. 61 in Trier erhielt. Dazu die überreiche Ernte im Garten an Reineclauden, Mirabellen, dicken Pflaumen, wenig Pfirsichen, Äpfeln, die unausgesestzt zum Einmachen und Versenden reizte. Beide Mädchen sandten ihren Eltern, wir desgleichen, auch an Willi, Onkel Dietrich u.s.w.

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Dr. Rech, Berncastel Cues. Die Lindenstadt. (Ferienlust und Hamsterwut)
Eine Sommerbetrachtung
Als wir zu unserer Sommererholung von der Mosel aufbrachen, waren dort bereits die Linden verblüht, zum größten Leidwesens des Imkers in einer Zeit rauher Luftabkühlung, welche die Tracht der Bienen verhinderte, ohne den heiß ersehnten Regen zu bringen. Das freundliche Hessenstädtchen, das uns aus flüchtiger Bekanntschaft in vorteilhafter Erinnerung geblieben war, übertrifft nun unsere sommerlich frohen Erwartungen und bringt uns täglich eine Fülle landschaftlicher, geschichtlicher und wirtschaftlicher Eindrücke, daß wir den ewig grollenden Kanonendonner unserer westlichen Heimat langsam zu vergessen beginnen und uns in den Frieden versetzt glauben.
Mit ausgiebigem Balkenwerk fest gezimmerte Bürgerhäuser bilden prächtige Straßen und malerische Kleinstadtwinkel mit entzückenden Durchblicken, in denen sich die verschiedenen altgediegenen Trachten der hessischen Bauern aufs beste und höchst aristokratisch ausnehmen, während vereinzelt umherstreifende fremde Sommervögel dagegen förmlich förmlich proletarisch wirken Jene passen zu den altertümlichen Bauten und dem holprigen grasüberwachsenen Pflaster, diese sehen darauf wie verirrte Karrikaturen aus. Kein Haus, vor dem nicht ein gewaltiger Haufen derber Buchenscheite in den Feierstunden unablässig von Groß und Klein zu Brennholz zerkleinert und bald in Form selbständiger Rundtürme für sich, bald als Erker oder Halbtürme an die Hausgiebel aufgeschichtet wird. Die Holzverschanzungen und -verkleidungen lassen uns selbst in der sommerlichen Hitze jene behagliche Wärme der wohlgeheizten Winterstube vorahnen, die nur das knackende Buchenholz im Ofen auszuströmen vermag.
Rund um die Stadt erfreuen uns täglich die weiten wohl bestandenen Felder, deren Früchte der Sense entgegenreifen, eine gute Körnerernte und treffliche Kartoffeln versprechen. Selbst die daheim durch die Ungunst der Witterung stark in Frage gestellte Sommergerste wie der Sommerweizen, stehen hier befriedigend und werden eine hinreichende Ernte ergeben; ausgedehnte Felder von Ölfrüchten sind bereits abgenutzt und die Früchte glücklich geborgen. Dies alles vermag unsere sorgenden Gedanken

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zu scheuchen und unser Herz empfänglich für die erquicklichen Bilder zu machen, die uns eine abwechslungsreiche Landschaft unter einem sonnig lachenden Himmel täglich bietet. Bald lockt uns der muntere Bach zu einem Gang durch den schattigkühlen Bruch hinaus zur malerisch dort gelegenen Burg mit dem musterhaft betriebenen Gutshof, bald nimmt uns der benachbarte Wald in seine Labung spendenen Laubhallen auf und beschert den Kindern Heidel- und Erdbeeren; hier regt uns ein geschlossenes Landschaftsbildchen zu längst vergessen geglaubten Mal- und Zeichenkünsten an, dort endet ein Marsch im Hessendorf mit seinen stattlichen Hofreithen und seiner Mischung süddeutschen Behagens mit norddeutscher Ordnung und Sauberkeit in einer gediegenen Bauernkneipe bei einem Glase durchaus noch annehmbaren Braunbieres.
Ringsum aber blauen allenthalben die waldbestandenen langgestreckten Höhen, bald verlockend nah, bald verheißend weit und überall hin zeigt sich der die Stadt überragende massige Kirchturm mit seinem eigenartig stumpfen Dachhelm als ein wahrer Wegweiser. Nach allen Richtungen führen uns über die sonnenüberglasten weiten Felder nach jenen Waldsäumen schattige Alleen dichtgedrängt stehender alter Lindenbäume, deren unerhört reiche Blütenmenge in diesem Jahre jede Vorstellung übersteigt. Bei manchem unter diesen stattlichen Bäumen verschwindet das dunkle Grün des schattenspendenden Laubwerks unter der Fülle der hellen Blütenbüschel, die den Baum wie ein reicher Schleier überdecken, allenthalben in weichem Geriesel nach unten herabhängen und im Winde sich leise hin und her neigen, emsig umsummt von den honigsuchenden Immen, deren froher Flügelschlag die Zweige wie ein feierlicher Choral durchtönt. Weithin ergießt sich ein kräftig süßer Blütenduft in die warme Sommerluft. Auch wir können der Versuchung nicht widerstehen, für kommende trübe Wintertage eine greifbare Erinnerung an diese Sommertage zu sichern, daß wir uns die Sonnenstrahlen in Gestalt reichlicher Lindenblüten einfangen und durch sorgfältiges Trocknen zu einer Droge verarbeiten, die daheim den

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selbstbereiteten „edlen deutschen Maimondthee“ verbessern wird. Die Tage gleiten traumhaft schön dahin in scheinbar unbewegter Eile, der Körper kräftigt und erholt sich, die Wangen gewinnen wieder Farbe und das Herz neuen Mut. – – –
Soweit wäre alles ganz gut und schön, wenn nur auch hier nicht jene allgemeine erschreckliche Seuche unter den wenigen Sommergästen herrschte. Welche? die spanische? Ach nein, die hat sich bereits ausgetobt und beschränkt sich leider auch nicht nur auf die Frischler, sondern nahm mit jedem fürliebe. Diese Krankheit aber ist die heute wohl ebenfalls internationale Sammel- und Hamsterpsychose, die den Sommervögeln das Leben so schwer macht. Wieso? Da glaubt der Städter sich für den Winter dem bittersten Notstand ausgesetzt, unaufhörlich verfolgt ihn die Erinnerung an längst vergangene Kohlrübenzeiten, der tägliche Anblick von Geflügel und Rindvieh bringt ihn aus der Fassung und das mitunter zu hörende verstohlene Grunzen eines Borstenträgers nimmt ihm fast die klare Denkweise. Wie wohl er die gute Verpflegung mit Recht lobt und sie auch schwerlich als unzureichend bezeichnen möchte, so ist sein ganzes Sinnen und Trachten doch ausschließlich darauf gerichtet, etwas von der reichen Ernte des Landes auf dem üblichen Hamsterwege für sich hereinzubekommen. Diese Psychose ist ansteckend und ergreift schließlich auch denjenigen, der sich anfangs gegen sie gewappnet glaubte, und jedem Versuche, ihr zu verfallen, sich entgegenstemmte. Es ist schon schwer, bei Tisch eine Unterhaltung zu führen, die nicht auf dieses ausgefahrene Geleise gerät, auf dem der Gesprächswagen sofort in polternden Galopp verfällt. Bei dem einen ist die Krankheit scheinbar fast geheilt, (er beschränkt sich auf allerlei harmlose Kleinigkeiten, die bei ihm zu Hause angeblich „absolut nicht mehr zu haben sind“) um plötzlich an einer anderen Stellung unvermutet und mit großer Heftigkeit von neuem auszubrechen. Andere sind ihr in einer gelinden Form verfallen, sie hamstern nur so nebenbei und gelegentlich; wieder andere nur einen über

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den anderen Tag und völlig beneidens- und bedauernswert aber sind solche, die sich im akuten Stadium befinden. Sie gehen Tag für Tag 1 - 3 mal ins Geschirr, ohne Rücksicht aufs Wetter; ja sie lieben Sturm und Regen, die ihnen lästige Mitbewerber vom Halse schaffen. Sie überlaufen im Schweiße nicht nur ihres Angesichtes, sondern ihres ganzen Körpers nahe und weitgelegene Dörfer, kollektieren von Haus zu Haus und wiederholen ununterbrochen und leierkastenmäßig ihr Sprüchlein von der Knappheit, Hunger, Teuerung und so fort. Alles und jedes, das sich nur irgendwie eßbar machen läßt, ist ihnen hochwillkommen, selbst Brot und Milch, und staunend fragt man sich oft, wo lassen sie nur dergleichen Dinge, die nicht für längere Dauer aufzubewahren sind. Der Kenner freilich weiß, daß sich bei diesen armen Geschöpfen die Krankheit nicht nur auf Kopf und Nerven beschränkt, sondern auch schwere Störungen des Darms hervorruft. Keine noch so reichliche Nahrungszufuhr vermag ihnen das Gefühl der Sättigung zu verschaffen, unablässig nagender Heißhunger treibt sie zu stets neuer Aufnahme, und versagt die Wirkung der allheilenden Zeit, so bleibt nur sachgemäße Kur in Nerven- oder Heil- und Pflegeanstalt übrig.
Glücklich, wer sich hiervon freizuhalten versteht und seinen Urlaub ohne die Beschwernis dieser Seuche von Herzensgrund genießt. Er hamstert sich das Wahre: Die Frische, Rüstigkeit und Gesundheit, fernerhin das zu ertragen, was noch kommen wird. –
Ende der eingeklebten Blätter. Es folgt die Fortsetzung von Tagebuchseite 32.

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Dazu wurde der letzte Honig als kümmerlicher Rest mit 1/3 Eimer geschleudert und das Zuckereinfüttern der Bienen begonnen. Unser Dr. Wolf, der uns den Garten diesmal zum erstenmal rite verpachtete, hatte wirklich Pech. Erst in Wengerohr als Hamster angehalten und schwer geschädigt, dann zur Zeit der ihm zur Hälfte zustehenden Kirschernte Arm gebrochen und daher jetzt bei der durch die hier starke Dürre bedingte Frühreife der Äpfel in dem Einheimsen der halben Apfelernte auch erheblich gefährdet. Daß wir die ganze Zeit des Augusts über keinen Regen hatten, dörrte den Boden sehr aus und bringt das Gemüsewachstum völlig ins Stocken. Dabei hat ringsum alle Welt Regen gehabt, nur gerade die Mittelmosel nicht. Vor 2 Tagen beobachtete Fuß hier seine höchste Luftwärme mit +33°C. Mein Wärmemesser ist nicht über +31°C. hinausgekommen. Die letzten Tage hatte ich mehrfache Besprechungen in einer auf meines Hauswirten Leistner angesprochenen Sache, die darauf ausgeht, die Schnittgen’sche Brauerei, eine nach L’s sachverständigem Urteil jetzt schon recht sichere Zins-, für später aber nicht minder sichere Gewinnanlage, neuzugründen. Es ist für mich sehr befriedigend, bei derlei mal mit dabei die Hand im Spiele zu haben. Ich gedenke, meine Groschen zusammenzukratzen und mich dabei ebenfalls mit 10-20000 M zu beteiligen.
31. August 1918. Mit einem arbeitsreichen Tag schließt genau auf Samstag meine Diensttätigkeit hier ab, die Montag, den 2. Mai 1910, vor 8 1/3 Jahren begann. In dieser Zeit hat sich viel ereignet. . . . . .
Ich bin im ganzen recht matt und froh jetzt einige Zeit in Ruhe zu kommen. Im Grundbuch löschte ich u. a. noch eine Hypothek, die ich nach meiner Hochzeitsreise, anfangs August 1910 selbst eingetragen hatte. – Es scheint früh Herbst zu werden. Heute kamen wieder eine Reihe Gestellungsbefehle für ältere Leute, alle zum 11. September u. a. auch an unseren Gerichtsdiener Friedrich. Wegen Velten und seinem evtl. Ersatz hatte ich lange Rücksprache mit dem Landrat.

Die Feuersbrunst
6. Sept. 1918. Langsam komme ich in diesen Ferientagen wieder zu mir selber und beginne nach etlichen Tagen äußerlichen Ordnens der Dinge im Wohnzimmer, Bücherschrank u.s.w. (2 Kisten Bücher wurden bereits „umzugsfertig“ gepackt) jetzt damit, die Eindrücke der letzten Zeit auch innerlich ein wenig zu ordnen und zu verarbeiten. 2 Monate Erholungsurlaub werden mich auch darin wieder auf einen vernünftigen Stand zurückbringen. Leider ist die Wohnungsfrage immer noch ungelöst und das Gesuch wegen der bescheidenen Dienstwohnung ist nun schon 1 Monat lang unterwegs. – Am 28. August nahm ich nachmittags in Wehlen bei einer Witwe Zacharias Dietz. Friedrich ein. längeren Schenkungsurkunde mit Auflassung vor, zu der ich die verschiedenen Familienzweige im Laufe etwa eines Halbjahres nach und nach im Vergleichswege zur „Vereinigung“ gebracht hatte. Die 15 Anwesenden hatten eben ihre vielfachen Unterschriften

