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herüber mußten. Einige Bekannte wurden noch am Hotel abgeholt,
und als wir die vielen Treppen zum „Schlößchen“ hinaufstiegen,
rückten unten auch bereits die unterdessen mit dem Zuge angekommenen
Bernkastler an. Im Hause herrschte im Treppenflur große Hitze und
Enge, der Tote lag links. Paul Thanisch und ich gingen bald hinaus auf
die Terrasse um eine Überhitzung und nachfolgende Erkältung zu
vermeiden. Da bot sich dann ein reiches Bild dar. Ringsum die verschneite
Landschaft, der vereiste Fluß, in dem sich mitten zwischen den wüsten
Schollentrümmern eine schmale der Flußkrümmung sich nachschlängelnde
Rinne mit fließendem Wasser gebildet hat, die Talmündungen rechts,
die Gräfinburg gegenüber und über dem Kautenbachtal eine
graue und finstere Wolke, die Wind und Schneeflocken in nahe Aussicht stellte.
Über die vielfach über die Gartenterrasse sich hin- und herwindenden
Wege kamen unaufhörlich lange Züge von Frauen und Kindern, darunter
ein Kirchenschweizer in neuem leuchtend rotem Tuchrock, Chorknaben mit
Kreuzen, Fahnen und dazwischen ein mit durchdringender Stimme unermüdlich
beflissener Vorbeter, der den schmerzhaften Rosenkranz anführte. Von
Zeit zu Zeit stets neue Herrn in blanken Zilindern und endlich auch 3 Geistliche,
ein kleiner schmächtiger wachsgelber im Pluviale, rechts und links
flankiert von 2 auffallend stattlichen hohen Geistlichen im langen Chorhemd
bis zu den Füßen und übergeworfen schwarzgoldenen Kaseln.
Bald kam der schwere dunkle Eichensarg, von einem ganzen Rudel von Männern
getragen aus dem Hause und der Hausherr hielt dort seinen letzten Auszug,
wo er als 29jähriger vor etwa 29 Jahren erstmals eingetreten und also
fast genau die Hälfte seines Lebens zugebracht hatte. Welche Gastfreundschaft
hat er dort bewiesen und wieviele sind dort ein- und ausgegangen. Dem Sarge
folgten die beiden Töchter, die beiden Schwiegersöhne, der Bruder
und etliche Angehörige, dann sein Freund Gescher u. a., darunter auch
wir beide. Es ging den steilen beschwerlichen Weg geradeaus herunter. Ich
selbst war zum 2. Male dort; damals hatte ich mit Helene einen Besuch dort
gemacht, aber nur seine Hausdame angetroffen. Im Kriege hatte er uns hier
aufgesucht und sich mit Helene lang unterhalten, während ich im Amt
war. So war ich mit ihm nie in seinem Hause zusammen gewesen und hatte
ihn etwa vor einem Jahr zuletzt gesehen, als er mit Gescher ihren gemeinsamen
Freund, unsern Oberförster Baier hier aufsuchte. Unter diesen Gedanken
waren wir zur letzten Kehrwende gekommen, wo ein Wagen den schweren Sarg
aufnahm. Dann wand sich der lange Trauerzug quer durch die Stadt, über
enge schmale Gäßchen, bis an einen schmalen steil aufsteigenden
Weg, über den der Sarg wieder getragen werden mußte, durch eine
malerisch verfallene Mauer mit altem verwittertem Steinbogen, dann über
eine lange schmale Brücke, von der man links und rechts auf verschneite
Rebstöcke hinuntersah, dann auf den engen, jäh abfallenden Kirchhof,
in dessen Mitte sich ein kuppelbedeckter kleiner Bau mit weiter romanischer
Bogenöffnung erhob. Dort ward der Sarg unter dem rituellen Gesang
der Geistlichen feierlich versenkt. Am offenen Grab sang ein Chor und nachdem
einige Vaterunser in die rauhe Winterluft mit krächzend umherfliegenden
Raben und
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drohender Schneeschauer gesprochen war, flutete die Menge der Leidtragenden
langsam wieder ins Städtchen hinab und zerteilte sich in verschiedenen
Gassen. Manche folgten den Kellereinladungen, andere gingen mit hinauf
aufs Trauerhaus, wo der Kaffeetisch gedeckt stand. Wir trafen uns mit etlichen
Bernkastlern, darunter College Remy und Bürgermeister Simonis im „Wamsch“,
wo der Verewigte manches Schöppchen geleert. Eine einfache anheimelnde
Kneipe, in der es aus richtigen Viertellitergläsern, fest und mit
kleinen Knuppen verzehrt ein prächtiges Schöppchen neuer 17er
zu 1,20 M gab, das wir dem Verstorbenen weihten. Um ¼ vor 5 kam
pünktlich der Zug und während die winterliche Abendsonne hinter
der malerischen Burg von Wolf stand, ward im Zuge die letzte Flasche, edler
15er Trittenheimer geleert mit Bürgermeister Simonis, Paul Thanisch,
AGR Remy, RA Theisen (ehedem Richter), Bürgermeister Felz und Wirt
Popp. Ein eindrucksvoller Tag. (Mittags war bereits in den warmen Erdener
Lagen aller Schnee weggetaut.)
10.Jan. Heute ist plötzlich wieder Tauwetter, nachdem wir Montag
schon mal solches mit heftigem Regen hatten, wovon die Mosel bereits recht
hoch geht und lange Schollen Saumeis treibt. Ich bleibe an solchen Tagen
daheim und lasse mir die Akten nach Hause bringen, zumal ich gestern mit
zahlreichen Rücksprachen und Terminen mich genügend ausgetobt.
Im Hause geht es diese Woche vorzüglich, weil die altbewährte
Rosa zur Aushülfe da ist, die schweigend und ruhig alles spielend
erledigt. Das hört nun leider bald auf und dann beginnt die Hetze
mit der völlig dösigen Marie von neuem. – Im Westen ist es nach
den Tagesberichten noch immer unheimlich still, obschon wir vorgestern
heftiges Trommelfeuer hier hören konnten. In Brest-Litowsk wird mit
den Russen über den Frieden weiter verhandelt, der Zwischenfall, nämlich
Einbläserei der Engländer, in Stockholm zu tagen – ja das könnte
denen so passen – ist an unserer festen Haltung gescheitert, obwohl die
Angstschreier in Berlin sich bei uns schon wieder gewaltig vernehmen ließen.
Hindenburg und Ludendorf wurden eifrig mit ins Geschrei gezogen. – Landgraf
werde hart! – Mit den neuen Hausleuten verstehen wir uns vorab aufs Beste,
die Kinder gehen als mal hin, ich kann dort lustig fernsprechen, berate
in Steuersachen, wofür er mir gestern nachmittag einen schönen
Hasen brachte u.s.w. kurz es ist recht angenehm und ein gewaltiger Unterschied
gegen früher. Sieburg ist nach mannigfachen Abenteuern einer sibirisch
kalten Reise wieder aus dem Osten – vorab auf 3 Wochen zum Urlaub – zurückgekehrt.
Seine Entlassungsgesuche, die regelmäßig zu verschwinden pflegen,
sind anscheinend nicht an Land gekommen und er hat die schönsten Unannehmlichkeiten
vielleicht nur dadurch, daß er sich zur rechten Zeit und an rechter
Stelle nicht ein wenig menschlich-schändlich zeigte. – Mit Hugo Th.
ist wieder das schönste Leid im gange. Die Frau kommt nicht hierher,
dagegen verfolgt sie und ihre Familie wie eine rechte Jagdmeute den armen
H. und suchen ihn völlig matt zu setzen, um ihm dann abzuzwacken,
was ihnen gutdünkt. Neuerdings scheint sie sich mit der verbissenen
Wut einer Hysterischen gegen mich kehren zu wollen, in dem sie vielleicht
eine Stütze für H. vermutet. P’s gestriges Ansinnen, meinerseits
ein genaues Protokoll über
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den Inhalt meiner zeugenlosen Unterredung (am 24.12.17 in Trier) abzufassen
und damit das ihre förmlich der Lüge und maßlosen Verdrehung
zu überführen, lehnte ich ab. Die Sache führt praktisch
zu nichts, ich habe keine Lust, als Sprengpulver zwischen beiden zu wirken,
zudem sind mir meine Nerven zu schade, um mich in den quälenden Zerrkampf
mit einer Hysterischen zu stellen. Ich werde „es bedauern, gröblich
mißverstanden zu sein und es ablehnen, irgend welche weitere Erklärung
abzugeben“. Dabei bleibe ich, und nun mögen sie ruhig auf mich losbombardieren.
–– Gestern nachmittag besuchte mich auf meine morgens ausgesprochene Bitte,
der geistreiche, an familiären und geschichtlichen, zumal stadtgeschichtlichen
Einzelheiten völlig unerschöpfliche Jos. Dillinger. Ich gab ihm
ein altes Aquarell in Kirschbaumrahmen aus Frau Liells Nachlaß hier
mit, der dargestellte Ort schien ihm vom Kochemer Krampen oder von der
Untermosel zu sein. Er brachte eine Reihe alter Bücher mit. Ich gestand
ihm den ärgerlichen Verlust des kleinen Heftchens über die Moselbande,
was er ruhig aufnahm. Leider hat auch er den Titel nicht notiert und so
werde ich es so leicht nicht wieder beschaffen können. Er erzählte
unter tausend anderen Sachen auch dieses prächtige Stückchen:
Der verwechselte Säugling oder der fremde Einschlag in Graach.
Die ehemalige Collegiatkirche in Bernkastel hat für die Taufe
eine gewisse Zwangs- und Banngerechtigkeit für die nähere und
weitere Umgebung, dergestalt, daß beispielsweise Dörfer wie
Graach, Monzelfeld, Annenberg u.s.w. ihre Säuglinge nur in diese Kirche
zur Taufe bringen mußten. In einem sehr gestrengen Winter weigerten
sich die Monzelfelder, dies fürderhin zu tun und erreichten es durch
eine Abfindungssumme, daß sie in ihrer eigenen Kirche einen Taufstein
aufstellen und daheim taufen durften. Graacher und Annenberger aber mußten
weiterhin ihre Kleinen in der Kollegiatskirche taufen lassen. Nun muß
man wissen, daß der reiche, im Moseltal gelegene berühmte Weinort
Graach in großem Gegensatz zu der kleinen kümmerlichen und ärmlichen
Ansiedlung Annenberg erscheint, die hoch oben im Hunsrück am wiesigen
oberen Ufer des Hinterbaches mitten zwischen Wald und romantisch schroffen
Felsbrocken in weiter Einsamkeit (mit dürftigen Ackerländchen
und steinigtem Boden) liegt und man einen Annenberger natürlich mit
einem Graacher nicht vergleichen kann. Nun trafen sich an einem Tauftage
zur Winterszeit eine Graacher und eine Annenberger Taufgesellschaft in
der Wirtschaft an der Straßenecke, von der eine mehrfach gebrochene
hochaufführende Steintreppe den kürzesten Anweg zur Stiftskirche
führte. Dort pflegte man in solcher Taufgesellschaft gemeinlich zunächst
einzufallen, teils um sich der vielen soliden Winterhüllen zu entledigen,
um ohne Gepäck jene Treppe hinaufsteigen zu können, teils um
sich zuvor innerlich und äußerlich würdig auf die Taufzeremonie
in der vermutlich recht kühlen Kirche vorzubereiten, wobei dann ein
heißer Würzwein schwerlich gefehlt haben mag.
Solch ein Wein mit „Pund Wuscht“ soll noch heute zum mäßigsten
Frühstückes eines wackeren, den Lebensgenüssen keineswegs
abgeneigten Durchschnittsgrächer sein. Später, nachdem die Taufe
vorbei, legte man die jungen Christen benebst den Kleiderbündeln in
einer Nebenstube ab und
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ging selbst dazu über, alle miteinander, das Tauffest in der größeren
Wirtstube nach Herzenslust zu feiern. Wie stets, so ging auch hier darüber
die Zeit hin und ehe man sichs versah, schien es dunkeln zu wollen. Die
Annenberger, die auf Einladung und Kosten der hochfahrenden Graacher wackeres
geleistet hatten und gern noch ein mehreres getan hätten, machten
sich klar, daß es besser sei, den beschwerlichen und stellenweise
nicht völlig ungefährlichen weiten Heimweg noch bei Tagesbeleuchtung
anzutreten, drückten sich nach und nach und ohne, daß es den
fortzechenden Graachern recht zum Bewußtsein kam, waren sie auf und
davon. Sie mochten schon durch das malerische Tiefenbachtal hinauf und
rechts in ein seitliches Wiesentälchen abgebogen sein, als die Hebamme
der Graacher mit Geschrei in die Stube stürzte: Uns Kind ist fort,
die Annenberger haben es gewiß mitgenommen. Die Graacher taumelten
raus, besahen sich das zurückgebliebene Wurm nebenan, fanden es ein
schönes gerade gewachsenes Kind und fanden es zweckmäßig,
sich dabei zu beruhigen und ihr Gelage fortzusetzen. Sie nahmen später
die das Kind mit und von ihm soll jene Rasse hochgewachsener schlanken
Menschen (Kieren etc.) abstammen, die durch solides Wesen im verfressenen
und versoffenen Graach, wo man alle 20 bis 30 Jahre einen gründlichen
Bankrott zu machen pflegte, (indem man stets ein flottes Leben führte,
auch unerachtet schlechter Weinjahre darin eifrig fortfuhr, sich Geld und
Schweine bei den reichen Kirchspielbauern pumpte, und wenn es Zeit zur
Zinszahlung ward, das Geld nebst weiterem bei einem 2. und 3. Kirchspielbauern
pumpte, bis diese anfingen, erst Sonntags mit behäbigen Schritten,
in festem Wams mit Krückstock wohlversehen, ins Dorf zu marschieren,
sich vor dem Hause des Schuldners aufzupflanzen und dort ein eingehendes
sachverständiges Gespräch unter genauer Bemusterung des Hauses
und seines Zustands zu führen, als ob sie es bereits verpachteten
u.s.w., bis dann endlich der verlorene Sünder, dergestalt „auf den
Kopf gestellt“ wurde, daß ihm auch der letzte Brocken aus der Tasche
fiel.) jene also, die sich dort Wohlstand und Ansehen erwarben und beides
durch alle Wogen wirtschaftlichen Auf- und Niedergehens hindurchzusteuern
verstanden und darum natürlich – dies bis auf den heutigen Tag, ebensosehr
geneidet wie gehaßt, wie als die nun einmal nicht zu leugnende Aristokratie
des Dorfes geachtet wurden.
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Freitag, 18. Januar 1918. Es liegen schwere Tage für die Mosel
hinter uns: Von Montag bis Mittwoch abend tobte ein tolles Unwetter mit
warmem Sturmwind und Regen (+12°!) und brachte gewaltige Schneemassen
allenthalben zu jäher Schmelze. Es ließ sich voraussehen, daß
Hochwasser kommen würde, und doch überstieg dies alle Erwartungen.
Ohne daß ich den schon sehr stark ausgetretenen Strom gesehen hätte,
wurde ich Mittwoch nachmittag heftig über unsere Kartoffel- und Gemüsevorräte
im Wolfschen Gartenkeller sehr beunruhigt und trotz des schlechten Wetters
entschloß sich Helene, obwohl sie nicht ganz wohl war, mit
Maria zum Garten zu gehen und dort den Keller zu räumen. Die Arbeit
lohnte sich sehr, denn kaum hatten sie alles bis auf einen geringen Rest
der Kartoffeln oben, als das Wasser schon auf der Kellersohle erschien.
Als
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ich folgenden Morgens dort hinkam, war der Keller bereits 1,20 - 1,50
m hoch unter Wasser. Mittwoch abend versuchten wir noch, zu Thanischs zu
gehen, es war schon nicht mehr möglich, da hinter der Post die Straße
überschwemmt war. Über Nacht stieg das Wasser gewaltig. Wohl
in sämtlichen Kellern der Kaiserallee stand es, bei uns spülte
es im vorderen Weinkeller soeben im Ausguß der Entwässerungsgasse.
Ich war schon früh auf, Leistner noch früher und er hatte schon
festgestellt, daß der Fluß stehe. Von da ab stieg er nicht
mehr, war freilich auch hoch genug. Auf der Schanz stand das Wasser bis
zur Ecke des Landratsamtes nach hinten, das Amtsgericht war trockenen Fußes
nicht zu erreichen, das Wasser stand bis zur untersten Stufe der Eingangstreppe,
ich hatte Wasserstiefel angezogen und gab ein eiliges Aktenstück an
Friedrich durchs Fenster. Dem sind 4 Hühner ertrunken. Nachmittags
fuhren Helene und ich mit einem Nachen von einem Steg aus, der das Postamt
mit dem Anwesen Liell gegenüber verband, in einem Dreibord über
die Straße durch Thanischs Gartentörchen zu diesen, besahen
dort den Graus (das bereits fallende Wasser hat das niedrige Erdgeschoß
fast bis zur Decke gefüllt) und dann fuhren wir mitsammen zurück,
tranken dann bei Mutter Anton Thanisch einen soliden Familienkaffee mit
frischen Waffeln; später beriet ich noch Hugo und feierte dann mit
ihm und Vetter Viktor Th., der aus Flandern bis zum Monatsschluß
auf Urlaub, den historischen Tag bei etlichen Glas Wein und der für
mich unerhörten und gebührend allseits gewürdigten Leistung
von 2 Zigarren. Über Nacht fiel dann das Wasser wieder gewaltig, allenthalben
dicken rotbraunen Schlamm zurücklassend. Jetzt wird dieser eifrig
weggeräumt. Noch aber tobt der Strom mit lautem Gebrause unter den
Brückenpfeilern durch. Die fast wie in den Boden versunkenen Villen,
Häuser, Hospital u.s.w. stehen langsam wieder auf und das Moselbahnhöfchen,
das wie auf die Knie gesunken aussah, steht wieder ordentlich auf den Beinen.
Freilich stehen noch viele Keller unter Wasser. Ein gestern nachmittag
von Paul Th. und mir leichtfertig unternommener Versuch, in einer Bütte
eine Bootsfahrt durch die überschwemmten Gutswellen zu unternehmen,
hätte beinahe mit Kippen und Sturzbad geendet. Morgens ging ich mit
Frau Kreisarzt Dr. Knoll auf den Schloßberg und zum Wasserfall. Beides
durchaus lohnend. Die Eindrücke von Mittwoch abend, wo ich mit Helene
abends durch das Städtchen streifte und wir überall aufs Wasser
stießen, sowie von Donnerstag vormittag, verarbeitete ich zu 2 Zeitungsaufsätzchen,
die der Post trotz Abbruch aller Verbindungen anvertraut wurden und hoffentlich
ihren Weg fanden (Zeitungsausschnitt „Hochwasser an der Mosel“ eingeklebt).
Das 2. nahm Assessor Servais mit, der tags zuvor mit der Moselbahn noch
bis zur Schloßbrauerei gefahren und nun eingeschwemmt war. Er fuhr
3 ½ mit der Post nach Morbach. Übrigens sah er vorzüglich
als Ulanenleutnant aus, hatte Berncastel aus lobenswerter Anhänglichkeit
besucht und wie ich hörte, Mittwoch abend sich gehörig angefeuchtet.
Ich trank
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in der Post einen kleinen Frühschoppen mit ihm. Bezeichnenderweise
saßen Hugo und Paul Th. dort hinter großen Flaschen, wie wohl
das Absteigen der Gutskeller und alle mögliche sonstige recht dringende
Arbeit schon eine andere Betätigung für zweckmäßiger
hätte erscheinen lassen. Post und Bahn bleiben aus. Erst heute kamen
2 Kölnische Zeitungen. Die Bernkastler wird vermutlich Stoffmangels
wegen heute nicht erscheinen. Heute vormittag sah ich in Schreinermeister
Scherers Hause (dem alten Klausener Hof, ehedem dem Kloster zu Klausen
gehörig) dessen prachtvollen, kreuzgewölbten Keller, der auch
voll recht hellen, anscheinend gründlich durchfiltrierten Wassers
stand, auf dem etliches Sauerkraut traurig einherschwamm. Der Hof aber
stand voll riesiger Steinfässer mit Sauerkraut, der Stadt gehörig
und zur Kriegsvolksküche im Frühjahr bestimmt. Viele Kartoffeln,
gehamsterte wie rechtlich zugeteilte, werden durch das Wasser verdorben
und auch als Futter kaum mehr zu gebrauchen sein, da bis Ende dieses Monates
alles Vierfüßige, was Schwein heißt, ausschließlich
der Zuchtschweine ohne Erbarmen geschlachtet sein muß. Für Schweine
werden Fantasiepreise bis 2000 (zweitausend!) M geboten und jeder schlachtet,
was er kriegen kann. Leider haben wir keins. Gestern sah ich u.a., wie
aus einer Kellertreppe fürs Mittagsmahl die umherschwimmenden Kartoffeln
herausgeangelt und im Eimer gesammelt wurden. 1882 hat das Hochwasser nur
wenig höher gestanden. Jedenfalls war gestern völliger Gerichtsstillstand;
schon früh morgens begegnete mir Faber mit dem Rechnungsrevisor auf
der Brücke und da wußte ich schon, daß das Amtsgebäude
im Wasser stand. Heute ist wieder Vollbetrieb mit Schöffensitzung
u.s.w. gewesen und da Helene die Anwesenheit von Rosa (die gestern morgen
glücklich wieder auf etliche Tage kam) ausnutzt und etliche Damen
zum Kaffee daheim hat, so benutze ich die Stille und Wärme der Amtsstube,
um diese Aufzeichnungen zu machen, während ich von draußen nur
das Toben und Gurgeln des Flußwassers höre. Der Gerichtskeller
ist noch überschwemmt, und das Söhnchen des Gerichtsdieners kratzte
Kohlen aus den Kellerlucken auf der Straße heraus. – Mit dem verständigen
Rechnungsrevisor hatte ich eine ausführliche Rücksprache heute
morgen, bei der die Schwierigkeiten genugsam erörtert wurden, die
uns scheinbar ohne Ende durch die fehlende Hand eines durchgreifenden tüchtigen
ersten Gerichtsschreibers im Geschäftsbetrieb mit den nicht genügend
gefestigten Bürokräften erwachsen. Auch wurde dem vorgebeugt,
daß etwa ein künftiger Schwiegersohn F.S. diese Verhältnisse
hier noch verschlimmert. –
19.1.18. Heute endlich Briefpost mit Zeitungen ab Montag. Mit Maintzers
kleinem Pferdewägelchen wird die Post in Wengerohr abgeholt, denn
seit dem 17. ist die Bahnstrecke Wengerohr - hier unterbrochen, die Lieser
war durch Wolkenbruch in einen rasenden See verwandelt, der die Brücken
wegriß und die Dämme unterspülte.
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Auf dem Kaffee, zu dem Helene gestern 3 Damen hatte, erzählte
Frau Louis Hauth aus Wehlen, es sei in stürmischer Regennacht ein
Wagen mit 10000 M schwerer Ladung geschlachteter Schmuggelschweine vermutlich
aus der Eifel (Kreis Wittlich) unterwegs gewesen, habe erst eine, dann
die zweite Brücke über die Lieser zerstört vorgefunden und
sei endlich weit in die Berge schließlich auch stundenlang in die
Irre gefahren. Die den Bauer begleitende Frau habe vor aller Angst und
Aufregung auf dieser doppelt unheimlichen Nachtfahrt greise Haare bekommen.
27. Jan. 1918. Kaisers Geburtstag. Die rücksichtslose Offenheit,
mit der ich mir diese Aufzeichnungen zu machen vorgenommen habe, erfordert
die Wiedergabe von allerlei Unerfreulichem: Jedermann fast ist heute besser
versorgt als vor Jahresfrist und z. T. daher, weil ein jeder – ich glaube
kaum, daß es noch irgend bemerkenswerte Ausnahmen giebt, stramm hamstert,
d. h. unter Nichtbeachtung der tausendfältigen Gesetzes- bzw. Verordnungsvorschriften
sich Nahrungsmittel verschafft, wie und wo er kann. Naturgemäß
gerät dabei der kleine Mann mit beschränkten Mitteln ins Hintertreffen.
Doch ist wohl zu beachten, wer der „kleine“ Mann heute ist. Kaum 16jährige
Burschen verdienen auch hier bereits einen Tagelohn von 3,40 M. Der Reichskanzler
nannte kürzlich „Handwerker und kleine Beamte“ namentlich. Alles rennt
nach Eßbarem. Kürzlich wurde in der Stadt hier ein fetter Ochse
geschlachtet und ... erzählte mir, daß er davon 20 - 30 Pfd.
zu 5 M (frisches Fleisch ohne Knochen) kaufte und räuchern ließ.
Jetzt steht ähnliches für uns in Aussicht auf Nierenfett und
kleinen Nebenabfall. Auch die Möglichkeit, eine Haut zum Gerben zu
bringen, eröffnet sich; kurz, alles Dinge, die verboten sind, aber
trotz stetig nach oben steigender Strafsätze nach wie vor fleißig
betrieben werden. Jedenfalls ein glänzender Beweis dafür, wie
rein utopisch ein „logischer“ Gleichheitsstaat sein muß. Immer wieder
ist es kinderleicht, die Beobachtung zu machen, daß Leute mit Geld,
Beamtenansehen u.s.w. gerade vom „Volk“, das nach Gleichheit schreit, bei
jeder Gelegenheit nicht nur bevorzugt werden, sondern ihnen geradezu alles
zum Greifen dargeboten wird. Es war vermutlich immer so und wird wohl auch
so bleiben. Dabei predigen die Russen bei ihren Friedensverhandlungen die
ödesten Freiheitsphrasen, während in ihrem Lande rohe Gewalt
und völlige Anarchie, stellenweise auch heftiger Bürgerkrieg
herrscht. Immerhin hatten sie den Anschein von Erfolg, daß die radikale
österreichische Arbeiterschaft Lust zeigte, auf diesen revolutionären
Leim hereinzufallen und ein bischen Friedensrevolution zu spielen. Die
Ernüchterung kann angesichts der tatsächlichen Lage nicht ausbleiben.
Unsere Regierung zeigt gottlob eine erfreuliche Festigkeit, nach der Grund
zu hoffen besteht, daß Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen
und Polen jedenfalls nicht bei Rußland bleiben. Mit der Ukraine,
die freilich noch in heftigen Geburtsnöten liegt, scheint es zu einem
baldigen Frieden und Warenaustausch zu kommen. Vielleicht verdanken dem
die Schweinchen unter 25 K diesmal noch ihr Leben, denn es sollte alles
Schwein bis auf Zuchttiere gemetzelt werden, erst bis spätestens halben,
dann bis Ende Januar. Unser Versuch, uns unter Benutzung dieses Druckes
ein „Wurstschweinchen“ zu sichern, kam eben einen Tag zu spät und
ich war nicht mal böse darüber, sondern sandte einen humoristischen
Artikel „Schweineglück“ darüber an die
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Kölnische Zeitung. – Erinnerungen an August Macke (Macke, August),
die ich auf Cohens Ersuchen für ein „Kunstblatt“ geschrieben, scheinen
dort durch ähnliche Arbeit von D-Bombe nicht recht zum Platzen zu
kommen. Bruhns sandte Brief mit erfreulichen Nachrichten, er scheint demnächst
einen „Brummer“, d. h. irgend eine größere literarische Arbeit
loslassen zu wollen. – Im Hause haben wir jetzt gute Aushülfe durch
eine Bahnhofsvorsteherstochter aus Plettenberg, ein sachlich arbeitendes,
ruhiges und sympatisches Westfalenmädchen. Auch zeigt sich Aussicht
auf ein Fräulein freilich noch ein wenig aus weiter Ferne.
5.II.1918. Mit Heiserkeit und Halsschmerzen vertreibe ich mir daheim
die Zeit, leider muß ich vormittags in Remy’s Abwesenheit zum Amt.
Schönberg erzählte mir heute morgen einige Streiche, die aufzuzeichnen
wert sind: Die große Weinfirma K. hatte einen Posten von einigen
60 Fudern Luxemburger Ober Moseler (vermutlich halb Apfel-, halb Traubenwein,
Apfelwein ist lediglich durch Zungenprobe festzustellen, im übrigen
„analysenfest“, da er gleiche Zucker-, Säure- und Salze-Bestandteile
wie Wein aufweist). Staatsanwalt W. in Tr. ist scharf hinter diesem Wein
her, läßt ihn beschlagnahmen und versteht sich aller Vorstellungen
unerachtet, nicht dazu, ihn freizugeben, wiewohl er bereits so gut wie
nach England verkauft ist u.s.w. Gelegentlich einer Fastnachtssitzung verfällt
Schönberg auf diesen Ausweg, der sofort ins Werk gesetzt wird. K.
hat auch eine „englische“ Firma. Es wird ein großes, von dieser ausgehendes
und daher später in Englisch abgefaßtes Schriftstück aufgesetzt,
in dem im Tone echtester englischer Entrüstung von der Beschlagnahme
eines Weines geredet wird, der britischen Untertanen gehöre, und nur
auf dem Transit von LG. nach England in Deutschland lagere u.s.w. Das Schriftstück
geht vom britischen Generalkonsulat (dieser nicht unbekannt mit K.) im
schönsten Englisch mit diplomatischem Begleitschreiben an die Staatsanwaltschaft.
