5. Januar 1919.  Seit zwei Tagen haben wir mal wieder eine Art häuslichen Lazaretts. Die beiden (Dienst-) Mädchen sind an heftiger Angina erkrankt und Helene hält sehr richtig die Kinder getrennt wegen der Gefahr für Diphterie, die in der Umgegend auftritt. Beide Kinder schlafen daher zu ihrer Freude bereits 2 Nächte bei den Eltern, das Dienstmädchen liegt ganz zu Bett und Frl. Ida (Menn, Ida) wird mittags ins Bett gesteckt. Ich bin bei zeiten auf und spiele den Heizungsingenieur. Helene hat viel Arbeit, doch gehts weiter. Tagtäglich sehen wir an der Anstalt die Verteilung der Lebensmittel an die englischen Truppen, die Kerle brauchen toll und haben alles. Frau Opificius hat einen Trainoffizier nebenan, der sich zu einem Nährvater entwickelt. Er trinkt gar zu gern Wisky, ich tauschte eine Flasche dieses gar nicht üblen bräunlichen Malzschnapses gegen eine Flasche Brauneberger. Frau Opificius, stets hilfsbereit, half Helene gestern spülen und brachte ein Pfund Reis mit, sie hatte solches von ihrem Quartiergast bekommen (übrigens auch schon Speck u.s.w.) Ich gedenke noch mehr Tauschgeschäfte zu machen und meine englischen Sprachkenntnisse zu erweitern. Scheußlich genug, daß es auf derlei Weise geschehen muß. Gestern mittag besuchte uns der tüchtige Ackerwirt Kröger aus Büllesheim und brachte – o willkommener Gast! – eine gerupfte Ente und 1 Pfd. Speck mit. Ich gab ihm Rat in einer Steuersache und gebe ihm auf künftigen Mehltausch 1 L. Trester mit, die er mit behaglichem Schmunzeln einsteckte. Ich werde ihn demnächst besuchen gehen. Der Beamtenverein konsolidiert sich stets mehr, vielleicht, daß er nächstens Briketts liefern kann. In letzter Versammlung, der ich nicht beiwohnen konnte, wurde ich in den Vorstand gewählt, in geheimer Wahl und zwar angeblich mit den meisten (47) Stimmen, während z. B. der Stadtbürgermeister nur – 1 erhielt. Ich scheine also bei diesen Leuten einiges Vertrauen zu genießen.
8. Jan. 1919. Denkt man an die Zukunft Deutschlands, so möchte man zergehen. Es kann die ersten 50 Jahre kaum etwas werden. Um nicht völlig zu verzweifeln, muß man sich an den Alltag halten und in ihm Zerstreuung suchen. Und da ist trotz allem für uns wenigstens eine bedeutende Verbesserung zu spüren. Wir ernähren uns besser und merken dies selbst vor allem daran, daß wir mir Brot nicht

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mehr so knapp sind und nicht fast alle Gerichte ausschließlich aus Kartoffeln bestehen. Auf Dreikönige kam ein kleiner Junge von 9 Jahren in Holzschuhen, Militärmütze und zerlumpten Kleidern, schlecht aber nicht gerade verhungert aussehend und bettelte um Kartoffeln. Ich nahm ihn scharf ins Verhör, er gab offen und zutreffend Antwort, war der Sohn eines Kesselschmieds aus Stollberg bei Aachen, Franzosen seien dort sehr frech u.s.w. Er war vor 2 Wochen mit gutem Erfolg auf einer Hamsterfahrt hier gewesen und machte nun eine zweite. Es stellte sich bald heraus, daß eine etwa 11jährige Schwester ihn begleitete. Helene gab ihm ein Honigbrot und etliche Kartoffeln. – Unsere Nachbarin hat an ihrem Quartiergast, einem Major-sergeant von der englischen Expeditionsarmee, einem angenehmen Mann, der als junger Ehemann vor allem sehr nett zu den Kindern ist und auch sonst sich als den vorzüglichen englischen Gentleman zu zeigen bemüht ist, einen hervorragenden Nährvater, der in Hülle und Fülle mancherlei herbeischleppt, so daß selbst für uns noch manches abfällt. So weit sind wir also, daß wir uns vom Erzfeinde ernähren lassen. Was sie aber auch jeden Morgen vor dem Eingang der Strafanstalt an Fett, Speck, Butter, Käse u.s.w. vor allem an gefrorenem fettem Rindvieh verteilen, ist nicht zu sagen. Die Ordonnanz unseres Nachbarn, mit der ich mich gestern morgen unterhielt, berichtete, daß viele bei ihnen krank seien vom ewigen Speckessen. Ich schlug ihm Tausch von Wein gegen Speck vor. Vielleicht läßt sich da etwas machen. Aus einer Bekanntmachung über die Regelung des Eisenbahnverkehrs geht hervor, daß die Blockadegrenze gegen Deutschland nunmehr die Rheinlinie einschließlich der rechtsrheinischen Brückenköpfe ist; wir sind also derzeit bereits aus der Blockade heraus und werden dies vermutlich bald zu verspüren bekommen. Frl. Ida (Menn, Ida) kaufte gestern einen hübschen bräunlich-grau karrierten Stoff zu einem Anzug für ihren Bruder für 22 M das Meter. Für Dr. Trebes habe ich 21 m zu 22 M gekauft, für mich selbst kürzlich einen schweren dunklen Stoff für 24 M das Meter. – Die Kinder haben ab und an Schokolade, wir Fleisch, Kerzen, Reis und derlei, alles von den Engländern. Gestern gabs von der Stadt sogar ganz heimlich ein Handvoll Eier; auf solche sind die Briten sehr versessen, wollen aber natürlich kein 58 Pf. fürs Stück bezahlen. –
22. Januar 1919. Jetzt sind wir etwa ¼ Jahr hier und haben bereits eine solche Fülle der Ereignisse hier erlebt, daß wir schon wer weiß wie lange hier zu sein glauben. Um gleich mit dem letzten anzufangen: Am Montag begruben wir unseren tüchtigen, aufrechten und tapferen Strafanstaltsdirektor Georg Trautmann. Donnerstag zuvor war er nachts an kurzem Anfall verstorben, nachdem er den Tag noch im Dienst gewesen und der Schöffensitzung beigewohnt hatte. Er starb fast in den Armen seiner britischen Quartiergästen, die sich dabei sehr als Ehrenmänner