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umständlich erledigt und eine Frau als letzte gezeichnet, da brach einer mit dem Schreckruf „Es brennt bei . . .“ in das schwül-überfüllte Zimmer und sofort stob alles auseinander. Ich packte in Ruhe die Papiere zusammen und ging dann auch hinaus. Wenige Häuser weiter und ich stand vor einem gegen seine Nachbarhäuser stark nach der Straße zu vorspringenden Hause, das nach seinem Schilde einem Sattler Friedrich gehörte. Der Anblick war zunächst so überwältigend, daß es einem den Atem versetzte. Aus der rückwärts dicht am Hause gelegenen Scheune schlug die Flamme mit unwiderstehlicher Gewalt. Da war nichts zu retten, die eingelagerte Frucht der neuen Ernte gab dem Feuer eine unerhörte Wucht und die roten Flammen fackelten in rotem Schwung und prächtigem Bogen in den sommerlichen hellen Spätnachmittag, obenauf von schwärzlichem Rauchgekringel umsäumt. Das Ganze wirkte mit der Wucht des Einfachen wie ein alter grobilluminierter klarer Holzschnitt und ich fühlte mich in einer stürmenden Reihe von seltsamen Empfindungen bald in eine der aus tausenden Bildern bekannten Brand- und Plünderungsszenen des 30jährigen Krieges, bald in eine Beschießung an unserer Westfront versetzt. Aus den Fenstern fielen brockenweise alle möglichen Stücke Hausrat, vorab noch von wenigen Händen aufgerafft und in Nachbarhäuser verschafft. In den nächsten, dicht beistehenden Häusern standen etliche Weibspersonen eine Zeitlang wie halb versteinert, schrien heftig und wußten nicht, womit beginnen. Aus dem hinterliegenden Stalle wurden 2 Ziegen und ein prächtiges fettes Schwein von einem Manne mit derben Scheltworten und Schlägen herausgetrieben. Nach einigen Minuten füllte sich die anfänglich fast leere Dorfstraße mit Leuten, unter denen etliche Männer kurze Befehle gaben und sobald die tüchtigen Spritzen kamen und hanfene Schläuche von verschiedenen Seiten her antrafen, ihre trockenen Schlangenleiber prall aufbliesen, die blasse Farbe ihres trockenen Daseins mit einem dunkelgrauen nassen Aussehen vertauschten und die Fülle ihres gepreßten Leibsinhaltes hier und da aus schadhaften Stellen in dünnem Strahl hoch aufspritzen ließen, ging alles seinen ruhigen Gang. Das Feuer griff aufs Wohnhaus über, die Leute wurden aus ihm herausgeholt, die Dachfirsten der unmittelbar benachbarten Häuser wurden unter die Spritze genommen, denn sie wollten stets mit aufflammen, über dem Hausgiebel schwang die Lohe ihre riesige Brandfackel drohend nahe in die Straße hinein und nach dem gegenüberliegenden Hause zu, dessen Bewohner schon ängstlich mit dem Plündern ihres Hausrats beginnen wollten. Ich konnte sie davon zurückhalten, denn kein Lüftchen regte sich und es war unverkennbar, in wenigen Minuten mußte sich das Feuer in seiner tollsten Wildheit ausgerast haben und damit war die Hauptgefahr für die Nachbarn vorüber. Schließlich gelangten von allen Seiten gewaltige Haken an schweren Bäumen an, dutzende von derben Fäusten stemmten und hoben daran, kreuzweise von derben Stückbäumen unterstemmt, stiegen die eisernen Haken langsam bis zum brennenden Dachgebälk empor, legten sich schwerfällig darauf und hakten sich langsam und behutsam ein. Dann ein ruckweises kurzes Ziehen und mit

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lauten Krachen stürzten ganze Teile des Daches mit glühenden Schiefern, verkohlten Balken und schwelenden Brettern in hellblauem Rauchdunst am Hause herunter. Der lose blaue Hausgiebel wurde eingestoßen und dann kletterten beherzte Russen auf leichten Leitern zu den Fenstern der Vorderseite hinein und brachten alles und jedes, was nur im Innern noch zu erreichen war, heraus; ganze Möbelstücke wanderten da aus den Fenstern über die besetzten Leitern auf die vielen erhobenen Hände und waren bald in der Nachbarschaft verschwunden. Es wollte fast kein Ende nehmen der Fülle des Hausrats, der Kleidungsstücke, des tausendfach angehäuften Krimskrams, der da alles hübsch nacheinander zur öffentlichen Schau oben erschien und unten verschwand. Der Eigentümer, der im Geruch wucherischen Fleisch-Schleichhandels steht, mag sich abends – er war auswärts – nicht wenig gewundert haben. Endlich war aller Hausrat – es kamen Betten zutage, die wohl seit Menschengedenken nicht auseinandergenommen waren – heraus, das Dachgebälk ineinandergestürzt, und die Gefahr für die Nachbarhäuser durch eifriges Bespritzen abgewendet. Ein Feuerwehrmann ging daran, eine vorn auf dem glimmenden Dachspeicher stehende alte Eichenkiste, deren derber Eisenbeschlag sich verbogen hatte und deren dicke Wände noch brannten, seitlich zu öffnen und mit einer eisernen Schaufel daraus Eimer auf Eimer voll schönen goldgelben Weizens herauszuholen, der als Hamstergut allerseits einem verständnisinnigen Schmunzeln begegnete. Später wurden dann noch kräftig die Mauern des rauchenden Trümmerhaufens eingerissen, auf daß für die Versicherung nicht noch etwa abzugsfähige Reste übrig blieben. Sofort trat die Fama ihren Weg an: ganze Zentner Fett und Speck sollten rückwärts herausgeschafft worden sein, desgleichen beträchtliche Ledervorräte, während noch Bütten voll Häute in Lohgerbbeize im Keller stünden u.s.fort. Durch derlei Reden gewann ich aus dem merkwürdig entrückenden Gesamteindruck wieder Anschluß an die alltägliche Umwelt. ––––
12. September 1918. Nun sind wir endlich einen Schritt vorwärts! Heute kam Nachricht, daß der tüchtige Strafanstaltsassistent Kraicziczek uns seine Wohnung gegen jederzeitigen Widerruf vermieten darf. Ich schrieb sofort an 3 - 4 Möbelbeförderungsfirmen. Jetzt sind unsere Tage hier gezählt. Die letzten Tage voller Regen und Sturm hatte ich neben der Ausarbeitung einiger Zeitungsartikel über Weinsteuerfragen mich schon ans Packen einzelner Kisten gegeben, namentlich solche, die für längere Zeit in Rheinbach beiseite gestellt und voraussichtlich auf dem dortigen Gerichtsspeicher ein beschauliches Dasein führen werden. Seit Montag wissen wir – seltsamerweise zuerst durch einen Brief von Papa, dem dann einer von Willi von Berlin aus auf dem Fuße folgte – daß Willi sich wieder verlobt hat. Papa, der unentwegt jede Veränderung auch des miserabelsten Zustandes mit grimmigem Knurren, Mißtrauen und Fauchen begrüßt, weiß denn auch in seinen zahlreichen Briefen immer noch keinen rechten vernünftigen Grund zu seinem grenzenlosen Unmut herauszuklauben. Das ewige Gerede von der Erhaltung seiner Gesundheit klingt fast pathologisch und daß er in Hersel jetzt keine Kohlen zu bekommen . . .

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29. Sept. 1918. Der Monat schließt nicht erfreulich. Draußen an der Westfront tobt die grimmigste aller bisherigen Schlachten; die Bulgaren wollen Frieden auf eigene Faust machen, sie sind militärisch mal wie es scheint, gehörig geschlagen worden und werden von den Franzosen infolgedessen als Liebkind behandelt. Schönberg meint, ihr Verhalten sein eine Folge der Kühlmannschen Politik, die ihnen die Dobrudscha vorenthielt. Hoffentlich halten die Türken Stich, von den Österreichern nicht zu reden, die mal wieder ein großes offizielles Friedensangebot gemacht haben. Gottlob wird sich das Wort „Der Preuß giebt nicht nach“ auch diesmal bewähren. Mosel und Hunsrück erwägen allen Ernstes die Frage, ob sie Franzosen werden und sich dabei am Ende besser stehen. Solche Toren! Sogar in Frankreichs Währung möchte schon lieber einer seinen Wein bezahlt haben. Was würde er für ein Gesicht machen, böte man ihm dort 400 M fürs Fuder wie in Frankreich? In Filzen will ein Winzer Schimper seinen 17er Brauneberger nicht für 17000 M das Fuder hergeben. Leider läßt das deutsche Volk als Ganzes z. Zt. stark den Kopf hängen. Dabei liegt die 9. Kriegsanleihe zu Zeichnung auf. Ich habe mir selbst ernstlich die Frage vorgelegt: Könntest du Franzose werden? Antwort: Bei aller Vorliebe für die Westnachbarn: „Nein!“ Für die Rheinländer sind die betörenden Nebelphrasen von 48 „Freiheit und Republik – wären wir doch die Preußen quick“ wohl entgiltig vorbei. Natürlich giebts Angsthasen, die die Feinde schon am Rhein sehen und sich aufs rechte Rheinufer eben jetzt schon verziehen möchten. Kanonendonner hören wir seit etlichen Tagen wieder in der Stille der Nacht. –  Heute machen wir den zweiten Sonntag Abschiedsbesuche in Handschuh und Zilinder hier und heute sogar nachmittags, um durchzukommen. Der Umzug schafft viel Kopfzerbrechen, da fortwährend geschieden werden muß, was ins Häuschen in Rheinbach und was dort nicht hinkommt. Mit Helene war ich kürzlich 2 ½ Tage in Rheinbach und wir fanden dort nicht nur gute Verpflegung und befriedigende Unterkunft im Rheinbacher Hof, sondern auch allenthalben viel freundliches Entgegenkommen, zumal bei Kollegen und den Beamten der Strafanstalt, wo uns trotz Krieg alle Hülfskräfte zur Verfügung stehen werden. Wir kamen daher im ganzen recht befriedigt von dort zurück. Mittlerweile haben wir hier schon vieles gepackt, d. h. ich die Bücher in Kisten, Mist und Misterde in Fässer. Diese Nacht wurden uns 2 Karnickel der ersten und 2 der zweiten Zucht gestohlen und so deren Umzugsfrage schon wesentlich gefördert. Leider waren es gerade 2 zur Zucht bestimmte Rammler, von denen ich einen gegen einen in Hessen zur Blutauffrischung bereits im Tauschhandel hatte. Der Dieb – der tüchtige Gendarm Mantges hat den langen Matthes von der Gasanstalt, einen notorischen Ströpper, in Verdacht – vergaß auch nicht, von Leistners reifen Quitten einen ordentlichen Korb als Zuspeise mitzunehmen. Die Wochenzuteilung des Fleisches war hier derart üppig, daß heute mittag bei peinlicher Verteilung für jeden ein Häppchen übrig blieb. Das ganze hätte ich ehedem bequem auf einen Sitz in „einen hohlen Zahn“ verstauen können. – Da wir auch heute nachmittag noch fleißig Besuch machen, so haben wir deren die

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Mehrzahl hinter uns. Bei Krings gabs Kuchen und so merkte man, daß heute Bernkastler Kirmes ist. Bei Frau Bürgermeister Pfeiffer unterhielten wir uns recht lange und gemütlich und ich machte wiederum die schon früher bestätigte Erfahrung, daß sie die einzige wirkliche Dame hier am Ort ist. Ein kluger und scharfurteilender Kopf und dabei in allem von wirklicher Vornehmheit und Herzenstakt. Die Unterhaltung war wirklich sehr unterhaltsam und lohnend. Besonders interessierte mich, was sie von der alten (aus Alf stammenden) Frau Jean Philipp Th. erzählte. Der Mann, ein wohlwollender, äußerst braver und honetter Kaufmann und Weingutsbesitzer, der sich über dem abstoßenden Wesen der Frau dem Trunke zuneigte. Diese Frau, nur Verstand und kalte Berechnung, völlig herzlos und bis zur Grausamkeit selbst gegen die eigenen Kinder geizig. Geiz in abschreckendster Form. Die 3 Söhne wären buchstäblich verhungert, hätten nicht 2 alte Tanten sie regelmäßig heimlich gesättigt. Trockenes Brot wurde ihnen von der Mutter in einzelnen Schnitten vorgeschnitten, selbst der Vater wagte nicht, ihnen mehr zu geben. Abends je eine trockene Schnitte und 1 Löffel – Lebertran. (Die Enkel essen heute noch keine Butter.) Sie lebte später eine zeitlang in Bonn auf einer Dachkammer, spielte die gänzlich arme Frau und holte sich beim Metzger für 10 Pf. Fleisch unter Anrufung der Mildtätigkeit. Hierbei erkannte sie eines Tages der Bernkastler Gerichtsvollzieher, nahm die Erzählung des Metzgers von der armen bedürftigen alten Frau mit lautem Lachen auf und klärte den biederen Wohltäter über jenen Geizkragen auf u.s.w. Daß sie im Armenkrankenhaus in Straßburg gestorben sei, nachdem sie auf der Reise in 4. Klasse schwer erkrankt war u.s.w., hatte ich schon früher des öfteren gehört. – Das Urteil der guten Frau Bürgermeister, daß diese ganze Familie es gar nicht verstehe, für erwiesene Dienste sich in einer Form erkenntlich zu zeigen, die ihr einiges Geld koste, erfuhr gleich eine Bestätigung am gleichen Tage. Als ich mit Helene morgens bei Frau Ww. Ant. Th. war, mußte ich ihre Weinnachversteuerung begutachten, ja die fertige Aufstellung mit Abschluß sandte sie noch abends zu mir und ließ sei um 10 Uhr abends wieder von mir durchgesehen abholen, da sie andern Tags nach Wiesbaden verreiste. Von einer langversprochenen Fuhre Holz war aber nicht die mindeste Rede. Nun habe ich mir solche von den Gutsarbeitern versprechen lassen. Hoffentlich bringen sie sie noch diese Woche. Die Mutter erzählte u. a., daß gegen Hugo fortwährend Anzeigen von hier aus bei seiner Truppe erstattet würden, er daher 2 Sonntage bereits keinen Urlaub habe u.s.w. Natürlich ist auch, wie ich es vorausgesagt, seine Frau dort erschienen, hat sich in der Kaserne durch seine Vorgesetzten ihm vorstellen lassen und nach einer Aussprache abgelehnt, daß sie abends auf seiner Bude mit der Erklärung erschienen, sie bleibe nun bei ihm. Amüsant! –
3. Okt. 1918. Mit heute werde ich 39 Jahre alt und habe damit wohl den besseren Teil des Lebens hinter mir. Die Abreise von hier wirkt symbolisch. Seit gestern sind die Vorhänge herunter und so leben wir schon etwas im Aufbruch. Dr. Wolf ist hier und verkauft eifrig seinen Garten. Er hat Glück und wird wohl an 18 - 20000 M dafür bekommen. Hätte ich ihn doch früher gekauft, ich hätte an 10 - 12000 daran verdienen und mir dafür eine glänzende Baustelle mit Garten u.s.w. in Rheinbach