Man wolle, bevor der diplomatische Weg beschritten werde, zunächst
dort Kenntnis ... geben, vielleicht, daß sich die Möglichkeit
einer anderweitigen Erledigung fände u.s.w., ohne daß die grand
fleet auszulaufen brauchen. Allgemeine Bestürzung bei der Staatsanwaltschaft
und W. – der sich in seiner glänzenden Laufbahn abgeschnitten,
auch schon kriegerische Entwicklungen, Knurren der Reichsbehörde und
lautes Schimpfen der Landesbehörden hört, sich selbst im Geiste
in weindürren Gegenden des Masurenlandes sieht u.s.w. – schreibt einen
Privatbrief an K., den beantwortet dieser nach Schönbergs Anweisung
kühl und zurückhaltend, das Vorgehen der Engländer sei auch
ihm sehr peinlich, Ausweg schwierig, vielleicht neue Ermittlungen, Feststellung
durch Notar (!), Zungenprobe, Gutachten u.s.w. Freigabe! –– Später
verrät ein Schönberg befreundeter Tr. Anwalt (Wolido) diesen
Streich in der Weinlaune dem Staatsanwalt W, der Schönberg seitdem
haßte und allerlei Nachstellungen versuchte, so z. B. ihn wegen Beihülfe
zu strafbaren Handlungen wegen der „Doktor“-Bezeichnung. Das verhält
sich so: Vermutlich steckt die Firma Deinhart dahinter. Komm. Wegeler in
Coblenz ist mit allen Mitteln darauf aus, den Doktor hier ganz in die Hand
zu bekommen. Dem Weingut Anton Thanisch
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hat er den schönen Doktorweinberg nebst Keller am Graben abgeluchst:
Großer Prozeß gegen fast alle Doktorbesitzer, in dem ich noch
als Assessor hier Zeugen vernahm. Trotz der keineswegs ungünstigen
Rechtslage ließen die Erben Anton Th. sich in einem, angeblich von
Schönberg unbeachteten Augenblick gelegentlich einer in seiner Abwesenheit
stattfindenden Ortsbesichtigung und daran anschließender Zeche in
der Doktorweinstube (Gescher war mit dabei) zum Verkauf breitschlagen,
nachdem man reichlich Andeutungen darüber gemacht hatte, daß
H.Th. in seinem Weingeschäft allerlei als Doktor verkauft hat (vermutlich
im Kleinen, wie es von Deinhart & Co allgemein im Großen behauptet
wird). H. muß dies s. Zt. maßlos aufgeregt haben, jedenfalls
trank er fleißig, Anton war es wegen Tr. Landgericht unangenehm,
kurz, sie machten den Kapitalfehler und verkauften Weinberg und Keller
um 100000 M, einem Apfel und 1 Ei, an Deinhardt, der nichts schleunigeres
zu tun hatte, als ihn selbst als unstreitigen „Doktor“ zu bezeichnen. Wären
sie Schönberg gefolgt und hätten gegen Deinhard Prozeß
gemacht, indem dieser der Eid darüber zugeschoben wurde, ob und wieviel
„Doktorwein“ er außer dem auf seinen Doktorweinstöcken gewachsenen
verkaufe – in England allein bestand besondere Gesellschaft zum Vertrieb
seiner Doktorweine –, so brachten sie ihn bös in die Klemme, den Eid
zu verweigern und sich zu blamieren oder ihn zu leisten und sich von seinen
Leuten damit abhängig zu machen. – War dieser Streich bei Anton gelungen,
so wurde die Staatsanwaltschaft auf Frau Ww. Dr Hugo Th gehetzt wegen der
Bezeichnung „Doktor und Graben“. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren
wegen dieser angeblich gesetzwidrigen Bezeichnung ein, Schönberg bestärkte
die Familie nachdrücklichst in ihrer bisherigen Bezeichnung fortzufahren
– in dieser Sache suchte Wegeler Schönberg einmal persönlich
auf und wollte Einigung verhandeln, was Schönberg ablehnte. (Die Tochter
Margarete war am standhaftesten!) – und schließlich drohte die Staatsanwaltschaft
die Versteigerung in Trier zu „sistieren“, was sie gar nicht konnte, oder
dort Widerspruch zu erheben, auf die Folgen der Bezeichnung hinzuweisen.
Gegendrohung: Persönliche Haftbarmachung des 1. und des Staatsanwaltes
W. Versteigerung, die mit Spannung erwartet, verlief ohne jeden Zwischenfall
und die Preise kamen recht hoch. Gelegentlich eines Verschnittes der Erben
Dillinger (die kein ½ Fuder aus ihren Doktorstöcken zusammen
bekamen) kam es zu einer Schöffensache hier, in der Kollege Winckler
ein ausführliches Urteil über die Zulässigkeit des Verschnitts
mit benachbarten Lagen machte, das in II. Instanz aufgehoben, in III. bestätigt
wurde. Damit war dieser Angriff D’s abgeschlagen. Der Gegenstoß brachte
unter des Landwirtschaftsministers v. Schorlemer’s offensichtlicher, wenn
auch hinterwärts der Kulissen dirigierter Leitung die Konferenz in
Trier, in der ein von Schönberg stammendes Gutachten zu allgemeiner
Billigung gelangte. Folge: Ortsstatutarische Änderung bzw. „Berichtigung“
der Katasterbezeichnung in „Doktor überm Graben“ und „Schloßberg“,
Niederberg ect in Lieser u.s.w. Beides vermerkte ich s. Zt. noch selbst
im Grundbuch.
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Diesen Winter kam der Dillinger’sche Doktorweinberg zu öffentlicher
Versteigerung. Natürlich ließ Walter Th. ihn sich entwischen
und Deinhard hat ihn nun und sitzt dem Weingut Dr Hugo Thanisch damit mitten
in seiner Doktorlage. Neugierig, ob und wie nun weitere Vorstöße
von D’s Seite gemacht werden. (Frau Liells Steinkaul wollte er auch mit
der Kreszenz 17 zusammen für etwas über 100000 M kaufen, verhandelte
mit mir deswegen in Bonn, doch schrieb ich ihm ausführlich, daß
er 50 % höher gehen müsse. Darauf weiter nichts mehr. Erlös
nachher 103000 für Weinberg, 48000 für Wein =151000).
Schönberg erzählte noch einen Streich, mit dem er auch D.
überlistete: Jene Firma K. teilte ihm und T. mit, eine große
Weinfirma in München beginne zu krachen, er sei dort mit so erheblichen
Lieferungen und Ausständen beteiligt, daß damit seine Existenz
bedroht sei. Bereits genau formulierte Vorschläge des Schuldners,
K. nimmt Schönberg mit zu Beratung der Gläubiger nach Wiesbaden
oder Frankfurt. Unterwegs treffen sie Wegelers Schwiegersohn Hasslacher
und betasten sich gegenseitig vorsichtig über ihre Pläne u.s.w.
Auf der Versammlung sind alle Weinberggroßfirmen und Sektfabrikanten
vertreten, der Schuldner hat gewandten Anwalt, Schönberg schlägt
vor, die „gemeinsamen Interessen“ dadurch zu stärken, daß K’s
große Weinlieferungen dem Schuldner in „Kommission“ verbleiben, dafür
aber die Kaufverträge anulliert werden. Der andere Anwalt, der seinen
scharfen Gegner erkennt, stimmt dem zu und auf Hasslachers Befürworten
kommt allgemeine Abmachung dahin zustande, nachdem Schönberg es noch
als ein „Entgegenkommen“ der Firma K. dargelegt habe, daß sie sich
hierzu verstehe, anstatt sich auf nichts einzulassen. Ergebnis: K. gewinnt
das Eigentum am Wein zurück, Wegeler hat dies kaum erfahren, als er
wütende Briefe schreibt und 3 Monate später ist die Weinfirma
in München vollkommen verkracht. – Man muß die Menschen kennen
und nach ihren Fähigkeiten behandeln!
11. Febr. 1918. Ich erwarte schon seit 2 Tagen vergeblich die Nachricht,
daß wir den russischen Schwätzern und impotenten Politikern
den Waffenstillstand gekündigt haben, da kommt heute morgen die Kunde:
Mit ganz Rußland sei der Friede abgeschlossen (Im eingeklebten Sonderblatt
der „Bernkasteler Zeitung“ wird der „Friede mit der Ukraine“ gemeldet).
Das wäre dann doch gewiß ein Erfolg unseres Auftretens. Wir
wollen es dankbar begrüßen und hoffen, daß wir damit bis
nach Hungerburg kommen. –
Damit hätten wir dann endlich eine Lösung der letzten merkwürdigen
leeren Tage, in denen die Zeitungen nichts rechtes berichteten und die
dem Vergnügen sich zuwendenden – jung und alt – hier und vermutlich
auch anderwärts in kleinen Zirkeln Fastelabend zu feiern begannen.
Es ist unverkennbar, daß ein starker Drang nach Feste feiern, eben
jetzt das Volk durchzieht. Die jahrelang zurückgestaute Welle sucht
sich einen Weg und finden sich nicht irgend welche Kanäle, durch die
der Überdruck abziehen kann, so giebts schließlich einen Dammbruch.
Gegen derlei Elementargewalten giebts nur besonnenes Eindämmen, unterdrücken
lassen sie sich nicht.
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12.2.18. Die tüchtige Atta (Agnes Stöver aus Plettenberg)
ist gestern früh weg und Helene hat gerade alle Hände voll zu
tun mit Fleisch- und Knochenverwertung (Stenografie eingefügt) dafür
kam vormittags die Neuigkeit: Friede mit ganz Rußland. Die Abendzeitung
brachte die Aufklärung. Trotzki, durch den Friedensabschluß
mit der Ukraine (und vermutlich unsere Kündigung des Waffenstillstands)
in die Enge getrieben, hat diese famose Erklärung abgegeben. Damit
sollen wir wohl die moralisch Gebundenen sein. Hoffe, daß wir über
solche Zwirnsfäden nicht stolpern. Abends las ich bereits in der Kölnischen
Zeitung den ungefähren Wortlaut des ukrainischen Friedenstextes. Hauptsachen
scheinen mir 3 Punkte: Austausch der Güter bis 31. Juli, Kriegsgefangenen
können, wenn sie wollen, bleiben und Deutschland hat besondere Abmachungen,
auch über Ersatz von Zivil- und völkerrechtswidrigen Kriegsschäden.
Darin scheint noch allerlei zu liegen. Die Rumänen, völlig eingekeilt,
werden nun sich beeilen müssen, Frieden zu machen. Im Westen stets
noch das große Schweigen. Der Ubootkrieg aber anscheinend in voller
Blüte und England in ernster Sorge.
19.2.1918. Nun hat der Krieg auch hier eingeschlagen. Gestern nachmittag
brummte bereits ein Flieger hier herum, angeblich ein Deutscher. Abends
gegen ½ 10 hörten wir bei Krings Fliegergeräusch. Helene
auch. 2 dumpfe Schüsse, als wir 10 ¼ nach Hause gingen, fiel
mir auf, daß das Tor am Hospital weit offen und ein Mann im Mondschein
dort sichtlich stark erregt wartete. Heute die Lösung: Gestern tagsüber
starker Fliegerangriff auf Trier, angeblich Treffer ins Regierungsgebäude
und 1 höherer Beamter tot, dann Verfolgung der Flieger durch deutsche
Flieger, solche jagten vermutlich ein feindliches Flugzeug in unsere Gegend.
Bei dem hellen Mondschein standen die Leute in Wehlen bei der Kirche vermutlich
auf der Straße statt im Keller zu hocken, eine Bombe schlägt
ein: 2 Tote, einem beide Beine weg, eine Frau erhält viele Splitter
u.s.w. Vermutlich ist heute großer Betrieb auf Landrats- und allen
Bürgermeisterämtern. Hoffentlich wird auch ein klappender Signaldienst
zur öffentlichen Warnung eingerichtet; jedenfalls habe ich mich sofort
mit unserem Hausherrn über passende „Kellerorganisation“ besprochen.
Besser Vorsicht als Nachsicht. Die Frau ist nach gräßlichen
Qualen gestorben. – Im Westen stehen große Dinge bevor. Im Osten
ist die Lage durch eine sehr gute Erklärung von uns stark gereinigt,
ich hoffe heute schon sind die Unsrigen in Livland, Estland und nach Finnland
unterwegs. Die Ukraine bittet um Hilfe, die wir gewiß nicht versagen,
zumal es dort heißt, Getreide für uns zu retten. Die Engländer
haben sich an der Westfont anscheinend unter den Befehl der Franzosen beugen
müssen, was heftige Empörung in England absetzte.
23.2.18. Hier haben sich keine Flieger weiter gezeigt. Am 19. ist in
Trier durch Bombenabwurf die Vormundschaftsabteilung des Amtsgerichts abgebrannt.
Gestern abend war Louis Hauth hier und fragte bereits wegen Rentenansprüchen
des tötlich getroffenen Küfers. Dieser war im Felde gewesen und
bezog 40 M monatliche Rente als Kriegsbeschädigter. Nun steht die
Witwe ganz ohne Anspruch da. Eine monatliche Zuwendung von 25 M
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aus der Nationalstiftung wird da gute Dienste tun. Maschinengewehrfeuer
ist festgestellt, dagegen nicht, ob ein deutscher Flieger etwa von der
Front, dabei war. Von Trier aus keiner. || Vom Collegen Liell erhielt
ich einen erfreulichen Brief, ist Vizefeldwebel bei einem Landsturm Fuß
Artillerie Batallion und lag am 16. nach langer Untätigkeit an der
Düna, jetzt wohl in scharfem Marsch nach Norden. Ich sandte ihm allerlei,
auch Führer durch Liv- und Estland, Brief an die Eltern Bruhns u.s.w.
Wenn unsere Zeitungsnachrichten über die Zustände nicht absichtlich
aufgebauscht sind, so muß es dort den Deutschen gräßlich
ergehen. Hoffentlich befreit und trifft der deutsche Vormarsch sie meist
noch lebend an. Im Westen ist immer noch bleierne Schwüle. Die Großrussen,
besser gesagt, ihre tolle revolutionäre Juden Regierung macht jetzt
Waih-g’schriee und winselt um Frieden. Wir werden sie mal hübsch hinhalten,
bis unsere Truppen die Randländer besetzt haben, des weiteren wird
sich schon finden. Dr. Kühlmann ist mal vorab nach Bukarest, um dort
mit den Rumänen zu verhandeln, die jetzt klein beigeben müssen.
Das ganze reizt zu einer komischen Satire im „Jiddisch“! –
Hier im Nest hat man sich über die Fliegersache bereits wieder
beruhigt. Nach Wehlen war eine förmliche Völkerwanderung sich
die Sachschäden dort anzusehen. Jedenfalls wirds eine ernste Lehre
sein, sich sofort von der Straße zu machen, wie man Fliegergeräusch
hört. – Mit Veltens Hülfe zwei weitere Fuder an Cölner Casino
verkauft, so daß nunmehr 6 ½ bis heute „umgesetzt“. Hugo Th.
ist froh mit dem Ehering, der Katzenjammer wird nicht ausbleiben, wenn
es erst nur auch mal eine wirtschaftliche Frage zu lösen giebt.
28. Febr. 1918. Die Ereignisse überstürzen sich derart, daß
es schwierig ist, den Kopf klar zu behalten. Der Vormarsch in Liv- und
Estland geht geradezu im Laufschritt, in der Ukraine sogar teilweise mit
der Eisenbahn vor sich. Vorgestern waren wir in Wehlen, besuchten Louis
Hauth und Frau dort und ich probierte die erdigen und wenig zusagenden
rumänischen Weine. Mit besonderem Interesse besah ich mir einen kofferartigen
(Grünberg?) Filter, der flott arbeitete. Natürlich drehte sich
das Gespräch hauptsächlich um die Bombenwerferei. An Bruhns schrieb
ich gestern eine Karte, die Freude über die Einnahme Revals und Dorpats
war zu groß. Auf unser wirklich schneidiges Ultimatum haben die Großrussen
anscheinend prompt nachgegeben und machen Frieden. Wie man diesen macht,
ist damit mal wieder bestens erwiesen. Im Reichstag werden die Konservativen
hauptsächlich wohl des preußischen Wahlrechts wegen, scharf
an die Wand gedrückt und wehren sich mit Getöse. Hertling redete
nicht übel. Im Westen immer noch alles in banger Spannung. Dr. Wiesemer
entwickelte auf einer kürzlichen Unterhaltung bei Schönberg,
wo sich mit Mumbauer aus Piesport allerlei Vögel eingefunden hatten,
einen Plan, an einer Stelle ohne Artillerievorbereitung überraschend
und so schnell vorzustoßen, daß unsere Handgranadiere bereits
an der feindlichen Artillerie sein sollen, ehe die recht zum Feuern käme,
während unsere Leute in der vorderen Linie ruhig liegen bleiben. Eine
schauerliche Sache. – Mondhelle Abende veranlassen uns jetzt, Decken u.s.w.
zu einem etwaigen
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nächtlichen Kellermarsch bereit zu legen. – Das heimliche Schlachten
der Rinder ist jetzt so ziemlich unmöglich gemacht, das Rindvieh bekommt
so etwas wie ein Standesregister. Gestern abend erzählte der Kreisausschußsekretär
Kehl, der sich nach Tisch wie wir bei Krings (dem „Kreisnährvater“)
einfand, von allerlei namenlosen Anzeigen, Haussuchungen und Fleischbeschlagnahmen,
daß es Helene ganz angst und bange wurde. Das Rindfleisch ist nämlich
eben aus der Sulze gekommen, soll etliche Tage lufttrocknen und dann am
Samstag sachkundig geräuchert werden. Intra muros perratur et extra.
Sogar Frau Landrat giebt neuerdings Kuchen bei Kaffee zum Besten. Sie hat
„einen Onkel in Rumänien“, der ihr Mehl besorgt. Dergleichen Onkels
sind brauchbar, ich muß sehen, mir einen in der Ukraine zuzulegen.
Während sie sonst mehr für „Steckrüben“ waren, sind sie’s
heuer mehr für „Süßstoff“. Die Bienchen sollen 15 Pfd.
Zucker aufs Volk haben, wenn der Imker sich dafür verpflichtet, 5
Pfd. Honig abzugeben. Ich werde mich auch in diese Liste einzeichnen, vielleicht,
daß für die Ablieferung nachher „Erleichterung“ gewährt
wird, wie es so schön in der Bekanntmachung heißt. Für
Branntwein ist angeblich jetzt ein Höchstpreis von 25 M das Liter
festgesetzt worden, was zur Folge haben wird, daß der Preis, der
bisher so 16 - 18 M stand, sofort auf 25 schnellen wird. Da ich daran zu
Tauschzwecken ein ansehnliches Quantum besitze, so bin ich sehr interessiert
daran.
1. März 1918. In der Stadt ist man nicht mit Unrecht aufgebracht
darüber, daß der Bürgermeister alle Sachen, die er seit
November für die städtischen Lebensmittelgeschäfte überwiesen
erhalten hat, mehr oder weniger aufspeichert, um im Frühjahr damit
die Kriegsküche in Gang zu setzen. Der Bäcker Nalbach sucht stets
unter allerhand Ausreden das Mehl, das man statt Brot auf Brotkarte zu
verlangen berechtigt ist, zu verweigern. Ich sprach daher eben mit dem
Kaufmann Koch, der die Mehlausgabe hat, er ist gern bereit, mir Mehl, sogar
Weizenmehl, allerdings nur grobes auf etliche Abschnite zu geben. Gütliches
Zureden hilft. = Vom Westen steht merkwürdig wenig im Tagesbericht,
am 23. sogar gar nichts, was wohl noch kaum vorgekommen ist. Dazu hören
wir gar keinen Kanonendonner schon die längste Zeit über mehr.
In England scheint starke Friedensströmung zu herrschen. Ob am Ende?
– Nein, im Westen muß wohl bald und das heftig gewütet werden.
5.III.1918. Gestern das erste Friedensgeläute. Friede nun auch
mit den Großrussen und binnen kurzem mit Rumänien, das
bedeutet Frieden im Osten!
Und welche Beute noch und welch glatter Friedensschluß. Schon
wird der Japaner im fernen Osten munter und hat allerlei in Sibirien zu
schützen. Die Amerikaner sitzen in der Patsche. Fehlte nur noch, daß
Japan sich uns nähert. Unterdessen marschieren wir in Finnland ein
und und drängeln die Schweden wieder von den Alandsinseln herunter.
„Bitte meine Herren, sie wollten früher nicht, so bemühen Sie
sich auch heute nicht.“ – Kurz und gut, mit meinem Hauswirt Leistner trank
ich gestern eine schöne Friedensflasche 15er Brauneberger. Papa bekommt
2 schöne Brauneberger Juffer zum Geburtstag. Seit Samstag wieder der
lange nicht gehörte ferne Kanonendonner, diese Nacht heftiges Trommelfeuer,
daß die Scheiben klirrten. Schlagartiges Aufhören – und los
geht der Sturm. Unheimlich, sich dies im Bett und Halbschlaf auszumalen.
Der Erfolg im Osten ist
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durchschlagend; schade, daß die russische Flotte nach Helsingfors
entwischte. Dort ist sie freilich eingefroren und wird uns wohl in die
Hände fallen, ist im Vertrag aber ausgenommen. Es wäre noch ein
schöner Brocken. Der Friedensvertrag liest sich gut. Nun fehlt noch
die Karte mit der Linie, auf der sich Osten und Westen scheiden. Der 30°
Längengrad östlich Greenwich wäre nicht übel. – Aktuar
Schmitt berichtet, daß in östliche Pelze gehüllte Maschinengewehr-Abteilungen
Wengerohr passieren. Mitunter hat es fast den Anschein, als ob es in England
rumore und der Engländer langsam mürbe würde. Jetzt nur
keine Friedensschalmei auf unserer Seite blasen! Die Kinder haben heute
schulfrei, Behörden und Häuser geflaggt. Aber im Westen blutet
noch mancher Mann bis zum bitteren Ende. – Vom Kaufmann Koch bekamen
wir sogar auf 5 Brotkartenabschnitte Weizenmehl, was 13 4/10 Pfd. ausmachte,
ein schöner Vorrat. – An Frl. Tholen, von der eine besorgte Karte
kam, schrieb ich langen Brief und ließ zugleich einige der letztgedruckten
Eintagsfliegen auf sie los. Sonntag war ich mit Helene bei Paul Th, hatte
mit ihm und seinem Bruder H. Besprechung wegen Testament, Erbverzicht,
Ehe u.s.w. Es scheint nach kurzem Anlauf wieder alles in den alten Zustand
der Versumpfung zu geraten. Wohnungsmiete, die mir für Frau Liell
am Herzen liegt, macht er vorab noch von allerlei anderem abhängig;
alles frühere ist als Ehescheidungsgrund durch „Verzeihung“ in Frankfurt
ausgelöscht. Es wird wohl noch öfter so gehen. Sonntag abend
hatten wir Frau Knoll mit ihrem Vater Gohlke zum Glase Wein bei uns. Es
schmeckte dem Alten gut, ebenso einige Kässchmierchen, die Helene
gemacht. Wir unterhielten uns aufs Beste, ich zumal auch mit dem alten
Herrn, der nettes aus seinen Kriegserlebnissen anno 66 in Coblenz zum Besten
gab, wo die Artillerie pomphaft zur Belagerung von Mainz ausrückte,
bald aber welche zurücksenden mußten, weil sie die Schlagröhren
vergessen hatte. Bei den Mainzer Bundesbrüdern herrschte eben solche
Aufregung, „daß die Preußen kämen“ wie bei diesen, „daß
die Baiern kämen“. Wie hört sich sowas heute an. Ein Kamerad
gab Gohlke, der damals auf dem Laboratorium arbeitete, den heldenmütigen
Rat, beim Abmarsch, falls der Feind käme und er sähe keinen Abzug,
so solle er sich mit seinem Labor in allen Ehren in die Luft sprengen!
Seltsam klingts heute und doch trägt der Baiernkönig heute noch
eine preußische Kugel im Leibe. –
Sonntag, 17. März 1918. Seit wie langem! liege ich erstmals wieder
nach Tisch im Garten auf dem Liegestuhl. Warme Frühlingssonne, die
Bienen summen munter und schleppen unentwegt Pollen und schweres Trommelfeuer
rollt ununterbrochen vom Südwesten her. Die letzten Tage brachten
allerlei Bewegung. Heute morgen kam Bruhns Karte, daß er am 12. etwa
in Bonn Vater seiner kleinen Gerda geworden ist. Mutter und Kind wohlauf.
Der Großvater erlebte hoffentlich heil und gesund am Abend seines
75. Geburtstags den Einzug der Deutschen in Dorpat. Was muß das diesen
deutschen Mann nach langer entsetzlicher Leidenszeit in tiefster Seele
gefreut haben! Leider fehlt seit Mitte Januar noch jede Nachricht von ihm.
Am 27. soll Bruhns nach Würzburg zur Nachmusterung. Nun es wird wohl
nicht
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eilig sein. Sein Bruder Fritz freut sich, nun keine Stellung in Deutschland
bekommen zu haben, da er in der Heimat notwendig sei. Vermutlich ist er
Dolmetsch. Am Donnerstag und Freitag vorvoriger Woche vertrat ich in Traben-Trarbach
Geheimrat Gescher, aß auch einmal bei ihm zu Mittag. Es waren recht
unterhaltsame Tage. England steigt das Wasser langsam bis an den Hals;
jetzt erpreßt es von den Holländern die Schiffe. Hoffentlich
werden diese damit nicht nur wirtschaftspolitisch dahin zurückgedrängt,
wohin sie gehören, nämlich zu uns. Mitteleuropa taucht stets
deutlicher aus der Versenkung, nach Asien zeigen sich neue Wege, selbst
Spitzbergen tritt in unsere Berechnung ein und zwischen Japan, das sich
die sibirische Küste mit Hinterland sichert, und den Nordamerikanern
wächst der Gegensatz unverkennbar. Rumänien wird von uns feste
ausgepreßt und Italien wird wohl bald ähnlich an die Reihe kommen.
Kurland wird soeben ein deutsches Herzogtum, Liv- und Estland werden auch
bald was werden und in Finnland rüsten wir uns zum Aufmarsch. Die
Früchte unseres Sieges im Osten beginnen zu reifen. Odessa haben wir
besetzt, wer weiß, was noch geschieht. Läßt sich die Ukraine
dauernd halten, so ist für Menschengedenken unser Übergewicht
im Osten besiegelt. Allmählich gleitet die Westfront in den fürchterlichen
Endkampf hinein, in dem schlimme Gase unsere Hauptwaffe bilden sollen.
Wann und wo der Hauptstoß, ob von uns oder vom Gegner, alles ist
noch völlig schleierhaft. Die 1900 geborenen Jungmannschaften werden
demnächst hier gemustert. Im Garten hat der arbeitstüchtige Herges
Brösch Licht und Luft geschaffen, auch im Feld und Gärtchen fleißig
gespatet. Wir verbrannten im Garten große Feuer, räumten auf
und schafften Ordnung und kaum damit fertig, erschien gestern auch der
Garteneigner Dr. Wolf und freute sich, daß die vorjährige Wüstenei
ein wenig beseitigt war. – Krings und Frau habe ich sehr zugeraten, ein
schönes Landstück hier in der Nähe an der Mosel vom Rapedius
zu kaufen und sich darin Obst- und Gemüsegarten anzulegen. Sie scheinen
nicht abgeneigt. Die Kinder arbeiten eifrig an einem Sandhaufen. Das letzte
Hochwasser hat viel Sand auf die Moselwiesen gebracht und jedermann versorgt
sich daraus mit Sand. || Helene, die jetzt bei guten Dienstboten
rechte Ruhetage bekommen soll, ist in letzten Tagen recht schwach und elend.
Diese Nacht gab ihr eine andauernde Unruhe Mariannchens den Rest. Sie hat
sich auch über eine Erkrankung ihrer Mutter in Bonn, eine leichte
Rippenfellentzündung, sehr aufgeregt. Leider ist die Sache auch nicht
unbedenklich, da zur rechten Erholung der erforderliche Appetit fehlt.
Wir sind froh, durch gelegentliche Zusendung besonders kräftigender
Lebensmittel uns ein wenig erkenntlich zu erzeigen für das, was wir
in früheren Jahren dort reichlich genossen. – Hier sind wir durch
eine Reihe geradezu schändlich zusammengeklatschter Brote des Bäckers
Nalbach arg ins Gedränge gekommen und werden längere Zeit brauchen,
um wieder ins rechte Geleise zu kommen. Mein tüchtiger Sekretär
Brinckmann, der hoffentlich zum 1.4. nicht wegbraucht, war ganz krank davon.
Helene hat es auch mitgenommen. Mir geht es bei aller Arbeit auffallend
gut. Gottlob leben noch 3 Bienenvölker.