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benahmen. Samstag darauf gebar seine Tochter den ersten Enkel, ein Söhnchen, das er nun nicht mehr erlebte. Der Sohn weit in Sibirien, seit 6 Monaten keine Nachricht mehr von ihm, der entsetzliche Fall Preußens und des Reiches, die Revolution und wer weiß was sonst alles hatten diesem stets straff sich haltenden, freundlichen Manne mit den klugen Augen und dem sympathischen wohlgeformten Kopfe auf der kleinen Körperfigur den letzten Rest gegeben. Ich hatte ihn in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft recht lieb gewonnen. Leider nur einmal waren wir kürzlich mit ihm bei Pfarrers in ihrem Lesekränzchen zusammen gewesen, wo Pfarrer Echternacht eine recht mäßige Weihnachtsnovelle von Hertzog verlas und ich daran anknüpfend eine kleine stilkritische Würdigung dieses billigen Machwerks zu geben versuchte. Wir hatten den Eindruck, in kurzer Zeit an Trautmann einen aufrichtigen Freund zu gewinnen. Seiner Liebenswürdigkeit verdanken wir unser bescheidenes, aber recht wohnsames und unabhängiges Obdach hier und gestern hatte ich Gelegenheit, seiner Witwe mich ein wenig erkenntlich zu erzeigen durch Besorgung einer Angelegenheit ihrer Lebensversicherung. – Fast zu gleicher Zeit ist in Bernkastel Cues der 80jährige ehemalige Feuerwerksmajor Gohlke, der Schwiegervater von Kreisarzt Dr. Knoll gestorben. Seit der amerikanischen Besatzung war dieser prächtige Greis, der sein 50jähriges Militärjubiläum vor etlichen Jahren noch so frisch und rüstig gefeiert hatte, schnell dahingewelkt. Der Fall des Vaterlandes hat auch ihn wohl zu Fall gebracht, wie so manchen. Ich sehe ihn stets mit seinen kurzen energischen Schritten, ganz in schwarz, den Gehrock nach alter Manier in den Hüften eingeschnitten, über die Bernkastler Brücke gehen; das frische Gesicht vom weißen Bart umrahmt, immer freundlich und soldatisch straff, das Bild des wackeren alten Militärs. Er war volle 20 Jahre älter als Trautmann, der sich übrigens ebenfalls aus der Feuerwerkerei (er war Oberfeuerwerker gewesen) mit außergewöhnlicher Begabung, Klugheit und scharfem Blick zu hoher Stellung emporgearbeitet und dabei seinen Kindern bei aller Beschränktheit seiner Mittel eine gute Erziehung gegeben hatte. Als ich gestern seine privaten Papiere durchmustern konnte, bekam ich gleich ein Bild davon, mit welch peinlicher Sorgfalt er seine geringen Mittel verwaltet und bei aller Knappheit noch Ersparnisse gemacht und Kriegsanleihe gezeichnet hatte. Es wehte mich ein Hauch ernstester Beamtenehrlichkeit daraus an, denn ich bin überzeugt, es wäre ihm ein Leichtes gewesen, aus seiner Stellung irgendwelche Nebeneinnahmen zu ziehen, wie es mancher seiner Unterbeamten sicher vorzüglich verstanden. Ob es in der künftigen Reichs- und in den noch künftigeren Bundesrepubliken auch so hergehen wird? Ich möchte es fast verneinen.

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Jedenfalls bleibt uns heute nichts erspart: Bald überwiegt die französische, bald die englische Brutalität bei den unerhörten Forderungen der Waffenstillstandsbedingungen; kaum ist der Spartakus- (= Kommunisten und Räuber-) aufstand in Berlin einigermaßen niedergeschlagen, fängt dasselbe Spiel in Düsseldorf von neuem an; selbst die britische Besatzung hier muß der ruhige Bürger als einen Schutz gegen die rote Seuche betrachten. Diese geistige Erkrankung – sie kommt wie so vieles aus dem Osten und wogt nach Westen – überschwemmt langsam und sicher die ganze Erde, und wenn die Alliierten glauben, hier am Rhein bauten sie einen Damm dagegen, so irren sie sehr. Die Besatzungstruppen werden in den Städten ganz selbstverständlich davon ergriffen, mögen sie noch so viele Stäbe hinlegen, Belehrungen abhalten, die Soldaten von der Bevölkerung und von allem geistigen Einfluß Deutschlands abzuschließen suchen u.s.w. Briten und Kanadier stechen sich gelegentlich schon mal tot – so in Bonn kürzlich – oder liefern sich Gefechte untereinander; so in Siegburg. =
Bei Weinhändler Pfahl hörten wir Sonntag - wir machen immer noch Besuche hier im Philisternest, auf daß niemand sich benachteiligt fühle – daß in Gladbach und Umgegend die belgischen Offiziere selbst Frauen und Kinder kommen ließen und in Bürgerquartiere legten. Die Folgen und Freuden kann man sich leicht ausmalen. Wir selbst können noch über nichts klagen. Wir haben noch keinen Briten im Hause gehabt und Mr. Brings, der Major-sergeant unserer Nachbarin versorgt diese so reichlich mit allen Lebensmitteln, daß für uns im Wege des Tauschverfahrens noch manches abfällt und wir gegen früher unvergleichlich besser leben. Unsere Nachbarin, eine wirklich kluge Dame, hat noch nie so viel Fleisch im Hause gehabt und Helene muß ihr zeigen, wie alles eingeteilt und versorgt werden muß, damit nichts verkommt. 2 x haben wir dort abends zusammen dem weiterer Nachbar und den Frauen solide Rumpunschabende gehalten, für die Mr. Brings den Rum und Wisky zu stellen sich als besondere Ehre anrechnet. Zwischendurch verproviantiert sich Marianne bei ihm mit Schokolade u.s.w. – Das Gericht ist immer noch völlig belegt. – Beim Begräbnis des Direktors Trautmann war Staatsanwalt Dr. Neumann von der Oberstaatsanwaltschaft Cöln hier, tauchte mit Lackschuhen durch den handhohen Straßenschlamm und fand Rheinbach sehr dörflich. Er kann ebensowenig wie LGerichtPräsident Junkermann begreifen, wie ich mich aus dem „kultivierten“ Bernkastel nach hier habe versetzen lassen können. Haben die Leute denn kein wurzelechtes Heimatgefühl mehr? Neumann hatte große Besorgnisse ob der künftigen rheinischen Republik und ihrer wahrscheinlichen Abhängigkeit von Frankreich, sogar eventueller Besetzung des linken Rheinufers durch die Franzosen. Er schien alsbald sich nach Preußen