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kaufen können. Auch so hoffe ich noch 1 - 1 ½ Tausend daran zu verdienen. Dillinger Astor und Popp sind Liebhaber. – Der Spediteur Lingscheidt hat bereits 3 Wagen (statt der verabredeten 2) unterwegs; ich schrieb ihm gestern unzweideutig über unsere genauen Abmachungen. Ich habe jetzt noch die 4 Bienenvölker versandfertig zu machen und Helene beim Packen zu helfen. Ich denke wir kommen gut durch.
6. November 1918. (muß zweifellos Oktober heißen) Nun haben wir eine parlamentarische Reichsregierung mit Scheidemann, Gröler, Erzberger und Genossen. Es muß eine Schwächung derzeit bedeuten. Hier packen bereits überkluge ein und wollen sich aufs linke Rheinufer verziehen – so Frau Nadolny, deren Mann mehr wissen will als andere, dieser Erzschafskopf! – und die meisten Toren geben Elsaß-Lothringen, ja die linke Rheinseite den Franzosen.!! – Kennen die die Preußen schlecht. Schwere Wolken liegen über unserem Hause, ich meine diesmal unsere Wohnung: Lorchen, Leistners ältere Tochter liegt auf den Tod matt und elend in hohem Fieber an der Influenza, auch spanischen Grippe, darnieder. Noch aber gehts ihr an Herz und Lunge gut und so habe ich noch viel Hoffnung. Die Eltern aber sind ganz verängstigt. Die tückische Krankheit ergreift namentlich in der Form einer eitrigen Lungenentzündung junge kräftige Leute im Alter bis zu 30 Jahren und bringt sie in wenigen Tagen zu Tode. In Wolf, Cröv, Monzelfeld, Burgen soll sie stark unter der Bevölkerung wie den Kriegsgefangenen, namentlich Russen, grassieren. Für letztere ist das ganze Lazarett in Traben Trarbach frei gemacht und nach hier verlegt worden. Mir selbst schien heute morgen blutgefärbter Auswurf kurz vor Beginn des Umzugs eine recht angenehme Überraschung zu bringen. Doch kam nichts nach und so machte ich vor Tisch mit Helene die letzten Abschiedsbesuche, schlief feste nachmittags und lege mir weiterhin Stubenarrest auf, während Helene mit Frl. Ida nach Commen zum Besuch von Hermanns und zum Hamstern aus ist. Die Kinder sind mit Maria spazieren, nachdem sie am kleinen Automat ihre Sonntagsziehung gemacht haben. Frau Kreisarzt Dr. Knoll unterhielt mich eine Zeitlang sehr liebenswürdig. Jetzt sitze ich im stillen Hause ganz einsam, was schon lange nicht mehr der Fall war. In dieser Woche sollen die Kinder zum Großvater nach Hersel. Hoffentlich ist dort keine Grippe. Zum Garten bin ich nun heute nicht gekommen. Seit langem zum ersten mal.
7. Oktober 1918. Da haben wir den Krach!! Parlamentarische Reichsregierung und sofort demütiges Friedensangebot an Herrn Wilson. Am Ende ein vorher abgekartetes Spiel? Amerika am Ende bereit, auch gegen England und Frankreich Frieden zu machen? Schier unglaublich! Elsaß-Lothringen: Bundesstaat, am Ende gar eigener Randstaat? Und dabei jetzt gerade beginnender starker Widerstand an der Westfront. Japan vielleicht bereits im Spiele? Gegen das Amerika den Rücken frei haben muß und will? Wer weiß das alles? Und im Reich: Stärkere Entwicklung der Reichs zur „Demokrati-schen Einheit“ auf Kosten der Selbständigkeit

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der Bundesstaaten? Natürlich krachts nun auch sonst: an der Börse hats schon so gehörig gekracht, daß man sich davon bereits zu erholen beginnt, im Weingeschäft aber bieten die hasenherzigen Spekulanten, von denen manche trotz hoher Gelegenheits- und Kriegsgewinne auf wackligen Füßen stehen, die Fuder bereits in Menge an. Der Vernünftige behält natürlich auch in diesen Dingen ruhiges Blut. Die „Wiederherstellung Belgiens“ aber will mir als Friedensbedingung gar nicht gefallen. – Ich brachte heute morgen endlich nach wochenlangem Hampeln 3 der 4 Bienenvölker reisefertig. Hoffentlich überstehen sie die Fahrt! Unsere Möbelwagen stehen bereits am Güterbahnhof, und den nachmittag hindurch kreischten die schweren Lohstangen unter der zerscheidenden Kreissäge. Alles scheint sich nach und nach programmäßig zum Abmarsch zusammen zu finden. Helene machte mit den Kindern noch mal Abschiedsbesuche und bekam allerhand über meine Hülfstätigkeit zu hören. Lorchen Leistner, mit 40° Fieber beginnt wieder lebendiger zu werden.

Rheinbach   3. Nov. 1918
Nun sitzen wir in Rheinbach am (Gottlob noch nicht im  – a und i sind hier nahe (und zumal in dieser Zeit) beieinander und jeder Esel findet leicht die Brücke zwischen beiden Vokalen – Zuchthaus, verzeihung Königliche Strafanstalt in der Assistentenwohnung des Herrn Kraicziczek. Ein kriegsgemäßer Unterstand, nein ein allerliebstes etwas enges aber warmes Häuschen, eine wahre Heiz- und Wärmekammer in dieser entsetzlich rauhen kalten und trüben Zeit. Die Türkei hat die Waffen gestreckt, in Österreich geht alles drunter und drüber und bei uns tobt eine stille Revolution, der wohl nächstens der Kaiser auch zum Opfer fallen wird. Und was will man uns nicht alles abholen, am Ende noch die linke Rheinseite! Nun, so weit wirds wohl nicht kommen, aber schwere, sehr schwere Zeiten kommen und da ist es vielleicht gerade zur rechten Zeit angebracht gewesen, in solch kleines bescheidenes Heim in einer sonst nahrhaften Gegend unterzuschlupfen. Wenigstens giebts hier genug Kartoffeln und trotz der späten Zeit hoffen wir uns hiermit genügend zu versehen. Der Umzug brachte sehr viel Scherereien und viel Arbeit mit sich, spielte sich aber schließlich doch noch in erträglicher Weise ab. Jetzt eben wäre er wohl kaum mehr möglich, weil im Westen hier ein allgemeines Möbelwagenhamstern eingesetzt und die Bahn die Beförderung von Möbelwagen gesperrt hat. Ich habe stets das Gefühl: Du bleibst hier, komme, was da kommen mag. Wer weiß aber wie es noch kommt. Unsere sehr wacklige Front scheint sich neuerdings wieder etwas zu festigen, die stark demütigenden Waffenstillstandsbedingungen, mit denen

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man uns zur bedingungslosen Unterwerfung verurteilen möchte, scheinen nicht ohne Einfluß geblieben zu sein. Jedenfalls leben wir in einer Zeit schwerster innerer und äußerer Erschütterung. Am Mittwoch, den 31. besuchten Helene und Papa Mamas Grab. Danach blieb der Zug von Bonn aus und wir mußten an 8 feindliche Flieger über Bonn beobachten, die dort im hellen Sonnenschein ihre Bomben fallen ließen und viele töteten. Gottlob blieb meine Mutter unversehrt. In der Meckenheimer Straße aber scheint es Schaden gegeben zu haben. Die Kölnische berichtet heute von 26 Toten, über 30 Schwerverletzten und einige 20 Leichtverletzten. Entsetzliche Sachen. Ich mahnte die am Friedhofsbahnhof dichtgedrängt stehenden Leute auseinanderzugehen, wir gingen zu Fuß nach Hersel und kamen abends spät heim. Tags zuvor hatte ich friedlichere Eindrücke. Ich fuhr zeitig mit Rechnungsrat Ruland zum Gerichtstag nach Münstereifel. Schon in Odendorf (der ersten Station) versagte die Maschine und als uns ein Ersatz endlich nach Euskirchen brachte, war dort der Zug weg. Da gabs 3 gute Stunden Fußmarsch bei heller Sonne aber leider auch scharfem Wind durch prächtig bunte Herbstlandschaft. – Heute freilich sitze ich mit heftigem Schnupfen dafür im Stubenarrest. – Der Einzug um ½ 1 mittags durchs sonnendurchleuchtete Stadttor glich völlig einem Bilde Meister Spitzwegs und dazu harmonierten in wohltuendster Weise die beiden bejahrten Parteivertreter Justizrat von der Bank, Kgl. Notarius (der nach Ausfertigung mit „ne varietur“ und ähnlichen schönen altertümlichen Floskeln versieht)  und Grosch, Referendarius a. D. und Prozeßagent. Beide sympathisch berührende ältere Herren. Münstereifel, das ich im leuchtenden Glanz der Herbstsonne leider nur sehr wenig besehen konnte, ist ein ganz geschlossenes Bild einer alten befestigten Stadtanlage. Ich hoffe es noch gründlicher allerseits kennen zu lernen. – Unser Umzug kostete mich 2004,24 M, wie ich es heute in ausführlichem Bericht dem Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten zwecks Zuschußgewährung klar legte. Hier halfen in dankenswerter Weise die Zuchthaussträflinge mit und ich ließ mich zu deren bequemeren Handhabung vom Anstaltsdirektor zum Hilfsaufseher durch Handschlag an Eidesstatt verpflichten. Zwischendurch taten uns 2 Ruhetage in Berncastel und 3 hier im Hotel recht gut.
Rheinbach, den 10. November 1918. Die kurze Spanne meiner Dienstzeit über erlebte ich hier bereits eine derartige Fülle der Ereignisse im großen wie im kleinen, daß ich mir schon seit langem hier ansässig vorkomme und man sich mitunter an den Kopf greifen muß, um sich zu vergewissern, ob man nicht träumt. Es ist die Zeit der Revolution, einer anscheinend radikalen Umwälzung, die mich stets – ich weiß selbst nicht wie – an die in der Reformationszeit auftauchenden politischen Umwälzungen erinnern will. Das Reich wird bis auf seine Grundfesten nicht nur erschüttert, sondern geradezu

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verflüssigt, gebe Gott, daß es nicht auseinander laufe, sondern einen Meister finde, der es in eine neue Form gießt. Nun zu eigenen Erlebnissen! Letzten Sonntag war ein rechtes Novemberwetter, triefende Nässe und lastender Nebel auf den weiten Äckern, klebriger zäher Schmutz auf allen Straßen. Da ich Schnupfen und Halsentzündung hatte, so legte ich mir Stubenarrest auf, entsagte dem Plane, eine Hamsterfahrt zu den Büllesheimer Bauernpächtern zu machen und gab mich daran, eine ausführliche Aufstellung meiner gesamten Umzugskosten aufzustellen und sandte sie mit ausführlichem Bericht und Gesuch um Zuschuß an OLG Präsidenten Cöln ab. Ich hatte dabei den Gedanken, du mußt dich abgesehen von der Geldknappheit hiermit besonders beeilen, sonst kommt eine bolschewistische Regierung und streicht dir den ganzen Kitt. Die Ahnung ging nicht ganz fehl! Montags verdichtete sich die Erkältung zu Fieber, ich blieb den Tag über zu Bett, fand mich recht gemütlich darin und schwelgte vor allem in mittelalterlichen Kunstgenüssen, die mir etliche Lieferungen des Handbuchs der Kunstwissenschaften boten. Namentlich die böhmische Kunst des 14/15. Jahrhunderts bot mir des viel Neues, das man mit ganz anderen Augen ansieht wie früher. Dienstag war ich fieberfrei, blieb den Tag über bei tollem Wind draußen daheim und arbeitete den ganzen Tag über ganze Stöße von Akten herunter, die das Mädchen auf einem Wägelchen geholt hatte. Mittwoch war ich morgens auf dem Amt, nachmittags kam eine Fuhre Kartoffeln einer Frau Schwarz aus Ramershoven (19,2 Zt), die mit Hülfe der Mädchen und der beiden Strafgefangenen Nic und Verkolje eingekellert wurden. Es war mir auffallend, wie diese bereits Kunde von dem Aufstand der Matrosen in Kiel hatten. Ich unterhielt mich abends noch mit Kasseninspektor Pluntke und wir kamen zu dem Ergebnis, daß sich alle Neuigkeiten blitzschnell durch die Anstalt, selbst in die entlegendsten und fest verschlossenen Zellen verbreitet. Es zeigen sich hier wie in jeder geschlossenen Anstalt mit größerer Anzahl von Insassen eine Reihe charakteristischer Erscheinungen, auf die gelegentlich einmal ausführlich einzugehen schon der Mühe wert sein dürfte. –
Freitag bekamen wir 1/3  Karre der jetzt sehr begehrten Braunkohlenbriketts. Samstag morgen wurden diese von 5 Mann aus der Anstalt eingekellert, nachdem dieselben von 8 Uhr an eine riesige Karre Holz auf dem Speicher aufgeschichtet hatten. Nach 10 waren wir damit fertig, wobei ich den Aufseher zu spielen hatte, und ich brachte die Leute zurück, nachdem sie das übliche Frühstück mit Quellkartoffeln und Kaffee im Gartenhäuschen eingenommen hatten. Abends hörten wir dann von der Bauerntochter Wipperfürth, die sich eifrig um Salat und eine Mistfuhre für uns bemühte, daß der Bürgermeister habe ausschellen lassen: Diese Nacht sei mit der Befreiung der Anstaltshäftlinge durch die Revolutionäre zu rechnen, die Bürger sollten ihre Höfe dicht verschlossen, sich selbst von den Straßen und ruhig verhalten. Man kann sich leicht vorstellen, welche Aufregung dies über ängstliche Gemüter brachte. Die Frauen sahen ganz Rheinbach schon überschwemmt vom Abschaum der Menschheit und der Plünderung heillos preisgegeben. Ich ging abends noch vor Tisch zu Direktor Trautmann, der sich von einem Herzanfall einigermaßen wieder erholt hatte und bot ihm für jeden Fall meine Hülfe an, ich wollte gerne mit dabei sein und evtl. bei etwa sich zuspitzender Situation durch gemütliche Aussprache u. U. auch in hiesiger Mundart die Gemüter zu besänftigen. Wir schliefen fest die Nacht, bis ich gegen ½ 4 morgens ein