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22. März 1918. Mit dem 1. April treten die Gefängnisse unter
Justizverwaltung. Ich werde mich evtl. um Gefängnis-Direktorposten
dabei umsehen.
23. März 1918. Jetzt steht neben dem Beginn der großen Westschlacht
– vor Verdun hat der große Geschützkampf eingesetzt – der Schiffsraub
der Entente von Holland im Vordergrund. Wir verlangen Ausgleich von Holland
und man redet allgemein von starker Spannung in unseren Beziehungen. Unsere
Marie, das tüchtige Zweitmädchen, überlegt als Kind holländischer
Eltern bereits den Kriegsfall und daß sie dann mit ihren Brüdern
schnell auf Holland zu marschieren will. – Im Garten wird eifrig geputzt,
Tag für Tag altes Holz, Gerümpel, Unkraut, Laub u.s.f. verbrannt,
so daß der Aschenhaufen stets wächst. Regelmäßig
werden auch einige Kartoffeln gebraten und die Prunusbäume stehe nach
warmem Regen in herrlicher Blüte, fleißig umschwirren sie die
Bienen. Die Kinder tummeln sich wacker im Garten, finden Eiertatsch fürs
Kaninchen und Sauerampfer für sich selber. Das Hochwasser hat reichlich
Sand angeschwemmt, jeder holt sich den hier raren Stoff, soviel er braucht.
Der eine zu heimlichen Stallanbauten, Mauerausbesserungen und ähnlichem,
der andere, seine Spargelbeete damit aufzuhäufeln, ein dritter legt
ihn sich auf Vorrat für künftige sanddürre Zeiten hin und
bei uns wird für die Kinder allmählich ein stattlicher Spielhaufen
gesammelt. Der lang angesammelte Düngerhaufen findet eifrig Verwendung
und der Spinat gedeiht zusehends. Vorgestern nachmittag machte ich mit
Hospes Leistner einen Ausflug nach Graach. Das Bähnchen brachte uns
hin, wir stiegen die kieselsteingepflasterte holprige schmale Gasse hinan,
landeten am großen Haus des Vaters Kieren (Hauer III) (?) und wurden
von seiner Frau belehrt, er sei am Heiligenhäuschen im Weinberg. An
der Kirche fanden wir bald die Straße und waren beide erstaunt über
den breiten wohlausgebauten Fahrweg, der sich sehr im Gegensatz zu dem
engen und steilen daheim, in gemächlicher Steigung und wohliger Breite
den Berg hinanzieht und dem Blick freien Lauf über Mosel und Berge
gestattet. Die Weinberge standen dort vorzüglich. Den Alten fanden
wir am Heiligenhäuschen, er war gern bereit, alsbald Feierabend zu
machen und mit uns heim zu gehen. Auf meinen Vorschlag machten wir erst
noch etliche Schritte zu jenem stattlichen Heiligenhäuschen hin und
das lohnte sich wahrlich. Eine prächtige lebensgroße Kreuzigungsgruppe,
flotte und ernste Barockarbeit aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts (von
einer Familie Schunk gestiftet) war recht bemerkenswert. Noch fast besser
wollte mir gefallen, die etwa gleichaltrige, volkstümlich einfache
Figur eines Hl. Wendelinus als Schäfer. Auch die Erscheinung des gekreuzten
Hirsches vor dem erstaunten Hl. Hubertus war in zwar naivem Flachrelief
mit der schönen Unterschrift zu finden: „Gott schütze das edle
Waidwerk.“ Auf dem Heimweg, den wir erst die breite Weinbergstraße,
dann unter Vermeidung der Dorfstraße auf schmalem Pfad oberhalb der
bergwärts liegenden Hausgärten machten, zeigte Kieren uns mit
berechtigtem Stolz die schönen Lagen: die große gewaltige Wand
des Abtsberges hinter dem Heiligenhäuschen, darunter Josefshof, dann
Lilienpfad, den vorzüglichen Hochstöck, Lay u.s.w. Zu Hause wurde
das
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ganze, was vordem theoretisch erörtert worden war, praktisch an
den 15 prächtigen Fudern durchprobiert. Da gab es die schweren, auf
starken Böden gewachsenen und vollen Graacher Weine, die auf dem Faß
sich zumal mit ihrer Blume noch recht zurückhaltend verhalten, deren
gehaltvoller Weinkörper aber eine besonders breite und edle Entwicklung
auf der Flasche verbürgt. Ganz anders wie die Bernkastler Weine, die
schon jetzt ihr volles feuriges Temperament und ihren spritzigen Leichtsinn
voller Geistreichigkeit zeigen, die Zunge schmeichelnd umprickeln, aber
hinterher an stofflichem Gehalt ein wenig zu kurz sind. – Die „Frohe Welt“
versprach ein lustiges feines nicht allzu schweres Weinchen, während
mehrere Fuder Domprobst miteinander um die Palme rangen, wer in Zukunft
von ihnen den stärksten, wuchtigsten und saftigsten Edelwein abgeben
würde. Daneben hielten sich prächtig die Weine aus dem Hochstöck
mit ihrer feinen, an Honiggeschmack mahnenden Süße. Den tüchtigen,
keine Kosten scheuenden Bau des alten Kieren (eines der ersten Winzer dort)
verrieten mehrere Fuder mit einem leisen, zunächst nur dem Kenner
verspürbaren, auf starke Mistung zurückgehenden Böxergeschmack.
Behagt dem einen dieser Beigeschmack wenig, so findet der andere, zumal
wenn der Wein erst völlig ausgebaut ist und der Böxer sich damit
auch entsprechend verfeinert hat, gemach sein besonderes Gefallen daran.
Leistner lehnte ihn ab, mir ist er nicht so ganz unsympathisch. (Das III.
Lieserer Fuder daheim sei ein schwer zu behandelnder „Schwefelböxer“
(im Gegensatz zum Mistböxer!) Die Beurteilung der Fuder gegeneinander,
wie Leistner sie machte, schien mit den Ansichten des alten Kieren zu stimmen,
ich selbst war nur in 2 - 3 Fällen anderer Geschmacksmeinung. Vom
Preise wurde wenig gesprochen, der Alte will 7000 M Durchschnittspreis
(an 100000 M!). Der Posten ist für einen einzelnen Käufer zu
groß. Versteigern gefällt dem Eigner wenig, weil er dann „nicht
mehr Herr im eigenen Keller“ sei. Der war freilich so trocken und sauber
aufgefegt wie die Wohnstube. Die Fässer lagen, von elektrischem Birnenlicht
beschienen, sorgfältig in schnurgraden sauberen Reihen in dem verhältnismäßig
kleinen Keller, zeigten statt der üblichen Kreideaufschriften, kleine
ovale Blechschilder mit eingepreßten Nummern, alles war peinlichst
aufgeräumt; kurz er war wohl zu verstehen, daß er nicht gerne
fremde Leute in seinem eigenen Hof und Hausbering (?) haben mag, ganz abgesehen
davon, daß ihm für den nächsten Herbst der Keller frei
sein muß. Es war schon reichlich spät, als wir bei leicht verschleiertem
Mondlicht unter anregendem Gespräch die Graacher Straße entlang
nach Hause trabten. Mit wahrem Bärenhunger fiel ich übers Abendbrot
her, schlief wie ein Murmeltier und träumte von herrlichen Weinernten
und den schöngeschriebenen genau geführten Eintragungen des Vaters
Kieren in sein Hausbuch. Darin hatte er alles genau verzeichnet, u.a. wie
viel Bürden es seit 20 Jahren jeden Herbst
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aus jedem seiner trefflichen Wingerte gegeben hatte u.s.w. ... Ein
sehr wertvolle und künftig hochinteressantes Buch!
25. März 1918. Gigantentage! Die größte Schlacht gewonnen
und uns gleich einen unvergleichlich siegreichen Schlag gegen unseren stärksten
Feind, den Engländer gebracht. Man schaudert vor Freude und Schrecken,
liest man den gestrigen Tagesbericht (Seite 1 der Kölnischen Zeitung
vom 25.3. ist eingefügt.) Eben wurde hier Sieg geschossen. Und mit
dem 120 km Geschütz ists wirklich wahr und Paris wurde 8 Stunden damit
beschossen. Welche Aussichten! Der stille Ort war hier in einiger Unruhe
heute. Die gemusterten 18jährigen zogen mit Fahne und Gesang durch
die Straßen. Die alte deutsche Stoßkraft zeigt im Westen ihre
herrliche Blüte. Freilich, was kostet das Menschenleben, Gesundheit,
Glieder, Qual und Tod! Ich komme mir ordentlich dumm dagegen vor, als ich
heute früh wieder ein wenig kleinmütig war; denn glücklich
nach ½ Jahr Ruhe warf ich unversehens wieder etwas Blut aus. Freilich
sehr wenig. Ich ging trotzdem zum Gericht, bewegte mich mit Vorsicht und
stand auch nachmittags zum Kaffee wieder auf, nachdem ich nach Tisch geruht
hatte. Außer der Verbrennungsarbeit im Garten mag der mir sonst recht
gut bekommene Weingenuß in letzter Zeit den Blutdruck unverhältnismäßig
gesteigert haben. Bis jetzt kam noch nichts nach und hoffentlich bleibts
so. Etwas Ruhe tut gut auch für die innere Besinnlichkeit. Ein Kriegsanleiheartikelchen
konnte als erste Frucht davon gleich heute nachmittag noch abgehen. Nun,
die 8te Kriegsanleihe wird unter dem Eindruck solcher Schläge schon
tüchtig gezeichnet werden. – Gestern war ein prächtiger Sonnentag.
Wir gingen vor Tisch zu Wincklers zu Hellmuts Konfirmation glückwünschen.
Der Vater war noch eben zur Zeit angelangt, auf Güterzug gefahren
und von Wengerohr zu Fuß marschiert. Er sieht schlecht aus, ist „abgekämpft“
und geht zur Ersatztruppe voll Bedauern, die große Schlacht nicht
mitzumachen. Auf ihr Drängen kamen wir abends zum Essen hin und aßen
und tranken vorzüglich. Vorher hatten wir bei Paul Th. noch 2 wundervolle
17er ausgiebig probiert. Um Mitternacht flogen etliche Flieger hier herüber,
von denen wir nichts merkten. Heute ist es rauher geworden. Hoffentlich
kann ich mit etlichen Tagen scharfer Ruh mich wieder in Reih und Glied
bringen. Samstag abend war ich mit Leistner bis etwa ½ 12 in der
Wirtschaft Geis, jetzt wirklich Weinstube, wo die Gäste noch einen
hübschen 15er zu dem ganz märchenhaften Preis von 3 M (nur an
Stammgäste) trinken. Die Unterhaltung war sehr angeregt.
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Charfreitag, 29. März 1918. Mit einer Spannung wie fast in den
Augusttagen 1914 erwarten wir jetzt von Post zu Post jede Zeitung und jede
Depesche. Die Frage ist, bleiben Engländer und Franzosen zusammen
oder werden sie auseinandergerissen? Jedenfalls ist die Niederlage der
Engländer groß und man muß Achtung vor ihnen haben, wie
sie mit Entschlossenheit die Zähne zusammenbeißen. Im Felde
scheint freilich ihre Führung stark versagt zu haben. – Der Frost
hat leider den Blüten zugesetzt. Aprikosen giebts wohl keine, hoffentlich
noch Pfirsiche. Heute rieselt ein feiner Staubregen vom grauen Himmel und
die Charfreitagsstimmung fehlt nicht. Mariannchen setzte alles durch Verschlucken
eines 2 Pf.stückes in Aufregung. Sie selbst spürt nichts mehr
davon, nachdem sie es glücklich durch den Schlund gewürgt. Abends
ist mit ihr jetzt seit etlichen Tagen ein großes Schauspiel mit viel
Wehgetöse, da eine Wurmkur nach Onkel Jan’s (Rech, Johannes) Angaben
jetzt mit Ernst und Wucht betrieben wird. – Zum großen Sieg hatte
das Städtchen, freilich mäßig genug geflaggt und selbst
etliche Böllerschüsse krachten los, so daß unsere treffliche
Marie – „wir sind neutral“ ist ihr Wort, da sie Holländerin ist, im
übrigen hat sie eifrigen Briefwechsel mit Feldgrauen, kennt alle Soldatenlieder
und hat großen Respekt vor den Fliegern von ihrer Heimat Trier her
– ganz verstört hereinstürzt und meint, die Fliegerbomben krachten
nieder. Neulich hat man 6 Bomben auf Cöln und selbst in Bonn abgeworfen.
Es kam keiner zu Schaden. Mit meiner Lunge scheints Montag nur ein warnender
Schreckschuß gewesen zu sein. Trotz genauer Beobachtung konnte weiter
nichts mehr festgestellt werden. Gestern abend holten wir uns im Schutz
der Dunkelheit das von Vater ... geräucherte Rindfleisch. Es ist recht
gut und zart geraten und dient als Schinkenersatz. Zugleich fiel noch etliches
an Nudeln und Suppenzeug ab, so daß fürs erste mal wieder gesorgt
ist. Rfdr. Weinz hat jetzt jene Kreisverteilungssachen unter sich und löst
den Baumeister Koch anscheinend ab. Er wird allmählich dahin zu belehren
sein, daß für Schwund beim Abwiegen, Verteilen und Lagern ect.
auch etwas berechnet werden muß. Denn bis aufs letzte Gramm läßt
sich alles genau nur auf dem Papier verteilen. Die Praxis sieht immer noch
ein wenig anders aus. – Ich hatte bisher nie rechte Lust, die genaueren
Karten der Westfront zu studieren. Jetzt, wo die Riesenschlacht dort begonnen
und in aller Welt jeder Deutschfühlende an nichts anderes als die
Westfront denkt, ist das gründlich anders. Die Tage Stubenarrest geben
Zeit und Gelegenheit. Aus Frau Liells altem Andree (?) holte ich mir die
französische Karte heraus, der große Plan von Nordfrankreich
wird eifrig mit dem Glase abgesucht und bis jetzt habe ich alle in den
großen Tagesberichten genannten Orte finden können. Dazu tritt
der Zirkel, zumal für die Fernwirkungen unserer neuen Märchengeschütze
eifrig in Tätigkeit und Buchhalter Velten, der mir die
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Fürsorgesachen mittags zur Unterschrift bringt, meinte gestern,
ob ich Hindenburg Konkurrenz machen wollte. Daß heute morgen mit
der 2. Post auch die Zeitungen von gestern ausbleiben, ist mir fatal, obwohl
ich sonst gar nicht nervös und begierig aufs Neueste bin. Vorgestern
abend hieß es, „langsames Vorrücken in Gefechten beiderseits
der Somme“. Was mag der gestrige Tagesbericht bringen?
Ostersonntag, 31. März 1918. Dem trüben, rauhen und stürmischen
Wetter draußen entspricht einigermaßen unsere ernste und etwas
getrübte Stimmung. Mutter Reitmeister (Reitmeister, Helene) liegt,
durch mancherlei Aufregungen zumal auch über das recht trostlose Leiden
ihrer Schwester Henriette (Neitzer, Henriette) in Krefeld zu Bonn mit arg
geschwächtem Herzen äußerst matt darnieder und kann nicht
mehr zu Kräften kommen. Donnerstag nachmittag hatte Willi (Reitmeister,
Willi) mit Papa (Reitmeister, Peter) die bei dessen verbohrtem Eigensinn
und seiner heimliche Angst gegen alles Fremde unvermeidlichen heftigen
Auseinandersetzungen wegen Zuziehung eines von Mama sehr gewünschten
Arztes und dieser stellte dann geringes Fieber und starke Schwäche
fest. Papa und Will schrieben darüber fast übereinstimmend. Natürlich
ist Helene darüber sehr bewegt und erregt. Doch ist keinerlei Möglichkeit,
helfend einzugreifen. Gegen das einzig Vernünftige, eine alsbaldige
Kur in Kurort oder Anstalt, wird Papa sich ja mit äußerster
Erbitterung zu wehren wissen, bis die Sache mal ein böses Ende nimmt.
– Täglich haben unsere Truppen weitere Erfolge. Hinter Mondidier scheint
jetzt der verzweifelte Widerstand der Franzosen zu beginnen. Vor Amiens
dürften wir in höchstens 20 km Entfernung stehen. Das Schlachtfeld
muß entsetzlich aussehen, die englische Führung scheint zu hapern.
Jetzt sind 70000 Gefangene und 1100 Geschütze gemeldet. Die berühmte
Armee Foch scheint Paris decken zu sollen. Ist sie erst irgendwo hin„manövriert“,
wo wir sie haben wollen, so wird wohl ein neuer Schlag von uns einsetzen,
in Flandern? oder Lothringen? oder Venetien? – Es soll schon derartiges
im Gange sein. Der März 1918 mit dem Frieden im Osten und der großen
Siegesmorgenröte im Westen wird wohl weltgeschichtliche Bedeutung
behalten. – Die Kinder aber haben die größte Sorge um den Osterhasen,
der bei der Nässe draußen vermutlich in seiner wichtigsten Beschäftigung
arge Störungen erleiden wird. Herta geht die Krankheit der Großmutter
sehr nahe und sie betet von sich aus abends für sie. Mit ihr verbindet
sie seltsamerweise ein stetes Band des Verständnisses und der Liebe.
Sie fängt auch an, ihr körperlich ähnlich zu werden. Heinz
(Reitmeister, Heinz) schrieb an Herta einen Brief, den sie zwar sehr
gekritzelt findet, aber sorgfältig aufhebt. – Der tüchtige Herges
- Brösch schleuderte gestern nachmittag den ganzen Inhalt der kleinen
Grube im Garten – recht scharfe - dicklich - fette Jauche – auf die künftigen
Gemüsefelder und nächtlicher Regen sorgt für baldiges Eindringen
und Zersetzen in der Erdkrume. Bienchen, blühende Bäume und Menschen
aber sehnen sich nach baldiger Sonne. Anscheinend ist im Sommegebiet besseres
Wetter, wenigstens wollen die Engländer u. a. auch diesem z. T. unsere
Fortschritte dort zuschreiben. In den Tagen, in denen jetzt die Zeitungen
ausbleiben, können sich große Dinge abspielen.
Seite 22
[Vor 8 Tagen muß abends in der Doktorweinstube hier eine außergewöhnlich
große Besauftheit bei stärkster Besetzung (auch mit Damen!)
geherrscht haben. Hugo Th. hat angeblich auf den Knien liegend der dicken
Marta Wehr einen Verlobungsantrag gemacht. Das wird seine Frau in Stuttgart
alsbald erfahren und zu neuen Forderungen auszunutzen verstehen.]
So, 14.4.18. Die Ereignisse in letzter Woche überstürzen
sich. Erst der Vorstoß gegen die Franzosen auf dem linke Flügel
der großen Schlacht und jetzt der Einbruch in die englischen Stellungen
auf dem rechten Flügel. Dazu scharfe U-boottätigkeit. Ein unvergleichlich
herrliches Frühlingswetter mit prächtiger Baumblüte. Mittwoch
beerdigte ich Leistners Schwiegermutter mit in Dusemond, mittags in schönster
Frühlingssonne. Von Papa und Willi kommen fortgesetzt aufgeregte Briefe
über Mamas bösen bzw. guten Gesundheitszustand, Streit wegen
ärztlicher Behandlung u.s.w. Helene ist so ziemlich erledigt, ständig
erregt und ganz ab. Ich werde daher Dienstag fahren und Mariannchen mitnehmen.
Selbstredend gehe ich zu meiner Mutter, werde zusehen, was zu tun ist und
mich durch nichts beirren lassen. Helene ist z. Zt. zu dergleichen gar
nicht im stande.
1. Mai 1918. Im Westen geht es in Flandern und Nordfrankreich schrittweise
mit unerbittlicher Wucht vorwärts. Es kann wohl nur eine Frage der
Zeit sein, daß die Engländer und Franzosen auseinandergerissen
und erstere ins Meer gedrängt werden. Es muß stellenweise fürchterlich
und über alle bisherigen Maße verlustreich dort zugehen. Unsere
Leute leisten augenscheinlich Übermenschliches und ist es wohl keine
Phrase, wenn mancher nach Hause schreibt, seine Angehörigen sollten
nicht trauern, wenn sie hörten er sei gefallen, sondern sich freuen,
daß er diese unerhörten Anstrengungen nicht weiter mitzumachen
brauche. Die Zeitungen wollen einem nie so voll von Todesanzeigen gefallener
Krieger geschienen haben. Jedermann erörtert die Frage, was geschieht,
wenn wir die Engländer von diesem Kriegsschauplatz vertrieben und
entgültig geschlagen haben werden? Der Krieg geht weiter, vermutlich
noch jahrelang, lautet die Antwort der Einsichtigen. – Zudem führen
wir in Finnland wie in der Ukraine regelrechten Krieg. Dort wird es schließlich
noch bis zu einem Vordringen bis zur neuesten Republikgründung an
der Murmanküste und dort zum Zusammenstoß mit Engländern
und Franzosen kommen, hier werden wir die Süd- und Kleinrussen zur
Arbeit wieder erziehen müssen, damit es wenigstens 1919 eine regelrechte
Ernte und damit gewaltigen Überschuß für uns giebt. Litauen,
Liv- und Estland scheinen sich uns langsam anzugliedern, in Belgien sind
kaiserliche Gerichte jetzt eingerichtet, seitdem die belgischen Collegen
angeblich streikten. Vielleicht hat die Erfindung der neuesten Ferngeschütze
den Plan der entgültigen zum mindesten militärischen Besetzung
von Flandern und Wallonien, wie es jetzt wieder heißt, selbstverständlich
gemacht. Inzwischen hatten wir im Westen große Erfolge, desgleichen
eine glänzende VIII. Kriegsanleihe, zu der ich selbst auch 2500 aus
eigenen Mitteln zeichnen
Seite 23
konnte. Gestern vor 8 Tagen kehrte ich von einem einwöchigen Aufenthalt
mit Mariannchen in Bonn bei meiner Mutter zurück und gestern reiste
Helene mit Herta für 8 Tage dorthin. Die ernstliche Erkrankung von
Mutter Reitmeister (Rückfall von Ruhr nach vorausgegangener Influenza
mit Lungenaffektion, und großer Herzschwäche ect.) gab eine
traurige Veranlassung dazu. Leider verschlechterte das neblich-kalte nasse
Wetter meine schmerzhafte Halserkältung, so daß ich in keinem
besonderen Zustand heimkehrte. Trotzdem konnte ich in Bonn alles Vorgenommene
gut durchführen, nahm auch in Cöln mit Personal- und Baudezernent
OLGRat Kuttenkeuler wegen Aussichten über Ankauf und Verkauf von Amtsgerichtsgebäude
– evtl. stände für uns nach Wincklers Verzicht Dienstwohnung
in Aussicht – Fühlung, so daß er schon Mitte voriger Woche sich
hier einfand und alles, insbesondere den Leutzgenschen Kasten besichtigte,
der z. Zt. vom Raiffeisenverband zu haben ist. Leider scheinen sich neuerdings
die Aussichten, das Gerichtsgebäude dem Kreis anzuhängen, wieder
stark zu verflüchtigen; immerhin suche ich den wackeren Zach. Bergweiler
dafür zu gewinnen, werde ihn nächstens heimsuchen und dann namentlich
seinen Brauneberger über die Schnur loben. – Auf der Rückreise
von Cöln, wo ich Onkel Dietrich (Brügelmann, Dietrich), auch
Tante Maria heimsuchte, machte ich bei Sturm und Regen, – der Schirm erlitt
dabei ernstliche Havarie, – einen Hamsterflankenstoß nach B-dorf,
der zur glücklichen Hebung meines dortigen Erbsen-Depots von 15 K
führte. Ein wahrer Schatz in heutigen Zeiten, zumal bei ihrer ganz
vortrefflichen Güte! Heute empfiehlt mir rauhes Wetter trotz Maibeginn
etwas Stubenarrest, um die Halserkältung loszuwerden. – Freund Bruhns,
dessen Eltern gottlob unbeschädigt aus dem tumultuarischen Übergang
ihre estnischen Heimat an uns hervorgegangen sind, sandte heute nette Bildchen
seines Töchterchens Gerda. Es gleicht der Mutter. –
Meine Mutter (Rech, Anna Maria), bei der ich mit Marianne eine Woche
in Bonn wohnte, fand ich recht gut, die Schwiegermutter dagegen recht schwach;
doch tat auch ihr unsere und des Kindes Gegenwart dort augenscheinlich
gut. Mariannchen, seit 2½ Jahren nicht in Bonn, sehnte sich schließlich
heftig nach hier zurück und hatte nicht die geringste Lust, gestern
mit Herta die Mutter zu begleiten. Diese aber fuhr mit größter
Freude zu ihrem geliebten Bonn und vor allem ihrer, ihr so nahestehenden
Großmutter Reitmeister. – Morgen geht die Rehbockjagd auf und jeder
hofft bei der derzeitig sehr knappen Fleischversorgung auf einen Braten.
– Mit Holland stehen wir zur Zeit auf recht gespanntem Fuß. Augenscheinlich
machen auch wir an diese biederen Stammesgenossen, die uns als „duitse
Moffen“ nun gar nicht recht leiden mögen, recht kräftige Anforderungen:
Rheinschiffahrtsfragen, Wagengestellung, Lebensmittel – ob nicht auch bezüglich
Maastricht und der Scheldemündung? Die Engländer machten jüngst
einen höchst kühnen Angriff auf Seebrügge, anscheinend ohne
großen Erfolg. Bölkes großer Nachfolger, Rittmeister Frh.
v. Richthofen fiel nach dem 80. Luftsieg; nach dem Eindruck des ersten
Berichtes aufgrund Angabe deutscher Flieger
Seite 24
hatte jedermann den Eindruck, er sei von Australiern abgemurkst worden,
nachdem er gelandet war. Diese Meinung bleibt trotz aller öffentlicher
Widerrufe an der Front fester Glaubenssatz. – Sonntag soll hier eine kleine,
geschlossenen politische Versammlung alldeutschen Charakters sein, zu der
ich eine Aufforderung erhielt. Ich gehe wahrscheinlich hin.
28. Mai 1918. Heute sind es schon 8 Tage her, daß wir unsere
herzensgute unvergeßliche Mutter Reitmeister in Bonn auf dem nach
Buschdorf zu gelegenen Nordfriedhof zur letzten Ruhe brachten. Es waren
traurige, ernste aber keineswegs stille Pfingsten für uns und obschon
wir seit Freitag voriger Woche bereits hier wieder in Ruhe sind, so fühle
ich mich noch recht erschöpft. Helene, die nahezu einen Monat seit
Ende April in Bonn gewesen und dort den gesamten schwachen körperlichen
Erfolg ihrer vorigjährigen Erholung restlos daran gesetzt hat, kann
jetzt wenigstens wieder fest und lange schlafen. Um gleich mit dem Ende
zu beginnen: Ich hatte es gegen allerlei Gegenströmungen auch bei
Helene glücklich durchgesetzt, daß wir Freitagnachmittag heim
fuhren. Gleich mußten wir hier Herta eines verschleppten Darmkatarrhs
wegen ins Bett stecken, der Arzt verordnete Diät und Sonntag morgen
bekam infolge leichtsinnigen Hergebens von Obstsaft durchs Fräulein
Ida das Kind einen schmerzhaften Kolikanfall, was einige Aufregung verursachte.
Von Frl. Schönberg und Frau Emmy Thanisch wurde ich sofort wegen
des angeblich dicht bevorstehenden Ablebens von Rechtsanwalt Schönberg
in Anspruch genommen. Kaum, daß ich mittags etwas Ruhe fand. Schönberg
ist Mittwoch nach mehrtägigen Pfingstferien nachts an 8 m tief von
der Wehlener Brücke gestürzt und liegen geblieben, bis ihn morgens
Wingertsarbeiter fanden. Jetzt liegt er an einer schlimmen Lungenentzündung,
deren schlimmste Gefahr jedoch beseitigt erscheint. Über sein Begräbnis
wurden schon eifrig Erwägungen angestellt, auch Pastor Mombauer aus
Piesport schon in Bewegung gesetzt, doch er selbst glaubte ans Leben und
verlangte nach seiner langen Pfeife. – Alles wächst und grünt
wie toll und die Gartenarbeit scheint sich zu lohnen; auch daß ich
diesmal den Wolf’schen Garten pachtete; denn er hat überreiche Früchte
angesetzt. Ein Artikelchen über Moselmai und Bernkastler Weinversteigerung
brachte endlich mal wieder die Kölnische nach langer Pause wegen Papiernot.
An Sieburgs Stelle ist ein mit mir im gleichen Dienstalter stehender aus
Reydt gebürtiger Assessor Heincke gekommen, kinderloser Ehemann, evangelisch.
–
Nun zurück zu unserem großen Verlust: Helene schrieb mir
einen Eilbrief, den ich Donnerstag mittag erhielt; obschon ich ihn längst
erwartet hatte, erfüllte mich sein Inhalt doch mit einer dumpfen Leere.