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zurückziehen zu wollen. Ich setzte fröhlich dagegen: „Ich bleibe hier und wenn wir japanisch werden.“ Und so denke ich es auch zu tun. Die Heimat ist mal das nächste Vaterland und solange ich mein Brot in ihr essen kann, tu ich dies unter allen Umständen und werde auch unter den schlimmsten Verhältnissen meine Kinder deutsch zu erziehen verstehen. – Jetzt kommt die neue Reichsverfassung heraus; schade, daß es nicht ohne „Bundesstaaten“ hergehen kann, die verdammte alte deutsche Eigenbrödelei wird ihre alten Siege zum Schaden des Ganzen erleben. Das Wahlergebnis scheint im großen und ganzen das zu sein: Die Sozialisten sind die stärkste Partei, aber kein Zusammenhalt der anderen in der Minderheit. – Meine Kollegen haben jetzt endlich eine Gegenmine gegen Landrat und Bürgermeister gelegt, deren freundlichem Verfügen über das Amtsgerichtsgebäude gegenüber der britischen Besatzung wir die Besetzung des Amtsgerichts zu verdanken haben. Vielleicht hats Erfolg für die nächste Besatzung, wenn erst diese mal weg sind. Mich selbst berührt es nicht stark. Ich halte meine Zivilsitzungen in der Strafanstalt, desgleichen die Termine und arbeite die Akten zu Hause. Die Kollegen aber kränkt es sehr. Leider sind sie zu umständlich und ehrlich, um ränkevoll und energisch vorzugehen, wie es mir besser liegen und sicher bald zum Ziele führen würde. Dabei hätte es College Simons z. B. sehr leicht mit dem Divisionskommandanten, der in seinem Hause wohnt, zu klüngeln. Er hat ihn aber überhaupt noch nie gesprochen! – Ein Mr. Weamer oder ähnlich, britischer Offizier, der gut Deutsch spricht und sich für deutsche Verhältnisse interessiert, liegt bei JR Schneider und hat aus der Schule geplaudert darüber wie die Gerichtsbelegung zustande kam. Ich holte ihn zu einer Verschwörung der Collegen und er gab uns praktische Winke. – Traurig, daß bei dem törichten Widerstand des Landrats = er will nichts von seinen unbenutzten Diensträumen abgeben = eine solche Inanspruchnahme feindlicher Offiziere zwischen „Königlich“ Preußischen Behörden nötig ist. – Wenig erfreulich auch, einen Prozeß darüber zu verhandeln, ob unter einem verflossenen Kriegsliebespaar sogar die Aufwendungen für Liebespakete ersetzt werden müssen. Ich las den Leutchen gestern recht eindeutig den Text und habe Aussicht, diese leidige Sache vergleichsweise aus der Welt zu schaffen.
8. Februar 1919. Ein breiter reißender Strom flutet weit über seine Ufer, übergießt die fruchtbare Ebene mit tosendem Gewässer und läßt befürchten, daß er viel mehr Geröll und taubes Gestein zurücklassen als fruchtbares Schwemmland absetzen wird. Was in seinen Bereich gerät, ist zunächst einmal gründlichster Vernichtung ausgesetzt. Von leidlich sicherer Anhöhe dies zu beobachten füllt einem das Herz anfangs mit grausem Entsetzen und schließlich mit einer öden leeren Stumpfheit. Solche und ähnliche Empfindungen befallen einen, sieht man den trüben Strom

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unserer Jetztzeit mit tobenden Wirbeln vorüberbrausen. In erst 2 ½ Wochen seit meiner letzten Aufzeichnung hatten wir wieder derart viel zu erleben, daß eine geistige Verarbeitung nicht möglich ist und die wechselnden Bilder fast wie im Kino mit abscheulicher Geschwindigkeit vor den Augen auftauchen, um sofort wieder zu verschwinden und blitzschnell von anderen abgelöst zu werden. Man fühlt sich förmlich geäfft durch die blöde und schnelle Aufeinanderfolge.
Heute friert es -15°C bei leichter Schneedecke, strahlender Sonne und unbewegter Luft, so daß der Winter einem recht durch Seele und Körper geht. Wochenlang war der Himmel grauverhangen und ließ nur hin und wieder etwas Schnee niederrieseln. An solchem stillen grauen Tag marschierte ich (letzten Dienstag, 4.2.19) mit dem Bonner Nachbar Wilhelm Mai morgens ½ 8 zu Fuß in Pelz und Cylinderhut auf den alten Wegen unserer Kindheit zu Fuß von Bonn nach Alfter, um dort unseren guten Ohm (Rech, Johann d. Ä.) und mit ihm den letzten Familienzeugen unserer glücklichen Olsdorfer Kindheit zu begraben. Es war ein würdiges Begräbnis und seltsamerweise ich der einzige seiner Neffen, der ihm das letzte Geleit geben konnte. Josef hatte sich höchst unnütz mit der Schwägerin in Oldorf entzweit, konnte aber wegen des höchst bedenklichen Zustandes seiner Frau auch so nicht mitkommen. Die Roisdorfer Verwandten und zahlreiche aus der Kindheit her vertraute Gesichter frischten die alten Bilder von neuem auf und das feierliche Hochamt in der eisig kalten Dorfkirche war mir im Nu herum, ich hatte die ganze Zeit in den hellen Kerzenglanz gestarrt und nur an die Jugendtage in Olsdorf gedacht. Waren das noch Zeiten! – Alle anderen Erlebnisse treten hiergegen in den Hintergrund. Das Begräbnis an dem windstillen grauen Wintertag in der beschneiten heimatlichen Flur wird mir stets im Gedächtnis bleiben, ebenso wie mein letzter Besuch bei Ohm im Kessenicher Krankenhaus. Auf alles andere muß ich mich mit Mühe besinnen. (Am 31. Jan. 1919 abends starb Ohm, ohne daß er Schmerzen oder Beschwerden gehabt hätte, nachdem er an einem tuberkulösen Brustgeschwür von Prof. Graff operiert worden war, vermutlich an Miliartuberkulose).
Am 24. war ich in Bonn, besuchte nach Tisch den guten Ohm und brachte ihm ein Glas Honig mit. Er freute sich sehr darüber, nicht minder auch, daß ich gekommen war. – Soeben kommt die Kölnische wieder, da muß ich hier pausieren. – In der Zeitung das alte Lied: Der Niederbruch unseres deutschen Vaterlandes, ja das Gespenst des Hungers grinst aus allen Ecken. In Weimar tagt die Nationalversammlung. Ob was dabei herauskommt? Es kommt mir manchmal ähnlich vor wie unsere Tagungen hier, im Beamtenverein nämlich, der plötzlich zu großer Blüte gelangt ist und nun auch kommunalpolitisch ein Röllchen spielen will. Selbst mich, der ich noch keine 4 Monate hier am Orte bin, will man in den Stadtrat wählen, doch hoffe ich, falls ich überhaupt