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entferntes Klingeln hörte; es war die Alarmglocke, die in allen Beamtenwohnungen ertönte. Ich zog mich schnell an, ein paar schmutzige Wasserstiefel, die ich tags zuvor angehabt hatte, gaben mit einer derben Überjoppe, Lodenmantel und Filzhut ein genügend revolutionäres Gepräge. 2 Soldaten als Posten ließen mich gern in die Anstalt. Draußen stand ein Auto, das die Leute bei der Prinzessin Schaumburg in Bonn sich geholt hatten, das übrigens später auf und davon war, als der Ausmarsch stattfand. Innen war der Direktor bereits mit einer Abordnung von drei jungen Leuten am verhandeln, wie wir es tags zuvor besprochen hatten. Sie begehrten vernünftigerweise nur die Freigabe der Soldatensträflinge sowie der durch die außerordentlichen Kriegsgerichte nach den strengen Kriegsgesetzen besonders hart Bestraften, nicht dagegen die Ausländer und gemeinen Verbrecher. In Streitfällen sollte die Entscheidung dem Soldatenrat vorbehalten bleiben. Es waren ein kleiner schwarzer etwa 24jähriger „Student“, der sich mit einem Degen unterm Mantel als Leutnant gerierte, ferner ein kleiner jüngerer Matrose, Bonner aus der Engeltalerstraße, mit Gewehr und anscheinend recht radikal gesinnt, als dritter ein Kriegsbeschädigter mit einem Kunstauge in Zivil mit weißer Armbinde, ebenfalls ein jüngerer Bursche. Alle benahmen sich ruhig und vernünftig, natürlich ihrer Herkunft entsprechend formlos, in dem sie zwischendurch während der Aussonderung der Sträflinge rauchten, an Apfel oder Keks knabberten. Ich sprach einige menschliche Töne mit ihnen, für die sie sehr zugänglich waren und wobei sie sich in ihrer augenscheinlichen inneren Befangenheit, die dann gelegentlich etwas in machtvolle Anmaßung schwankte, augenscheinlich stark erlöst fühlten. Leider hatten die zusammengetretenen Aufseher die Militärsträflinge etwas allzu schnell aus den Zellen herausgeholt, – erst mußten sie sich noch mit den draußen an der Türe liegenden „Brocken“ ankleiden – so daß plötzlich eine große Zahl derselben im Flur beieinander standen, was natürlich einige Unruhe gab. Es dauerte eine Zeitlang, bis das Verfahren klappte, die einzelnen an Hand der Anstaltsliste einer summarischen Prüfung zu unterwerfen, wobei dann die Zweifelsfälle den jungen Soldatenabgeordneten in feierlicher Form zur Entscheidung vorgelegt und von diesen meist auf Freigabe erkannt wurde. Die beiden Anstaltsgeistlichen sowie der Lehrer unterstützten ganz besonders den Direktor bei dem langwierigen Geschäft, bei dem stets welche versuchten, sich ohne Prüfung zu den bereits als freizulassen ausgesonderten hinüberzuschlängeln. Unterdessen wurde auf meine Veranlassung n der Küche ein Kaffeefrühstück mit Brot für die recht ausgehungerten jugendlichen Soldatenratsabgeordneten – es waren ihrer 10 im ganzen mit dem Auto gekommen – hergestellt, das sie mit lebhaftem Zuspruch verzehrten und wofür sie sich hernach bei mir besonders bedankten. Auch veranlaßte ich, daß für alle zu Entlassenden, es waren an 174 Mann, Frühstück gemacht wurde, da es ohnehin für den ersten Zug zu spät war. Zwischendurch telefonierte ich 2 mal mit der Polizeiwache in der Stadt, der zur Verstärkung Soldatenposten

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aus Euskirchen beigegeben waren, und bat man möchte bei der Eisenbahn um Anhängen von etwa 2 Wagen sorgen. Leider wurde dies anscheinend nicht ausgeführt. Wenigstens wußte das Eisenbahnpersonal hinterher von nichts. Ich ging, während man nochmals alles nachzählte – die Namen der einzelnen waren bereits aufgezeichnet – hinaus in die stockdunkle Nacht, beruhigte die draußen in Dunkeln stehenden Frauen der „Kolonie“ und die Damen im Direktorsgarten, desgleichen Helene zu Hause und unsere Mädchen, von denen Maria in Angst und Bekümmernis im Hause herumschlurfte, während Frl. Ida im Fenster lag und die Gespräche der Nichtbefreiten von Zelle zu Zelle sich anhörte. Dann ließ ich mir im Direktorshause etwas heißen Kaffee und einige Stärkung für diesen (den Direktor) mitgeben und ging mit dem Schwiegersohn des Hauses wieder in die Strafanstalt. Hier waren sämtliche Leute in einen unteren Flur zwischen Glasabschlüssen gebracht worden und es kostete viele Mühe, aus der allenthalben frühstückenden, ziemlich dichtgedrängten Menge einen mithineingeratenen gemeinen und recht gefährlichen Mann namens Günter wieder herauszubringen, zumal ihn etliche ihm wohlgesinnte versteckt zu halten suchten. Vor der Absperrung wurde besagter Günter wild und schrie heftig, er wolle mit hinaus, es sei jetzt für ihn die einzige Gelegenheit, der Wachthabende habe auch ihn für frei erklärt u.s.w. Er ließ sich nicht beruhigen, drohte damit, er werde das ganze Haus rebellisch machen, kurz, die Lage schien sich zuzuspitzen. Ich ließ die in einem anderen Teil noch frühstückenden „Soldatenräte“ herbeiholen, sie bekamen Akten vorgelegt, verhörten summarisch den Mann und entschieden, er solle hierbleiben, nachdem wir ihnen eindringlich die Verantwortlichkeit zu Gemüte geführt hatten. Der baumlange starke Günter wollte sich schlecht beruhigen und es bedurfte einiger Mühe, ihn wieder in seine Zelle hineinzubekommen. Kurz, vor 7 Uhr gings dann in der Dunkelheit zum Bahnhof, ich marschierte mit. Die Leute hielten gut Ordnung, der Soldat steckte ihnen doch im Leib. Ich regte an, eins zu singen, und wirklich sangen sie „Muß i denn u.s.w.“, dann ein Soldatenlied. Am Bahnhof ging alles ohne Zwischenfall ab. Alles fuhr ohne Fahrkarte. Ich wäre gern mitgefahren, hatte aber Helene versprochen, heimzukommen. Später, als ich vor 10 Uhr mit dem nächsten Zug nach Bonn fuhr, traf ich an der Bahn einen der roten Posten, sichtlich befangen unter den musternden Blicken der Umstehenden, namentlich auch der Feldgrauen. Daß er mit mir ein Wort wechseln durfte, schien ihm recht erlöslich, zumal er in der Sperre als Mann ohne Fahrkarte von den Bahnbeamten geradezu als Luft behandelt wurde. Auch der „Leutnant“ fand sich ein. Sie hatten tatsächlich die Flugwache hier entwaffnet. Ich fuhr 4. Klasse, hatte auch diese Fahrkarte, mit anständigen Leuten in Zivil und Militär, die alle den Humbug mißbilligten. Das Volk ist hier wenigstens durchaus monarchisch. Aber die Welle überflutet alles: Frieden, Frieden und keinen Krieg mehr. – Ich schreibe dies heute am 11. November – und es fällt mir schon schwer mich auf diese kurze Spanne Zeit zurückzudenken, denn mittlerweile haben wir

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schon in rasendster Folge Scheußlichstes erlebt und das Schlimmste wird noch kommen. Zurück zur Sache! – Der Bonner Bahnhof zeigte auf dem Bahnsteig allenthalben die rot bebänderten Jüngelchen, mit ruhig in Gruppen stehenden Urlaubern, die ohne Waffen heimgeschickt wurden. Die Ausgänge zur Haupttreppe waren durch eine festgemauerte Menschenbarre gesperrt und ich konnte nur mit Mühe seitlich mich durchdrücken. Ein hagerblasser Mann hielt dort vor ruhig dastehender Menge eine besonnene Ansprache; es sei heute morgen ein Arbeiter- Bürger- und Soldatenrat gebildet worden, der alle öffentliche Gewalt übernommen habe. Auf der Straße waren viele Leute, namentlich viele Kinder, die infolge der Grippe schulfrei hatten. Sonst war alles ruhig. In der Bachstraße liefen eine Horde kleiner Jungen etlichen Soldaten nach, die sie zurückschickten. Ich rief ihnen recht kräftig zu, nach Hause zu gehen, worauf sie sich zerstreuten. Mama, leider immer wieder ohne Mädchen, war wohlauf. Papa auch im Hause 50 Bachstraße, wo er 2 Öfen brennen hatte! Ich machte ihn auf die Gefahr für Schmuck und Silber ect. im Hause aufmerksam, ohne ihn zu einem Entschluß zu bringen. Ich aß mit Mama, legte mich dann eine Stunde ins Bett und schlief, denn ich war recht müde. Dann kam Ohm, nachmittags auch Willi und Vater Reitmeister. Willi holte sich Frack, denn von in Uniform heiraten ist keine Rede mehr. Ich sprach Heinr. Schneiders, gleichfalls in Zivil, Aldenhoven desgleichen und fuhr abends pünktlich wieder im überfüllten Abteil 2. Kl. mit etlichen frechen Militärschnauzern heim, die aber mehrfach abgestumpft wurden. Hier hörte ich, daß man noch 2 Strafgefangene geholt habe. Sonst hatte sich nichts ereignet. – Bei prächtigstem Wetter unternahm ich gestern den ersten Pächter-Hamsterausflug zu Jos Herm Kröger, der sich sehr lohnte. Ich fuhr 315 nachmittags mit mäßig besetztem Zug nach Kuchenheim, traf darin einen unserer früheren Soldatensträflinge, der neu eingekleidet wieder nach hier gekommen war, um sich seine Zivilkleider und noch 50 M Arbeitslohn zu holen. Er begrüßte mich recht froh, ich vermied im Gespräch alles, was die Mitfahrenden – auch alles „Urlauber“ – auf den Gedanken bringen konnte, daß er mit der Strafanstalt hier etwas zu tun gehabt habe. In ¾ St. Marsch erreichte ich über Weidesheim Klein Büllesheim, wurde bei den Pächtersleuten sehr freundlich aufgenommen (sie hatten gerade tags zuvor ihre Pacht an Felten bezahlt! Schade, ich hätte sie sonst gern mitgenommen!) Es wurde mir ein besonderer reichlicher Kaffee mit Brot, Blatz und Gebäck vorgesetzt, ich unterhielt mich aufs beste. Austausch von Anbaumöglichkeiten wurden ausgiebig erörtert und zum Schluß gleich ein l Trester gegen 25 Pfd guten Weizenmehls eingetauscht, wovon ich 15 Pfd mitnahm, desgleichen ein angebotenes ½ Pfd Butter, für das sie nicht mehr als 2,50 M haben wollten, während ich 5 M geben wollte. Außerdem gabs noch Kuchen und Butterbrote für die Kinder, sowie ein gutes Stück Weck. Herta, die mit Erkältung krank zu Bett liegt, ißt mit Behagen davon und Mariannchens Freude war groß. In fast leerem Zug fuhr ich 831 nach

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hier zurück. Außer einer jungen Frau war ein junger Kuchenheimer mit, der rotes Bändchen auf Feldgrau trug und auf meine Frage berichtete, er komme von der Flandernfront, sei Freitag dort weg, Stille dort, Verbrüderung mit den Engländern, bei denen der gleiche Aufruhr sei u.s.w. Offiziere und Disziplin sei in Ordnung, er selbst schien aber vorerst geneigt, sich mal etliche Tage recht disziplinfrei in den Städten herumzutreiben, ehe er an die ländliche Arbeit bei seinen Eltern gehen wollte, die ich ihm sehr nahe legte. Vorher hatte ich ein Gespräch mit 2 besonnenen Leuten am Kuchenheimer Bahnhof, von denen einer berichtete, wie die jungen Laffen in den Kasernen herrlich und üppig von den noch vorhandenen Vorräten lebten, während die Kleider- ect. kammern restlos geleert seien. In Klein Büllesheim hatte selbst ich ein kleines Erlebnis. Plötzlich – es war bereits dunkel! – hieß es: In einem Wagen sind ein Trupp junger Soldaten mit Gewehren gekommen, die Haussuchung abhalten wollten und bereits in den Wirtschaften gewesen seien. Sie hielten auch tatsächlich eine Haussuchung aber ohne Ergebnis bei einem ab, der verdächtigt war, bei der Plünderung der Euskirchener Kammern Kleidungsstücke und dergleichen verschleppt zu haben. Das Gleiche scheint sich allenthalben ereignet zu haben. Ich schrieb heute amtlich dem neugebildeten Arbeiter- und Soldatenrat in Euskirchen, daß derartige Schritte unnütze Erregung verursachten und besser wie bisher den Justizorganen überlassen blieben. Den Bonner Rat bat ich um Erlaubnisschein, in Bonn abends nach 9 Uhr auf der Straße sein zu dürfen. Gestern morgen besprach ich mich mit Direktor Trautmann in der Anstalt und gab ihm namentlich eingehenden Aufschluß über die Person von Dr. Krantz, der mit im Bürger- Soldaten- und Arbeiterrat sitzt. – Gestern abend wurden die Bedingungen des Waffenstillstands bekannt, der Kaiser sei in Holland, beides heute bestätigt. Die Bedingungen, unterdessen bereits angenommen, sind Deutschlands größte Schmach seit Napoleon. 4 Jahre lang gesiegt, um dann so schmählich zu enden!! Es ist kaum zu fassen. Helene ist ganz außer sich darüber, ich bin ruhiger. Es muß halt weitergehen. Jedermann rechnet mit ungeheuren Verkehrs- und sonstigen Schwierigkeiten, Hungernot und Revolten. Helene ist mit Frl. Ida heute nachmittag nach Bonn, um noch rechtzeitig aus dem leerstehenden Bonner Hause ihre Kleider, vielleicht auch Schmuck und Silber herauszuholen. Papa wird wohl wieder alles nicht eher glauben, bis der Teufel in seinem Hause sitzt. In den zu besetzenden Radius von 30 km um Cöln fällt zwar Rheinbach nicht drein, doch soll die ganze linke Rheinseite geräumt und 30 km rechtsrheinisch neutrale Zone sein . . . . . . Na, dafür haben wir inzwischen in Berlin die „soziale“ ––  nicht einmal deutsche ! –– Republik mit Scheidemann und Genossen.
Ich meine es wäre an der Zeit zu singen
„Was ist des Deutschen Vaterland? u.s.w.