Ich ließ durch Frl. Ida meine Sachen zusammenpacken und ging nachmittags
zur Weinversteigerung, wo Anton Thanisch’s für
Seite 25
über 618000 M 17er versteigerten. Vom vielen Probieren und der
inneren Aufregung hatte ich abends betäubende Kopfschmerzen, fuhr
Freitags nach Bonn. Dort traf ich Helene in Willis heißem Zimmer
recht elend im Bett, und quartierte sie mal vorab gleich mit mir bei meiner
Mutter ein. Das bewährte sich sehr, indem sie nachts und mittags Ruhe
hatte und Papa sich ans Alleinsein gewöhnen mußte. Samstag morgen
sah ich Mama das letzte Mal; sie lag in schwerer Lethargie mit letalem
Ausdruck, die Feinheit des Gesichts zeigte sich deutlich in den vereinfachten
todesblassen Zügen. Es war für mich sehr erschütternd. Papa
konnte sie selbst im Sterben nicht in Ruhe lassen und versuchte ihr fortwährend
alles Mögliche einzuflößen. Nachts schellte er uns heraus
– ich hatte ihn auf dem Heimweg vom Krankenhaus, wo ich einen Flieger im
Mittagssonnenglanz beobachtete – in Cöln war ein großer Angriff
gewesen, bei dem angeblich Hunderte tot blieben – recht unverblümt
meine Meinung darüber gesagt, daß Mamas Zusammenbruch die naturnotwendige
Folge ihrer jahrelangen Überbürdung und des gänzlichen Mangels
jeglicher Ausspannung sei – Nachts also schellte er uns heraus, Mama hatte
kurz vor Mitternacht ausgelitten und wir saßen in warmer Sommernacht
über eine Stunde bei meiner Mutter zusammen und besprachen alles Nötige.
Die Pfingsttage brachten tolle Laufereien, aber trotz alledem ging alles
glatt. Ich besorgte so ziemlich alles. Nun ist Papa in Hersel und hat Muße
darüber zu philosophieren, wie er sich und Mama das Leben hätte
bequemer einrichten können. Wie es stets zu gehen pflegt: Solange
Mama lebte, war es unser sehnlicher Wunsch, nach Rheinbach zu kommen. Kaum
ist sie tot, so wird dort durch Meller’s Ableben eine Richterstelle frei.
Ich werde mich erst eingehend nach den Wohnungsmöglichkeiten erkundigen,
ehe ich mich dorthin melde. Vielleicht, daß es jetzt nicht schwer
fiele, dorthin zukommen.
Die vergangene Woche war ein solcher Hitzevorstoß, daß
alles vorschnell schoß, kein Salatkopf läßt sich mehr
bändigen. – Bei Gericht erzählte ein Trierer Anwalt heute morgen,
unser großer Angriff habe begonnen. Die Kronprinzenarmee habe den
vielumstrittenen Damenweg genommen. Das wird wieder bittere Verluste kosten.
In Bonn saß ich die Tage über 2 x im Keller wegen Fliegeralarm.
Die Engländer scheinen neuerdings die Friedensflöte blasen zu
wollen.
Seite 26 und 27 auf eingeklebten Blättern:
Seite 26
Bonn, 6.6.1918. Die Fahrt war bei strahlender Sonne nach kühler
Nacht ganz erquicklich schön. Allenthalben sah man die Leute schon
beim Heu beschäftigt und ich fürchte, es wird mit unserer Hauptbienentracht
nichts Rechtes werden. In Wengerohr unterhielt ich mich mit dem Post-Scholz
sehr angenehm und fuhr von dort, zunächst allein in einem ganz verdatterten
alten Wagen aus Kattowitz, der schon bessere Zeit erlebt zu haben schien.
Es fuhr sich aber trotzdem ganz gemütlich und trotz ziemlicher Verspätung
gelang in Coblenz der Anschluß, obschon ich schon mit dem nächsten
Nachmittagszug gerechnet hatte. In Sinzig verzehrte ich am Bahnhof zu einem
Fläschchen Limonade mein Mittagsbrot und bummelte ins Nest. Ein leichter
Regen dauerte nur allzu kurz. Ich entdeckte das wahrhaft fürstliche
neue Amtsgericht, in dem auch das Katasteramt ist. Es hat über 77
Räume! und es wäre wohl reichlich Platz für eine bequeme
Dienstwohnung darin. Eine solche scheint übrigens vorgesehen, denn
nebenan gehört noch ein freiliegender Bauplatz mit dazu. Sinzig hat
vielleicht noch eine Entwicklung vor sich. Durch die Einmündung der
Bahn über die neue Rheinbrücke dort, soll auch die Einmündung
der Ahrtalbahn in die Rheinstrecke nach dort verlegt werden. Die Straßen
waren menschenleer und erst allmählich gabelte ich jemanden auf, der
mir mit Hülfe einer allerdings sehenswerten uralten gewaltigen Linde
die Wohnung des Steuerinspektors Scherer zeigte. Dort war man schon auf
meinen Empfang gerüstet, ein allerliebster kleiner Junge öffnete
mir, die Türe stand schon offen, die gute Stube und hieß mich
setzen. Bald erschien der Alte, im Wesen seinem jüngeren Bruder sehr
ähnlich. Er hatte noch junge Frau und 2 Söhne, der jüngste
auf Sexta. Alsbald gingen wir zum Bienenstand, er hatte 20 Völker
und das in einem 2 Morgen großen Garten, der sich zwischen Eisenbahn
– über diese steht gegenüber die Wandplattenfabrik – bis zur
Chaussee ausdehnt und z. T. mit dem Pflug beackert wird. Scherer
hatte sich zeitig zur Ruhe gesetzt und trotzdem mehr zu tun wie früher.
Mit den Gerichtscollegen steht er auf freundschaftlichstem Fuß. Seit
86 dort ansässig erbaute er sich 1892 sein schönes geräumiges
Haus. Wir besprachen Wohnungsverhältnisse. Sein Garten liegt unvergleichlich:
nach Süden, Osten und Norden freien Blick über das weite Rheintal
mit prachtvoll abgestuften Bergterrassen ringsum. Obst und Gemüse
die Hülle und Fülle. Fruchtbarer rheinischer Lehmboden. Nachdem
ich seine Frau, eine liebenswürdige frische 40-50erin kennen gelernt
und diese die bestimmte Einladung zum Kaffee wiederholt hatte, marschierten
wir durchs Nest und besahen so ziemlich alle in Betracht kommenden Wohnungen.
Dann zum Amtsgericht, wo ich den prächtigen hinkenden Geheimrat Gerber,
einen echten Rheinländer, kennen lernte und zu AGR Dr. Geyer, der
im Hauptfach Gärtner und Landwirt und uns in seiner Wohnung gleich
am Bahnhof genau im grünen Strolchkostüm empfing, wie ich es
nachmittags trage. Dann solenner Kaffee, Vater Scherer hatte morgen 65.
Geburtstag und feierte ihn heute schon. Notizen über Wohnungen. Begleitung
bis zum Bahnhof und Abschiedwinken bis auf Verschwinden. Eine Aufnahme,
wie sie allerseits nicht herzlicher gedacht werden könnte! Mit wertvollen
Winken und Fingerzeigen bedacht.
Seite 27
Hersel, 8.6.1918. Liebe Helene,
gestern lag eine strahlende Morgensonne über Stadt und Land, als
ich schon ¼ vor 8 nach reichlichem Frühstück bei Mama
nach Rheinbach hinaus dampfte. Lebhaft erinnerte – eben schnarrte ein Doppeldecker
dicht über die Inselbäume mit Getöse vorbei – ich mich meiner
vielfachen Märsche als Knabe nach Alfter; später kamen dann die
uns so gut bekannten schönen Straßen bei Duisdorf, Witterschlick
u.s.w., wo wir unsere prächtigen Radfahrtouren machten. Das waren
doch schöne Zeiten und ich hoffe, wir erleben sie wieder. Allenthalben
stehen die Feldfrüchte herrlich. Die Fahrt nach Rheinbach verging
mir im Fluge. ½ 9 war ich schon dort und lief mit 2 Schritten vom
Bahnhof gleich in das Haus des Kreisarzt Kessel. Von dem jungen, leider
in seiner Gesundheit doch wohl arg geknickten Studenten, der noch beim
Frühstück saß, ebenso von seiner bald von draußen
herzukommenden Mutter aufs herzlichste begrüßt und zum Frühstück
eingeladen – sie hatten Butter, Käse, Wurst – ich lehnte ab, da ich
genug daheim gehabt, waren wir bald in angeregtem Gespräch über
Rheinbacher Verhältnisse. Die anscheinend sehr ruhige ehrgeizige Frau
hofft jetzt ihren Mann nach Coblenz natürlich mit Hülfe des Herrn
v. Groote zu dirigieren, vorigen Herbst wollte sie noch, soweit ich mich
erinnere, nach Cöln. Sie hat eine Schwester und einen Bruder in Rheinbach,
AGR Simon. Papa erinnert sich der Simons als einer reichen Familie, die
mit allem dort handelte, wie die Fischers in Euskirchen. Ihr Haus zeigte
sie mir von oben bis unten, sehr luftig, sehr geräumig und sonnig,
aber wohl zu üppig für uns. Großer, doch sehr verzettelter
Garten ohne Tiefe und ohne Form. Sie gab mir allerlei an; der Sohn, der
schlecht Atem hatte und mir vorher seine Bestrahlungsanlage gezeigt hatte,
die bei 120 V Spannung Wechselstrom gut funktioniert, es liegt anscheinend
nur am Widerstand, den ich mir genau abzeichnete – ging einige Schritte
mit. Ich besuchte Geheimrat Hölzel auf dem Amtsgericht, erhielt wertvolle
Aufschlüsse, besah mir noch etliche Häuser und war gegen 12 wieder
bei Kessels, wo es ein treffliches Servelatbutterbrot mit Glas Milch gab.
Dazu Onkel Simon, der mich zur Bahn begleitete. 2 Uhr aß ich schon
wieder bei Mama, schlief nach Tisch und verzehrte mit ihr zum Kaffee deine
letzten Fleischbutterbrote und 1 Ei, das ich noch in der Tasche hatte.
Leider vergaß ich, ihr Butter mitzubringen. Emma (Rech, Emma) sprach
ich kurz; sie meinte, ich hätte mich mit Josef (Rech, Josef) verabredet.
Er kommt in den nächsten Tagen. Nach Hause zurück, war Papa schon
dort und bald kam auch Willi (Reitmeister, Willi), der etwas weniger gut
aussah als damals. Er hatte sich Schuh- und Sohlleder und Hemd aus Militär
Depot geholt. Hierüber später mehr. Auch brachte ein Junge 20
prächtige fette Heringe, von denen 10 Mama zu 4 M(?) übernahm.
Das Mädchen nahm sie gleich aus und legte sie sachgemäß
ein. 10 nahm Papa mit. Wir verabredeten uns auf Sonntag und Willi begleitete
mich zur Bahn. Hier, wo es inzwischen trüb und die Luft ganz unsichtig
geworden ist, schlief ich mich mal gründlich aus.
Papa ist doch etwas schlapp, bei aller körperlicher Rüstigkeit.
Er liest nicht mal die Zeitungen mehr ganz aus. Wir vertragen uns aufs
beste. Die Testamentabschrift las er gestern abend, wo wir noch bis ½
11 zusammensaßen, mit großem Interesse.
Nun hoffe ich, die Post bringt gleich Nachricht von Dir. Ich gebe ihr
diesen Brief mit mit den innigsten Wünschen für Dein und der
Kinder Wohlergehen.
Mit herzlichen Grüßen und innigem Kuß Dein
Matthias.
Seite 28
28. Juni 1918. Von einer 8tägigen Reise nach Hause, Sinzig, Rheinbach
und Cöln mußte ich fast 8 Tage lang hier mich ausruhen und viel
Schlaf nachholen, um einigermaßen wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Herta hat unterdessen ihren langen Darmkatarrh langsam verloren, hält
aber noch Diät und vermeidet im Garten mit bewundernswerter Ausdauer
alle Kirschen, Erdbeeren, Johannistrauben. Mariannchen ist um so eifriger
dabei, wenn diese gepflückt werden, was jetzt oft geschieht. Denn
jetzt, wo wir erstmals den Garten fest und schriftlich auf 1 Jahr vn Dr.
Wolf gepachtet haben, hängt er voller Früchte. 2maliges Schleudern
brachte 75 Pfd. Honig. In Bonn traf ich Bruder Josef (Rech, Josef), den
ich lange schon nicht mehr gesehen und war mit ihm und Mutter auch einen
Nachmittag in Olsdorf. Die beiden älteren Kinder sind arge Krüppel,
die jüngeren stattliche schöne Mädchen, von denen das Jüngste
ganz unserem Großvater gleicht. Tags danach wurde die Mutter an Strafkammer
in Bonn wegen Höchstpreisüberschreitung beim Obstverkauf im vorigen
Herbst zu fast 4000 M Geldstrafe verurteilt. – Ohm (Bruder von Konrad
Hubert Rech?) hatte ein schlimm geschwollenes Bein gehabt. Jetzt aber gings
ihm nach Heißluftkur bedeutend besser. In Hersel kommt Papa wieder
ziemlich zu sich. Hier (in Bernkastel) wurde ich nach meiner Rückkehr
gleich für RA Schönberg heftig in Anspruch genommen, der Pfingstmittwoch
8 m hoch von der Wehlener Moselbrücke nachts herabgestürzt war
und an Lungenentzündung ect. in schwerer Krise lag. Die kirchliche
Beerdigung ect. wurde ausführlich erörtert, auch Mumbauer aus
Piesport bemüht, doch blieb er fest als Ketzer. Heute gehts ihm wieder
gut und er schleicht sich schon wieder ins Casino. Gestern war Amtsbruder
Reinecke auf 1 Tag Urlaub hier, trank nachmittags Thee bei uns, besuchte
mit uns seine Möbel im Hauth’schen Keller und bei Frau Kreisarzt Dr.
Knoll und deren Vater Major Gohlke. Eine gute Flasche Wein dort half gegen
das wüste naß-kalte Windestoben draußen. Reinecke war
uns dann zum Abendessen ein lieber Gast und später tranken wir unter
anregenden Gesprächen noch etliche feine Flaschen bei Leistner, unserem
Hauseigner. Heute in der Frühe ist Reinecke, der das EK. I hatte und
kürzlich bei dem Vorstoß bei Noyen war, wieder auf Metz zurück.
Papa schreibt, daß Bruder Josef 8 Tage vor Urlaubsende telegrafisch
zurückberufen wurde. Es scheint allerhand Neues, vermutlich der 4.
große Abschnitt unserer Westoffensive bevorzustehen. In Italien sind
Österreich, das plötzlich mal wieder dringendste Versorgungsschwierigkeiten
hatte und von uns ausgeholfen bekam, und Italien anscheinend gegeneinander
beiderseits mit Offensive losgegangen. Man wird nicht recht klug aus dem
Ganzen. Immerhin sind die Österreicher etwas über den Piave gekommen
und meldeten 40000 Gefangene. – Nach langer Hitze ist jetzt nasses, aber
leider auch recht kaltes Wetter, nachts nur 8 - 9° C., wobei es nicht
recht wachsen will. Die Weinblüte kommt nicht voran, im Herbst wirds
Ausfälle geben und die Weinpreise werden ins Ungemessene steigen.
Leider scheint es auch mit unserer Brotfruchternte schlimm auszusehen,
hoffentlich giebts wenigstens genug Kartoffeln. Das Sommergetreide will
gar nicht vorwärts. Winterraps wird bereits geerntet. Heuernte ist
herein. Gestern morgen
Seite 29
paarten wir unsere graue Silberhäsin mit Scherers prächtigem
blauen Wiener Rammler. Nach Rückkehr aus unser bis auf Anfang August
berechneten Ferienreise nach Oberhessen, wird sie Junge setzen. Aus dem
vorigen Satz sind unter 6 Stück 5 Rammler und 1 Häsin. – Stadtbürgermeister
Simonis ist gestern fast einstimmig auf weitere 12 Jahre hier wiedergewählt
worden, woran sich eine tüchtige Zecherei im Rathaus bis tief in die
Nacht hinein anschloß.
3. Juli 1917 (muß 1918 heißen). Einige Tage voll stiller
innerer Aufregung und Unruhe liegen hinter mir und noch ist sie keineswegs
beseitigt. Am 1. erhielt ich prompt an handgroßem Zettel aus dem
Justiz-Ministerium die vom JM Spahn selbst unterzeichnete Mitteilung, daß
ich auf meinen Antrag nach Rheinbach zum 1. September versetzt sei. Helene,
z. Zt. bei Papa in Hersel zu Besuch, streifte mit ihm in Rheinbach alles
an Wohnungen ab, und eben kommt von ihr die betrübliche Karte: Ergebnis
= nichts. Vorab sitzen wir hier noch warm und auf Kriegseinquartierung
in Bonn u.s.w. lasse ich mich nicht ein. Läßt sich an Wohnung
rein gar nichts dort finden, so bleibe ich hier und versuche mit allen
Mitteln, die Versetzung gleichwohl aufrecht zu erhalten. Wie, das wird
sich finden. Gern gehen wir ohnehin nicht von hier weg und ich habe es
daher auch bisher nur einigen wenigen mitgeteilt. Unserem Hauswirt Leistner
tut es besonders leid, wiewohl er sein Haus in dieser Weise frei bekommt
(?).
Sonntag 24. August 1918. Ich sitze vorige Woche bei Schönberg,
es klopft und herein tritt eine schlanke hohe Figur, das glattrasierte
Gesicht mit ausgeprägter Nase und fein geschnittenem Profil mit ein
paar tiefliegender klug und lebensfreudig funkelnder brauner Augen belebt
und den Kopf von einer grauschwarzen Mähne üppigen Langhaares
in großen Lockenlagen unweht. Den Leib umschließt ein hellblauer
Schoßrock altertümlichen Schnittes, den breitkrämpigen
schwarzen Filz hat er draußen abgelegt. Er folgt der freundlichen
Aufforderung zum Sitzen, wehrt den Wein am Vormittag ab und als die Flasche
guten 15er Ürziger in unseren Gläsern perlt, schlürft er
schluckweise mit Zungenrollen und Kennerblick das köstliche Naß.
Das war Professor Merckle, der berühmte katholische Kirchengeschichtler,
Ordinarius in Würzburg (ehedem in Tübingen) der –seltsam zu berichten
– von Irene Thanisch und vermutlich ihrem Vater vorgeschickt ist, um mit
der Geistlichkeit hier in Fühlung zu treten und eine neue „Versöhnung“
zu versuchen. Er wohnt bei dem „Ketzer“ Mombauer in Piesport. Den Dechanten
hat er bereits besucht, vom Bürgermeister hat ihn Schönberg mit
kluger Hand abgelenkt und da Schönberg nicht ausgehen kann, so bekomme
ich den guten übrigens recht angenehmen und prächtigen Professor
für den Rest des Tages in Schutzhaft anvertraut, damit er keine Dummheiten
macht. Mit Hugo, der herbeigerufen, hat er eine kurze Besprechung. Der
ist recht mißtrauisch und hat sogar den richtigen, von uns aber damals
noch als unzutreffend abgelehnten Gedanken, seine Frau sei im
Seite 30
Anzuge. Tatsächlich ist sie mit ihrer Mutter seit 2 Tagen hier,
wohnt bei Laues, da die Mutter Th., die vor Aufregung gleich einen Darmkatarrh
bekam, sie mit Recht nicht empfangen will. Sie hat Hugo bereits gesprochen,
nachdem dieser sich bei mir und Schönberg ausgiebig Rat für sein
Verhalten geholt hat. Sein Bestreben, mit Zeugengegenwart eine Unterhaltung
mit seiner Frau zu pflegen, mißglückte. Schönberg hat sich
nach Morbach verdrückt und ich lehnte strikte ab. So berichtete er
denn gestern morgen, als ich mit Paul und ihm vor Tisch im Casino bei drei
rasch hintereinander ausgeschütteten Flaschen edlen Braunebergers
erst eine Besprechung über die Beteiligung an einer Neugründung
der Schmittgen’schen Brauerei gehabt hatte – Leistner betreibt diese wie
mir scheinen will recht aussichtsreiche Sache und ich möchte mich
auch gern mit einigen 10 Tausend und als „Jurist“ daran beteiligen – berichtete
H. also, daß er mit seiner Frau allein eine Unterredung gehabt habe,
bei der sie ihm wieder dicke Pflaumen gab, die einen Rückschluß
auf starke querulatorische Wahnvorstellungen zulassen: Ihr „Rückenmarksleiden“
(wozu sie stets Branntwein benötigt – Geld, Wein, Branntwein ist die
stete Parole) sei eine Folge von H’s Mißhandlung, ihr „Unterleibs-leiden“
eine Folge seiner „Geschlechtskrankheit“, sein Bonner Zeugnis sei erschlichen,
indem ein anderer für ihn sich habe untersuchen lassen, er und seine
Mutter würden demnächst schwören müssen, sie mache
Bedingungen für künftiges Zusammenleben, verlange insbesondere
vertragliche Festlegung eines ausreichenden Vermögens für sie
u.s.w. – Die tüchtige Emmy geht derweil stramm ins Zeug. Auf einer
Bemerkung der Frau „Posteuse“ fußend (sie verschulde das ganze Zerwürfnis)
muß Paul erklären, er müsse vorgehen. Ich regte Hugo dazu
an, die Briefe Irenes mit den tollen Behauptungen über seine Schwägerin
dieser und seinem Bruder bekannt zu geben und sich darüber auszusprechen,
was auch heute oder morgen geschehen soll. . . . Warum ich dies hier niederschreibe?
Derlei lenkt einen heute ab von den großen schweren Sorgen der Zeit,
die wieder wie eine graue Bleidecke trotz aller Hoffnungsfreude und Zuversicht
alles zuzudecken drohen. Unser Vorstoß an der Westfront, den wir
in der 2. Hälfte Juli in Alsfeld erlebten = ich war mit Helene und
Herta 2 ½ Wochen dort, während Mariannchen mit ihrer Frl. Ida
Menn in deren Heimat Helberhausen bei Hilchenbach war, wir trennten und
vereinigten uns auf Hin- und Rückfahrt in Wetzlar, einem prächtigen
schönen Städtchen, in dem es ordentlich nach – – Leder! roch
= = begegnete einer gewaltigen Offensive unserer Gegner Franzosen, Engländer
und Amerikaner, die eben noch in gewaltigster Form tobt und uns langsam
zurückdrückt. Was Hindenburg machen wird, ist völlig dunkel.
Optimisten wie ich hoffen auf eine Wiederholung der großen Ereignisse
von 1915 in Polen, wo die Russen entscheidend geschlagen wurden, nachdem
wir bis aufs äußerste zurückgegangen waren.
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Gebe Gott, daß dem so sei. Am 1. August fuhren wir heim, ich
über Bonn, Rheinbach, Cöln, wo ich abends bei Onkel Dietrich
(Brügelmann, Dietrich) Otto Brügelmann (Brügelmann, Otto)
mit seiner jungen Frau (v. Pustau) (Brügelmann, Asta) traf. Ich hatte
ihn seit seinen Kleinjungenjahren nicht wiedergesehen und so sah ich einen
hageren, gewandten und augenscheinlich mit zäher soldatischer Energie
begabter Artillerie-Hauptmann einer bairischen Division, der sich bei dem
ersten Hauptanprall der Gegner um die zähe Verteidigung des Rückzuges
westlich von Reims große Verdienste erworben hat. Nach seinen Schilderungen
waren unsere Divisionen zu dünn aufgefüllt und bedürften
dringend der Zusammenlegung. Trotz seines forschen Wesens sprach er sich
im ganzen recht pessimistisch aus: Die Kanalküste bekämen wir
nicht, mit dem Ubootkrieg sei es nichts, die Alldeutschen solle der Kuckuck
holen u.s.w. Alles das ist ja recht gut aus den überwältigenden
Eindrücken an der Front zu verstehen, richtig ist es deswegen noch
lange nicht. Vorab haben die Amerikaner anscheinend wie seiner Zeit die
Engländer ihre besten Leute, nämlich ihre aktiven Soldaten im
Feuer, sind die verbraucht, so kanns sich zu unserem Besten wenden. Auch
Bruder Josef (Rech, Josef), um den wir in den ersten Alsfelder Tagen sehr
bangten und der auch richtig am ersten Großkampftag (am 16. Juli)
unserer großen Offensive zwischen Soissons und Tahüre mit seiner
Pionier 1. mob. Landw. 8. A.K. im allerschwersten Feuer eine 12 m breite
Bohlenstraße vermutlich für riesige Kampfwagen zu bauen nicht
fertig bekam, 75 Tote in der Kompanie hatte und selbst durch ein Geschoß
eines riesigen Schiffsgeschützes 30 m weit geschleudert, durch den
neben ihm stehenden, völlig zerfetzten Adjudanten von dem sicheren
Tod bewahrt und von seinen Leuten an den hervorstehenden Stiefeln erkannt,
ferner herausgezogen wurde und sich im Lazarett mit Nervenchok und Weinkrämpfen
wiederfand, auch er berichtete mir, welche gewandten und unerschrockenen
Gegner die auf ihrem Abschnitt frisch eingesetzten Amerikaner seien und
wie mutig sie sich, als Gefangene bei ihnen im dichtesten Feuer zum Bohlenschleppen
benutzt, dort benommen hätten ohne jeden Versuch sich zu drücken,
obschon es sehr schwere Verluste bei ihnen abgesetzt hätte. –– Nun
braut sich auch im fernen Osten mit Japan etwas zusammen, ob es uns neue
Belastung oder plötzliche Erleichterung bringen wird, wer kann es
wissen. Auf den neuen Staatssekretär des auswärtigen Amt, v.
Hintze, möchte man gern große Stücke setzen. Gottlob ist
eine reiche Körnerernte so gut wie gesichert. Denn mit Brot waren
wir am Rande äußerster Knappheit und wir leben seit Wochen nur
von Frühdrusch. Dazu diesmal die erste fleischlose Woche. Natürlich
haben wir heute mittag noch ein Stück Salzfleisch im Topf. Aber langsam
wird es immer weniger werden. Jedoch „dä Preuß jitt net noh!“
und das ist recht so! –
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Nun zu Erfreulicherem: In dem oberhessischen Städtchen Alsfeld
verlebten wir herrliche und richtig gehende Sommerferien. Die fleisch-
und butterreiche Kost – vorzüglich von Frau Schweizer im Deutschen
Haus selbst zubereitet – brachte uns ordentlich auf die Beine. Bei Herta
zeigte sich die Wirkung am ehesten. Sie blühte ordentlich auf und
bräunte sich an der Sonne. Zum Schlusse gabs hie und da Gewitterregen,
der uns aber nicht hinderte, täglich 2 x auszugehen. Ich schrieb allerhand
Artikelchen und versuchte, mit der Allgemeinen Norddeutschen Zeitung dieserhalb
in Verbindung zu treten. Leider war es mit den Sachen unterm Strich nichts,
dagegen brachte sie kürzlich einen recht scharfen Artikel über
die Notlage der Beamten, den ich mir dort im krassen Gegensatz zu der Umgebung
zurechtgebaut hatte. Geistig genoß ich eine ganz außerordentliche
Erfrischung dort durch die witzige, leicht ironische, stets lebhaft bewegte,
echt rheinländische Unterhaltung mit einem Prof. Dr. Knögel,
Studienrat am Lessinggymnasium zu Frankfurt, der sich dort in der Feyerleinstraße
ein Haus in Erbbaurecht auf 50 Jahre erbaut hatte. Ein ganz famoser alter
Herr, Konabiturient von Clemens Gescher, den er seit Pennälerzeit
nicht mehr gesehen und aus seiner Erinnerung nach seinem vornehmen und
feinen Wesen ganz genau so schilderte, wie er heute noch ist. Er selbst
stammte als Sohn des Gymnasialdirektors aus Montabauer. Seine Sommerfrische
wurde ihm durch das von ihm und seiner Frau, zeitweilig auch von einer
Tochter betriebene tägliche Hamstern auf den reich versehenen umliegenden
Bauernhöfen (nach Butter, Eiern, Milch) arg beeinträchtigt. Wir
waren wohl die einzigen im Hause, die nicht hamsterten, wie ich in anl.
Artikelchen zu schildern versucht habe, der leider weder bei der Norddeutschen
noch bei der Kölnischen Gnade fand. Ich klebe ihn deshalb hier ein,
weil er einen guten Abglanz unserer schönen Sommertage für mich
aufbewahrt. (Siehe Tagebuchseite 33 bis 36) –
Kaum, daß ich von einer recht anstrengenden Rheinreise – ich
besuchte am 1. Aug. Willy in Siegburg, traf abends 10 ½ meine Mutter
seit Tagen ohne Mädchen, Kartoffeln und Brot und recht brav am Hungern
und ebenso hilflos wie verkehrt an, war den 2. August in Rheinbach, dann
in Bonn und schließlich sonntags in Hersel, wo ich mit Papa noch
zum Schluß auf dem Wege zur Bahn seiner ewigen Redensarten müde
in eine recht erregte Auseinandersetzung geriet, war nachmittags und abends
bei Onkel Dietrich in Cöln und fuhr Montags über Trier nach hier
zurück – von dieser anstrengenden Reise zurückkam, erwartete
mich hier, nachdem ich meinen Urlaub um 4 - 5 Tage überschritten
hatte, eine rasende Arbeit. Auf dem Amt arbeitete Brinckmann mit seinem
alten Eifer bis er Mitte des Monats seine erneute militärische Einberufung
nach Inf. Rg. 61 in Trier erhielt. Dazu die überreiche Ernte im Garten
an Reineclauden, Mirabellen, dicken Pflaumen, wenig Pfirsichen, Äpfeln,
die unausgesestzt zum Einmachen und Versenden reizte. Beide Mädchen
sandten ihren Eltern, wir desgleichen, auch an Willi, Onkel Dietrich u.s.w.