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auf eine Kandidatenliste kommen sollte, darauf an solcher Stelle zu kandidieren, daß der Ausfall gewiß ist. So sehr ich heute die politische Betätigung eines jeden für nötig halte, der Richter bleibt vielleicht doch besser aus dem Stadtklüngel, zumal ein Mann von solch scharfer loser Zunge, wie sie mir nun mal im Maule sitzt. –
Am 28. Januar war Oberlandesgerichtsrat Kuttenkeuler von Cöln hier, er kam auf einen Privatbrief von mir, hatte aber inzwischen auch offiziellen Bericht über die unhaltbaren Gerichtszustände infolge der englischen Besatzung bekommen. Er besah sich alles gründlich, auch unsere „öffentliche Zivilsitzung“ im Zuchthaus und verhandelte mit Briten und Landrat. Bis heute ist noch nichts geändert hier. Er aß bei uns zu Tisch und erzählte manches Interessante von Köln. Meine Versetzung ist von einem besonderen „Kriegsfall“ in Andernach abgesehen, die einzige im Rheinland. Ganze 3 Amtsrichterstellen sind hier ausgeschrieben. Dabei in Cöln an 100 Assessoren. Hier haben wir zur Zeit 3 Referendare und 3 Assessoren. Die Aussichten für diese Collegen sind geradezu jämmerlich. Am 30. machte ich eine große Hamstertour, kehrte erst bei Kröger in Kl. Büllesheim ein und aß dort zu Mittag, ging dann nachmittags mit dessen Sohn zu Mirbach nach Gr. Büllesheim, wo es Speck und selbst etwas Butter gab. Bei prächtigem Winterwetter besahen wir uns den schwiegerväterlichen (Schwiegervater: Reitmeister, Peter) Grundbesitz von Großbüllesheim aus auf Straßfeld zu, in einem geschlossenen Block zwischen 4 umsäumenden Wegen gelegen, den sich die 3 Pächter Kröger, Steinhausen und Mirbach untereinander geteilt haben. Es war ein erfreulicher Blick über die weitgestreckte große Parzelle in dem grauen Winterkleid , ringsum in der Ferne die Kirchtürme der Dörfer. Nachmittags hatte ich dann in Kl. Büllesheim einen solchen Rucksack voll zusammengehamstert, daß an ein Tragen kein Gedanke war. Der Pferdehändler Isidor Oster aus Flamersheim brachte mich glücklich zum Bahnhof und hier erwartete mich Gretchen mit dem Handwagen. Eine weitere Frucht jener Hamsterfahrt war der gestrige Besuch des Pächters Heinrich Mirbach, der schon vom Großvater Reitmeister Land in Pachtbesitz hatte, ein prächtiger 67jähriger, sehr rüstiger Junggeselle, der in Steuersachen sich beraten ließ und ½ Pfd. Butter und etliche Eier mitbrachte. Butter ist derzeit fast nicht aufzutreiben. Für Kartoffeln werden bis zu 31 M der Zentner geboten und in den Städten klopft die Hungersnot an. Wir sollen 2 Pfd. pro Kopf und Woche zurückgeben, was 3 - 4 Zt. für uns ausmachen würde. Auf der Strecke Euskirchen - Bonn ist die II. Wagenklasse theoretisch abgeschafft und so fährt man II. mit Fahrkarte III. = In Bonn besuchte ich neulich am Tage vor Ohms Begräbnis Frau Gerhardt, wo es zum Tee – natürlich englischer! – Schinken und sogar frisches Schweinernes gab. Abends begleitete ich Walter nach Hause und suchte ihn nochmals abends nach Tisch auf. In seiner ungewöhnlich großen weiträumigen Wohnung fühlte ich mich noch mal wohl in geistig hochstehender und künstlerisch ernsthaft angeregter Umgebung. Es wirkte