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Einen solchen Zusammenbruch hätte wohl keiner für möglich gehalten. Gegen alle Nachrichten, daß bei unseren Feinden ähnliches im Inneren und an der Front im Gange sei, bin ich äußerst mißtrauisch. Vor Jahresfrist haben sich die Russen im gleichen Irrtum über uns befunden und suchten ihr Heil in der Verzögerung. Ob nun desgleichen noch nutzen wird? Man kann es nicht wissen.
Bei Gericht war heute glücklich der Sekretär Wachendorf krank, so daß ich nur mit Mühe  meine Prozeßakten für die morgige Sitzung zusammenbekommen konnte. 400 und einige Mark sind mir als die nach den alten Bestimmungen zustehenden Umzugsgebührnisse angewiesen worden. Vorab aber hat die Post und damit auch die Gerichtskasse kein Geld. Ich benutzte die gestern verabredete, von mir selbst zu bewerkstelligende Überführung eines Untersuchungsgefangenen dazu, mit Hülfe des Schlossermeisters Kohlhaas unseren eigenen Herd aus dem Gerichtsdepot zu holen und in mit Hülfe 2er nach Tisch von der Hofkolonne herangeholter Belgier (1 Wallone und 1 Flame) gegen den nicht brennenden fiskalischen auszuwechseln. Er brennt bereits wieder vorzüglich. Wenigstens ein Fortschritt! Trotz und mitten in aller Umwälzung hatte ich Samstag morgen eine tüchtige Karre fetten Kuhdünger bekommen, und die beiden Belgier breiteten mir diesen heute nachmittag hübsch im Garten aus. Auch ein Vorrat für kommende schlimme Zeiten. Herta liegt nebenan zu Bett. Es geht ihr besser. Marianne hat gestern, als ein deutscher Flieger recht tief mit Gepolter heranbrummte, der übrigens hinten einen Schließkorb drauf hatte, in folgender Weise aus dem Fenster zum großen Gaudium der Nachbarn wiederholt angefahren: Dummer Flieger, bleib weg vom schönen Rheinbach, flieg nach Meckenheim, Witterschlick, Impekoven, Bonn und tu deine Bomben da abwerfen. Brauchst uns nicht unsere schöne Wohnung kaputt zu werfen, die haben wir eben so schön eingerichtet, dummer Flieger u.s.w. mehrfach wieder von neuem. – Ob Willi, der mit seinem Vater aus allen sorgfältigen Überlegungen heraus nie zu einer raschen Tat kommt, noch vor der kommenden Verkehrssperre mit seiner Frida zusammenkommt? Ich möchte es sehr bezweifeln.
Rheinbach, 15. November 1918
Jeder Tag bringt überraschendes Neues in Fülle. Vorgestern machte ich einen prächtigen Marsch durch den Wald über Ringsheim nach Flamersheim, konnte dort glücklicherweise einen Rechtsstreit, der 2 Nachbarn vielleicht auf Lebenszeit zu verfeinden bestens geeignet war, durch einen Vergleich erledigen, so daß sich die Zeugen und Sachverständigen erübrigten, und marschierte abends mir Rechnungsrat Ruland über Palmersheim nach Odendorf, wo wir nach langem Warten endlich den Zug nach Hause bekamen. Der Ton in den stets überfüllten Abteilen ist schon wieder ein ganz anderer. Das Volk, auch in unteren Schichten, hat sich anscheinend auf sich selbst besonnen und sieht mit ungläubigem Staunen allmählich, wie sich ein riesiges Trümmerfeld vor seinen

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Augen weithin auftut. Älteren Leuten geht die Sache regelrecht an die Nieren. Sie haben einen innerlichen Knick bekommen und es ist fraglich, ob sie ihn überwinden werden. Auch an Papa Reitmeister ist dies leider gut zu merken. Gestern nachmittag hatte ich nach anstrengendem Gerichtsdienst etwas nach Tisch geschlafen und stand frühzeitig wieder auf, weil ganze Kraftwagenkolonnen auf unserer Straße vorbeifuhren. Die jüngeren Leute lümmeln sich darauf mit roten Bändchen herum – n. b. das Abnehmen der Kokarden, Achselstücke und Offiziersabzeichen ist schon wieder sehr plötzlich aus der Mode gekommen! – die älteren sehen einen fragend an und erwarten irgend ein Zeichen freundlichen Empfangs. Sie haben es wahrlich verdient, ich möchte es gern jedem einzelnen zuschreien, daß wir, die innere Front, ganz und gar allein die Schuld und Verantwortung für das große Schlamassel zu tragen haben, während sie draußen redlich ihre Pflicht getan haben. Während mir diese Erwägungen heute recht deutlich vor die Seele traten und ich nicht verfehlte, jeden darauf aufmerksam zu machen, mit dem ich in Berührung komme, ergriff mich gestern der Anblick der ersten Heimkommenden geschlossenen Formation in Form einer Kraftwagenkolonne derart, daß ich sie nur tränenden Auges mit ganz unbeherrschtem Ausdruck tiefsten Schmerzes ansehen konnte und es förmlich fühlte, wie die Blicke der Leute ernst und zurückgezogen, wie wenn eine wunde Stelle bei ihnen berührt worden sei, von mir ab und starr geradeaus wandten, während sie vorher zu unserer hübschen, im Fenster ein Stockwerk über mir liegenden Frl. Ida mit frohem Lächeln emporgesehen hatten. Dies und die fragenden Blicke einiger Offiziere eines heute vorbeiratternden bairischen Kraftwagenzuges schnitten mir durchs Herz und ich habe mir fest vorgenommen, meine Bewegung zu verbeißen und sie fröhlich zu begrüßen. Am liebsten möchte ich ein großes Schild anbringen

Herzlich willkommen im treu verteidigten Vaterland!

Will sehen, ob ich morgen in Bonn nicht ein solches Plakat kaufen kann. Nun aber zur Sache: ich war gestern nachmittag zwischendurch eben daran, die Kaninchen zu misten, als Papa mit Willi und zu meiner größten Freude auch Frida erschienen. Das prächtige Menschenskind hatte sich im letzten Augenblick, ohne erst Papas längst abgesandte Einladung erhalten zu haben, von Berlin Steglitz nach Bonn mit der Bahn durchgearbeitet. Gottlob! Nun hatten sie schon auf morgen die Hochzeit festgesetzt und wir beratschlagten alle mitsamt, wie es zu machen wäre. Das ist freilich eine Hochzeit in ernstester Zeit. Frida aber wollen wir möglichst die

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Abwesenheit ihrer Eltern und Verwandten zu ersetzen versuchen. Als wir sie gestern abend zur Bahn begleiteten – die Züge fahren merkwürdigerweise immer noch – war das meiste schon überlegt, ich machte mich selbst auf Hamsterstrümpfe und eroberte ein Stück Fleisch, Helene nimmt Kuchen, Wein, Äpfel, alles zu einer kleinen Abendfeier im Elternhause Bachstraße, nachdem wir nach der Siegburger Trauung ein Mahl in Bonn bei Schwartz genommen haben. Nun Schluß. Die Karnickel sind heute mittag bei strahlender Sonne gemistet worden, alte Schinken von rückständigen Zivilprozeßakten müssen etwas zurückstehen. – Pferde gabs vor etlichen Tagen zu 200, gestern zu 50 M zu kaufen und jetzt kann man sie u. U. schon geschenkt erhalten. Den Bauern werden sie vielfach „verliehen“. So das Gerede. Ich möchte mir gern eins schlachten, hörte aber, daß sie meist sehr schlecht hierzu seien. Nun möchten uns die Engländer auch noch gern Helgoland besetzen. Gott strafe sie! –
17. Nov. 18. Bei 4 - 5° Kälte pflegt sich das Revolutionsfieber zu legen. Ein schneidender Ost macht den Aufenthalt draußen nicht sonderlich gemütlich und doch waren die Straßen in Bonn gestern belebt fast wie im Karneval. – Wir fuhren im Morgengrauen schwer bepackt nach Bonn, in 4. Klasse mit ruhigen Leuten. An der Rheinbrücke sahen wir die andauernd überfahrenden Etappenfahrzeuge, fuhren nach Siegburg und trafen dort in Willis Wohnung alle an. Die bürgerliche Trauung auf dem Standesamt ging schnell und anstandslos. Draußen stand ein Soldat, der ein struppiges müdes Pferd am Zügel hielt; er hatte es um 5 M gekauft. Vor Willis Wohnung auf dem Hof des Seminars hielt ein Zug Kraftfahrzeuge, die Soldaten verkauften Kisten und Kasten, Matratzen und Plantücher u.s.w. Die Sicherheitswachmannschaften konnten es nicht hindern. Es geschieht allenthalben dergleichen und der Pastor warnte heute hier in der Sonntagspredigt vor solchem unbefugten Ankauf. Hier war gestern Reis und dergleichen verkauft worden. Es wird ebenso jetzt allenthalben nach den verschleppten Gegenständen nachgeforscht, und diese werden den Leuten wieder abgenommen. Gegen 12 nahmen wir ein gutes Mittagessen bei Willi ein, Heinz und Fräulein waren mit dabei und gegen 2 gingen wir bei heller Sonne und scharfer Luft zur Kirche. Der Pastor Bormann oder so ähnlich hielt eine ebenso natürliche wie ergreifende Ansprache, in der alle schlimmen Zeitumstände sich wiederspiegelten. Er hat sich das E. Kreuz I. Kl. im Schützengraben geholt. Wir waren bei der einfachen Feier sehr ergriffen und umarmten uns aufs Herzlichste. Nach kurzem Aufenthalt im Hause fuhren wir, die Neuvermählten, Papa, Helene und ich nach Bonn in überfüllter Elektrischer. Bonn hatte sich mittlerweile in Festschmuck geworfen, das Volk war allenthalben auf den Beinen und wogte durch die Straßen und hielt die Bürgersteige besetzt an den Straßen, über die die Etappen zogen. Da konnte man seltsame Bilder sehen, kleine Kraftwagen auf große Lastwagen gestellt, Kälber und Schafe zu Fuß getrieben, Radfahrer, Landwägelchen mit Offizieren, Reiter in phantastischen Pelzmänteln.

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Die Straßenjugend warf dazwischen mit bunten Papierrollen und das ganze mutete hier und da an Fastnacht an. Die roten Fahnen wurden seltener. Manche Kraftwagen mögen sie auch nur führen, um sich keine Scherereien seitens der roten Brüder zuzuziehen. Hier sind heute bairische Wagen durchgekommen, die ein Kaiserbild zeigten. Vielleicht giebts auch kluge Fahrer, die je nach der Landschaft, Stadt u.s.w. bald das eine, bald das andere zeigen. Der Führer der anmarschierenden 1. Armee mit den Gardetruppen – Kampftruppen sind bisher noch nicht gekommen – hat ansagen lassen, er bäte seine Leute nicht mit roten Flaggen zu reizen, sie verständen darin keinen Spaß. – Ich lief noch zur Maxstraße, wohin man mich in der Reichszeitungsdruckerei verwiesen hatte, um mir ein Bewillkommungsplakat zu holen. Leider ohne Erfolg. Vom Bonner Haus Bachstraße, wo wir uns wieder zusammenfanden, gingen wir 6 Uhr zu der Weinstube Schwartz in der Kaiserstraße, wo wir im hinteren Zimmer sehr gemütlich für uns saßen und ein schönes wohlzubereitetes Essen hatten, dazu tranken wir 2 Flaschen selbstmitgebrachten trefflichen Moselweins und 2 Sekt desgleichen. Es gab vorzügliche Erbssuppe mit 15er Bernkastler Steinkaul Auslese Fuder 7 von C. Aug. Liell, Filetbeefsteak mit Bratkartoffeln, Bohnen, Erbsen, Wirsing u.s.w., dazu Hochheimer als Kribbelwasser. Wir waren sehr in Stimmung und Frida, die tüchtige Braut, die in recht dünner luftiger Kleidung (dunkle Straßentoilette, Willi in Frack, Papa Gehrock, ich Schniegel) erzählte uns sehr nett die anmutende Geschichte ihrer Bekanntschaft und Verlobung mit Willi. Das Essen kostete einschließlich 12 M Stopfengeld für die 4 Flaschen und 13 M Trinkgeld an die Kellner nur 85 M. Ich hatte telefonisch Heinrich Schneiders mit Frau – sie hatten schönen Blumenkorb geschickt – zum Abend nach der Bachstraße gebeten, ich holte meine Mutter, die darauf schon vorbereitet, aus dem Bett, Schwägerin Emma war leider nicht zu haben. Wir feierten alle miteinander noch brav bis 10 Uhr, darnach ist allgemeiner Zapfenstreich in Bonn. Alle blicken nur mit rechter Befriedigung auf den schönen, für Frida so wehmütigen und in allen Stücken so denkwürdigen Tag zurück. Willi hat als konsequenter Freund aller Halbheiten seine uns gestern fast unerträglich schlampige Haus„dame“ noch nicht abgeschoben, Frida wird nach etlichen Tagen Zusammenseins mit Willi in Bonn, infolgedessen nicht in ihr Heim in Siegburg gehen, sie will mit Recht nicht mit dem Fräulein – das mir diesmal wieder sehr unsympathisch vorkam – zusammensein und namentlich auch schon des von ihr völlig falsch behandelten Jungen wegen. Hoffentlich findet sich bald eine Möglichkeit, das lästige Fräulein abzuschieben. – Heute früh waren wir zeitig auf den Beinen, Helene hatte in der Frühe heftige Magenbeschwerden, die sich aber bald verloren, mir war alles vorzüglich, selbst der ungewohnte reichliche Weingenuß, bekommen. Wir fuhren, von meiner Mutter und Schwiegervater zur Bahn gebracht, planmäßig ¼ nach 8 nach hier zurück und hatten in 4. Kl. wieder durchaus verständige Unterhaltung. Vormittags machten Anstaltspastor Echternach und Frau bei uns Besuch, angenehme Leute, und heute nachmittag