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Dr. Rech, Berncastel Cues. Die Lindenstadt. (Ferienlust und Hamsterwut)
Eine Sommerbetrachtung
Als wir zu unserer Sommererholung von der Mosel aufbrachen, waren dort
bereits die Linden verblüht, zum größten Leidwesens des
Imkers in einer Zeit rauher Luftabkühlung, welche die Tracht der Bienen
verhinderte, ohne den heiß ersehnten Regen zu bringen. Das freundliche
Hessenstädtchen, das uns aus flüchtiger Bekanntschaft in vorteilhafter
Erinnerung geblieben war, übertrifft nun unsere sommerlich frohen
Erwartungen und bringt uns täglich eine Fülle landschaftlicher,
geschichtlicher und wirtschaftlicher Eindrücke, daß wir den
ewig grollenden Kanonendonner unserer westlichen Heimat langsam zu vergessen
beginnen und uns in den Frieden versetzt glauben.
Mit ausgiebigem Balkenwerk fest gezimmerte Bürgerhäuser bilden
prächtige Straßen und malerische Kleinstadtwinkel mit entzückenden
Durchblicken, in denen sich die verschiedenen altgediegenen Trachten der
hessischen Bauern aufs beste und höchst aristokratisch ausnehmen,
während vereinzelt umherstreifende fremde Sommervögel dagegen
förmlich förmlich proletarisch wirken Jene passen zu den altertümlichen
Bauten und dem holprigen grasüberwachsenen Pflaster, diese sehen darauf
wie verirrte Karrikaturen aus. Kein Haus, vor dem nicht ein gewaltiger
Haufen derber Buchenscheite in den Feierstunden unablässig von Groß
und Klein zu Brennholz zerkleinert und bald in Form selbständiger
Rundtürme für sich, bald als Erker oder Halbtürme an die
Hausgiebel aufgeschichtet wird. Die Holzverschanzungen und -verkleidungen
lassen uns selbst in der sommerlichen Hitze jene behagliche Wärme
der wohlgeheizten Winterstube vorahnen, die nur das knackende Buchenholz
im Ofen auszuströmen vermag.
Rund um die Stadt erfreuen uns täglich die weiten wohl bestandenen
Felder, deren Früchte der Sense entgegenreifen, eine gute Körnerernte
und treffliche Kartoffeln versprechen. Selbst die daheim durch die Ungunst
der Witterung stark in Frage gestellte Sommergerste wie der Sommerweizen,
stehen hier befriedigend und werden eine hinreichende Ernte ergeben; ausgedehnte
Felder von Ölfrüchten sind bereits abgenutzt und die Früchte
glücklich geborgen. Dies alles vermag unsere sorgenden Gedanken
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zu scheuchen und unser Herz empfänglich für die erquicklichen
Bilder zu machen, die uns eine abwechslungsreiche Landschaft unter einem
sonnig lachenden Himmel täglich bietet. Bald lockt uns der muntere
Bach zu einem Gang durch den schattigkühlen Bruch hinaus zur malerisch
dort gelegenen Burg mit dem musterhaft betriebenen Gutshof, bald nimmt
uns der benachbarte Wald in seine Labung spendenen Laubhallen auf und beschert
den Kindern Heidel- und Erdbeeren; hier regt uns ein geschlossenes Landschaftsbildchen
zu längst vergessen geglaubten Mal- und Zeichenkünsten an, dort
endet ein Marsch im Hessendorf mit seinen stattlichen Hofreithen und seiner
Mischung süddeutschen Behagens mit norddeutscher Ordnung und Sauberkeit
in einer gediegenen Bauernkneipe bei einem Glase durchaus noch annehmbaren
Braunbieres.
Ringsum aber blauen allenthalben die waldbestandenen langgestreckten
Höhen, bald verlockend nah, bald verheißend weit und überall
hin zeigt sich der die Stadt überragende massige Kirchturm mit seinem
eigenartig stumpfen Dachhelm als ein wahrer Wegweiser. Nach allen Richtungen
führen uns über die sonnenüberglasten weiten Felder nach
jenen Waldsäumen schattige Alleen dichtgedrängt stehender alter
Lindenbäume, deren unerhört reiche Blütenmenge in diesem
Jahre jede Vorstellung übersteigt. Bei manchem unter diesen stattlichen
Bäumen verschwindet das dunkle Grün des schattenspendenden Laubwerks
unter der Fülle der hellen Blütenbüschel, die den Baum wie
ein reicher Schleier überdecken, allenthalben in weichem Geriesel
nach unten herabhängen und im Winde sich leise hin und her neigen,
emsig umsummt von den honigsuchenden Immen, deren froher Flügelschlag
die Zweige wie ein feierlicher Choral durchtönt. Weithin ergießt
sich ein kräftig süßer Blütenduft in die warme Sommerluft.
Auch wir können der Versuchung nicht widerstehen, für kommende
trübe Wintertage eine greifbare Erinnerung an diese Sommertage zu
sichern, daß wir uns die Sonnenstrahlen in Gestalt reichlicher Lindenblüten
einfangen und durch sorgfältiges Trocknen zu einer Droge verarbeiten,
die daheim den
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selbstbereiteten „edlen deutschen Maimondthee“ verbessern wird. Die
Tage gleiten traumhaft schön dahin in scheinbar unbewegter Eile, der
Körper kräftigt und erholt sich, die Wangen gewinnen wieder Farbe
und das Herz neuen Mut. – – –
Soweit wäre alles ganz gut und schön, wenn nur auch hier
nicht jene allgemeine erschreckliche Seuche unter den wenigen Sommergästen
herrschte. Welche? die spanische? Ach nein, die hat sich bereits ausgetobt
und beschränkt sich leider auch nicht nur auf die Frischler, sondern
nahm mit jedem fürliebe. Diese Krankheit aber ist die heute wohl ebenfalls
internationale Sammel- und Hamsterpsychose, die den Sommervögeln das
Leben so schwer macht. Wieso? Da glaubt der Städter sich für
den Winter dem bittersten Notstand ausgesetzt, unaufhörlich verfolgt
ihn die Erinnerung an längst vergangene Kohlrübenzeiten, der
tägliche Anblick von Geflügel und Rindvieh bringt ihn aus der
Fassung und das mitunter zu hörende verstohlene Grunzen eines Borstenträgers
nimmt ihm fast die klare Denkweise. Wie wohl er die gute Verpflegung mit
Recht lobt und sie auch schwerlich als unzureichend bezeichnen möchte,
so ist sein ganzes Sinnen und Trachten doch ausschließlich darauf
gerichtet, etwas von der reichen Ernte des Landes auf dem üblichen
Hamsterwege für sich hereinzubekommen. Diese Psychose ist ansteckend
und ergreift schließlich auch denjenigen, der sich anfangs gegen
sie gewappnet glaubte, und jedem Versuche, ihr zu verfallen, sich entgegenstemmte.
Es ist schon schwer, bei Tisch eine Unterhaltung zu führen, die nicht
auf dieses ausgefahrene Geleise gerät, auf dem der Gesprächswagen
sofort in polternden Galopp verfällt. Bei dem einen ist die Krankheit
scheinbar fast geheilt, (er beschränkt sich auf allerlei harmlose
Kleinigkeiten, die bei ihm zu Hause angeblich „absolut nicht mehr zu haben
sind“) um plötzlich an einer anderen Stellung unvermutet und mit großer
Heftigkeit von neuem auszubrechen. Andere sind ihr in einer gelinden Form
verfallen, sie hamstern nur so nebenbei und gelegentlich; wieder andere
nur einen über
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den anderen Tag und völlig beneidens- und bedauernswert aber sind
solche, die sich im akuten Stadium befinden. Sie gehen Tag für Tag
1 - 3 mal ins Geschirr, ohne Rücksicht aufs Wetter; ja sie lieben
Sturm und Regen, die ihnen lästige Mitbewerber vom Halse schaffen.
Sie überlaufen im Schweiße nicht nur ihres Angesichtes, sondern
ihres ganzen Körpers nahe und weitgelegene Dörfer, kollektieren
von Haus zu Haus und wiederholen ununterbrochen und leierkastenmäßig
ihr Sprüchlein von der Knappheit, Hunger, Teuerung und so fort. Alles
und jedes, das sich nur irgendwie eßbar machen läßt, ist
ihnen hochwillkommen, selbst Brot und Milch, und staunend fragt man sich
oft, wo lassen sie nur dergleichen Dinge, die nicht für längere
Dauer aufzubewahren sind. Der Kenner freilich weiß, daß sich
bei diesen armen Geschöpfen die Krankheit nicht nur auf Kopf und Nerven
beschränkt, sondern auch schwere Störungen des Darms hervorruft.
Keine noch so reichliche Nahrungszufuhr vermag ihnen das Gefühl der
Sättigung zu verschaffen, unablässig nagender Heißhunger
treibt sie zu stets neuer Aufnahme, und versagt die Wirkung der allheilenden
Zeit, so bleibt nur sachgemäße Kur in Nerven- oder Heil- und
Pflegeanstalt übrig.
Glücklich, wer sich hiervon freizuhalten versteht und seinen Urlaub
ohne die Beschwernis dieser Seuche von Herzensgrund genießt. Er hamstert
sich das Wahre: Die Frische, Rüstigkeit und Gesundheit, fernerhin
das zu ertragen, was noch kommen wird. –
Ende der eingeklebten Blätter. Es folgt die Fortsetzung von Tagebuchseite
32.
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Dazu wurde der letzte Honig als kümmerlicher Rest mit 1/3 Eimer
geschleudert und das Zuckereinfüttern der Bienen begonnen. Unser Dr.
Wolf, der uns den Garten diesmal zum erstenmal rite verpachtete, hatte
wirklich Pech. Erst in Wengerohr als Hamster angehalten und schwer geschädigt,
dann zur Zeit der ihm zur Hälfte zustehenden Kirschernte Arm gebrochen
und daher jetzt bei der durch die hier starke Dürre bedingte Frühreife
der Äpfel in dem Einheimsen der halben Apfelernte auch erheblich gefährdet.
Daß wir die ganze Zeit des Augusts über keinen Regen hatten,
dörrte den Boden sehr aus und bringt das Gemüsewachstum völlig
ins Stocken. Dabei hat ringsum alle Welt Regen gehabt, nur gerade die Mittelmosel
nicht. Vor 2 Tagen beobachtete Fuß hier seine höchste Luftwärme
mit +33°C. Mein Wärmemesser ist nicht über +31°C. hinausgekommen.
Die letzten Tage hatte ich mehrfache Besprechungen in einer auf meines
Hauswirten Leistner angesprochenen Sache, die darauf ausgeht, die Schnittgen’sche
Brauerei, eine nach L’s sachverständigem Urteil jetzt schon recht
sichere Zins-, für später aber nicht minder sichere Gewinnanlage,
neuzugründen. Es ist für mich sehr befriedigend, bei derlei mal
mit dabei die Hand im Spiele zu haben. Ich gedenke, meine Groschen zusammenzukratzen
und mich dabei ebenfalls mit 10-20000 M zu beteiligen.
31. August 1918. Mit einem arbeitsreichen Tag schließt genau
auf Samstag meine Diensttätigkeit hier ab, die Montag, den 2. Mai
1910, vor 8 1/3 Jahren begann. In dieser Zeit hat sich viel ereignet. .
. . . .
Ich bin im ganzen recht matt und froh jetzt einige Zeit in Ruhe zu
kommen. Im Grundbuch löschte ich u. a. noch eine Hypothek, die ich
nach meiner Hochzeitsreise, anfangs August 1910 selbst eingetragen hatte.
– Es scheint früh Herbst zu werden. Heute kamen wieder eine Reihe
Gestellungsbefehle für ältere Leute, alle zum 11. September u.
a. auch an unseren Gerichtsdiener Friedrich. Wegen Velten und seinem evtl.
Ersatz hatte ich lange Rücksprache mit dem Landrat.
Die Feuersbrunst
6. Sept. 1918. Langsam komme ich in diesen Ferientagen wieder zu mir
selber und beginne nach etlichen Tagen äußerlichen Ordnens der
Dinge im Wohnzimmer, Bücherschrank u.s.w. (2 Kisten Bücher wurden
bereits „umzugsfertig“ gepackt) jetzt damit, die Eindrücke der letzten
Zeit auch innerlich ein wenig zu ordnen und zu verarbeiten. 2 Monate Erholungsurlaub
werden mich auch darin wieder auf einen vernünftigen Stand zurückbringen.
Leider ist die Wohnungsfrage immer noch ungelöst und das Gesuch wegen
der bescheidenen Dienstwohnung ist nun schon 1 Monat lang unterwegs. –
Am 28. August nahm ich nachmittags in Wehlen bei einer Witwe Zacharias
Dietz. Friedrich ein. längeren Schenkungsurkunde mit Auflassung vor,
zu der ich die verschiedenen Familienzweige im Laufe etwa eines Halbjahres
nach und nach im Vergleichswege zur „Vereinigung“ gebracht hatte. Die 15
Anwesenden hatten eben ihre vielfachen Unterschriften
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umständlich erledigt und eine Frau als letzte gezeichnet, da brach
einer mit dem Schreckruf „Es brennt bei . . .“ in das schwül-überfüllte
Zimmer und sofort stob alles auseinander. Ich packte in Ruhe die Papiere
zusammen und ging dann auch hinaus. Wenige Häuser weiter und ich stand
vor einem gegen seine Nachbarhäuser stark nach der Straße zu
vorspringenden Hause, das nach seinem Schilde einem Sattler Friedrich gehörte.
Der Anblick war zunächst so überwältigend, daß es
einem den Atem versetzte. Aus der rückwärts dicht am Hause gelegenen
Scheune schlug die Flamme mit unwiderstehlicher Gewalt. Da war nichts zu
retten, die eingelagerte Frucht der neuen Ernte gab dem Feuer eine unerhörte
Wucht und die roten Flammen fackelten in rotem Schwung und prächtigem
Bogen in den sommerlichen hellen Spätnachmittag, obenauf von schwärzlichem
Rauchgekringel umsäumt. Das Ganze wirkte mit der Wucht des Einfachen
wie ein alter grobilluminierter klarer Holzschnitt und ich fühlte
mich in einer stürmenden Reihe von seltsamen Empfindungen bald in
eine der aus tausenden Bildern bekannten Brand- und Plünderungsszenen
des 30jährigen Krieges, bald in eine Beschießung an unserer
Westfront versetzt. Aus den Fenstern fielen brockenweise alle möglichen
Stücke Hausrat, vorab noch von wenigen Händen aufgerafft und
in Nachbarhäuser verschafft. In den nächsten, dicht beistehenden
Häusern standen etliche Weibspersonen eine Zeitlang wie halb versteinert,
schrien heftig und wußten nicht, womit beginnen. Aus dem hinterliegenden
Stalle wurden 2 Ziegen und ein prächtiges fettes Schwein von einem
Manne mit derben Scheltworten und Schlägen herausgetrieben. Nach einigen
Minuten füllte sich die anfänglich fast leere Dorfstraße
mit Leuten, unter denen etliche Männer kurze Befehle gaben und sobald
die tüchtigen Spritzen kamen und hanfene Schläuche von verschiedenen
Seiten her antrafen, ihre trockenen Schlangenleiber prall aufbliesen, die
blasse Farbe ihres trockenen Daseins mit einem dunkelgrauen nassen Aussehen
vertauschten und die Fülle ihres gepreßten Leibsinhaltes hier
und da aus schadhaften Stellen in dünnem Strahl hoch aufspritzen ließen,
ging alles seinen ruhigen Gang. Das Feuer griff aufs Wohnhaus über,
die Leute wurden aus ihm herausgeholt, die Dachfirsten der unmittelbar
benachbarten Häuser wurden unter die Spritze genommen, denn sie wollten
stets mit aufflammen, über dem Hausgiebel schwang die Lohe ihre riesige
Brandfackel drohend nahe in die Straße hinein und nach dem gegenüberliegenden
Hause zu, dessen Bewohner schon ängstlich mit dem Plündern ihres
Hausrats beginnen wollten. Ich konnte sie davon zurückhalten, denn
kein Lüftchen regte sich und es war unverkennbar, in wenigen Minuten
mußte sich das Feuer in seiner tollsten Wildheit ausgerast haben
und damit war die Hauptgefahr für die Nachbarn vorüber. Schließlich
gelangten von allen Seiten gewaltige Haken an schweren Bäumen an,
dutzende von derben Fäusten stemmten und hoben daran, kreuzweise von
derben Stückbäumen unterstemmt, stiegen die eisernen Haken langsam
bis zum brennenden Dachgebälk empor, legten sich schwerfällig
darauf und hakten sich langsam und behutsam ein. Dann ein ruckweises kurzes
Ziehen und mit
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lauten Krachen stürzten ganze Teile des Daches mit glühenden
Schiefern, verkohlten Balken und schwelenden Brettern in hellblauem Rauchdunst
am Hause herunter. Der lose blaue Hausgiebel wurde eingestoßen und
dann kletterten beherzte Russen auf leichten Leitern zu den Fenstern der
Vorderseite hinein und brachten alles und jedes, was nur im Innern noch
zu erreichen war, heraus; ganze Möbelstücke wanderten da aus
den Fenstern über die besetzten Leitern auf die vielen erhobenen Hände
und waren bald in der Nachbarschaft verschwunden. Es wollte fast kein Ende
nehmen der Fülle des Hausrats, der Kleidungsstücke, des tausendfach
angehäuften Krimskrams, der da alles hübsch nacheinander zur
öffentlichen Schau oben erschien und unten verschwand. Der Eigentümer,
der im Geruch wucherischen Fleisch-Schleichhandels steht, mag sich abends
– er war auswärts – nicht wenig gewundert haben. Endlich war aller
Hausrat – es kamen Betten zutage, die wohl seit Menschengedenken nicht
auseinandergenommen waren – heraus, das Dachgebälk ineinandergestürzt,
und die Gefahr für die Nachbarhäuser durch eifriges Bespritzen
abgewendet. Ein Feuerwehrmann ging daran, eine vorn auf dem glimmenden
Dachspeicher stehende alte Eichenkiste, deren derber Eisenbeschlag sich
verbogen hatte und deren dicke Wände noch brannten, seitlich zu öffnen
und mit einer eisernen Schaufel daraus Eimer auf Eimer voll schönen
goldgelben Weizens herauszuholen, der als Hamstergut allerseits einem verständnisinnigen
Schmunzeln begegnete. Später wurden dann noch kräftig die Mauern
des rauchenden Trümmerhaufens eingerissen, auf daß für
die Versicherung nicht noch etwa abzugsfähige Reste übrig blieben.
Sofort trat die Fama ihren Weg an: ganze Zentner Fett und Speck sollten
rückwärts herausgeschafft worden sein, desgleichen beträchtliche
Ledervorräte, während noch Bütten voll Häute in Lohgerbbeize
im Keller stünden u.s.fort. Durch derlei Reden gewann ich aus dem
merkwürdig entrückenden Gesamteindruck wieder Anschluß
an die alltägliche Umwelt. ––––
12. September 1918. Nun sind wir endlich einen Schritt vorwärts!
Heute kam Nachricht, daß der tüchtige Strafanstaltsassistent
Kraicziczek uns seine Wohnung gegen jederzeitigen Widerruf vermieten darf.
Ich schrieb sofort an 3 - 4 Möbelbeförderungsfirmen. Jetzt sind
unsere Tage hier gezählt. Die letzten Tage voller Regen und Sturm
hatte ich neben der Ausarbeitung einiger Zeitungsartikel über Weinsteuerfragen
mich schon ans Packen einzelner Kisten gegeben, namentlich solche, die
für längere Zeit in Rheinbach beiseite gestellt und voraussichtlich
auf dem dortigen Gerichtsspeicher ein beschauliches Dasein führen
werden. Seit Montag wissen wir – seltsamerweise zuerst durch einen Brief
von Papa, dem dann einer von Willi von Berlin aus auf dem Fuße folgte
– daß Willi sich wieder verlobt hat. Papa, der unentwegt jede Veränderung
auch des miserabelsten Zustandes mit grimmigem Knurren, Mißtrauen
und Fauchen begrüßt, weiß denn auch in seinen zahlreichen
Briefen immer noch keinen rechten vernünftigen Grund zu seinem grenzenlosen
Unmut herauszuklauben. Das ewige Gerede von der Erhaltung seiner Gesundheit
klingt fast pathologisch und daß er in Hersel jetzt keine Kohlen
zu bekommen . . .
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29. Sept. 1918. Der Monat schließt nicht erfreulich. Draußen
an der Westfront tobt die grimmigste aller bisherigen Schlachten; die Bulgaren
wollen Frieden auf eigene Faust machen, sie sind militärisch mal wie
es scheint, gehörig geschlagen worden und werden von den Franzosen
infolgedessen als Liebkind behandelt. Schönberg meint, ihr Verhalten
sein eine Folge der Kühlmannschen Politik, die ihnen die Dobrudscha
vorenthielt. Hoffentlich halten die Türken Stich, von den Österreichern
nicht zu reden, die mal wieder ein großes offizielles Friedensangebot
gemacht haben. Gottlob wird sich das Wort „Der Preuß giebt nicht
nach“ auch diesmal bewähren. Mosel und Hunsrück erwägen
allen Ernstes die Frage, ob sie Franzosen werden und sich dabei am Ende
besser stehen. Solche Toren! Sogar in Frankreichs Währung möchte
schon lieber einer seinen Wein bezahlt haben. Was würde er für
ein Gesicht machen, böte man ihm dort 400 M fürs Fuder wie in
Frankreich? In Filzen will ein Winzer Schimper seinen 17er Brauneberger
nicht für 17000 M das Fuder hergeben. Leider läßt das deutsche
Volk als Ganzes z. Zt. stark den Kopf hängen. Dabei liegt die 9. Kriegsanleihe
zu Zeichnung auf. Ich habe mir selbst ernstlich die Frage vorgelegt: Könntest
du Franzose werden? Antwort: Bei aller Vorliebe für die Westnachbarn:
„Nein!“ Für die Rheinländer sind die betörenden Nebelphrasen
von 48 „Freiheit und Republik – wären wir doch die Preußen quick“
wohl entgiltig vorbei. Natürlich giebts Angsthasen, die die Feinde
schon am Rhein sehen und sich aufs rechte Rheinufer eben jetzt schon verziehen
möchten. Kanonendonner hören wir seit etlichen Tagen wieder in
der Stille der Nacht. – Heute machen wir den zweiten Sonntag Abschiedsbesuche
in Handschuh und Zilinder hier und heute sogar nachmittags, um durchzukommen.
Der Umzug schafft viel Kopfzerbrechen, da fortwährend geschieden werden
muß, was ins Häuschen in Rheinbach und was dort nicht hinkommt.
Mit Helene war ich kürzlich 2 ½ Tage in Rheinbach und wir fanden
dort nicht nur gute Verpflegung und befriedigende Unterkunft im Rheinbacher
Hof, sondern auch allenthalben viel freundliches Entgegenkommen, zumal
bei Kollegen und den Beamten der Strafanstalt, wo uns trotz Krieg alle
Hülfskräfte zur Verfügung stehen werden. Wir kamen daher
im ganzen recht befriedigt von dort zurück. Mittlerweile haben wir
hier schon vieles gepackt, d. h. ich die Bücher in Kisten, Mist und
Misterde in Fässer. Diese Nacht wurden uns 2 Karnickel der ersten
und 2 der zweiten Zucht gestohlen und so deren Umzugsfrage schon wesentlich
gefördert. Leider waren es gerade 2 zur Zucht bestimmte Rammler, von
denen ich einen gegen einen in Hessen zur Blutauffrischung bereits im Tauschhandel
hatte. Der Dieb – der tüchtige Gendarm Mantges hat den langen Matthes
von der Gasanstalt, einen notorischen Ströpper, in Verdacht – vergaß
auch nicht, von Leistners reifen Quitten einen ordentlichen Korb als Zuspeise
mitzunehmen. Die Wochenzuteilung des Fleisches war hier derart üppig,
daß heute mittag bei peinlicher Verteilung für jeden ein Häppchen
übrig blieb. Das ganze hätte ich ehedem bequem auf einen Sitz
in „einen hohlen Zahn“ verstauen können. – Da wir auch heute nachmittag
noch fleißig Besuch machen, so haben wir deren die
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Mehrzahl hinter uns. Bei Krings gabs Kuchen und so merkte man, daß
heute Bernkastler Kirmes ist. Bei Frau Bürgermeister Pfeiffer unterhielten
wir uns recht lange und gemütlich und ich machte wiederum die schon
früher bestätigte Erfahrung, daß sie die einzige wirkliche
Dame hier am Ort ist. Ein kluger und scharfurteilender Kopf und dabei in
allem von wirklicher Vornehmheit und Herzenstakt. Die Unterhaltung war
wirklich sehr unterhaltsam und lohnend. Besonders interessierte mich, was
sie von der alten (aus Alf stammenden) Frau Jean Philipp Th. erzählte.
Der Mann, ein wohlwollender, äußerst braver und honetter Kaufmann
und Weingutsbesitzer, der sich über dem abstoßenden Wesen der
Frau dem Trunke zuneigte. Diese Frau, nur Verstand und kalte Berechnung,
völlig herzlos und bis zur Grausamkeit selbst gegen die eigenen Kinder
geizig. Geiz in abschreckendster Form. Die 3 Söhne wären buchstäblich
verhungert, hätten nicht 2 alte Tanten sie regelmäßig heimlich
gesättigt. Trockenes Brot wurde ihnen von der Mutter in einzelnen
Schnitten vorgeschnitten, selbst der Vater wagte nicht, ihnen mehr zu geben.
Abends je eine trockene Schnitte und 1 Löffel – Lebertran. (Die Enkel
essen heute noch keine Butter.) Sie lebte später eine zeitlang in
Bonn auf einer Dachkammer, spielte die gänzlich arme Frau und holte
sich beim Metzger für 10 Pf. Fleisch unter Anrufung der Mildtätigkeit.
Hierbei erkannte sie eines Tages der Bernkastler Gerichtsvollzieher, nahm
die Erzählung des Metzgers von der armen bedürftigen alten Frau
mit lautem Lachen auf und klärte den biederen Wohltäter über
jenen Geizkragen auf u.s.w. Daß sie im Armenkrankenhaus in Straßburg
gestorben sei, nachdem sie auf der Reise in 4. Klasse schwer erkrankt war
u.s.w., hatte ich schon früher des öfteren gehört. – Das
Urteil der guten Frau Bürgermeister, daß diese ganze Familie
es gar nicht verstehe, für erwiesene Dienste sich in einer Form erkenntlich
zu zeigen, die ihr einiges Geld koste, erfuhr gleich eine Bestätigung
am gleichen Tage. Als ich mit Helene morgens bei Frau Ww. Ant. Th. war,
mußte ich ihre Weinnachversteuerung begutachten, ja die fertige Aufstellung
mit Abschluß sandte sie noch abends zu mir und ließ sei um
10 Uhr abends wieder von mir durchgesehen abholen, da sie andern Tags nach
Wiesbaden verreiste. Von einer langversprochenen Fuhre Holz war aber nicht
die mindeste Rede. Nun habe ich mir solche von den Gutsarbeitern versprechen
lassen. Hoffentlich bringen sie sie noch diese Woche. Die Mutter erzählte
u. a., daß gegen Hugo fortwährend Anzeigen von hier aus bei
seiner Truppe erstattet würden, er daher 2 Sonntage bereits keinen
Urlaub habe u.s.w. Natürlich ist auch, wie ich es vorausgesagt, seine
Frau dort erschienen, hat sich in der Kaserne durch seine Vorgesetzten
ihm vorstellen lassen und nach einer Aussprache abgelehnt, daß sie
abends auf seiner Bude mit der Erklärung erschienen, sie bleibe nun
bei ihm. Amüsant! –
3. Okt. 1918. Mit heute werde ich 39 Jahre alt und habe damit wohl
den besseren Teil des Lebens hinter mir. Die Abreise von hier wirkt symbolisch.
Seit gestern sind die Vorhänge herunter und so leben wir schon etwas
im Aufbruch. Dr. Wolf ist hier und verkauft eifrig seinen Garten. Er hat
Glück und wird wohl an 18 - 20000 M dafür bekommen. Hätte
ich ihn doch früher gekauft, ich hätte an 10 - 12000 daran verdienen
und mir dafür eine glänzende Baustelle mit Garten u.s.w. in Rheinbach
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kaufen können. Auch so hoffe ich noch 1 - 1 ½ Tausend daran
zu verdienen. Dillinger Astor und Popp sind Liebhaber. – Der Spediteur
Lingscheidt hat bereits 3 Wagen (statt der verabredeten 2) unterwegs; ich
schrieb ihm gestern unzweideutig über unsere genauen Abmachungen.