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auf mich wie ein warmes prickelndes Bad und veranlaßte mich vermutlich zu manchem übermütigen Schwatzen. Es ist aber nötig, mitunter derartige Unterhaltung und geistige Erfrischung als Gegengewicht gegen die bleischwer drückende Wirklichkeit zu haben. Walter Gerhard hat eine famose Bücherei, für die seine kluge und recht sympathische junge Frau volles Verständnis zu haben scheint. Sie ist vorzügliche Musikerin, dabei ihm eine Stütze in geschäftlichen Dingen. Seine Bildersammlung, vornehmlich gute Stücke von August Macke und Heinrich Brüne ist sehr erfreulich. –
12. Februar 1919. Herrliche Frosttage, doch sieht man mit Bedenken die Kohlenvorräte zusammenschmilzen. Na, auch dafür findet sich schon Rat. Bei den Besatzungsengländern scheint es langsam zu rumoren anfangen. Der Ton, in dem die Mannschaften über ihre Offiziere zu sprechen beginnen, ist recht unschön und erinnert in vielem an ähnliche Erscheinungen bei uns vor Jahresfrist. In unserer nächsten Nachbarschaft sind die Quartiergäste namentlich recht erbittert darüber, daß ihnen der bereits gewährte Heimatsurlaub im letzten Augenblick kurz vor der Abreise widerrufen wurde. „Offizier Schweine“ und dergleichen ist leicht zu hören. Unser Nachbar Biggs ist nun glücklich nach London, er hatte seinen Genossen Flackfield (natürlich Sohn eines Frankfurters Flachfeld!) neulich mal wieder zu Frau Opificius mitgebracht und diese erzählte gestern abend hiervon Erfreuliches: Besagter sergeant – übrigens ein ausgesprochener derber Spaßvogel – lobt das deutsche Volk und beschimpft Kaiser und Kronprinz, der „Prinz“ (d. h. der Hund dort) sei besser, stellt sich vor das Kaiserbild und streckt die Zunge heraus u.s.w., kurz reizt Frau Opi. derart, daß sie voller Wut ihm eine kräftige Ohrfeige appliziert. Dafür bittet er zum Schluß noch um Verzeihung. – Jedenfalls famos! – An unseren Gerichtssitzungen im Sitzungssaal der Strafanstalt scheinen die Engländer Geschmack zu gewinnen. für Mittwochs haben sie das Zimmer von 10 - 3 Uhr für ihre Strafsitzungen in Beschlag belegt. Gestern wurde das Kaiserbild dort bereits zu diesem Zwecke abgehängt. Also jetzt Dienstag: meine Zivil-, Mittwoch: Britische Straf-, Donnerstag: unsere Strafsitzung im gleichen Raum. Statt uns andere Räume zu beschaffen, beginnen die Briten sich nun selbst im Landratsamt auszudehnen. Politisch scheint unser schon reichlich finsterer Himmel sich nun vollends zu verdüstern. Jede Waffenstillstandsverlängerung bringt tollere Forderungen und Lebensmittel giebts anscheinend noch lange nicht. Dafür toben die wütigen Anarchisten in Düsseldorf, Wesel und neuerdings aus Münster, Braunschweig und wo weiß ich. Die Polen vor Bromberg, kurz es ist zum Haare raufen. Die Nationalversammlung in Weimar sieht einem gewissen stupiden deutschen Reichstag ähnlich. Die Baiern wollen mal wieder für ihre Reservatrechte sterben. Die rheinische Republik ist anscheinend

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verschoben. Warum die Kölnische 8 Tage verboten war, ist mir noch nicht recht klar.  Außer Elsaß - Lothringen dürfte uns auch wohl das Saarbecken verlorengehen.
23.2.1919. Der Frost ist vorbei und hin und wieder will sich schüchtern der Vorfrühling hervorwagen, mit löblichem Eifer von unermüdlich lärmenden Spatzenscharen begrüßt. Im Mistbeet keimt es emsig, leider aber nicht vom Eingesäten, sondern –lauter Hafer, den die britischen Gäule nicht recht verdaut haben und der nun durch die Misterde zum Licht drängt. Im Zimmer gekeimte Tomaten erleiden wechselvolle Schicksale, indem sie häufig umgestoßen werden und dann einer groben Verschulung unterliegen, die ihnen schlecht bekommt. Die Briten sind nach wie vor hier, schließen Pachtverträge auf 3, ja man hört sogar von 5 Jahren (ähnlich wie 1914 in Frankreich!) und richten sich allenthalben häuslich ein. So gestern wieder in der Strafanstalt, in denen ihnen die 3 größten Büroräume geräumt werden mußten. Es scheint dies im Zusammenhang mit den „Gerichtsumtrieben“ zu stehen; denn tatsächlich ist nun erreicht, daß wir im Landratsamt 3 Räume bekommen und dort zum Verdruß des Landrats Recht sprechen werden. Zur besonderen Genugtuung nicht nur meiner Collegen gegenüber dem stets ablehnenden Verhalten, sondern auch zur Freude unseres Kassenrechnungsrats darüber, daß wir nun nachdem die Briten unsere Kohlen verheizt haben, dort auf Kreiskosten uns beheizen lassen. So hat jeder seine kleinen Freuden! – Aus meinem Vorschlag, mit Pauken und pipe men in Hochländertracht, Dudelsack ect. feierlich unter präsentiertem Gewehr ins Landratsamt einzuziehen, wird wohl leider nichts werden, wiewohl der die Gerichts-„belange“ wacker vertretende Lt. Mr. Weaver eine militärische Wache zu Verfügung stellen will. Immerhin habe ich heute unseren ersten Gerichtsschreiber Ruland angestiftet, ein Gerichtsschild an den Landratsamtseingang zu hängen und das wird er schon mit größtem Vergnügen verüben. –
Anfang verflossener Woche starb der Sohn des Kreisarztes Kessel hier, mit dem ich ein fast freundschaftliches Verhältnis seit unserer gemeinsamen Bestrahlungskur im Herbst 1917 in der Universitätsklinik für innere Medizin in Bonn hatte. Der Vater ist tief erschüttert, die Mutter findet eher Trost in religiösen Übungen. Er war mir ein sympathischer junger Mensch. Sein Tod kann noch mancherlei Folgen hier haben; denn wenn seine Mutter von hier weg will, ist die Familie Simons gesprengt und es könnten leicht gleichzeitig mehrere größere Hausgrundstücke hier an den Markt kommen. Mit einem aber ist der Markt schon leicht überfüllt und alle Hausbesitzer erwägen ängstlich derartige ungünstige Konjunkturen. Denn