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besuchte uns Direktor Trautmann, als wir uns eben gründlich ausgeschlafen hatten. Er hatte eine geradezu tolle Anweisung vom Oberstaatsanwalt bekommen, Bestimmungen des Aufruhrgesetzes von 1850 über die Ersatzpflicht der Gemeinde zu veröffentlichen, eine geradezu hanebüchene Zumutung unter den obwaltenden Umständen. Das Gesetz dürfte recht änderungsbedürftig sein. Werde es mir morgen mal genauer ansehen. Bei ziemlicher Kälte zeigt der Himmel heute ein grau verhangenes Gesicht, fast als ob es zu schneien Lust hätte. Hoffentlich bleibt es trocken. Die Feinde stellen Lebensmittel in Aussicht, aber obs nicht bloß würdige Redensarten sind?  Am 2. Februar solls eine deutsche Nationalversammlung geben, gewählt von allen 20jährigen beiderlei Geschlechts nach den Regeln des Verhältniswahlrechts. Das kann Überraschungen ergeben! – Eine wohlgeheizte Stube ist uns heute eine Wohltat.
Rheinbach, 25. November. Bisher war trockenes Frostwetter, jetzt scheint es Schnee oder sonstige Niederschläge geben zu wollen. Trotz der Engigkeit der Wohnung haben wir das Kinderzimmer ausgeräumt und dort alles zur Einquartierung vorbereitet. Gestern waren 4 Mann bei uns angesagt, doch kam schließlich keiner, während unsere Nachbarsleute Opificius 5 Leute beherbergten. Ich brachte gestern abend nach Tisch eine gute Flasche 15er Erdener dorthin und erlebte die Freude, daß 4 handfeste Ostpreußen – einer aus Pillkallau, der den Collegen Havenstein dort kannte – sie mit Genuß tranken. Diese Männer waren in Suwalki, Galizien, Serbien, Mazedonien, Frankreich gewesen, hatten überall tapfer gefochten und viele Tote zurückgelassen. Ein Metzger unter ihnen verstand gut zu erzählen und stellte eine serbische Hochzeit ganz anschaulich dar. – Vor Tisch hatte ich einer Beamtenversammlung im Hotel Kauth beigewohnt, in der recht glatt von einigen 50 Beamten die Gründung einer Genossenschaft zum Zwecke engeren Zusammenschlusses zur Wahrung wirtschaftlicher und standesrechtlicher Interessen beschlossen wurde. Da ich einige Töne redete, wählte man mich in den Arbeitsausschuß, in dem ich zusammen mit dem wohlachtbaren Kreissparkassenrendanten Bürvenich sogar den Vorsitz teilen soll. Hoffentlich kommt die Genossenschaft bald unter Dach und beginnt ihre Tätigkeit mit Beschaffung von Lebensmitteln, Brand und ähnlichen Bedürfnissen. Es ist hohe Zeit auch für unseren Berufsstand, sich zusammenzuschließen. – Die Stadt hier hat sich in ein Heerlager verwandelt. Ununterbrochen marschieren Truppen, dampfen Feldküchen, schnurren schwere Last- und leicht beschwingte Personenkraftwagen neben den endlosen Zügen dahintrottender Fuhrwerkskolonnen. Alles drängt zum Rhein. Der Bahnhof ist militärisch besetzt und in ein Proviantamt umgewandelt. Ein riesiger Stapel Hafersäcke, mit Plantüchern eingedeckt, lagert am Güterbahnhof. Hin und wieder fällt auch etwas für die Bevölkerung ab. Unseren Nachbarn gaben wir gestern einen gehörigen Korb Kartoffeln für die Einquartierten und erhielten dafür eine Portion Feldküche (Griessuppe mit Rindfleisch) und ½ Büchse fettes Rindfleisch, das gestern abend mit

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Rahmkartoffeln ein herrliches, schon lange nicht gehabtes Abendessen abgab. Bei unseren Milchlieferern hat eine Kuh gekalbt und seitdem haben wir reichlichere und bessere Milch. Wir beginnen, uns von der Aushungerung an der Mosel langsam etwas zu erholen. Letzten Freitag unternahm ich bei prächtigem klarem Frostwetter – leider nahm die Bahn einen harmlosen Zivilisten schon nicht mehr mit – einen Tagesmarsch über Land, der recht ergebnisreich ausfiel. Ich marschierte über Oberdrees - Essig, Esch nach Straßfeld. In Esch gabs eine Tasse warmen Kaffee für – – 10 Pf. (sage und schreibe zehn Pfennige!) ich hätte derartiges nicht mehr für möglich gehalten. Ich erwies mich nachmittags auf dem Rückmarsch dankbar dafür, indem ich einem jungen Landwirt, der der Wirtsfrau Bier von Euskirchen beschaffen wollte, half ein Militärgefährt von den sächsischen Truppen mitzubekommen. Das brachte mich dann zugleich nach Kleinbüllesheim zum Landwirt Kröger. Dort gabs wieder allerhand schönes zum Mitnehmen, auch wurde eine Gans zu Weihnachten ausgemacht. Sogar 1 Pfd. Speck gab die vortreffliche Mutter Kröger mit.
Rheinbach, Donnerstag 28. Nov. 18. Es drängt sich alles in solcher Eile, daß man die Übersicht über die Ereignisse verliert. Vorgestern hatte ich volle Zivilsitzung, nachmittag 2 ½ lud mich ein bei Direktor Trautmann einquartierter Lt. Zimmermann aus Bremen zu einer Autofahrt nach Bonn ein; es war mildes feuchtes Wetter; auf allen schlammigen Straßen marschierten endlose Kolonnen Fahrzeuge aller Art auf Bonn zu, nur hier und da einmal ein kleiner Trupp geschlossen marschierender Fußsoldaten mit Gewehr und Gepäck. Auch die Tage seit dem sieht man hier nichts wie Fahrzeugkolonnen und hier wenigstens gewinnt man den Eindruck, das deutsche Heer (?) bestünde nurmehr aus Gepäck und Fuhrzeug, Pferde und etlichen Leuten. Seit zwei Tagen haben wir 3 Mann (einen Badenser, einen Hechinger und einen Berliner aus Posen) sowie Lt v. Lutzki aus Westpreußen, Führer einer leichten Munitions- jetzt Mehlkolonne. Wir hatten schon vorgestern das Zimmerchen des Dienstmädchens ausgeräumt und dieses in ein Kinderbett umgelegt. Zuerst war ein Lt. Vogel, junger Mann, aus Breslau drin. Alle sind abends zu einem Glase Wein eingeladen, versorgen uns mit Lebensmitteln mit, wofür wir ihnen gut kochen können. Sie sind sehr dankbar für diese angeblich ersten guten Quartiere nach anstrengenden langen Märschen von der Front her. – Gestern abend trank ich mit meinem Quartiergast gutes Bier im dichtgefüllten Rheinbacher Hof hier und traf dort v. Hymmen, der seine Kolonne noch nach Magdeburg bringen will und vorher schon auf dem Amt nach mir gefragt hatte.
Vorgestern platzte ich um ½ 4 ganz unerwartet bei meiner Mutter in Bonn herein und brachte ihr zu ihrer großen Freude einen Rucksack voll großer schöner Kartoffeln hin. Ich traf Frida im Hause Bachstraße, die sehr froh war, mich zu sehen. Ohm war bei Mama, Papa wurde telefonisch von Hersel gerufen, kam mit zur Mama, dort kamen 2 stattliche Männer zur Einquartierung, die Mama mit Brot, Fleisch und Zucker bedachten und 60000 M im Kassenschrank hinterlegten,

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ein Handwerksmeister erschien, um unseren kürzlich nach dort gesandten Gasherd aufzustellen, kurzum, es herrschte Leben. Alle Straßen nach Bonn sind vor Marschkolonnen und die Straßen in Bonn nach einheitlichem Plan so abgesperrt, daß keine Verstopfung zur Brücke eintritt. Es ist ein toller Zauber dort. Der Feind ist unbarmherzig und drängt auf der Ferse nach. Allgemeiner Ruf nach baldiger Nationalversammlung. – Willy hat sein schlampiges Fräulein noch, die nicht heim kann, und muß daher  Strohwitwer spielen, da Frida nicht eher ins Haus will, bis jene raus ist. Seiner nicht ganz klaren Militäranstellung wegen will er sich vorab in der neutralen Zone irgendwo in Oberkassel einquartieren. Wenn er sich damit nur nicht in die Nesseln setzt! Papa klagte heftig über die bösen Zeiten. Geheimrat Forstmann, Onkel Gustavs älterer Bruder, früher Reichsbankpräsident in Frankfurt, hat sich, 80 Jahre alt, erschossen. Ballin vergiftet. Ohm hat Einquartierung mit Pferden in Olsdorf. Dort ist man wegen ausbleibender Nachrichten über (ich kann leider nicht erkennen, wie der Name heißt) sehr in Sorge, der sich in Cöln am Kehlkopf hat operieren lassen, um damit eine neuerliche notwendige Kur in Arosa zu vermeiden. Hoffentlich nimmt es mit ihm keinen bösen Ausgang. – Abends brachte mich Herr Zimmermann, nachdem er zwischendurch nochmal erschienen war und die Abfahrt mir sehr gelegenerweise um 1 Stunde verschoben hatte, und holte mich wieder ab. Wir fuhren Endenich, Duisdorf, Buschhoven, Mohren- und Peppenhoven zurück und ich erinnerte mich alter schöner Radausflüge auf dieser Straße in längst verschwundenen prächtigen Pennäler- und Studentenjahren.
Heute morgen fiel mir das aufgeregte Wesen des Apothekers Dr. Schmitz hier auf, der ein Gerücht verbreitete, der Feind sei bereits in Aachen, sowie daß alle Soldaten mit geradezu blindem Eifer zu Fuß, zu Pferde, auf den Wagen, Gespannen an allen Ecken, im Marsch und in Ruhe die Zeitungen lesen. Die Lösung erhalte ich heute mittag, unser Leutnant erzählt uns bei Tisch, die Leute seien nicht mehr zu halten. Auf unverbürgte Gerüchte hin heißt es, der Feind ist im Anmarsch, niemand will mehr zum Schluß noch mit dem Blick sozusagen auf die Heimat interniert werden und so drängt jetzt alles zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein, nicht um dessen Hüter zu sein, sondern um bald über die neutrale Zone und im Schutz des rechtseitigen Rheinufers zu sein. Ich habe mir eine Kölnische vom 19. mit einer Kartenskizze herausgeholt, nach der bis zum 1. d. h. Nacht auf Sonntag eine Linie westlich von uns, die über Zülpich führt, geräumt sein muß und unser Gebiet bis zum Rhein bis zum 5. Dezember zu räumen ist. Unser Kolonnenführer läßt nun gleich seine Leute antreten und darüber abstimmen, ob heute oder morgen abgerückt werden soll. Jedenfalls ist zu berücksichtigen, daß alle Anmarschstraßen zu den Rheinübergängen derart besetzt sein werden, daß sie vielleicht Dutzende von Stunden in Nacht und Nebel, Kälte und Nässe im Freien stehen müssen, während sie hier warmes und trockenes Quartier hätten. – Aus einem Staffelkommando

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ist uns für heute ein weiterer Offizier angesagt worden. Heute mittag schlemmten wir mit einem vom Leutnant mitgebrachten Stück saftiger Rindslende und fetter Nudelsuppe aus der Feldküche wie auf einem Kirmeßessen. In den Weinbestand wird dabei ein ordentliches Loch gerissen und alles tröstet sich in dem Gedanken, besser so, als wenns der Franzmann sich holen kommt. Aus einer schon abmarschierten Truppe ist ein krank zurückgebliebener Soldat in der Anstalt hier gestorben und soll gleich beerdigt werden. Frau Pfarrer u.s.w. bemühen sich eifrig, ein einigermaßen anständiges Begräbnis zur Befriedigung der bereits erschienen Leidtragenden zu veranstalten mit Kränzen u.s.w. Eben wird es dunkel und beginnt zu regnen. Das wird manchen eifrig Marschlustigen dämpfen. Da Mainz von den Franzosen, die bereits in Saarbrücken sind, besetzt werden soll, Coblenz von Amerikanern, die am 22. in Luxemburg waren, und Cöln von Engländern, so werden wir es hier aller Voraussicht nach mit Engländern zu tun bekommen. Von allen kenne ich nur meinen Arosaner Nachbar und Freund Mr. Napier, am Ende sehe ich ihn wieder.
3. Dezember 1918. Die letzten beiden Tage zogen noch viele Truppen durch Rheinbach, aber wenige an unserer Straße entlang. Gestern morgen beobachtete ich einen langen Heerwurm, auch mit vielen geschlossenen Fußtruppengliedern sich die Straße von Oberdrees nach Peppenhoven entlang schlängeln. Es steht jetzt ziemlich fest, daß wir Engländer hierher bekommen werden. Die wilden Gerüchte, die Franzosen seien schon in St. Vith (dort sollten sie schon vor Wochenfrist sein – und täglich kamen noch Divisionen von dort, die nichts gesehen hatten). Unser Gebiet bis zum Rhein ist bis zum 5. von den unsrigen zu räumen. Ein Referendar, den AGR Simons gesprochen hatte, war Samstag unbehelligt von Trier gekommen und hatte berichtet, dort seien Amerikaner, benähmen sich einwandfrei und hätten den Wein auf 2,50 M die Flasche „Höchstpreis bestimmt“. Das wird viel Geschrei an der Mosel geben. Seit sie dort seien, sei in Trier zu haben: Pralinés, Schuhwerk, nicht zu Friedens- aber einigermaßen angemessenen Preisen, Kaffee. Gestern blieb die Kölnische Zeitung aus. Ob die Bonner General-Anzeiger Nachricht richtig ist, in Aachen sei belgische Kavallerie eingerückt, steht dahin. – Helene erhielt den Tantenzirkularbrief. Der Bruder von Onkel Gustav, Geheimrat Theodor Forstmann ist bei seinem Lebensabschied mit großer Umsicht und Methode vorgegangen, nicht nur alles geordnet, Todesanzeige aufgesetzt u.s.w., auch den Kindern selbst seinen Tod depeschiert, Bekannte bestellt, damit sein Hausfräulein gleich Hülfe hätte u.s.w., schließlich sich halbangekleidet in der Badewanne erschossen., vermutlich um Blutflecken zu vermeiden. Tante Julchen schrieb alles sehr genau, auch über die Zukunftspläne der Marinesöhne, denn mit der Offizierslaufbahn ist es wohl nichts mehr. Walter ist auf eine übelwollende Anzeige sogar verhaftet und eine Nacht eingesperrt worden; dann entließ man ihn mit Entschuldigungen. Günter Riesen, Grete Brügelmanns Eheherr, erst 24 Jahre alt, gedenkt zu