Ich habe jetzt noch die 4 Bienenvölker versandfertig zu machen und
Helene beim Packen zu helfen. Ich denke wir kommen gut durch.
6. November 1918. (muß zweifellos Oktober heißen) Nun haben
wir eine parlamentarische Reichsregierung mit Scheidemann, Gröler,
Erzberger und Genossen. Es muß eine Schwächung derzeit bedeuten.
Hier packen bereits überkluge ein und wollen sich aufs linke Rheinufer
verziehen – so Frau Nadolny, deren Mann mehr wissen will als andere, dieser
Erzschafskopf! – und die meisten Toren geben Elsaß-Lothringen, ja
die linke Rheinseite den Franzosen.!! – Kennen die die Preußen schlecht.
Schwere Wolken liegen über unserem Hause, ich meine diesmal unsere
Wohnung: Lorchen, Leistners ältere Tochter liegt auf den Tod matt
und elend in hohem Fieber an der Influenza, auch spanischen Grippe, darnieder.
Noch aber gehts ihr an Herz und Lunge gut und so habe ich noch viel Hoffnung.
Die Eltern aber sind ganz verängstigt. Die tückische Krankheit
ergreift namentlich in der Form einer eitrigen Lungenentzündung junge
kräftige Leute im Alter bis zu 30 Jahren und bringt sie in wenigen
Tagen zu Tode. In Wolf, Cröv, Monzelfeld, Burgen soll sie stark unter
der Bevölkerung wie den Kriegsgefangenen, namentlich Russen, grassieren.
Für letztere ist das ganze Lazarett in Traben Trarbach frei gemacht
und nach hier verlegt worden. Mir selbst schien heute morgen blutgefärbter
Auswurf kurz vor Beginn des Umzugs eine recht angenehme Überraschung
zu bringen. Doch kam nichts nach und so machte ich vor Tisch mit Helene
die letzten Abschiedsbesuche, schlief feste nachmittags und lege mir weiterhin
Stubenarrest auf, während Helene mit Frl. Ida nach Commen zum Besuch
von Hermanns und zum Hamstern aus ist. Die Kinder sind mit Maria spazieren,
nachdem sie am kleinen Automat ihre Sonntagsziehung gemacht haben. Frau
Kreisarzt Dr. Knoll unterhielt mich eine Zeitlang sehr liebenswürdig.
Jetzt sitze ich im stillen Hause ganz einsam, was schon lange nicht mehr
der Fall war. In dieser Woche sollen die Kinder zum Großvater nach
Hersel. Hoffentlich ist dort keine Grippe. Zum Garten bin ich nun heute
nicht gekommen. Seit langem zum ersten mal.
7. Oktober 1918. Da haben wir den Krach!! Parlamentarische Reichsregierung
und sofort demütiges Friedensangebot an Herrn Wilson. Am Ende ein
vorher abgekartetes Spiel? Amerika am Ende bereit, auch gegen England und
Frankreich Frieden zu machen? Schier unglaublich! Elsaß-Lothringen:
Bundesstaat, am Ende gar eigener Randstaat? Und dabei jetzt gerade beginnender
starker Widerstand an der Westfront. Japan vielleicht bereits im Spiele?
Gegen das Amerika den Rücken frei haben muß und will? Wer weiß
das alles? Und im Reich: Stärkere Entwicklung der Reichs zur „Demokrati-schen
Einheit“ auf Kosten der Selbständigkeit
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der Bundesstaaten? Natürlich krachts nun auch sonst: an der Börse
hats schon so gehörig gekracht, daß man sich davon bereits zu
erholen beginnt, im Weingeschäft aber bieten die hasenherzigen Spekulanten,
von denen manche trotz hoher Gelegenheits- und Kriegsgewinne auf wackligen
Füßen stehen, die Fuder bereits in Menge an. Der Vernünftige
behält natürlich auch in diesen Dingen ruhiges Blut. Die „Wiederherstellung
Belgiens“ aber will mir als Friedensbedingung gar nicht gefallen. – Ich
brachte heute morgen endlich nach wochenlangem Hampeln 3 der 4 Bienenvölker
reisefertig. Hoffentlich überstehen sie die Fahrt! Unsere Möbelwagen
stehen bereits am Güterbahnhof, und den nachmittag hindurch kreischten
die schweren Lohstangen unter der zerscheidenden Kreissäge. Alles
scheint sich nach und nach programmäßig zum Abmarsch zusammen
zu finden. Helene machte mit den Kindern noch mal Abschiedsbesuche und
bekam allerhand über meine Hülfstätigkeit zu hören.
Lorchen Leistner, mit 40° Fieber beginnt wieder lebendiger zu werden.
Rheinbach 3. Nov. 1918
Nun sitzen wir in Rheinbach am (Gottlob noch nicht im – a und
i sind hier nahe (und zumal in dieser Zeit) beieinander und jeder Esel
findet leicht die Brücke zwischen beiden Vokalen – Zuchthaus, verzeihung
Königliche Strafanstalt in der Assistentenwohnung des Herrn Kraicziczek.
Ein kriegsgemäßer Unterstand, nein ein allerliebstes etwas enges
aber warmes Häuschen, eine wahre Heiz- und Wärmekammer in dieser
entsetzlich rauhen kalten und trüben Zeit. Die Türkei hat die
Waffen gestreckt, in Österreich geht alles drunter und drüber
und bei uns tobt eine stille Revolution, der wohl nächstens der Kaiser
auch zum Opfer fallen wird. Und was will man uns nicht alles abholen, am
Ende noch die linke Rheinseite! Nun, so weit wirds wohl nicht kommen, aber
schwere, sehr schwere Zeiten kommen und da ist es vielleicht gerade zur
rechten Zeit angebracht gewesen, in solch kleines bescheidenes Heim in
einer sonst nahrhaften Gegend unterzuschlupfen. Wenigstens giebts hier
genug Kartoffeln und trotz der späten Zeit hoffen wir uns hiermit
genügend zu versehen. Der Umzug brachte sehr viel Scherereien und
viel Arbeit mit sich, spielte sich aber schließlich doch noch in
erträglicher Weise ab. Jetzt eben wäre er wohl kaum mehr möglich,
weil im Westen hier ein allgemeines Möbelwagenhamstern eingesetzt
und die Bahn die Beförderung von Möbelwagen gesperrt hat. Ich
habe stets das Gefühl: Du bleibst hier, komme, was da kommen mag.
Wer weiß aber wie es noch kommt. Unsere sehr wacklige Front scheint
sich neuerdings wieder etwas zu festigen, die stark demütigenden Waffenstillstandsbedingungen,
mit denen
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man uns zur bedingungslosen Unterwerfung verurteilen möchte, scheinen
nicht ohne Einfluß geblieben zu sein. Jedenfalls leben wir in einer
Zeit schwerster innerer und äußerer Erschütterung. Am Mittwoch,
den 31. besuchten Helene und Papa Mamas Grab. Danach blieb der Zug von
Bonn aus und wir mußten an 8 feindliche Flieger über Bonn beobachten,
die dort im hellen Sonnenschein ihre Bomben fallen ließen und viele
töteten. Gottlob blieb meine Mutter unversehrt. In der Meckenheimer
Straße aber scheint es Schaden gegeben zu haben. Die Kölnische
berichtet heute von 26 Toten, über 30 Schwerverletzten und einige
20 Leichtverletzten. Entsetzliche Sachen. Ich mahnte die am Friedhofsbahnhof
dichtgedrängt stehenden Leute auseinanderzugehen, wir gingen zu Fuß
nach Hersel und kamen abends spät heim. Tags zuvor hatte ich friedlichere
Eindrücke. Ich fuhr zeitig mit Rechnungsrat Ruland zum Gerichtstag
nach Münstereifel. Schon in Odendorf (der ersten Station) versagte
die Maschine und als uns ein Ersatz endlich nach Euskirchen brachte, war
dort der Zug weg. Da gabs 3 gute Stunden Fußmarsch bei heller Sonne
aber leider auch scharfem Wind durch prächtig bunte Herbstlandschaft.
– Heute freilich sitze ich mit heftigem Schnupfen dafür im Stubenarrest.
– Der Einzug um ½ 1 mittags durchs sonnendurchleuchtete Stadttor
glich völlig einem Bilde Meister Spitzwegs und dazu harmonierten in
wohltuendster Weise die beiden bejahrten Parteivertreter Justizrat von
der Bank, Kgl. Notarius (der nach Ausfertigung mit „ne varietur“ und ähnlichen
schönen altertümlichen Floskeln versieht) und Grosch, Referendarius
a. D. und Prozeßagent. Beide sympathisch berührende ältere
Herren. Münstereifel, das ich im leuchtenden Glanz der Herbstsonne
leider nur sehr wenig besehen konnte, ist ein ganz geschlossenes Bild einer
alten befestigten Stadtanlage. Ich hoffe es noch gründlicher allerseits
kennen zu lernen. – Unser Umzug kostete mich 2004,24 M, wie ich es heute
in ausführlichem Bericht dem Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten
zwecks Zuschußgewährung klar legte. Hier halfen in dankenswerter
Weise die Zuchthaussträflinge mit und ich ließ mich zu deren
bequemeren Handhabung vom Anstaltsdirektor zum Hilfsaufseher durch Handschlag
an Eidesstatt verpflichten. Zwischendurch taten uns 2 Ruhetage in Berncastel
und 3 hier im Hotel recht gut.
Rheinbach, den 10. November 1918. Die kurze Spanne meiner Dienstzeit
über erlebte ich hier bereits eine derartige Fülle der Ereignisse
im großen wie im kleinen, daß ich mir schon seit langem hier
ansässig vorkomme und man sich mitunter an den Kopf greifen muß,
um sich zu vergewissern, ob man nicht träumt. Es ist die Zeit der
Revolution, einer anscheinend radikalen Umwälzung, die mich stets
– ich weiß selbst nicht wie – an die in der Reformationszeit auftauchenden
politischen Umwälzungen erinnern will. Das Reich wird bis auf seine
Grundfesten nicht nur erschüttert, sondern geradezu
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verflüssigt, gebe Gott, daß es nicht auseinander laufe,
sondern einen Meister finde, der es in eine neue Form gießt. Nun
zu eigenen Erlebnissen! Letzten Sonntag war ein rechtes Novemberwetter,
triefende Nässe und lastender Nebel auf den weiten Äckern, klebriger
zäher Schmutz auf allen Straßen. Da ich Schnupfen und Halsentzündung
hatte, so legte ich mir Stubenarrest auf, entsagte dem Plane, eine Hamsterfahrt
zu den Büllesheimer Bauernpächtern zu machen und gab mich daran,
eine ausführliche Aufstellung meiner gesamten Umzugskosten aufzustellen
und sandte sie mit ausführlichem Bericht und Gesuch um Zuschuß
an OLG Präsidenten Cöln ab. Ich hatte dabei den Gedanken, du
mußt dich abgesehen von der Geldknappheit hiermit besonders beeilen,
sonst kommt eine bolschewistische Regierung und streicht dir den ganzen
Kitt. Die Ahnung ging nicht ganz fehl! Montags verdichtete sich die Erkältung
zu Fieber, ich blieb den Tag über zu Bett, fand mich recht gemütlich
darin und schwelgte vor allem in mittelalterlichen Kunstgenüssen,
die mir etliche Lieferungen des Handbuchs der Kunstwissenschaften boten.
Namentlich die böhmische Kunst des 14/15. Jahrhunderts bot mir des
viel Neues, das man mit ganz anderen Augen ansieht wie früher. Dienstag
war ich fieberfrei, blieb den Tag über bei tollem Wind draußen
daheim und arbeitete den ganzen Tag über ganze Stöße von
Akten herunter, die das Mädchen auf einem Wägelchen geholt hatte.
Mittwoch war ich morgens auf dem Amt, nachmittags kam eine Fuhre Kartoffeln
einer Frau Schwarz aus Ramershoven (19,2 Zt), die mit Hülfe der Mädchen
und der beiden Strafgefangenen Nic und Verkolje eingekellert wurden. Es
war mir auffallend, wie diese bereits Kunde von dem Aufstand der Matrosen
in Kiel hatten. Ich unterhielt mich abends noch mit Kasseninspektor Pluntke
und wir kamen zu dem Ergebnis, daß sich alle Neuigkeiten blitzschnell
durch die Anstalt, selbst in die entlegendsten und fest verschlossenen
Zellen verbreitet. Es zeigen sich hier wie in jeder geschlossenen Anstalt
mit größerer Anzahl von Insassen eine Reihe charakteristischer
Erscheinungen, auf die gelegentlich einmal ausführlich einzugehen
schon der Mühe wert sein dürfte. –
Freitag bekamen wir 1/3 Karre der jetzt sehr begehrten Braunkohlenbriketts.
Samstag morgen wurden diese von 5 Mann aus der Anstalt eingekellert, nachdem
dieselben von 8 Uhr an eine riesige Karre Holz auf dem Speicher aufgeschichtet
hatten. Nach 10 waren wir damit fertig, wobei ich den Aufseher zu spielen
hatte, und ich brachte die Leute zurück, nachdem sie das übliche
Frühstück mit Quellkartoffeln und Kaffee im Gartenhäuschen
eingenommen hatten. Abends hörten wir dann von der Bauerntochter Wipperfürth,
die sich eifrig um Salat und eine Mistfuhre für uns bemühte,
daß der Bürgermeister habe ausschellen lassen: Diese Nacht sei
mit der Befreiung der Anstaltshäftlinge durch die Revolutionäre
zu rechnen, die Bürger sollten ihre Höfe dicht verschlossen,
sich selbst von den Straßen und ruhig verhalten. Man kann sich leicht
vorstellen, welche Aufregung dies über ängstliche Gemüter
brachte. Die Frauen sahen ganz Rheinbach schon überschwemmt vom Abschaum
der Menschheit und der Plünderung heillos preisgegeben. Ich ging abends
noch vor Tisch zu Direktor Trautmann, der sich von einem Herzanfall einigermaßen
wieder erholt hatte und bot ihm für jeden Fall meine Hülfe an,
ich wollte gerne mit dabei sein und evtl. bei etwa sich zuspitzender Situation
durch gemütliche Aussprache u. U. auch in hiesiger Mundart die Gemüter
zu besänftigen. Wir schliefen fest die Nacht, bis ich gegen ½
4 morgens ein
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entferntes Klingeln hörte; es war die Alarmglocke, die in allen
Beamtenwohnungen ertönte. Ich zog mich schnell an, ein paar schmutzige
Wasserstiefel, die ich tags zuvor angehabt hatte, gaben mit einer derben
Überjoppe, Lodenmantel und Filzhut ein genügend revolutionäres
Gepräge. 2 Soldaten als Posten ließen mich gern in die Anstalt.
Draußen stand ein Auto, das die Leute bei der Prinzessin Schaumburg
in Bonn sich geholt hatten, das übrigens später auf und davon
war, als der Ausmarsch stattfand. Innen war der Direktor bereits mit einer
Abordnung von drei jungen Leuten am verhandeln, wie wir es tags zuvor besprochen
hatten. Sie begehrten vernünftigerweise nur die Freigabe der Soldatensträflinge
sowie der durch die außerordentlichen Kriegsgerichte nach den strengen
Kriegsgesetzen besonders hart Bestraften, nicht dagegen die Ausländer
und gemeinen Verbrecher. In Streitfällen sollte die Entscheidung dem
Soldatenrat vorbehalten bleiben. Es waren ein kleiner schwarzer etwa 24jähriger
„Student“, der sich mit einem Degen unterm Mantel als Leutnant gerierte,
ferner ein kleiner jüngerer Matrose, Bonner aus der Engeltalerstraße,
mit Gewehr und anscheinend recht radikal gesinnt, als dritter ein Kriegsbeschädigter
mit einem Kunstauge in Zivil mit weißer Armbinde, ebenfalls ein jüngerer
Bursche. Alle benahmen sich ruhig und vernünftig, natürlich ihrer
Herkunft entsprechend formlos, in dem sie zwischendurch während der
Aussonderung der Sträflinge rauchten, an Apfel oder Keks knabberten.
Ich sprach einige menschliche Töne mit ihnen, für die sie sehr
zugänglich waren und wobei sie sich in ihrer augenscheinlichen inneren
Befangenheit, die dann gelegentlich etwas in machtvolle Anmaßung
schwankte, augenscheinlich stark erlöst fühlten. Leider hatten
die zusammengetretenen Aufseher die Militärsträflinge etwas allzu
schnell aus den Zellen herausgeholt, – erst mußten sie sich noch
mit den draußen an der Türe liegenden „Brocken“ ankleiden –
so daß plötzlich eine große Zahl derselben im Flur beieinander
standen, was natürlich einige Unruhe gab. Es dauerte eine Zeitlang,
bis das Verfahren klappte, die einzelnen an Hand der Anstaltsliste einer
summarischen Prüfung zu unterwerfen, wobei dann die Zweifelsfälle
den jungen Soldatenabgeordneten in feierlicher Form zur Entscheidung vorgelegt
und von diesen meist auf Freigabe erkannt wurde. Die beiden Anstaltsgeistlichen
sowie der Lehrer unterstützten ganz besonders den Direktor bei dem
langwierigen Geschäft, bei dem stets welche versuchten, sich ohne
Prüfung zu den bereits als freizulassen ausgesonderten hinüberzuschlängeln.
Unterdessen wurde auf meine Veranlassung n der Küche ein Kaffeefrühstück
mit Brot für die recht ausgehungerten jugendlichen Soldatenratsabgeordneten
– es waren ihrer 10 im ganzen mit dem Auto gekommen – hergestellt, das
sie mit lebhaftem Zuspruch verzehrten und wofür sie sich hernach bei
mir besonders bedankten. Auch veranlaßte ich, daß für
alle zu Entlassenden, es waren an 174 Mann, Frühstück gemacht
wurde, da es ohnehin für den ersten Zug zu spät war. Zwischendurch
telefonierte ich 2 mal mit der Polizeiwache in der Stadt, der zur Verstärkung
Soldatenposten
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aus Euskirchen beigegeben waren, und bat man möchte bei der Eisenbahn
um Anhängen von etwa 2 Wagen sorgen. Leider wurde dies anscheinend
nicht ausgeführt. Wenigstens wußte das Eisenbahnpersonal hinterher
von nichts. Ich ging, während man nochmals alles nachzählte –
die Namen der einzelnen waren bereits aufgezeichnet – hinaus in die stockdunkle
Nacht, beruhigte die draußen in Dunkeln stehenden Frauen der „Kolonie“
und die Damen im Direktorsgarten, desgleichen Helene zu Hause und unsere
Mädchen, von denen Maria in Angst und Bekümmernis im Hause herumschlurfte,
während Frl. Ida im Fenster lag und die Gespräche der Nichtbefreiten
von Zelle zu Zelle sich anhörte. Dann ließ ich mir im Direktorshause
etwas heißen Kaffee und einige Stärkung für diesen (den
Direktor) mitgeben und ging mit dem Schwiegersohn des Hauses wieder in
die Strafanstalt. Hier waren sämtliche Leute in einen unteren Flur
zwischen Glasabschlüssen gebracht worden und es kostete viele Mühe,
aus der allenthalben frühstückenden, ziemlich dichtgedrängten
Menge einen mithineingeratenen gemeinen und recht gefährlichen Mann
namens Günter wieder herauszubringen, zumal ihn etliche ihm wohlgesinnte
versteckt zu halten suchten. Vor der Absperrung wurde besagter Günter
wild und schrie heftig, er wolle mit hinaus, es sei jetzt für ihn
die einzige Gelegenheit, der Wachthabende habe auch ihn für frei erklärt
u.s.w. Er ließ sich nicht beruhigen, drohte damit, er werde das ganze
Haus rebellisch machen, kurz, die Lage schien sich zuzuspitzen. Ich ließ
die in einem anderen Teil noch frühstückenden „Soldatenräte“
herbeiholen, sie bekamen Akten vorgelegt, verhörten summarisch den
Mann und entschieden, er solle hierbleiben, nachdem wir ihnen eindringlich
die Verantwortlichkeit zu Gemüte geführt hatten. Der baumlange
starke Günter wollte sich schlecht beruhigen und es bedurfte einiger
Mühe, ihn wieder in seine Zelle hineinzubekommen. Kurz, vor 7 Uhr
gings dann in der Dunkelheit zum Bahnhof, ich marschierte mit. Die Leute
hielten gut Ordnung, der Soldat steckte ihnen doch im Leib. Ich regte an,
eins zu singen, und wirklich sangen sie „Muß i denn u.s.w.“, dann
ein Soldatenlied. Am Bahnhof ging alles ohne Zwischenfall ab. Alles fuhr
ohne Fahrkarte. Ich wäre gern mitgefahren, hatte aber Helene versprochen,
heimzukommen. Später, als ich vor 10 Uhr mit dem nächsten Zug
nach Bonn fuhr, traf ich an der Bahn einen der roten Posten, sichtlich
befangen unter den musternden Blicken der Umstehenden, namentlich auch
der Feldgrauen. Daß er mit mir ein Wort wechseln durfte, schien ihm
recht erlöslich, zumal er in der Sperre als Mann ohne Fahrkarte von
den Bahnbeamten geradezu als Luft behandelt wurde. Auch der „Leutnant“
fand sich ein. Sie hatten tatsächlich die Flugwache hier entwaffnet.
Ich fuhr 4. Klasse, hatte auch diese Fahrkarte, mit anständigen Leuten
in Zivil und Militär, die alle den Humbug mißbilligten. Das
Volk ist hier wenigstens durchaus monarchisch. Aber die Welle überflutet
alles: Frieden, Frieden und keinen Krieg mehr. – Ich schreibe dies heute
am 11. November – und es fällt mir schon schwer mich auf diese kurze
Spanne Zeit zurückzudenken, denn mittlerweile haben wir
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schon in rasendster Folge Scheußlichstes erlebt und das Schlimmste
wird noch kommen. Zurück zur Sache! – Der Bonner Bahnhof zeigte auf
dem Bahnsteig allenthalben die rot bebänderten Jüngelchen, mit
ruhig in Gruppen stehenden Urlaubern, die ohne Waffen heimgeschickt wurden.
Die Ausgänge zur Haupttreppe waren durch eine festgemauerte Menschenbarre
gesperrt und ich konnte nur mit Mühe seitlich mich durchdrücken.
Ein hagerblasser Mann hielt dort vor ruhig dastehender Menge eine besonnene
Ansprache; es sei heute morgen ein Arbeiter- Bürger- und Soldatenrat
gebildet worden, der alle öffentliche Gewalt übernommen habe.
Auf der Straße waren viele Leute, namentlich viele Kinder, die infolge
der Grippe schulfrei hatten. Sonst war alles ruhig. In der Bachstraße
liefen eine Horde kleiner Jungen etlichen Soldaten nach, die sie zurückschickten.
Ich rief ihnen recht kräftig zu, nach Hause zu gehen, worauf sie sich
zerstreuten. Mama, leider immer wieder ohne Mädchen, war wohlauf.
Papa auch im Hause 50 Bachstraße, wo er 2 Öfen brennen hatte!
Ich machte ihn auf die Gefahr für Schmuck und Silber ect. im Hause
aufmerksam, ohne ihn zu einem Entschluß zu bringen. Ich aß
mit Mama, legte mich dann eine Stunde ins Bett und schlief, denn ich war
recht müde. Dann kam Ohm, nachmittags auch Willi und Vater Reitmeister.
Willi holte sich Frack, denn von in Uniform heiraten ist keine Rede mehr.
Ich sprach Heinr. Schneiders, gleichfalls in Zivil, Aldenhoven desgleichen
und fuhr abends pünktlich wieder im überfüllten Abteil 2.
Kl. mit etlichen frechen Militärschnauzern heim, die aber mehrfach
abgestumpft wurden. Hier hörte ich, daß man noch 2 Strafgefangene
geholt habe. Sonst hatte sich nichts ereignet. – Bei prächtigstem
Wetter unternahm ich gestern den ersten Pächter-Hamsterausflug zu
Jos Herm Kröger, der sich sehr lohnte. Ich fuhr 315 nachmittags mit
mäßig besetztem Zug nach Kuchenheim, traf darin einen unserer
früheren Soldatensträflinge, der neu eingekleidet wieder nach
hier gekommen war, um sich seine Zivilkleider und noch 50 M Arbeitslohn
zu holen. Er begrüßte mich recht froh, ich vermied im Gespräch
alles, was die Mitfahrenden – auch alles „Urlauber“ – auf den Gedanken
bringen konnte, daß er mit der Strafanstalt hier etwas zu tun gehabt
habe. In ¾ St. Marsch erreichte ich über Weidesheim Klein Büllesheim,
wurde bei den Pächtersleuten sehr freundlich aufgenommen (sie hatten
gerade tags zuvor ihre Pacht an Felten bezahlt! Schade, ich hätte
sie sonst gern mitgenommen!) Es wurde mir ein besonderer reichlicher Kaffee
mit Brot, Blatz und Gebäck vorgesetzt, ich unterhielt mich aufs beste.
Austausch von Anbaumöglichkeiten wurden ausgiebig erörtert und
zum Schluß gleich ein l Trester gegen 25 Pfd guten Weizenmehls eingetauscht,
wovon ich 15 Pfd mitnahm, desgleichen ein angebotenes ½ Pfd Butter,
für das sie nicht mehr als 2,50 M haben wollten, während ich
5 M geben wollte. Außerdem gabs noch Kuchen und Butterbrote für
die Kinder, sowie ein gutes Stück Weck. Herta, die mit Erkältung
krank zu Bett liegt, ißt mit Behagen davon und Mariannchens Freude
war groß. In fast leerem Zug fuhr ich 831 nach
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hier zurück. Außer einer jungen Frau war ein junger Kuchenheimer
mit, der rotes Bändchen auf Feldgrau trug und auf meine Frage berichtete,
er komme von der Flandernfront, sei Freitag dort weg, Stille dort, Verbrüderung
mit den Engländern, bei denen der gleiche Aufruhr sei u.s.w. Offiziere
und Disziplin sei in Ordnung, er selbst schien aber vorerst geneigt, sich
mal etliche Tage recht disziplinfrei in den Städten herumzutreiben,
ehe er an die ländliche Arbeit bei seinen Eltern gehen wollte, die
ich ihm sehr nahe legte. Vorher hatte ich ein Gespräch mit 2 besonnenen
Leuten am Kuchenheimer Bahnhof, von denen einer berichtete, wie die jungen
Laffen in den Kasernen herrlich und üppig von den noch vorhandenen
Vorräten lebten, während die Kleider- ect. kammern restlos geleert
seien. In Klein Büllesheim hatte selbst ich ein kleines Erlebnis.
Plötzlich – es war bereits dunkel! – hieß es: In einem Wagen
sind ein Trupp junger Soldaten mit Gewehren gekommen, die Haussuchung abhalten
wollten und bereits in den Wirtschaften gewesen seien. Sie hielten auch
tatsächlich eine Haussuchung aber ohne Ergebnis bei einem ab, der
verdächtigt war, bei der Plünderung der Euskirchener Kammern
Kleidungsstücke und dergleichen verschleppt zu haben. Das Gleiche
scheint sich allenthalben ereignet zu haben. Ich schrieb heute amtlich
dem neugebildeten Arbeiter- und Soldatenrat in Euskirchen, daß derartige
Schritte unnütze Erregung verursachten und besser wie bisher den Justizorganen
überlassen blieben. Den Bonner Rat bat ich um Erlaubnisschein, in
Bonn abends nach 9 Uhr auf der Straße sein zu dürfen. Gestern
morgen besprach ich mich mit Direktor Trautmann in der Anstalt und gab
ihm namentlich eingehenden Aufschluß über die Person von Dr.
Krantz, der mit im Bürger- Soldaten- und Arbeiterrat sitzt. – Gestern
abend wurden die Bedingungen des Waffenstillstands bekannt, der Kaiser
sei in Holland, beides heute bestätigt. Die Bedingungen, unterdessen
bereits angenommen, sind Deutschlands größte Schmach seit Napoleon.
4 Jahre lang gesiegt, um dann so schmählich zu enden!! Es ist kaum
zu fassen. Helene ist ganz außer sich darüber, ich bin ruhiger.
Es muß halt weitergehen. Jedermann rechnet mit ungeheuren Verkehrs-
und sonstigen Schwierigkeiten, Hungernot und Revolten. Helene ist mit Frl.
Ida heute nachmittag nach Bonn, um noch rechtzeitig aus dem leerstehenden
Bonner Hause ihre Kleider, vielleicht auch Schmuck und Silber herauszuholen.
Papa wird wohl wieder alles nicht eher glauben, bis der Teufel in seinem
Hause sitzt. In den zu besetzenden Radius von 30 km um Cöln fällt
zwar Rheinbach nicht drein, doch soll die ganze linke Rheinseite geräumt
und 30 km rechtsrheinisch neutrale Zone sein . . . . . . Na, dafür
haben wir inzwischen in Berlin die „soziale“ –– nicht einmal deutsche
! –– Republik mit Scheidemann und Genossen.