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zur Zeit grassiert noch die heftigste Wohnungsnot, auch hier, und bei der gewaltigen Geldblähung stehen bebaute Grundstücke hoch im Wert, oft im doppelten der Anschaffungskosten. Da ist kein Hausbesitzer im Städtchen, der nicht jetzt heimlich den heutigen Wert seines Anwesens brennend gern durch Verkauf liquidieren möchte, zumal die fortgesetzte Einquartierung einem je mehr je gründlicher die Freude am eigenen Hause verderben kann. Zumal je besser das Haus eingerichtet und ausgestattet ist, um so größer ist der unwiderstehliche Zuzug britischer Quartiergäste. Nur die leidige Unmöglichkeit, für sich selbst dann ein Obdach zu finden, hält den Besitzer vom Verkaufe ab, doch beobachtet er mit ängstlichem Mißtrauen jeden Vorgang, aus dem er schließen kann, daß Verhandlungen über einen Hausverkauf im Gange sind. Bei einer Unterhaltung mit den beiden hausbesitzenden Ruland und Bommerich, die heute morgen mit Frauen bei uns Besuch machten, war dies ebenso erfreulich zu beobachten, wie vor kurzem gelegentlich unserer Besuche bei Weinhändler Müller und Katasterbeamten Assenmacher. Ich gelte nach wie vor für die Hausbesitzerhechte als ein fetter Karpfen, den jeder, wenn auch nicht heute, so doch später bei gelegener Zeit, da man sich zur Ruhe und anderswo niederlassen möchte, gern selbst schnappen möchte und daher jedem anderen Mithechte unchristlich mißgönnt. Ich selbst aber gedenke vorab gar nicht, meine lächerlich billige Wohnung, die mich ganze 420,00 M im Jahre kostet, aufzugeben, um mich mit Zinsen, täglichem Ärger über britische Einquartierung und sonstigen Annehmlichkeiten zu belasten. Klein, wenn auch nicht mein, so doch mir allein und ohne Einquartierung, so lebt es sich heute bene, auch in Rheinbach. College Simons aber ist seines „schönsten Hauses“ hier nun so herzlich satt, daß er scheinbar mit rechtem Ernst ans Verkaufen denkt. Für 40 Tausend soll er es losschlagen wollen, ob ich ihm aber derzeit 30 bieten möchte, weiß ich nicht. Es kann nicht ausbleiben, daß Hunger und Auswanderung letzten Endes die Folgen unseres gewaltigen Sturzes sein werden. Dann aber sinken bei ungenügenden Kornzöllen die landwirtschaftlichen Werte und später auch die Häuser, das muß mit eiserner Notwendigkeit kommen, hat erst unsere derzeitige Geldblähung ein Ende und wirkt sich das Kriegsunglück erst einmal recht aus.
Vor 8 Tagen war ich auf einer Bauernvereinsversammlung hier, wo den Bauern recht eindringlich die Folgen des neuen Gemeindewahlrechts vorgeführt wurde. Bürgermeister Commesmann wurde weil Nichtbauer als 2. Vorsitzender herausgewählt. Busch redete nicht übel und v. Loe etwas zu gelehrt.

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Jedenfalls aber beginnt sich der rheinische Bauer emsig zu rühren. Geld hat er derzeit genug und so soll er jetzt eifrig staatsbürgerlich und politisch in Bewegung gebracht werden. Vielleicht, daß ich dabei nicht bloß untätig zusehen werde. –
Jedenfalls schnuppert alles die Witterung kommender Zeiten. In München tobt der Bürgerkrieg, im Ruhrrevier der Spartakus, den das Volk auf dem „2. a“ betont. Ich kann mir nicht helfen, das ganze hat verfluchte Ähnlichkeit mit manchen Bewegungen der Reformationszeit; wenn nicht trotz aller Reichsverfassung, die sich ja recht schön anläßt – die Richter sind darin fein heraus! – schließlich doch wieder ein deutsche Kleinstaaterei aus diesem trüben Meer der Bewegungen heraustauchen wird! –
Ich war die letzten beiden Wochen je einmal in Bonn und traf dort Mama in recht guter körperlicher Verfassung. Vorgestern feierte sie ihren 74. (73 Jahre alt) Geburtstag, zu dem ich ihr einen guten Kuchen von Helene mitgebracht hatte. Papa Reitmeister dagegen ist, natürlich nur Hersels wegen, in fortgesetzter Aufregung. Vorletzte Wochen widersprach er allen meinen Ratschlägen, seine Vorräte vor der gewißlich zu erwartenden britischen Einquartierung wegzuräumen, am letzten Donnerstag, als ich mit ihm nach Hersel ging, waren bereits geräumt: das gesamte Lager, da im Packraum schon eine warme Duscheinrichtung, vulgo Ortsbadestube eingerichtet war. Der Hof steht voll Fahrzeuge einer Maschinengewehrkompanie, im rechten Schreinereiraum befinden sich Waffen und Munition unter Verschluß, die mechanische Schreinerei wird Quartierraum, desgleichen die oberen Fabrikräume, in denen Bettstellagen für 50 Mann eingebaut werden sollen. Im alten Dampfkesselraum ist ein Depot von prächtigen Packsätteln, die Gartenwiese ist unterminiert: Kleiderentlausungsanstalt. Alle Tore und Türen stets offen. Was das für Papa heißen will, kann nur der verstehen, der ihn seit Jahrzehnten genau kennt. Es soll mich nicht wundern, wenn er es schließlich nicht mehr erträgt. Willi ist mit Siegburger Arbeiter dort gewesen und Frida hilft mit englischen Sprachkenntnissen. 2 dort einquartierte Offiziere verhalten sich recht angenehm. Bei Wielers haben sie Messe. Durch Bärtel Faßbender hoffe ich Rhabarberstecklinge von Bergheim oder Mondorf zu bekommen. –
Einen bunten Tag voller Eindrücke und Erlebnisse brachte mir der letzte Freitag (21., Mamas Geburtstag). Ich fuhr ½ 9 nach Ahrweiler, wurde in Rolandseck von amerikanischer Besatzung wegen einer Datumsänderung auf meinem Reisepaß als vermeintlicher Paßfälscher aus dem Zuge geholt und angehalten und sah mich im Geiste bereits unter Eskorte nach Mehlem gebracht. Mit meinem gelinden Englisch brachte ich die Leute