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studieren. Seltsam, daß von so einer großen Familie unserer Schwiegermutter der Krieg nur den guten Alfred Neitzer als Opfer gefordert hat. Alle anderen sind wohlbehalten wieder daheim. Von meinem Bruder Josef habe ich bisher noch nichts gehört. Die Bahn nimmt einen z. Zt. immer noch nur gegen Reiseerlaubnisschein mit. Im besetzten Gebiet haben die Arbeiter- und Bauernräte ausgespielt und unsere persönliche Sicherheit scheint darin ein wenig stärker verbürgt, als im überrheinischen Vaterland, wo neuere Umwälzungen, und zwar auch solche blutiger Art einem fast unvermeidlich vorkommen wollen. – Hier hatten wir am Samstag nacht bis Montag nochmal 2 Mann Einquartierung , einen 23jährigen kräftigen und lebensfrischen Ostpreußen mit 19 Jahren im Felde und wohlgenährt und einen älteren Piependreher aus der Casseler Gegend, der viel davon redete, er werde sich jetzt auf und davon machen, um bald daheim zu sein und nicht bis dorthin marschieren zu müssen. Das Proviantamt am hiesigen Bahnhof scheint gestern abgebaut worden zu sein. Ein Güterzug mit den Resten wurde nach Siegen geschickt. Vermutlich wird die Eisenbahn die ersten Tage der Besetzung nicht, dann aber hoffentlich recht bald fahren. Ich möchte gern mal in Bonn nach dem Rechten sehen. Es ist kein Gedanke daran, bei den heftigen Regenböen, wie sei heute der starke West treibt, nach Heimerzheim zu fahren, wie ich es auf einem Viehwägelchen vorhatte.
Rheinbach, 8.XII.18. Vorgestern sah ich die erste Kavallerie, recht gut ausgerüstet auf prächtigen Gäulen. Leider waren es englische Husaren, die im Trab vorbeiritten. Es gab einem doch ein seltsam nahes Gefühl, seit mehr als 100 Jahren den Feind erstmals im rheinischen Vaterland sehen zu müssen. Ein bischen abenteuerlich sahen sie mit ihren flachen Eisenhelmen, gelbbraunem Kaki und reichlichem Lederzeug aus, eine Mischung von Cromwell’schen Eisenreitern und Wild West - Kowboys. Jedenfalls gutgenährte Gestalten mit typisch englischen Gesichtern. Es kamen mehrere Trupps, dann auch Rad- und Motorfahrer. Später viele Lastautos, die heute schon recht regelmäßig verkehren, sich durch große Schnelligkeit und leichten, geräuschlosen Gang gegen unsere schweren, langsam und mit ungeheurem Gerassel daherfahrenden Fahrzeuge auszeichnen. Hätten wir das Material der Feinde zur Verfügung gehabt, ich glaube, wir hätten den Krieg in weniger als 4 Jahren gewonnen. Nun ists vorbei. In der Kölnischen Volkszeitung – Zeitungen, Post, Bahn sind seit 2 Tagen nicht mehr – stand kürzlich ein viel beachteter, von der Kölnischen Zeitung sofort heftig bekämpfter Vorschlag zur Gründung einer eigenen Republik der Rheinländer (Westfalen, Rheinprovinz, Hessen, Baden, Pfalz) und Einladung an die Donauländer zum Zusammenschluß einer einheitlichen Republik, die den „Grund- und Eckstein“ des neuen Reichs bilden sollte. Es ist so was wie alte Rheinbundstaatenbildung im Gange in Verbindung mit einer Bewegung „Los von Berlin“. Das kann gefährlich werden für die deutsche Einheit. Das Zentrum scheint langsam aus seiner Zurückhaltung herauszutreten, seitdem die heutige Regierung die Trennung von Staat und Kirche recht eilig in Szene zu setzen sich bemüht. – Wir haben nun im Inneren der Haustüre einen Anschlag mit allen Einwohnern des Hauses hängen, ½ 8 schließen

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die Wirtschaften, 8 Uhr hat alles zu Hause zu sein und nach ½ 9 ist kein Licht mehr zu brennen. Von den beiden letzten Punkten habe ich mit den Gerichtskollegen bereits gestern abend Befreiung beantragt und sofort prompt erhalten mit einer Schnelligeit, die uns alle verblüffte. College Simons, der selbst in Frankreich in der Etappe gewesen, meinte, bei uns hätte das wohl 8 Tage gedauert. Ich meinte, wir könnten noch was lernen. Die Bekanntmachung der Engländer ist im übrigen sachlich und nicht mit jenen lächerlich übertriebenen Strafandrohungen versehen, wie sie die geblähten Belgier z. B. in Jülich erließen: Sofortiges Erschießen ohne Verahren bei Nichtgrüßen eines Offiziers! Einem solchen, an Kragen und Schlips kenntlich, haben wir auszuweichen und „durch Ziehen der Kopfbedeckung“ unsere Achtung zu bezeugen. Es liegt ihnen augenscheinlich wenig daran. An der früheren Fliegerwache haben sich die Tommys schon ein gehöriges Depot abgeladen. Sie haben jedenfalls an nichts Mangel. An 90 - 100 Mann blieben 2 - 3 Tage hier, Mannschaften liegen bei Wirt Breuer im Massenquartier. Verkauf von Spirituosen ist verboten. Angeblich zahlen sie pro Nacht Quartier 1 Schilling. = Bei Gericht bin ich aus meiner düstern und engen, luftlosen Nordkammer in ein großes wohnliches Ost-Zimmer (10) umgesiedelt. Dort sind die Möbel alle schön am Platze, eine „Fürstenempfangsecke“ ist gebildet und die alten Collegen haben sich dort schon mal behaglich niedergehockt. An der Bahnstrecke Liblar - Dernau wird eifrig gearbeitet. Wir sehen vom Wohnzimmerfenster aus, wie eine große Baubude rasch entsteht. Heute sollen weitere Besuche gemacht und heute abend die Statuten einer Beamtenvereinigung beschlossen werden. Herta ist leider – jetzt schon des wiederholtenmals – etwas erkältet, Mariannchen wächst zusehends. Wir leben besser.

Rheinbach, 10.XII.1918. Bewegte Tage im stillen Rheinbach! Sonntag hatten wir noch eine Reihe Besuche gemacht, leider dadurch auch die Gegenbesuche der Collegen versäumt. Nachmittags hatten die Kanadier, ohne daß ich etwas davon wußte, das Gerichtsgebäude mit dem Hauptquartier belegt und sich darin büromäßig in sämtlichen Räumen eingenistet. Ich merkte Montag morgen erst etwas, als eine rotweiße Flagge am  Telegrafenmast dort hing, fand dann mein „zu fürstlichem Empfang“ eben frisch eingerichtetes und von den Kollegen schon als vergnüglicher Aufenthalt gepriesenes Amtszimmer von Kanadiern besetzt. Ich packte Liegestuhldecke, Pelzfußsack und Kissen schleunigst in die Truhe und ließ nachher durch das Mädchen eine einfache Decke aufs Chaiselongue und eine blaue Leinendecke auf den Tisch bringen. Es waren feine, verbindliche Menschen, die sich sehr höflich und korrekt benahmen und dankbar sind, ein so schönes Zimmer zu haben. Nach einiger Verhandlung wurde mir ein bereits belegtes Grundbuchkanzleizimmer als Sitzungssaal wieder geräumt; ich hielt aber die Zivilsitzung heute morgen im geräumigen Zimmer des Gerichtsdieners ab, es ging wie sonst und wir erledigten eine Menge Sachen. In allen Amtszimmern ist ein toller Betrieb. Sie versichern alle, von unseren Sachen nichts anzurühren. Den Schlüssel zu meinem Robenschrank hatte ein diensthabender Unteroffizier beiseite gelegt und ich vertraute ihm daher die Robe bzw. den Schlüssel zum Schrank erneut an. Es ist eine tolle Sache, so alles dem Feinde ausgeliefert zu sehen, dazu mag man sich zwar stets sagen, gottlob, daß es keine Belgier sind u.s.w. Sämtliche Offiziere sind äußerst zuvorkommend, ein asserviertes Schießgewehr in Wachendorfs Zimmer sollte sofort zum Bürgermeister gebracht werden. Weiterungen entstanden dadurch nicht. Die umliegenden Wohnungen sind stark mit Offizieren belegt, namentlich auch im

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Landratsamt, Kasino u.s.w. College Simons hat außer Einquartierung gleichfalls Kasino, heute Direktor Trautmann auch. Wir hatten bisher einigen Schutz durch die Kleinheit der Wohnung, sollen aber heute 6 Mann bekommen, die wir eben erwarten. Es sind große Formationen Fußtruppen, anscheinend zum Teil Schotten, eingerückt, mit klingendem Spiel, auch kleinen Musikbanden. Schotten im Kilt mit Dudelsäcken und Wadenstrümpfen. Ob wir wohl jemals so in England oder Schottland herummarschieren werden? Wer weiß? – Endlich ist die etliche Tage dauernde Postsperre zu Ende, doch steht in den Zeitungen nichts besonderes drin. Amerikaner, deren wir hier auch etliche sahen – sie sehen mit ihren Hüten wie Wild West Leute aus – und Engländer scheinen sich allenthalben mit ausgesuchter Korrektheit zu benehmen. Vielleicht haben sie zu lange über die „german huns“ geschimpft, als daß sie sich jetzt auch nur den geringsten Vorwürfen aussetzen möchten. Den Mannschaften ist selbst verboten, bittweise um etwas zu fragen. Was nicht ausschließt, daß sie ohne Offiziersaufsicht sich die Eier zu 3 Pf. das Stück kaufen wollen unter der Androhung, sonst die Hühner zu nehmen. Die 3 Pf. sind eine große Genugtuung für den geflügellosen Städter, der hier bis zu 1 M fürs Ei bot. Auch sollen die auf dem Rathaus zusammengebrachten Waffen nicht genügend asserviert und von etlichen Tommies in den besten Stücken bereits weggenommen worden sein. Mit Erlaubniserteilen sind die britischen Militärbehörden sehr freigiebig. Ich benutze die Gelegenheit und habe mir eine lange englisch-deutsch abgefaßte Genehmigung für alles mögliche zusammengebraut, die ich morgen bescheinigt zu erhalten hoffe; vielleicht, daß ein späterer Ortskommandant darin ein wenig minder freigebig ist. – Die Bahn fährt wieder planmäßig. Rückt die Einquartierung – die Quartiermacher heute nachmittag waren sehr frische und freundliche junge Schotten – zeitig morgen ab, so fahre ich vielleicht mal nach Bonn. Ich bedaure jetzt sehr, das Englische nur radebrechen zu können. Es könnte sachlich mit einer flotten Verständigung in vielen Fällen namentlich unseren Leuten geholfen werden.
Außer aller mit dem Hauptquartier zusammenhängenden Militärstellen befindet sich auch eine „french mission“ im Amtsgericht, bei Sekretär Bommerich haust ein „Senior Chaplain“. Papa schreibt, daß in Bonn und Siegburg alles wohl sei. – In all dieser Unruhe bearbeite ich meine Zivilsachen weiter und finde abends (9 ½ soll das Licht aus sein, ich habe Erlaubnis, es länger zu brennen, ebenso nach 8 auf der Straße zu sein) noch Zeit, wie ein mittelalterlicher Mönch an einer Hochzeitsadresse für Frida und Willi mit Wasserfarbe und Feder herumzupinseln. Mariannchen ist eben höchst verkehrt, weil sie von Opificius zum Essen geholt werden mußte, wo sie sich mit einem – er will nichts von Engländern wissen! – „amerikanischen“ (vermutlich kanadischen) Offizier angefreundet hatte, der ihr Bonbons gab.
Die Truppen machen auf dem Marsch einen vorzüglichen Eindruck. Sie marschieren in geschlossener Ordnung in Reih und Glied, und eigenartigem Geschwindschritt. Jedenfalls sind sie gut diszipliniert und was jetzt kommt sind anscheinend Fronttruppen. Pferde (die kaltblütigen darunter haben langbehaarte Beine, was ganz drollig aussieht) sind gut genährt und kräftig. Das Fuhrzeug geradezu glänzend, alle Naben mit Messingkapseln u.s.w.