Ich meine es wäre an der Zeit zu singen
„Was ist des Deutschen Vaterland? u.s.w.
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Einen solchen Zusammenbruch hätte wohl keiner für möglich
gehalten. Gegen alle Nachrichten, daß bei unseren Feinden ähnliches
im Inneren und an der Front im Gange sei, bin ich äußerst mißtrauisch.
Vor Jahresfrist haben sich die Russen im gleichen Irrtum über uns
befunden und suchten ihr Heil in der Verzögerung. Ob nun desgleichen
noch nutzen wird? Man kann es nicht wissen.
Bei Gericht war heute glücklich der Sekretär Wachendorf krank,
so daß ich nur mit Mühe meine Prozeßakten für
die morgige Sitzung zusammenbekommen konnte. 400 und einige Mark sind mir
als die nach den alten Bestimmungen zustehenden Umzugsgebührnisse
angewiesen worden. Vorab aber hat die Post und damit auch die Gerichtskasse
kein Geld. Ich benutzte die gestern verabredete, von mir selbst zu bewerkstelligende
Überführung eines Untersuchungsgefangenen dazu, mit Hülfe
des Schlossermeisters Kohlhaas unseren eigenen Herd aus dem Gerichtsdepot
zu holen und in mit Hülfe 2er nach Tisch von der Hofkolonne herangeholter
Belgier (1 Wallone und 1 Flame) gegen den nicht brennenden fiskalischen
auszuwechseln. Er brennt bereits wieder vorzüglich. Wenigstens ein
Fortschritt! Trotz und mitten in aller Umwälzung hatte ich Samstag
morgen eine tüchtige Karre fetten Kuhdünger bekommen, und die
beiden Belgier breiteten mir diesen heute nachmittag hübsch im Garten
aus. Auch ein Vorrat für kommende schlimme Zeiten. Herta liegt nebenan
zu Bett. Es geht ihr besser. Marianne hat gestern, als ein deutscher Flieger
recht tief mit Gepolter heranbrummte, der übrigens hinten einen Schließkorb
drauf hatte, in folgender Weise aus dem Fenster zum großen Gaudium
der Nachbarn wiederholt angefahren: Dummer Flieger, bleib weg vom schönen
Rheinbach, flieg nach Meckenheim, Witterschlick, Impekoven, Bonn und tu
deine Bomben da abwerfen. Brauchst uns nicht unsere schöne Wohnung
kaputt zu werfen, die haben wir eben so schön eingerichtet, dummer
Flieger u.s.w. mehrfach wieder von neuem. – Ob Willi, der mit seinem Vater
aus allen sorgfältigen Überlegungen heraus nie zu einer raschen
Tat kommt, noch vor der kommenden Verkehrssperre mit seiner Frida zusammenkommt?
Ich möchte es sehr bezweifeln.
Rheinbach, 15. November 1918
Jeder Tag bringt überraschendes Neues in Fülle. Vorgestern
machte ich einen prächtigen Marsch durch den Wald über Ringsheim
nach Flamersheim, konnte dort glücklicherweise einen Rechtsstreit,
der 2 Nachbarn vielleicht auf Lebenszeit zu verfeinden bestens geeignet
war, durch einen Vergleich erledigen, so daß sich die Zeugen und
Sachverständigen erübrigten, und marschierte abends mir Rechnungsrat
Ruland über Palmersheim nach Odendorf, wo wir nach langem Warten endlich
den Zug nach Hause bekamen. Der Ton in den stets überfüllten
Abteilen ist schon wieder ein ganz anderer. Das Volk, auch in unteren Schichten,
hat sich anscheinend auf sich selbst besonnen und sieht mit ungläubigem
Staunen allmählich, wie sich ein riesiges Trümmerfeld vor seinen
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Augen weithin auftut. Älteren Leuten geht die Sache regelrecht
an die Nieren. Sie haben einen innerlichen Knick bekommen und es ist fraglich,
ob sie ihn überwinden werden. Auch an Papa Reitmeister ist dies leider
gut zu merken. Gestern nachmittag hatte ich nach anstrengendem Gerichtsdienst
etwas nach Tisch geschlafen und stand frühzeitig wieder auf, weil
ganze Kraftwagenkolonnen auf unserer Straße vorbeifuhren. Die jüngeren
Leute lümmeln sich darauf mit roten Bändchen herum – n. b. das
Abnehmen der Kokarden, Achselstücke und Offiziersabzeichen ist schon
wieder sehr plötzlich aus der Mode gekommen! – die älteren sehen
einen fragend an und erwarten irgend ein Zeichen freundlichen Empfangs.
Sie haben es wahrlich verdient, ich möchte es gern jedem einzelnen
zuschreien, daß wir, die innere Front, ganz und gar allein die Schuld
und Verantwortung für das große Schlamassel zu tragen haben,
während sie draußen redlich ihre Pflicht getan haben. Während
mir diese Erwägungen heute recht deutlich vor die Seele traten und
ich nicht verfehlte, jeden darauf aufmerksam zu machen, mit dem ich in
Berührung komme, ergriff mich gestern der Anblick der ersten Heimkommenden
geschlossenen Formation in Form einer Kraftwagenkolonne derart, daß
ich sie nur tränenden Auges mit ganz unbeherrschtem Ausdruck tiefsten
Schmerzes ansehen konnte und es förmlich fühlte, wie die Blicke
der Leute ernst und zurückgezogen, wie wenn eine wunde Stelle bei
ihnen berührt worden sei, von mir ab und starr geradeaus wandten,
während sie vorher zu unserer hübschen, im Fenster ein Stockwerk
über mir liegenden Frl. Ida mit frohem Lächeln emporgesehen hatten.
Dies und die fragenden Blicke einiger Offiziere eines heute vorbeiratternden
bairischen Kraftwagenzuges schnitten mir durchs Herz und ich habe mir fest
vorgenommen, meine Bewegung zu verbeißen und sie fröhlich zu
begrüßen. Am liebsten möchte ich ein großes Schild
anbringen
Herzlich willkommen im treu verteidigten Vaterland!
Will sehen, ob ich morgen in Bonn nicht ein solches Plakat kaufen kann. Nun aber zur Sache: ich war gestern nachmittag zwischendurch eben daran, die Kaninchen zu misten, als Papa mit Willi und zu meiner größten Freude auch Frida erschienen. Das prächtige Menschenskind hatte sich im letzten Augenblick, ohne erst Papas längst abgesandte Einladung erhalten zu haben, von Berlin Steglitz nach Bonn mit der Bahn durchgearbeitet. Gottlob! Nun hatten sie schon auf morgen die Hochzeit festgesetzt und wir beratschlagten alle mitsamt, wie es zu machen wäre. Das ist freilich eine Hochzeit in ernstester Zeit. Frida aber wollen wir möglichst die
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Abwesenheit ihrer Eltern und Verwandten zu ersetzen versuchen. Als
wir sie gestern abend zur Bahn begleiteten – die Züge fahren merkwürdigerweise
immer noch – war das meiste schon überlegt, ich machte mich selbst
auf Hamsterstrümpfe und eroberte ein Stück Fleisch, Helene nimmt
Kuchen, Wein, Äpfel, alles zu einer kleinen Abendfeier im Elternhause
Bachstraße, nachdem wir nach der Siegburger Trauung ein Mahl in Bonn
bei Schwartz genommen haben. Nun Schluß. Die Karnickel sind heute
mittag bei strahlender Sonne gemistet worden, alte Schinken von rückständigen
Zivilprozeßakten müssen etwas zurückstehen. – Pferde gabs
vor etlichen Tagen zu 200, gestern zu 50 M zu kaufen und jetzt kann man
sie u. U. schon geschenkt erhalten. Den Bauern werden sie vielfach „verliehen“.
So das Gerede. Ich möchte mir gern eins schlachten, hörte aber,
daß sie meist sehr schlecht hierzu seien. Nun möchten uns die
Engländer auch noch gern Helgoland besetzen. Gott strafe sie! –
17. Nov. 18. Bei 4 - 5° Kälte pflegt sich das Revolutionsfieber
zu legen. Ein schneidender Ost macht den Aufenthalt draußen nicht
sonderlich gemütlich und doch waren die Straßen in Bonn gestern
belebt fast wie im Karneval. – Wir fuhren im Morgengrauen schwer bepackt
nach Bonn, in 4. Klasse mit ruhigen Leuten. An der Rheinbrücke sahen
wir die andauernd überfahrenden Etappenfahrzeuge, fuhren nach Siegburg
und trafen dort in Willis Wohnung alle an. Die bürgerliche Trauung
auf dem Standesamt ging schnell und anstandslos. Draußen stand ein
Soldat, der ein struppiges müdes Pferd am Zügel hielt; er hatte
es um 5 M gekauft. Vor Willis Wohnung auf dem Hof des Seminars hielt ein
Zug Kraftfahrzeuge, die Soldaten verkauften Kisten und Kasten, Matratzen
und Plantücher u.s.w. Die Sicherheitswachmannschaften konnten es nicht
hindern. Es geschieht allenthalben dergleichen und der Pastor warnte heute
hier in der Sonntagspredigt vor solchem unbefugten Ankauf. Hier war gestern
Reis und dergleichen verkauft worden. Es wird ebenso jetzt allenthalben
nach den verschleppten Gegenständen nachgeforscht, und diese werden
den Leuten wieder abgenommen. Gegen 12 nahmen wir ein gutes Mittagessen
bei Willi ein, Heinz und Fräulein waren mit dabei und gegen 2 gingen
wir bei heller Sonne und scharfer Luft zur Kirche. Der Pastor Bormann oder
so ähnlich hielt eine ebenso natürliche wie ergreifende Ansprache,
in der alle schlimmen Zeitumstände sich wiederspiegelten. Er hat sich
das E. Kreuz I. Kl. im Schützengraben geholt. Wir waren bei der einfachen
Feier sehr ergriffen und umarmten uns aufs Herzlichste. Nach kurzem Aufenthalt
im Hause fuhren wir, die Neuvermählten, Papa, Helene und ich nach
Bonn in überfüllter Elektrischer. Bonn hatte sich mittlerweile
in Festschmuck geworfen, das Volk war allenthalben auf den Beinen und wogte
durch die Straßen und hielt die Bürgersteige besetzt an den
Straßen, über die die Etappen zogen. Da konnte man seltsame
Bilder sehen, kleine Kraftwagen auf große Lastwagen gestellt, Kälber
und Schafe zu Fuß getrieben, Radfahrer, Landwägelchen mit Offizieren,
Reiter in phantastischen Pelzmänteln.
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Die Straßenjugend warf dazwischen mit bunten Papierrollen und
das ganze mutete hier und da an Fastnacht an. Die roten Fahnen wurden seltener.
Manche Kraftwagen mögen sie auch nur führen, um sich keine Scherereien
seitens der roten Brüder zuzuziehen. Hier sind heute bairische Wagen
durchgekommen, die ein Kaiserbild zeigten. Vielleicht giebts auch kluge
Fahrer, die je nach der Landschaft, Stadt u.s.w. bald das eine, bald das
andere zeigen. Der Führer der anmarschierenden 1. Armee mit den Gardetruppen
– Kampftruppen sind bisher noch nicht gekommen – hat ansagen lassen, er
bäte seine Leute nicht mit roten Flaggen zu reizen, sie verständen
darin keinen Spaß. – Ich lief noch zur Maxstraße, wohin man
mich in der Reichszeitungsdruckerei verwiesen hatte, um mir ein Bewillkommungsplakat
zu holen. Leider ohne Erfolg. Vom Bonner Haus Bachstraße, wo wir
uns wieder zusammenfanden, gingen wir 6 Uhr zu der Weinstube Schwartz in
der Kaiserstraße, wo wir im hinteren Zimmer sehr gemütlich für
uns saßen und ein schönes wohlzubereitetes Essen hatten, dazu
tranken wir 2 Flaschen selbstmitgebrachten trefflichen Moselweins und 2
Sekt desgleichen. Es gab vorzügliche Erbssuppe mit 15er Bernkastler
Steinkaul Auslese Fuder 7 von C. Aug. Liell, Filetbeefsteak mit Bratkartoffeln,
Bohnen, Erbsen, Wirsing u.s.w., dazu Hochheimer als Kribbelwasser. Wir
waren sehr in Stimmung und Frida, die tüchtige Braut, die in recht
dünner luftiger Kleidung (dunkle Straßentoilette, Willi in Frack,
Papa Gehrock, ich Schniegel) erzählte uns sehr nett die anmutende
Geschichte ihrer Bekanntschaft und Verlobung mit Willi. Das Essen kostete
einschließlich 12 M Stopfengeld für die 4 Flaschen und 13 M
Trinkgeld an die Kellner nur 85 M. Ich hatte telefonisch Heinrich Schneiders
mit Frau – sie hatten schönen Blumenkorb geschickt – zum Abend nach
der Bachstraße gebeten, ich holte meine Mutter, die darauf schon
vorbereitet, aus dem Bett, Schwägerin Emma war leider nicht zu haben.
Wir feierten alle miteinander noch brav bis 10 Uhr, darnach ist allgemeiner
Zapfenstreich in Bonn. Alle blicken nur mit rechter Befriedigung auf den
schönen, für Frida so wehmütigen und in allen Stücken
so denkwürdigen Tag zurück. Willi hat als konsequenter Freund
aller Halbheiten seine uns gestern fast unerträglich schlampige Haus„dame“
noch nicht abgeschoben, Frida wird nach etlichen Tagen Zusammenseins mit
Willi in Bonn, infolgedessen nicht in ihr Heim in Siegburg gehen, sie will
mit Recht nicht mit dem Fräulein – das mir diesmal wieder sehr unsympathisch
vorkam – zusammensein und namentlich auch schon des von ihr völlig
falsch behandelten Jungen wegen. Hoffentlich findet sich bald eine Möglichkeit,
das lästige Fräulein abzuschieben. – Heute früh waren wir
zeitig auf den Beinen, Helene hatte in der Frühe heftige Magenbeschwerden,
die sich aber bald verloren, mir war alles vorzüglich, selbst der
ungewohnte reichliche Weingenuß, bekommen. Wir fuhren, von meiner
Mutter und Schwiegervater zur Bahn gebracht, planmäßig ¼
nach 8 nach hier zurück und hatten in 4. Kl. wieder durchaus verständige
Unterhaltung. Vormittags machten Anstaltspastor Echternach und Frau bei
uns Besuch, angenehme Leute, und heute nachmittag
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besuchte uns Direktor Trautmann, als wir uns eben gründlich ausgeschlafen
hatten. Er hatte eine geradezu tolle Anweisung vom Oberstaatsanwalt bekommen,
Bestimmungen des Aufruhrgesetzes von 1850 über die Ersatzpflicht der
Gemeinde zu veröffentlichen, eine geradezu hanebüchene Zumutung
unter den obwaltenden Umständen. Das Gesetz dürfte recht änderungsbedürftig
sein. Werde es mir morgen mal genauer ansehen. Bei ziemlicher Kälte
zeigt der Himmel heute ein grau verhangenes Gesicht, fast als ob es zu
schneien Lust hätte. Hoffentlich bleibt es trocken. Die Feinde stellen
Lebensmittel in Aussicht, aber obs nicht bloß würdige Redensarten
sind? Am 2. Februar solls eine deutsche Nationalversammlung geben,
gewählt von allen 20jährigen beiderlei Geschlechts nach den Regeln
des Verhältniswahlrechts. Das kann Überraschungen ergeben! –
Eine wohlgeheizte Stube ist uns heute eine Wohltat.
Rheinbach, 25. November. Bisher war trockenes Frostwetter, jetzt scheint
es Schnee oder sonstige Niederschläge geben zu wollen. Trotz der Engigkeit
der Wohnung haben wir das Kinderzimmer ausgeräumt und dort alles zur
Einquartierung vorbereitet. Gestern waren 4 Mann bei uns angesagt, doch
kam schließlich keiner, während unsere Nachbarsleute Opificius
5 Leute beherbergten. Ich brachte gestern abend nach Tisch eine gute Flasche
15er Erdener dorthin und erlebte die Freude, daß 4 handfeste Ostpreußen
– einer aus Pillkallau, der den Collegen Havenstein dort kannte – sie mit
Genuß tranken. Diese Männer waren in Suwalki, Galizien, Serbien,
Mazedonien, Frankreich gewesen, hatten überall tapfer gefochten und
viele Tote zurückgelassen. Ein Metzger unter ihnen verstand gut zu
erzählen und stellte eine serbische Hochzeit ganz anschaulich dar.
– Vor Tisch hatte ich einer Beamtenversammlung im Hotel Kauth beigewohnt,
in der recht glatt von einigen 50 Beamten die Gründung einer Genossenschaft
zum Zwecke engeren Zusammenschlusses zur Wahrung wirtschaftlicher und standesrechtlicher
Interessen beschlossen wurde. Da ich einige Töne redete, wählte
man mich in den Arbeitsausschuß, in dem ich zusammen mit dem wohlachtbaren
Kreissparkassenrendanten Bürvenich sogar den Vorsitz teilen soll.
Hoffentlich kommt die Genossenschaft bald unter Dach und beginnt ihre Tätigkeit
mit Beschaffung von Lebensmitteln, Brand und ähnlichen Bedürfnissen.
Es ist hohe Zeit auch für unseren Berufsstand, sich zusammenzuschließen.
– Die Stadt hier hat sich in ein Heerlager verwandelt. Ununterbrochen marschieren
Truppen, dampfen Feldküchen, schnurren schwere Last- und leicht beschwingte
Personenkraftwagen neben den endlosen Zügen dahintrottender Fuhrwerkskolonnen.
Alles drängt zum Rhein. Der Bahnhof ist militärisch besetzt und
in ein Proviantamt umgewandelt. Ein riesiger Stapel Hafersäcke, mit
Plantüchern eingedeckt, lagert am Güterbahnhof. Hin und wieder
fällt auch etwas für die Bevölkerung ab. Unseren Nachbarn
gaben wir gestern einen gehörigen Korb Kartoffeln für die Einquartierten
und erhielten dafür eine Portion Feldküche (Griessuppe mit Rindfleisch)
und ½ Büchse fettes Rindfleisch, das gestern abend mit
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Rahmkartoffeln ein herrliches, schon lange nicht gehabtes Abendessen
abgab. Bei unseren Milchlieferern hat eine Kuh gekalbt und seitdem haben
wir reichlichere und bessere Milch. Wir beginnen, uns von der Aushungerung
an der Mosel langsam etwas zu erholen. Letzten Freitag unternahm ich bei
prächtigem klarem Frostwetter – leider nahm die Bahn einen harmlosen
Zivilisten schon nicht mehr mit – einen Tagesmarsch über Land, der
recht ergebnisreich ausfiel. Ich marschierte über Oberdrees - Essig,
Esch nach Straßfeld. In Esch gabs eine Tasse warmen Kaffee für
– – 10 Pf. (sage und schreibe zehn Pfennige!) ich hätte derartiges
nicht mehr für möglich gehalten. Ich erwies mich nachmittags
auf dem Rückmarsch dankbar dafür, indem ich einem jungen Landwirt,
der der Wirtsfrau Bier von Euskirchen beschaffen wollte, half ein Militärgefährt
von den sächsischen Truppen mitzubekommen. Das brachte mich dann zugleich
nach Kleinbüllesheim zum Landwirt Kröger. Dort gabs wieder allerhand
schönes zum Mitnehmen, auch wurde eine Gans zu Weihnachten ausgemacht.
Sogar 1 Pfd. Speck gab die vortreffliche Mutter Kröger mit.
Rheinbach, Donnerstag 28. Nov. 18. Es drängt sich alles in solcher
Eile, daß man die Übersicht über die Ereignisse verliert.
Vorgestern hatte ich volle Zivilsitzung, nachmittag 2 ½ lud mich
ein bei Direktor Trautmann einquartierter Lt. Zimmermann aus Bremen zu
einer Autofahrt nach Bonn ein; es war mildes feuchtes Wetter; auf allen
schlammigen Straßen marschierten endlose Kolonnen Fahrzeuge aller
Art auf Bonn zu, nur hier und da einmal ein kleiner Trupp geschlossen marschierender
Fußsoldaten mit Gewehr und Gepäck. Auch die Tage seit dem sieht
man hier nichts wie Fahrzeugkolonnen und hier wenigstens gewinnt man den
Eindruck, das deutsche Heer (?) bestünde nurmehr aus Gepäck und
Fuhrzeug, Pferde und etlichen Leuten. Seit zwei Tagen haben wir 3 Mann
(einen Badenser, einen Hechinger und einen Berliner aus Posen) sowie Lt
v. Lutzki aus Westpreußen, Führer einer leichten Munitions-
jetzt Mehlkolonne. Wir hatten schon vorgestern das Zimmerchen des Dienstmädchens
ausgeräumt und dieses in ein Kinderbett umgelegt. Zuerst war ein Lt.
Vogel, junger Mann, aus Breslau drin. Alle sind abends zu einem Glase Wein
eingeladen, versorgen uns mit Lebensmitteln mit, wofür wir ihnen gut
kochen können. Sie sind sehr dankbar für diese angeblich ersten
guten Quartiere nach anstrengenden langen Märschen von der Front her.
– Gestern abend trank ich mit meinem Quartiergast gutes Bier im dichtgefüllten
Rheinbacher Hof hier und traf dort v. Hymmen, der seine Kolonne noch nach
Magdeburg bringen will und vorher schon auf dem Amt nach mir gefragt hatte.
Vorgestern platzte ich um ½ 4 ganz unerwartet bei meiner Mutter
in Bonn herein und brachte ihr zu ihrer großen Freude einen Rucksack
voll großer schöner Kartoffeln hin. Ich traf Frida im Hause
Bachstraße, die sehr froh war, mich zu sehen. Ohm war bei Mama, Papa
wurde telefonisch von Hersel gerufen, kam mit zur Mama, dort kamen 2 stattliche
Männer zur Einquartierung, die Mama mit Brot, Fleisch und Zucker bedachten
und 60000 M im Kassenschrank hinterlegten,
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ein Handwerksmeister erschien, um unseren kürzlich nach dort gesandten
Gasherd aufzustellen, kurzum, es herrschte Leben. Alle Straßen nach
Bonn sind vor Marschkolonnen und die Straßen in Bonn nach einheitlichem
Plan so abgesperrt, daß keine Verstopfung zur Brücke eintritt.
Es ist ein toller Zauber dort. Der Feind ist unbarmherzig und drängt
auf der Ferse nach. Allgemeiner Ruf nach baldiger Nationalversammlung.
– Willy hat sein schlampiges Fräulein noch, die nicht heim kann, und
muß daher Strohwitwer spielen, da Frida nicht eher ins Haus
will, bis jene raus ist. Seiner nicht ganz klaren Militäranstellung
wegen will er sich vorab in der neutralen Zone irgendwo in Oberkassel einquartieren.
Wenn er sich damit nur nicht in die Nesseln setzt! Papa klagte heftig über
die bösen Zeiten. Geheimrat Forstmann, Onkel Gustavs älterer
Bruder, früher Reichsbankpräsident in Frankfurt, hat sich, 80
Jahre alt, erschossen. Ballin vergiftet. Ohm hat Einquartierung mit Pferden
in Olsdorf. Dort ist man wegen ausbleibender Nachrichten über (ich
kann leider nicht erkennen, wie der Name heißt) sehr in Sorge, der
sich in Cöln am Kehlkopf hat operieren lassen, um damit eine neuerliche
notwendige Kur in Arosa zu vermeiden. Hoffentlich nimmt es mit ihm keinen
bösen Ausgang. – Abends brachte mich Herr Zimmermann, nachdem er zwischendurch
nochmal erschienen war und die Abfahrt mir sehr gelegenerweise um 1 Stunde
verschoben hatte, und holte mich wieder ab. Wir fuhren Endenich, Duisdorf,
Buschhoven, Mohren- und Peppenhoven zurück und ich erinnerte mich
alter schöner Radausflüge auf dieser Straße in längst
verschwundenen prächtigen Pennäler- und Studentenjahren.
Heute morgen fiel mir das aufgeregte Wesen des Apothekers Dr. Schmitz
hier auf, der ein Gerücht verbreitete, der Feind sei bereits in Aachen,
sowie daß alle Soldaten mit geradezu blindem Eifer zu Fuß,
zu Pferde, auf den Wagen, Gespannen an allen Ecken, im Marsch und in Ruhe
die Zeitungen lesen. Die Lösung erhalte ich heute mittag, unser Leutnant
erzählt uns bei Tisch, die Leute seien nicht mehr zu halten. Auf unverbürgte
Gerüchte hin heißt es, der Feind ist im Anmarsch, niemand will
mehr zum Schluß noch mit dem Blick sozusagen auf die Heimat interniert
werden und so drängt jetzt alles zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen
Rhein, nicht um dessen Hüter zu sein, sondern um bald über die
neutrale Zone und im Schutz des rechtseitigen Rheinufers zu sein. Ich habe
mir eine Kölnische vom 19. mit einer Kartenskizze herausgeholt, nach
der bis zum 1. d. h. Nacht auf Sonntag eine Linie westlich von uns, die
über Zülpich führt, geräumt sein muß und unser
Gebiet bis zum Rhein bis zum 5. Dezember zu räumen ist. Unser Kolonnenführer
läßt nun gleich seine Leute antreten und darüber abstimmen,
ob heute oder morgen abgerückt werden soll. Jedenfalls ist zu berücksichtigen,
daß alle Anmarschstraßen zu den Rheinübergängen derart
besetzt sein werden, daß sie vielleicht Dutzende von Stunden in Nacht
und Nebel, Kälte und Nässe im Freien stehen müssen, während
sie hier warmes und trockenes Quartier hätten. – Aus einem Staffelkommando
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ist uns für heute ein weiterer Offizier angesagt worden. Heute
mittag schlemmten wir mit einem vom Leutnant mitgebrachten Stück saftiger
Rindslende und fetter Nudelsuppe aus der Feldküche wie auf einem Kirmeßessen.
In den Weinbestand wird dabei ein ordentliches Loch gerissen und alles
tröstet sich in dem Gedanken, besser so, als wenns der Franzmann sich
holen kommt. Aus einer schon abmarschierten Truppe ist ein krank zurückgebliebener
Soldat in der Anstalt hier gestorben und soll gleich beerdigt werden. Frau
Pfarrer u.s.w. bemühen sich eifrig, ein einigermaßen anständiges
Begräbnis zur Befriedigung der bereits erschienen Leidtragenden zu
veranstalten mit Kränzen u.s.w. Eben wird es dunkel und beginnt zu
regnen. Das wird manchen eifrig Marschlustigen dämpfen. Da Mainz von
den Franzosen, die bereits in Saarbrücken sind, besetzt werden soll,
Coblenz von Amerikanern, die am 22. in Luxemburg waren, und Cöln von
Engländern, so werden wir es hier aller Voraussicht nach mit Engländern
zu tun bekommen. Von allen kenne ich nur meinen Arosaner Nachbar und Freund
Mr. Napier, am Ende sehe ich ihn wieder.
3. Dezember 1918. Die letzten beiden Tage zogen noch viele Truppen
durch Rheinbach, aber wenige an unserer Straße entlang. Gestern morgen
beobachtete ich einen langen Heerwurm, auch mit vielen geschlossenen Fußtruppengliedern
sich die Straße von Oberdrees nach Peppenhoven entlang schlängeln.
Es steht jetzt ziemlich fest, daß wir Engländer hierher bekommen
werden. Die wilden Gerüchte, die Franzosen seien schon in St. Vith
(dort sollten sie schon vor Wochenfrist sein – und täglich kamen noch
Divisionen von dort, die nichts gesehen hatten). Unser Gebiet bis zum Rhein
ist bis zum 5. von den unsrigen zu räumen. Ein Referendar, den AGR
Simons gesprochen hatte, war Samstag unbehelligt von Trier gekommen und
hatte berichtet, dort seien Amerikaner, benähmen sich einwandfrei
und hätten den Wein auf 2,50 M die Flasche „Höchstpreis bestimmt“.
Das wird viel Geschrei an der Mosel geben. Seit sie dort seien, sei in
Trier zu haben: Pralinés, Schuhwerk, nicht zu Friedens- aber einigermaßen
angemessenen Preisen, Kaffee. Gestern blieb die Kölnische Zeitung
aus. Ob die Bonner General-Anzeiger Nachricht richtig ist, in Aachen sei
belgische Kavallerie eingerückt, steht dahin. – Helene erhielt den
Tantenzirkularbrief. Der Bruder von Onkel Gustav, Geheimrat Theodor Forstmann
ist bei seinem Lebensabschied mit großer Umsicht und Methode vorgegangen,
nicht nur alles geordnet, Todesanzeige aufgesetzt u.s.w., auch den Kindern
selbst seinen Tod depeschiert, Bekannte bestellt, damit sein Hausfräulein
gleich Hülfe hätte u.s.w., schließlich sich halbangekleidet
in der Badewanne erschossen., vermutlich um Blutflecken zu vermeiden. Tante
Julchen schrieb alles sehr genau, auch über die Zukunftspläne
der Marinesöhne, denn mit der Offizierslaufbahn ist es wohl nichts
mehr. Walter ist auf eine übelwollende Anzeige sogar verhaftet und
eine Nacht eingesperrt worden; dann entließ man ihn mit Entschuldigungen.