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nachher im Wartesaal zur Ansicht, daß ich nichts am Paß geändert hatte und sie gaben mir dies sogar schriftlich. Leider war damit der Zug weg und damit auch die Möglichkeit, den Vernehmungstermin in Ahrweiler rechtzeitig wahrzunehmen. Ich war bei allem über meine eigene Ruhe erstaunt. Der beanstandende Sergeant begleitete mich noch zum Postamt, wo ich telefonieren konnte. Dann fand ich Gelegenheit zu einem herrlichen Fußmarsch nach Mehlem, wo ich Tante Sophie (Brügelmann, Sophie) zu besuchen gedachte. Es konnte einen schon mit bitterer Wut erfüllen, wenn man die altbekannten großen Gasthäuser mit ihren Rheingärten voll amerikanischer Soldaten sah, die sich allenthalben recht zwanglos herumlümmeln, die Straße voller Kraft- und Pferdefahrzeuge. . .   Eine klare regenfeuchte Luft ließ vor weichem hellgrauem Wolkenhimmel die Berge in satten Tönen gewaltig nah sich hintereinander auftürmen, der Rhein ging hoch, allenthalben zeigen die fahlen Baumbestände der Ufersäume ein Knospen des Vorfrühlings, die Vögel lärmen und alles atmet die würzige Luft unseres herrlichen Stromes im Rahmen seines schönsten Bildes stromauf, stromab, verfl– ja, daß wir diese grünlichbräunlichen gelben Läuse in der Landschaft haben müssen. Unterwegs war mit einmal „Amerika“ zu Ende und es begann England. Wieder beargwöhnte die Wache, die halbenwegs nach Mehlem an der Straße stand, den Paß und ließ mich aber doch bald meines Weges ziehen. Der Besuch wurde im Hause der Witwe Le Brun, das sich bald fand, sehr freundlich aufgenommen. Tante Sophie, kürzlich 74 geworden, ist ein kleines fast taubes greises Bündel mit wachsgelben mageren Händchen geworden, im Gesicht und Geist aber noch frisch. Im Gedanken an ihre Schwester Helene, unsere herzensgute Schwiegermutter, wurde ich mit Essen vollgestopft und trat die Weiterreise an, nachdem ich noch Frau Le Brun im Gartenkostüm kennen gelernt und ihren Garten flüchtig bewundert hatte. Diesmal gelang die Durchfahrt durch die Paßenge und in Ahrweiler holte mich am Bahnhof bereits ein sehr netter Referendar Spichs (aus Saarlouis) und der Wagen der Ehrenwall’schen Anstalt ab. Es stellte sich heraus, daß besagter Referendarius ein Bekannter von Weinz in Berncastel war und von diesem auch zum Berkastler Landratsamtsverwaltung eingeladen worden war. In der Anstalt begrüßte mich der Chef und Eigner, ein kleiner freundlicher Greis mit wallendem Barte und geradezu auffälliger Freundlichkeit und stellte mir seinen Schwiegersohn, ein Dr. Marx vor. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl bei dem allem, wie wohl man sich höchst korrekt und höflich, mir wohl etwas zu höflich,

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benahm. Über das arme Menschenskind, ein greises altes Frl. Scheib von Gut Hospelt bei Münstereifel, die ich entmündigen soll aber vermutlich nicht werde, lieber ein anderes Mal ausführlich. Ihre Vernehmung gab mir jedenfalls die Gewißheit, nicht vergeblich dorthin gegangen zu sein. – ½ 3 besuchte ich Frau Röder, geb. Harzheim, die Tochter einer Base meines Vaters. Sie freute sich sehr darüber, zeigte mir ihr ganzes, sehr praktisch gebautes und wohlversehenes kleines Haus, bewirtete mich mit Kaffee u.s.w., ja gab mir sogar eine gute Flasche Ahrwein mit, als ich solchen nicht trinken wollte. Ich freute mich ordentlich darüber, daß die amerikanischen Paßmänner auch zu diesem Besuch Gelegenheit gegeben hatten, denn bei rechtzeitiger Vernehmung wäre ich alsbald wieder heimgefahren. Vater Röder, der ja nach Bernkastel versetzt ist, dort aber einige 200 - 230 Amerikaner in seiner Wein- und Obstbaumschule hat, war leider nicht da. 4 prächtige Kinder sorgen für Nachwuchs. Ich kann verstehen, daß es ihm schwer wird, aus dem eigengebauten Hause in diesem entzückenden Erdenwinkel vor den Toren Walporzheims bei Ahrweiler wegzuziehen. Ein windiger, reich mit glänzend weißen Wolken befahrener Himmel spannte sich über dem fast geschlossenen Rund der scharf charakteristischen in rebenbestandenen Terrassen abfallenden Ahrberge, nach Osten übersäumt von den Kämmen rechtsrheinischer Höhenzüge und der Landskrone. Die silbrige Sonne übergoß alles mit blendendem Licht, die Straße schnurrte voller Auto, Räder und Motorfahrzeuge, Züge von Soldaten und Kolonnen marschierten über das hellglänzende Kleinpflaster, dazu die windbewegte zitternde Luft, ein Bild so voller Leben und Bewegung, daß ich stets zum Fenster hinausgucken mußte. Später brachte die Eisenbahnfahrt im (auch vor) sehr stark und dicht besetzten Abteil etwas Ruhe nach all der Augenweide. In Remagen benutzte ich eine reichliche Stunde Aufenthalt zu einem Rheinbummel, bei dem der Anblick der allenthalben auch dort in großen Gasthöfen und Terrassen herumflegelnden Amerikaner und eines sternenbannergeflaggten Dampfers der Köln - Mülheimer - Gesellschaft einem ernstlich den Genuß an dem reichen Landschaftsbild beeinträchtigte. Die Erpelerley stand im beginnenden Abenddüster herrlich in finsterer Pracht dort, ordentlich drohend gegen Westen und die Linien der großzügigen neuen Sinziger Brücke schaden der Landschaft nicht, geben ihr vielmehr eine famose Führung auf den Leykopf zu und werden ein unvergeßliches Andenken an den großen verlorenen Weltkrieg bilden, der diese Brücke dorthin