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Alles wickelt sich in solcher Ruhe und Ordnung ab, daß männiglich die Ansicht herrscht, die unsrigen hätten im gleichen Fall mehr Geschrei gemacht. – Der katholische Pastor Bäumler, dem ich gestern nachmittag meinen Besuch machte, meinte zu wissen, in den nächsten Tagen werde die rheinisch-westfälische Republik erklärt werden. Vermutlich Reaktion gegen die beabsichtige Trennung von Staat und Kirche. Er meint, Limburg müsse dabei sein. Es ließ sich gut mit ihm reden. Die Vikarie ist vermietet, doch der Mieter noch nicht drin, dafür aber Kanadier, die sich sogar mit den ungeheizten Räumen zufrieden geben und im Garten auf einem Feldöfchen kochen wollten, während vor etlichen Tagen den unsrigen dieses Quartier zu ungastlich war. Die neueste Kölnische ist vom 7. und so weiß man immer noch nichts Zuverlässiges über die Wahlen. – Zum Empfang unserer Quartierleute – sie scheinen heute auszubleiben – haben wir alles kleingehackte Holz beiseitegebracht und die Kellerräume bis auf Waschküche und Kohlenkeller abgesperrt. Das Kinderzimmer ist wieder wie vor Wochenfrist „klar“ gemacht worden. – In Bonn ist Justizrat Meyer, der Notar, 68 Jahre alt, gestorben und damit ein Notariat freigeworden, das ich genauer kenne, dessen Akten käuflich sind und um das mich zu bewerben, eine Reihe von Gründen mich bestimmen. Am Ende erfüllt sich unsere Ahnung, daß wir nicht lange in Rheinbach bleiben! Es wäre geradezu schade! – Aus den Proviantvorräten unserer Truppen erhielten wir letzthin verschiedenes: 1 Pfd. Büchsenfleisch auf den Kopf. Eine große Freude! Eine Teuerungszulage von 720 M habe ich pünktlich bekommen. Unser Beamtenverein scheint sich vorab nicht bilden zu können. Heute nachmittag wurde englische Zeit eingeführt und die Uhr um 1 Stunde zurückgestellt.
12.XII.18. Jeder Tag bringt Neues. Gestern benutzte ich die wiedergegebene Möglichkeit einer Bahnfahrt zu einem Besuch in Bonn. Ich traf dort alles in guter Verfassung an. Die Kanadier hatten ihr Hauptquartier (das hier im Amtsgericht war) dort in das Palais der Prinzessin verlegt (der Höchstkommandierende soll mit ihr verwandt sein, was mich fast für den Verdacht künftiger politischer Konspirationen geneigt machen möchte) und so ist dann das Villenviertel der Coblenzerstraße sehr reichlich mit Offizieren und Stäben belegt und die von der Stadt sorgfältig ausgearbeitete verteilte Einquartierung einfach beiseite geschoben worden. Darin ist man recht rücksichtslos. Für die Bachstraße kann es die angenehme Folge haben, daß sie vielleicht von Einquartierung frei bleibt. Meine Mutter hat noch immer kein Mädchen, doch hilft ihr schon gut unser alter Gasherd, der wie neu arbeitet. Bruder Josef war gut zurückgekehrt, nachdem er als gewählter Befehlshaber einer Brigade diese durch die Pfalz und 2 von ihm geschlagenen Pionierbrücken bei Speyer über den Rhein gebracht hatte. Er war natürlich froh, daheim zu sein und muß mit seiner Praxis ganz neu anfangen. Vorab hat er allerlei Geschäftchen mit Möbeln und half Frau Rüpping (?) beim Einrichten. Ich brachte Mama Kartoffeln, Gemüse und an 1 ½ Pfd. Butter von Straßfeld mit, über die sie sich ganz besonders freute. Denn solche wird

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in den Städten zu einer Rarität. Meinen Ausweis, der durch eine Verwechslung auf die Berechtigung, täglich nach Bonn zu fahren lautet, hat mir niemand abverlangt. Die Eisenbahn fährt bis zum 14. noch nach unserer alten Zeit. Mit Heinrich Schneiders (ich besprach mit ihm wie mit Josef, der JR Meyer eben vertreten hatte, die Bewerbung um das erledigte Notariat Meyer und beide rieten mir dazu, mich zu bewerben) tauschte ich 1 L. Schnaps gegen 3 ¼ Stück gute Seife. Helene hat solche für die hier doppelt leicht schmutzende Wäsche dringend nötig.
12 Uhr abends. Es zog heute ein großer Troß hier vorbei, auch eine endlose Reihe Autos (zu 3 ton Tragkraft) in denen je 14 Tommys saßen. Von 11 ½  bis 1 ½ war alles von ihnen mit gefüllten Backen am Kauen. Wiederholt hielt ein Wagenzug vor unserer Wohnung, die Mannschaften bekamen Milchkaffee aus großen kochkistenartigem Kessel, große blendend weiße Weißbrotschnitten mit Schinkenhappen dazu. Das Volk ist glänzend verpflegt. Molkereidirektor Zingsheim, in dessen Betrieb sie ein Proviantamt hatten, sah die tollsten Sachen dort, Schokolade, Kakao, Rosinen, Reis alles die große Menge, riesige Speckseiten und Schinken bis zu 1 Zentner schwer. – Pioniere mit Brückengerät kamen auch vorbei. Plumpe hölzerne Pontons in Stücken, lächerlich sauber geputzt (vermutlich kurz zuvor mit Benzin abgewaschen, denn mit Benzin reinigen sie so ziemlich alles) die einzelnen Wagen anscheinend schwer geladen und mit je 6 Pferden bespannt. Die Besatzung scheint recht feldmarschmäßig zu werden. Anscheinend hat man immer noch einen tüchtigen Respekt vor unserer Wehrkraft oder man will, wie jetzt jeder gern behauptet, „nach Berlin machen“.
16.12.18. Freitag abend kam Helene in böser Verfassung mit 1½-stündiger Verspätung (unvermeidlicher Maschinenbruch in Witterschlick) abends spät heim; ich holte sie gottlob ab, sie fiel fast über ihre eigenen Füße: Dr. Trebes hatte ihr die Vornahme eines kleinen operativen Eingriffs zwecks Wegnahme eines Schleimpolypen dringend angeraten und sofort verständigerweise hierfür Termin auf Montag angesetzt, Aufnahme in St. Josef Hospital = Beueler Krankenhaus u.s.w. Nun natürlich die üblichen Gegenwirkungen u.s.w. Gottlob hatte sie in Bonn bei Papa und meiner Mutter nichts davon gesagt. Wir fuhren daher gestern, Sonntag mittag, an einem ordentlich schwülwarmen Dezembertag mit herrlicher feuchtluftiger Fernsicht mittags nach Bonn, ein kanadischer Offizier räumte Helene sofort den besten Fensterplatz ein. Vom Bahnhof gingen wir sofort zu Schneiders, die uns sehr froh aufnahmen und ermunterten. Wir tranken bei ihnen noch Kaffee, wurden dann von Brüne abgelöst und fuhren mit der Elektrischen ungehindert nach Beuel. Dort dauerte es eine Zeitlang, bis Helene ein recht angenehmes Zimmer (53) auf dem II. Stock erhielt. Ich ging zu Fuß über die Brücke heim zu meiner Mutter. Milde Nacht wie Frühjahr. Amerikanische Posten auf der Brücke! Hoffentlich erlebe ich den Tag der Vergeltung wenigstens gegen Frankreich. In den Hauptstraßen der Stadt ein Voksgedränge wie fast zu Fastnacht. Dazwischen viel kanadisches Militär, kreischende Frauenzimmer – widerwärtig.

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Ich schellte meine Mutter heraus, sie teilte mit, Bruder Josef habe uns eingeladen und so gingen wir gleich hin und aßen gut und gemütlich zu abend bei ihm. Er hatte u. a. Sachen einen prächtigen Rokokotisch mit Bronzebeschlag mitgebracht, ein glatter Schreibtisch, wie ich mir stets einen gewünscht hatte; auch eine Spätrenaissance Madonna gefiel mir recht gut. 9 Uhr ist Polizeistunde und so gingen wir dann nach Hause. Es war ein sehr angenehmer abend und half mir gut über die Zeit weg. Ich sagte keinem etwas von Helene. Josef machte ich heute morgen Mitteilung und besprach auch mit ihm eventuelle Schritte für den Fall, daß es sich um eine ernste Gefährdung bei Helene handeln sollte (um nämlich den Kindern den Pflichteilsanspruch zu sichern). Natürlich wurde mir heute vormittag die Zeit ein wenig lang. Ich machte meinen üblichen Rundgang durch die Stadt, zumal an den Buchläden vorbei, zum alten Zoll, besah mir lange und nachdenklich die wundervolle feuchtklare Sicht aufs Siebengebirge und die Inschriften auf dem Arndtdenkmal und versuchte mich ein wenig in Arndts Erlebnisse zurückzuversetzen. In einer Stunde war ich, durch das milde Wetter etwas ermüdet, schon wieder daheim und kam dann schließlich etwas nach 12 Uhr erst zum Beueler Krankenhaus, als Dr. Trebes schon weg war. Mehrfaches Antelefonieren erreichte ihn nicht. Ich sprach Helene, die nach dem Chloroform noch heftigen Brechreiz, sonst aber keinerlei Beschwerden und nur heftiges Schlafverlangen hatte; sie wünschte einige Sachen von Hause und so fuhr ich nach Tisch 2 ½ Uhr nach Rheinbach. Josef, den ich leider in Bonn im Zug nicht fand und erst hier in Rheinbach entdeckte, fuhr nach Zülpich. Hier ist inzwischen immer noch keine Ortskommandantur eingetroffen. In Bonn braucht man, da es allerlei Reibereien gab, keine britischen Offiziere mehr zu grüßen. Ich sah einen Zug von 11 Lokomotiven fahren, die jedenfalls den Franzosen abgeliefert werden. Es kamen mir die Wuttränen und ich will gut sorgen, daß ich den Tag der Vergeltung wenn nicht selbst miterlebe, so doch mitheranholen helfe. Als ich mich um 2 von Mama verabschiedete, rückte wieder Artillerie in Bonn ein. Nach all dem Straßenlärm in Bonn herrscht hier wieder eine wohltuende Ruhe. – Ich empfinde es als eine besondere Schmach, daß sie unseren früheren Kaiser herausgegeben und vor ein Gericht gestellt wissen wollen, man mag sich persönlich zu ihm stellen, wie man will. Auf einem Lastauto, das fast eine Woche hier arbeitete stand „Raus mit der Kaiser“. Ich hatte mir schließlich überlegt „God save the King & his cousine the ExKaiser“ darunter zu schreiben, doch war er jetzt weg. Morgen früh fahre ich zu Helene und hoffe sie dann viel besser anzutreffen.
23.XII.18. Regenböen fegen daher, es heult der Wind und man ist froh, im Trockenen zu sitzen. Der für heute beabsichtigte Hamsterausflug muß unterbleiben, und die in Klein Büllesheim beim Pächter ausgemachte Gans fällt gewiß den Engländern anheim. Diese sind soeben mit Musik eingerückt. Das Gericht ist auch wieder belegt, etliche Büros haben sie diesmal anscheinend frei gelassen. Ob ich morgen dort Sitzung abhalten kann, hängt von dem Wohlwollen des

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Doktors ab, den ich 5 Uhr zu sprechen gedenke. Sonst in der Strafanstalt, vor welcher sie einen besonderen Respekt haben. Sie ließen sie bisher noch stets in Ruhe. Vielleicht, daß auch unsere Wohnung diesmal wieder verschont bleibt. Gestern war bei Pfarrer Echternacht eine wirklich wohltuende Weihnachtsfeier, bei welcher die Kinder sangen und vortrugen, beschert wurden und große Freude erlebten. Frau Pfarrer hatte sich eine große Mühe mit den Kindern gegeben und es klappte vorzüglich. Ich ließ eine Flasche Wein zum Dank da. Der Straßfelder Vetter brachte eine Gans vom Vorsteher Hoven, der teure Vogel kostet 45 M, was noch als billig gilt. – Heute nachmittag wird wohl Helene wieder heimkommen.
Silvester 1918. Rheinbach
Ein seltsames Jahr liegt hinter uns. Erst große Erfolge, dann Revolution und Zusammenbruch, feindliche Besatzung; uns starb die liebe Schwiegermutter und dann wurden wir nach hier versetzt. Was wird 1919 bringen: Vielleicht noch Schlimmeres, hoffentlich auch lichtere Ausblicke! Nun zurück zur Wirklichkeit: Montag brachte die tüchtige Schwägerin Frida Helene aus dem Beueler Krankenhause heim, sie war noch recht schwach und mußte mit einer Droschke vom Bahnhof hier nach Hause fahren. Nächsten Tag aber konnte sie schon wieder die Weihnachtsbescherung recht gut mitmachen, zu der Papa überraschender Weise nach hier kam. Wir feierten Weihnachten recht gemütlich und ich meine, wir hätten nie so gut mit den Kindern gesungen, wie dieses Mal. Leider konnten wir einer Einladung der Pfarrersleute zum 2. Weihnachtstage nicht folgen, denn ich lag mit Halsentzündung zu Bett, blieb dort etwa 2 Tage und arbeitete derweil fleißig ganze Haufen von Akten ab. Zwischendurch aß ich wie ein Scheunendrescher und vertiefte mich in französische Baukunst des 18. und orientalische des 10. - 12. Jahrhunderts an Hand etlicher Hefte des kunstgeschichtlichen Handbuches. Jedenfalls war es mir bei scheußlichem Regen und Windwetter keinerlei Entsagung, im Bette zu bleiben. Das Gericht ist bis auf 3 Gerichtsschreibereiräume immer noch vollauf von britischem Militär belegt. Heute blühte uns auch hier an der Anstalt beinahe Einquartierung. Die größeren Häuser sind belegt, vor der Anstalt steht ein großer Troß Wagen, und Frau Nachbarin Opificius hat mal wieder einen Offizier, diesmal einen Londoner, der seit mehreren Jahren nicht daheim war und außer einem Mädchen ein über 2 Jahre altes Kriegssöhnchen besitzt, das er bis heute noch nicht gesehen hat. Derlei Fälle waren bei uns doch schon starke Ausnahme, während man sie auf britischer Seite so oft hört. Unsere Kinder waren heute auf eine Stunde dort und sehr vertraut mit ihm, er ist natürlich kinderlieb und tollte mit den Kleinen. Morgen will er sie photographieren und sandte abends noch, sobald er seine Gepäckstücke bekommen hatte, ein Täfelchen Schokolade (Nestle’s) herüber. Es sind schließlich auch Menschen wie wir. Sie reden alle jetzt davon, in 2 Monaten nach Hause zu gehen. Ob wir bis dahin Friede haben werden? Hoffentlich mal zuerst Ruhe und Ordnung in unserem Inneren und vor allem gesicherte Verhältnisse im Osten und Südosten, wo

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es zur Zeit sehr bunt und für die Deutschen höchst übel hergeht. Helene liegt zum Jahresschluß mit schlechtem Magen und schmerzhaftem Kopfweh zu Bett. Ich höre andauernd auf unserer Gartenstraße die englischen Fahrzeuge noch herumrumpeln und will gleich auch zu Bett gehen. Was die britischen Truppen eigentlich vom Postenstehen und Fourage heranholen abgesehen für einen militärischen Dienst tun, ist unerfindlich. Bürokratisch sind sie nicht; auch nicht schnauzig: Ich ging heute morgen so ziemlich durch alle Büroräume im Gericht mein Chaiselongue suchen, nirgendwo erhielt ich einen Anraunzer, wie es doch wohl bei den unsrigen unter gleichen Verhältnissen unvermeidlich gewesen wäre. Wir haben wohl auch noch manches zu lernen. Wollen dazu nun auch das neue Jahr benutzen. Die erledigte Notarstelle Meyer in Bonn giebt neue Ausblicke in die Zukunft. –