Günter Riesen, Grete Brügelmanns Eheherr, erst 24 Jahre alt,
gedenkt zu
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studieren. Seltsam, daß von so einer großen Familie unserer
Schwiegermutter der Krieg nur den guten Alfred Neitzer als Opfer gefordert
hat. Alle anderen sind wohlbehalten wieder daheim. Von meinem Bruder Josef
habe ich bisher noch nichts gehört. Die Bahn nimmt einen z. Zt. immer
noch nur gegen Reiseerlaubnisschein mit. Im besetzten Gebiet haben die
Arbeiter- und Bauernräte ausgespielt und unsere persönliche Sicherheit
scheint darin ein wenig stärker verbürgt, als im überrheinischen
Vaterland, wo neuere Umwälzungen, und zwar auch solche blutiger Art
einem fast unvermeidlich vorkommen wollen. – Hier hatten wir am Samstag
nacht
bis Montag nochmal 2 Mann Einquartierung , einen 23jährigen kräftigen
und lebensfrischen Ostpreußen mit 19 Jahren im Felde und wohlgenährt
und einen älteren Piependreher aus der Casseler Gegend, der viel davon
redete, er werde sich jetzt auf und davon machen, um bald daheim zu sein
und nicht bis dorthin marschieren zu müssen. Das Proviantamt am hiesigen
Bahnhof scheint gestern abgebaut worden zu sein. Ein Güterzug mit
den Resten wurde nach Siegen geschickt. Vermutlich wird die Eisenbahn die
ersten Tage der Besetzung nicht, dann aber hoffentlich recht bald fahren.
Ich möchte gern mal in Bonn nach dem Rechten sehen. Es ist kein Gedanke
daran, bei den heftigen Regenböen, wie sei heute der starke West treibt,
nach Heimerzheim zu fahren, wie ich es auf einem Viehwägelchen vorhatte.
Rheinbach, 8.XII.18. Vorgestern sah ich die erste Kavallerie, recht
gut ausgerüstet auf prächtigen Gäulen. Leider waren es englische
Husaren, die im Trab vorbeiritten. Es gab einem doch ein seltsam nahes
Gefühl, seit mehr als 100 Jahren den Feind erstmals im rheinischen
Vaterland sehen zu müssen. Ein bischen abenteuerlich sahen sie mit
ihren flachen Eisenhelmen, gelbbraunem Kaki und reichlichem Lederzeug aus,
eine Mischung von Cromwell’schen Eisenreitern und Wild West - Kowboys.
Jedenfalls gutgenährte Gestalten mit typisch englischen Gesichtern.
Es kamen mehrere Trupps, dann auch Rad- und Motorfahrer. Später viele
Lastautos, die heute schon recht regelmäßig verkehren, sich
durch große Schnelligkeit und leichten, geräuschlosen Gang gegen
unsere schweren, langsam und mit ungeheurem Gerassel daherfahrenden Fahrzeuge
auszeichnen. Hätten wir das Material der Feinde zur Verfügung
gehabt, ich glaube, wir hätten den Krieg in weniger als 4 Jahren gewonnen.
Nun ists vorbei. In der Kölnischen Volkszeitung – Zeitungen, Post,
Bahn sind seit 2 Tagen nicht mehr – stand kürzlich ein viel beachteter,
von der Kölnischen Zeitung sofort heftig bekämpfter Vorschlag
zur Gründung einer eigenen Republik der Rheinländer (Westfalen,
Rheinprovinz, Hessen, Baden, Pfalz) und Einladung an die Donauländer
zum Zusammenschluß einer einheitlichen Republik, die den „Grund-
und Eckstein“ des neuen Reichs bilden sollte. Es ist so was wie alte Rheinbundstaatenbildung
im Gange in Verbindung mit einer Bewegung „Los von Berlin“. Das kann gefährlich
werden für die deutsche Einheit. Das Zentrum scheint langsam aus seiner
Zurückhaltung herauszutreten, seitdem die heutige Regierung die Trennung
von Staat und Kirche recht eilig in Szene zu setzen sich bemüht. –
Wir haben nun im Inneren der Haustüre einen Anschlag mit allen Einwohnern
des Hauses hängen, ½ 8 schließen
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die Wirtschaften, 8 Uhr hat alles zu Hause zu sein und nach ½
9 ist kein Licht mehr zu brennen. Von den beiden letzten Punkten habe ich
mit den Gerichtskollegen bereits gestern abend Befreiung beantragt und
sofort prompt erhalten mit einer Schnelligeit, die uns alle verblüffte.
College Simons, der selbst in Frankreich in der Etappe gewesen, meinte,
bei uns hätte das wohl 8 Tage gedauert. Ich meinte, wir könnten
noch was lernen. Die Bekanntmachung der Engländer ist im übrigen
sachlich und nicht mit jenen lächerlich übertriebenen Strafandrohungen
versehen, wie sie die geblähten Belgier z. B. in Jülich erließen:
Sofortiges Erschießen ohne Verahren bei Nichtgrüßen eines
Offiziers! Einem solchen, an Kragen und Schlips kenntlich, haben wir auszuweichen
und „durch Ziehen der Kopfbedeckung“ unsere Achtung zu bezeugen. Es liegt
ihnen augenscheinlich wenig daran. An der früheren Fliegerwache haben
sich die Tommys schon ein gehöriges Depot abgeladen. Sie haben jedenfalls
an nichts Mangel. An 90 - 100 Mann blieben 2 - 3 Tage hier, Mannschaften
liegen bei Wirt Breuer im Massenquartier. Verkauf von Spirituosen ist verboten.
Angeblich zahlen sie pro Nacht Quartier 1 Schilling. = Bei Gericht bin
ich aus meiner düstern und engen, luftlosen Nordkammer in ein großes
wohnliches Ost-Zimmer (10) umgesiedelt. Dort sind die Möbel alle schön
am Platze, eine „Fürstenempfangsecke“ ist gebildet und die alten Collegen
haben sich dort schon mal behaglich niedergehockt. An der Bahnstrecke Liblar
- Dernau wird eifrig gearbeitet. Wir sehen vom Wohnzimmerfenster aus, wie
eine große Baubude rasch entsteht. Heute sollen weitere Besuche gemacht
und heute abend die Statuten einer Beamtenvereinigung beschlossen werden.
Herta ist leider – jetzt schon des wiederholtenmals – etwas erkältet,
Mariannchen wächst zusehends. Wir leben besser.
Rheinbach, 10.XII.1918. Bewegte Tage im stillen Rheinbach! Sonntag hatten wir noch eine Reihe Besuche gemacht, leider dadurch auch die Gegenbesuche der Collegen versäumt. Nachmittags hatten die Kanadier, ohne daß ich etwas davon wußte, das Gerichtsgebäude mit dem Hauptquartier belegt und sich darin büromäßig in sämtlichen Räumen eingenistet. Ich merkte Montag morgen erst etwas, als eine rotweiße Flagge am Telegrafenmast dort hing, fand dann mein „zu fürstlichem Empfang“ eben frisch eingerichtetes und von den Kollegen schon als vergnüglicher Aufenthalt gepriesenes Amtszimmer von Kanadiern besetzt. Ich packte Liegestuhldecke, Pelzfußsack und Kissen schleunigst in die Truhe und ließ nachher durch das Mädchen eine einfache Decke aufs Chaiselongue und eine blaue Leinendecke auf den Tisch bringen. Es waren feine, verbindliche Menschen, die sich sehr höflich und korrekt benahmen und dankbar sind, ein so schönes Zimmer zu haben. Nach einiger Verhandlung wurde mir ein bereits belegtes Grundbuchkanzleizimmer als Sitzungssaal wieder geräumt; ich hielt aber die Zivilsitzung heute morgen im geräumigen Zimmer des Gerichtsdieners ab, es ging wie sonst und wir erledigten eine Menge Sachen. In allen Amtszimmern ist ein toller Betrieb. Sie versichern alle, von unseren Sachen nichts anzurühren. Den Schlüssel zu meinem Robenschrank hatte ein diensthabender Unteroffizier beiseite gelegt und ich vertraute ihm daher die Robe bzw. den Schlüssel zum Schrank erneut an. Es ist eine tolle Sache, so alles dem Feinde ausgeliefert zu sehen, dazu mag man sich zwar stets sagen, gottlob, daß es keine Belgier sind u.s.w. Sämtliche Offiziere sind äußerst zuvorkommend, ein asserviertes Schießgewehr in Wachendorfs Zimmer sollte sofort zum Bürgermeister gebracht werden. Weiterungen entstanden dadurch nicht. Die umliegenden Wohnungen sind stark mit Offizieren belegt, namentlich auch im
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Landratsamt, Kasino u.s.w. College Simons hat außer Einquartierung
gleichfalls Kasino, heute Direktor Trautmann auch. Wir hatten bisher einigen
Schutz durch die Kleinheit der Wohnung, sollen aber heute 6 Mann bekommen,
die wir eben erwarten. Es sind große Formationen Fußtruppen,
anscheinend zum Teil Schotten, eingerückt, mit klingendem Spiel, auch
kleinen Musikbanden. Schotten im Kilt mit Dudelsäcken und Wadenstrümpfen.
Ob wir wohl jemals so in England oder Schottland herummarschieren werden?
Wer weiß? – Endlich ist die etliche Tage dauernde Postsperre zu Ende,
doch steht in den Zeitungen nichts besonderes drin. Amerikaner, deren wir
hier auch etliche sahen – sie sehen mit ihren Hüten wie Wild West
Leute aus – und Engländer scheinen sich allenthalben mit ausgesuchter
Korrektheit zu benehmen. Vielleicht haben sie zu lange über die „german
huns“ geschimpft, als daß sie sich jetzt auch nur den geringsten
Vorwürfen aussetzen möchten. Den Mannschaften ist selbst verboten,
bittweise um etwas zu fragen. Was nicht ausschließt, daß sie
ohne Offiziersaufsicht sich die Eier zu 3 Pf. das Stück kaufen wollen
unter
der Androhung, sonst die Hühner zu nehmen. Die 3 Pf. sind eine große
Genugtuung für den geflügellosen Städter, der hier bis zu
1 M fürs Ei bot. Auch sollen die auf dem Rathaus zusammengebrachten
Waffen nicht genügend asserviert und von etlichen Tommies in den besten
Stücken bereits weggenommen worden sein. Mit Erlaubniserteilen sind
die britischen Militärbehörden sehr freigiebig. Ich benutze die
Gelegenheit und habe mir eine lange englisch-deutsch abgefaßte Genehmigung
für alles mögliche zusammengebraut, die ich morgen bescheinigt
zu erhalten hoffe; vielleicht, daß ein späterer Ortskommandant
darin ein wenig minder freigebig ist. – Die Bahn fährt wieder planmäßig.
Rückt die Einquartierung – die Quartiermacher heute nachmittag waren
sehr frische und freundliche junge Schotten – zeitig morgen ab, so fahre
ich vielleicht mal nach Bonn. Ich bedaure jetzt sehr, das Englische nur
radebrechen zu können. Es könnte sachlich mit einer flotten Verständigung
in vielen Fällen namentlich unseren Leuten geholfen werden.
Außer aller mit dem Hauptquartier zusammenhängenden Militärstellen
befindet sich auch eine „french mission“ im Amtsgericht, bei Sekretär
Bommerich haust ein „Senior Chaplain“. Papa schreibt, daß in Bonn
und Siegburg alles wohl sei. – In all dieser Unruhe bearbeite ich meine
Zivilsachen weiter und finde abends (9 ½ soll das Licht aus sein,
ich habe Erlaubnis, es länger zu brennen, ebenso nach 8 auf der Straße
zu sein) noch Zeit, wie ein mittelalterlicher Mönch an einer Hochzeitsadresse
für Frida und Willi mit Wasserfarbe und Feder herumzupinseln. Mariannchen
ist eben höchst verkehrt, weil sie von Opificius zum Essen geholt
werden mußte, wo sie sich mit einem – er will nichts von Engländern
wissen! – „amerikanischen“ (vermutlich kanadischen) Offizier angefreundet
hatte, der ihr Bonbons gab.
Die Truppen machen auf dem Marsch einen vorzüglichen Eindruck.
Sie marschieren in geschlossener Ordnung in Reih und Glied, und eigenartigem
Geschwindschritt. Jedenfalls sind sie gut diszipliniert und was jetzt kommt
sind anscheinend Fronttruppen. Pferde (die kaltblütigen darunter haben
langbehaarte Beine, was ganz drollig aussieht) sind gut genährt und
kräftig. Das Fuhrzeug geradezu glänzend, alle Naben mit Messingkapseln
u.s.w.
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Alles wickelt sich in solcher Ruhe und Ordnung ab, daß männiglich
die Ansicht herrscht, die unsrigen hätten im gleichen Fall mehr Geschrei
gemacht. – Der katholische Pastor Bäumler, dem ich gestern nachmittag
meinen Besuch machte, meinte zu wissen, in den nächsten Tagen werde
die rheinisch-westfälische Republik erklärt werden. Vermutlich
Reaktion gegen die beabsichtige Trennung von Staat und Kirche. Er meint,
Limburg müsse dabei sein. Es ließ sich gut mit ihm reden. Die
Vikarie ist vermietet, doch der Mieter noch nicht drin, dafür aber
Kanadier, die sich sogar mit den ungeheizten Räumen zufrieden geben
und im Garten auf einem Feldöfchen kochen wollten, während vor
etlichen Tagen den unsrigen dieses Quartier zu ungastlich war. Die neueste
Kölnische ist vom 7. und so weiß man immer noch nichts Zuverlässiges
über die Wahlen. – Zum Empfang unserer Quartierleute – sie scheinen
heute auszubleiben – haben wir alles kleingehackte Holz beiseitegebracht
und die Kellerräume bis auf Waschküche und Kohlenkeller abgesperrt.
Das Kinderzimmer ist wieder wie vor Wochenfrist „klar“ gemacht worden.
– In Bonn ist Justizrat Meyer, der Notar, 68 Jahre alt, gestorben und damit
ein Notariat freigeworden, das ich genauer kenne, dessen Akten käuflich
sind und um das mich zu bewerben, eine Reihe von Gründen mich bestimmen.
Am Ende erfüllt sich unsere Ahnung, daß wir nicht lange in Rheinbach
bleiben! Es wäre geradezu schade! – Aus den Proviantvorräten
unserer Truppen erhielten wir letzthin verschiedenes: 1 Pfd. Büchsenfleisch
auf den Kopf. Eine große Freude! Eine Teuerungszulage von 720 M habe
ich pünktlich bekommen. Unser Beamtenverein scheint sich vorab nicht
bilden zu können. Heute nachmittag wurde englische Zeit eingeführt
und die Uhr um 1 Stunde zurückgestellt.
12.XII.18. Jeder Tag bringt Neues. Gestern benutzte ich die wiedergegebene
Möglichkeit einer Bahnfahrt zu einem Besuch in Bonn. Ich traf dort
alles in guter Verfassung an. Die Kanadier hatten ihr Hauptquartier (das
hier im Amtsgericht war) dort in das Palais der Prinzessin verlegt (der
Höchstkommandierende soll mit ihr verwandt sein, was mich fast für
den Verdacht künftiger politischer Konspirationen geneigt machen möchte)
und so ist dann das Villenviertel der Coblenzerstraße sehr reichlich
mit Offizieren und Stäben belegt und die von der Stadt sorgfältig
ausgearbeitete verteilte Einquartierung einfach beiseite geschoben worden.
Darin ist man recht rücksichtslos. Für die Bachstraße kann
es die angenehme Folge haben, daß sie vielleicht von Einquartierung
frei bleibt. Meine Mutter hat noch immer kein Mädchen, doch hilft
ihr schon gut unser alter Gasherd, der wie neu arbeitet. Bruder Josef war
gut zurückgekehrt, nachdem er als gewählter Befehlshaber einer
Brigade diese durch die Pfalz und 2 von ihm geschlagenen Pionierbrücken
bei Speyer über den Rhein gebracht hatte. Er war natürlich froh,
daheim zu sein und muß mit seiner Praxis ganz neu anfangen. Vorab
hat er allerlei Geschäftchen mit Möbeln und half Frau Rüpping
(?) beim Einrichten. Ich brachte Mama Kartoffeln, Gemüse und an 1
½ Pfd. Butter von Straßfeld mit, über die sie sich ganz
besonders freute. Denn solche wird
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in den Städten zu einer Rarität. Meinen Ausweis, der durch
eine Verwechslung auf die Berechtigung, täglich nach Bonn zu fahren
lautet, hat mir niemand abverlangt. Die Eisenbahn fährt bis zum 14.
noch nach unserer alten Zeit. Mit Heinrich Schneiders (ich besprach mit
ihm wie mit Josef, der JR Meyer eben vertreten hatte, die Bewerbung um
das erledigte Notariat Meyer und beide rieten mir dazu, mich zu bewerben)
tauschte ich 1 L. Schnaps gegen 3 ¼ Stück gute Seife. Helene
hat solche für die hier doppelt leicht schmutzende Wäsche dringend
nötig.
12 Uhr abends. Es zog heute ein großer Troß hier vorbei,
auch eine endlose Reihe Autos (zu 3 ton Tragkraft) in denen je 14 Tommys
saßen. Von 11 ½ bis 1 ½ war alles von ihnen mit
gefüllten Backen am Kauen. Wiederholt hielt ein Wagenzug vor unserer
Wohnung, die Mannschaften bekamen Milchkaffee aus großen kochkistenartigem
Kessel, große blendend weiße Weißbrotschnitten mit Schinkenhappen
dazu. Das Volk ist glänzend verpflegt. Molkereidirektor Zingsheim,
in dessen Betrieb sie ein Proviantamt hatten, sah die tollsten Sachen dort,
Schokolade, Kakao, Rosinen, Reis alles die große Menge, riesige Speckseiten
und Schinken bis zu 1 Zentner schwer. – Pioniere mit Brückengerät
kamen auch vorbei. Plumpe hölzerne Pontons in Stücken, lächerlich
sauber geputzt (vermutlich kurz zuvor mit Benzin abgewaschen, denn mit
Benzin reinigen sie so ziemlich alles) die einzelnen Wagen anscheinend
schwer geladen und mit je 6 Pferden bespannt. Die Besatzung scheint recht
feldmarschmäßig zu werden. Anscheinend hat man immer noch einen
tüchtigen Respekt vor unserer Wehrkraft oder man will, wie jetzt jeder
gern behauptet, „nach Berlin machen“.
16.12.18. Freitag abend kam Helene in böser Verfassung mit 1½-stündiger
Verspätung (unvermeidlicher Maschinenbruch in Witterschlick) abends
spät heim; ich holte sie gottlob ab, sie fiel fast über ihre
eigenen Füße: Dr. Trebes hatte ihr die Vornahme eines kleinen
operativen Eingriffs zwecks Wegnahme eines Schleimpolypen dringend angeraten
und sofort verständigerweise hierfür Termin auf Montag angesetzt,
Aufnahme in St. Josef Hospital = Beueler Krankenhaus u.s.w. Nun natürlich
die üblichen Gegenwirkungen u.s.w. Gottlob hatte sie in Bonn bei Papa
und meiner Mutter nichts davon gesagt. Wir fuhren daher gestern, Sonntag
mittag, an einem ordentlich schwülwarmen Dezembertag mit herrlicher
feuchtluftiger Fernsicht mittags nach Bonn, ein kanadischer Offizier räumte
Helene sofort den besten Fensterplatz ein. Vom Bahnhof gingen wir sofort
zu Schneiders, die uns sehr froh aufnahmen und ermunterten. Wir tranken
bei ihnen noch Kaffee, wurden dann von Brüne abgelöst und fuhren
mit der Elektrischen ungehindert nach Beuel. Dort dauerte es eine Zeitlang,
bis Helene ein recht angenehmes Zimmer (53) auf dem II. Stock erhielt.
Ich ging zu Fuß über die Brücke heim zu meiner Mutter.
Milde Nacht wie Frühjahr. Amerikanische Posten auf der Brücke!
Hoffentlich erlebe ich den Tag der Vergeltung wenigstens gegen Frankreich.
In den Hauptstraßen der Stadt ein Voksgedränge wie fast zu Fastnacht.
Dazwischen viel kanadisches Militär, kreischende Frauenzimmer – widerwärtig.
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Ich schellte meine Mutter heraus, sie teilte mit, Bruder Josef habe
uns eingeladen und so gingen wir gleich hin und aßen gut und gemütlich
zu abend bei ihm. Er hatte u. a. Sachen einen prächtigen Rokokotisch
mit Bronzebeschlag mitgebracht, ein glatter Schreibtisch, wie ich mir stets
einen gewünscht hatte; auch eine Spätrenaissance Madonna gefiel
mir recht gut. 9 Uhr ist Polizeistunde und so gingen wir dann nach Hause.
Es war ein sehr angenehmer abend und half mir gut über die Zeit weg.
Ich sagte keinem etwas von Helene. Josef machte ich heute morgen Mitteilung
und besprach auch mit ihm eventuelle Schritte für den Fall, daß
es sich um eine ernste Gefährdung bei Helene handeln sollte (um nämlich
den Kindern den Pflichteilsanspruch zu sichern). Natürlich wurde mir
heute vormittag die Zeit ein wenig lang. Ich machte meinen üblichen
Rundgang durch die Stadt, zumal an den Buchläden vorbei, zum alten
Zoll, besah mir lange und nachdenklich die wundervolle feuchtklare Sicht
aufs Siebengebirge und die Inschriften auf dem Arndtdenkmal und versuchte
mich ein wenig in Arndts Erlebnisse zurückzuversetzen. In einer Stunde
war ich, durch das milde Wetter etwas ermüdet, schon wieder daheim
und kam dann schließlich etwas nach 12 Uhr erst zum Beueler Krankenhaus,
als Dr. Trebes schon weg war. Mehrfaches Antelefonieren erreichte ihn nicht.
Ich sprach Helene, die nach dem Chloroform noch heftigen Brechreiz, sonst
aber keinerlei Beschwerden und nur heftiges Schlafverlangen hatte; sie
wünschte einige Sachen von Hause und so fuhr ich nach Tisch 2 ½
Uhr nach Rheinbach. Josef, den ich leider in Bonn im Zug nicht fand und
erst hier in Rheinbach entdeckte, fuhr nach Zülpich. Hier ist inzwischen
immer noch keine Ortskommandantur eingetroffen. In Bonn braucht man, da
es allerlei Reibereien gab, keine britischen Offiziere mehr zu grüßen.
Ich sah einen Zug von 11 Lokomotiven fahren, die jedenfalls den Franzosen
abgeliefert werden. Es kamen mir die Wuttränen und ich will gut sorgen,
daß ich den Tag der Vergeltung wenn nicht selbst miterlebe, so doch
mitheranholen helfe. Als ich mich um 2 von Mama verabschiedete, rückte
wieder Artillerie in Bonn ein. Nach all dem Straßenlärm in Bonn
herrscht hier wieder eine wohltuende Ruhe. – Ich empfinde es als eine besondere
Schmach, daß sie unseren früheren Kaiser herausgegeben und vor
ein Gericht gestellt wissen wollen, man mag sich persönlich zu ihm
stellen, wie man will. Auf einem Lastauto, das fast eine Woche hier arbeitete
stand „Raus mit der Kaiser“. Ich hatte mir schließlich überlegt
„God save the King & his cousine the ExKaiser“ darunter zu schreiben,
doch war er jetzt weg. Morgen früh fahre ich zu Helene und hoffe sie
dann viel besser anzutreffen.
23.XII.18. Regenböen fegen daher, es heult der Wind und man ist
froh, im Trockenen zu sitzen. Der für heute beabsichtigte Hamsterausflug
muß unterbleiben, und die in Klein Büllesheim beim Pächter
ausgemachte Gans fällt gewiß den Engländern anheim. Diese
sind soeben mit Musik eingerückt. Das Gericht ist auch wieder belegt,
etliche Büros haben sie diesmal anscheinend frei gelassen. Ob ich
morgen dort Sitzung abhalten kann, hängt von dem Wohlwollen des
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Doktors ab, den ich 5 Uhr zu sprechen gedenke. Sonst in der Strafanstalt,
vor welcher sie einen besonderen Respekt haben. Sie ließen sie bisher
noch stets in Ruhe. Vielleicht, daß auch unsere Wohnung diesmal wieder
verschont bleibt. Gestern war bei Pfarrer Echternacht eine wirklich wohltuende
Weihnachtsfeier, bei welcher die Kinder sangen und vortrugen, beschert
wurden und große Freude erlebten. Frau Pfarrer hatte sich eine große
Mühe mit den Kindern gegeben und es klappte vorzüglich. Ich ließ
eine Flasche Wein zum Dank da. Der Straßfelder Vetter brachte eine
Gans vom Vorsteher Hoven, der teure Vogel kostet 45 M, was noch als billig
gilt. – Heute nachmittag wird wohl Helene wieder heimkommen.
Silvester 1918. Rheinbach
Ein seltsames Jahr liegt hinter uns. Erst große Erfolge, dann
Revolution und Zusammenbruch, feindliche Besatzung; uns starb die liebe
Schwiegermutter und dann wurden wir nach hier versetzt. Was wird 1919 bringen:
Vielleicht noch Schlimmeres, hoffentlich auch lichtere Ausblicke! Nun zurück
zur Wirklichkeit: Montag brachte die tüchtige Schwägerin Frida
Helene aus dem Beueler Krankenhause heim, sie war noch recht schwach und
mußte mit einer Droschke vom Bahnhof hier nach Hause fahren. Nächsten
Tag aber konnte sie schon wieder die Weihnachtsbescherung recht gut mitmachen,
zu der Papa überraschender Weise nach hier kam. Wir feierten Weihnachten
recht gemütlich und ich meine, wir hätten nie so gut mit den
Kindern gesungen, wie dieses Mal. Leider konnten wir einer Einladung der
Pfarrersleute zum 2. Weihnachtstage nicht folgen, denn ich lag mit Halsentzündung
zu Bett, blieb dort etwa 2 Tage und arbeitete derweil fleißig ganze
Haufen von Akten ab. Zwischendurch aß ich wie ein Scheunendrescher
und vertiefte mich in französische Baukunst des 18. und orientalische
des 10. - 12. Jahrhunderts an Hand etlicher Hefte des kunstgeschichtlichen
Handbuches. Jedenfalls war es mir bei scheußlichem Regen und Windwetter
keinerlei Entsagung, im Bette zu bleiben. Das Gericht ist bis auf 3 Gerichtsschreibereiräume
immer noch vollauf von britischem Militär belegt. Heute blühte
uns auch hier an der Anstalt beinahe Einquartierung. Die größeren
Häuser sind belegt, vor der Anstalt steht ein großer Troß
Wagen, und Frau Nachbarin Opificius hat mal wieder einen Offizier, diesmal
einen Londoner, der seit mehreren Jahren nicht daheim war und außer
einem Mädchen ein über 2 Jahre altes Kriegssöhnchen besitzt,
das er bis heute noch nicht gesehen hat. Derlei Fälle waren bei uns
doch schon starke Ausnahme, während man sie auf britischer Seite so
oft hört. Unsere Kinder waren heute auf eine Stunde dort und sehr
vertraut mit ihm, er ist natürlich kinderlieb und tollte mit den Kleinen.
Morgen will er sie photographieren und sandte abends noch, sobald er seine
Gepäckstücke bekommen hatte, ein Täfelchen Schokolade (Nestle’s)
herüber. Es sind schließlich auch Menschen wie wir. Sie reden
alle jetzt davon, in 2 Monaten nach Hause zu gehen. Ob wir bis dahin Friede
haben werden? Hoffentlich mal zuerst Ruhe und Ordnung in unserem Inneren
und vor allem gesicherte Verhältnisse im Osten und Südosten,
wo
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es zur Zeit sehr bunt und für die Deutschen höchst übel
hergeht. Helene liegt zum Jahresschluß mit schlechtem Magen und schmerzhaftem
Kopfweh zu Bett. Ich höre andauernd auf unserer Gartenstraße
die englischen Fahrzeuge noch herumrumpeln und will gleich auch zu Bett
gehen. Was die britischen Truppen eigentlich vom Postenstehen und Fourage
heranholen abgesehen für einen militärischen Dienst tun, ist
unerfindlich. Bürokratisch sind sie nicht; auch nicht schnauzig: Ich
ging heute morgen so ziemlich durch alle Büroräume im Gericht
mein Chaiselongue suchen, nirgendwo erhielt ich einen Anraunzer, wie es
doch wohl bei den unsrigen unter gleichen Verhältnissen unvermeidlich
gewesen wäre. Wir haben wohl auch noch manches zu lernen. Wollen dazu
nun auch das neue Jahr benutzen. Die erledigte Notarstelle Meyer in Bonn
giebt neue Ausblicke in die Zukunft. –