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spannte und damit ein schöneres und sachlicheres Denkmal setzte, als wenn oben irgendeine mißglückte Bismarcksdenkmalsanlage die Berglinie zerstörte. –
Im überfüllten, gänzlich dunklen Zug hielten eine Reihe einsichtiger Männer eine sehr anregende Unterhaltung, bei der sie allerlei Ursachen unseres Zusammenbruchs mit Ruhe und Sachkunde behandelten. Verschiedene waren im Felde gewesen. Das Toben der Spartakiden betrachteten alle als Wahnsinn. Unserer Aushungerung gaben sie am Ende mit rechtem Widerwillen aber ohne sonderlichen Widerspruch mit die Hauptschuld. Ich stand und hörte so angeregt zu, ohne selbst zu reden, daß ich in Bonn fast nicht ausgestiegen wäre. Auffällig war mir auch hier, daß solche vernünftig denkende, scharf sehende und urteilende Menschen nicht mal dazu kommen, über die Größe und Gewalt jener Gedankenwelt nachzudenken, die wir heute unter dem Namen Bolschewismus, Spartakismus u.s.w. zusammenzufassen belieben und die die unterste Volksschicht doch scheinbar mit einer ehernen Gewalt eines völlig unabwendbaren Naturereignisses nach Westen, alles versengend, auf ihrem Wege. Jetzt ist sie dicht am Rhein angekommen, noch schützt uns hier auf der linken Rheinseite die feindliche Besatzung. Diese mag  noch so stark und noch so gut diszipliniert sein, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie diese unzweifelhaft geistige Bewegung innehalten oder gar zurückdrängen kann. In Frankreich scheint mir schon die einer Lawine vorhergehende plötzliche Veränderung des Luftdrucks bemerkbar zu werden. Auf den Ministerpräsidenten Clemenceau hat man geschossen; er war nicht tot, ist aber anscheinend schwer verletzt. (Eisner, der alte Hansnarr der bairischen Republik war gleich tot). Was die nächsten 2 - 3 Jahre uns bringen werden, kann nur schlimmer sein, jene geistige Volksbewegung wird noch lange toben und weiter sich wälzen, auch nach England und Amerika, und bleibt die gelbe Race von ihr verschont, so giebt ihr das vielleicht ein Übergewicht bei der späteren Abrechnung (NB: Daß nach dem neuen amerikanischen Flottenprogramm diese sich eine Flotte bauen wird, die stärker ist als die beiden von England und Frankreich zusammen, ist erbaulich!). Schließlich könnte uns hier eine bolschewistisch infizierte feindliche Besatzung im Verein mit unseren eigenen Bolschewisten noch das Tollste vom Tollen liefern. Wer weiß, was

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noch kommt?! Jedenfalls ist diese, dem besitzenden Gebildeten und Ungebildeten als Wahnsinn erscheinende geistige Bewegung lange nicht zum Abschluß gekommen und vermutlich muß vieles wieder neu aufgebaut werden, worüber diese Flut ihr Geröll gedeckt haben wird. Ich mag mir aber denken, daß die von ihrer „Wahrheit“ ergriffenen darin eine neue und fast religiöse Offenbarung erblicken, die sie zu den höchsten Leistungen und rücksichtslosen Opfern zu begeistern vermag. Leider sehe ich für mich keine Möglichkeit, mich in solchen Gedankengang zu versetzen. Vielleicht sehen wir heute auch an dem Ganzen lediglich das Zertrümmernde, mit dem nun mal alle große Strömungen behaftet zu sein scheinen, und es giebt vielleicht doch noch Keime oder Ansätze zu irgend etwas Gestaltbarem darin. Wer die Schwere der Zeit übersteht, wird noch manches zu sehen und zu hören bekommen. –
Zu Hause aß ich dann mit meiner Mutter, die nachmittags mit Josef, dessen Frau und Anita ihren Geburtstag mit reichlichem Kaffee gefeiert hatte, ziemlich früh zu Abend, sprach noch mit Vater Reitmeister, der zur Beglückwünschung vorsprach und ging dann bis 9 Uhr zu Walter Gerhardt hinüber, wo ich mich mit ihm, seiner Frau und einer recht einsichtigen Dame Meisenbach sehr angeregt unterhielt, auch einige beachtenswerte Winke über die Ehrenwall’sche Anstalt bekam u.s.w. Wir sprachen von seltsamen Menschenschicksalen und Walter erzählte eine Geschichte eines Kriegskameraden von ihm, deren Spannungen sie selbst miterlebt hatten: Ein junger Sohn eines reichen Aachener Fabrikanten ist vom vorsorglichen und um die Versorgung seiner Kinder ängstlich bedachten Vater mit der Tochter einer anderen Familie verlobt. Der junge Mann, reichlich willensschwach, ist hiermit einverstanden; in dem Mädchen hat sich so etwas wie eine Neigung für ihn entwickelt. Er wird im Kriege verwundet, erhält einen Erholungsposten und kommt dazu, Kriegstrauung zu halten. (in Hönningen?) Hierzu ist die Braut da, Gäste sind versammelt, Essen im Gasthof vorbereitet, kurz alles fertig, als eine Depesche seines Vaters eintrifft, der ihm anbefiehlt, von der Kriegstrauung abzustehen und die Sache aufzuschieben. Allgemeines Tableau. Energisches Zureden auf den Bräutigam, die Trauung sofort zu vollziehen, alsdann vom Postamt dem Vater durch Fernruf mitzuteilen, seine Depesche sei zu spät gekommen u.s.w. Der Bräutigam tut nichts von alledem, geht schließlich einfach weg und überläßt Braut und Gäste seinen Freunden. Die Braut fährt auch nicht etwa entrüstet heim, sondern bleibt auch dort und pflegt späterhin den Bräutigam, nachdem dieser einen Rückfall seiner Nachwehen eines Lungenschusses erlebt hat. Sie hängt an ihm, ob ihr eigener Vater geschäftliche Verluste erlitten, bleibt unklar. Schließlich löst sich die Sache. Das Mädchen heiratet einen anderen und der Exbräutigam überrascht seine Freunde durch die Mitteilung, er werde

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bei dem neuen Paar Hausfreund werden. Dabei war das Mädchen hübsch und ansprechend, er dagegen durchaus nicht. –
Abends war meine Mutter noch wach im Bett, und da ich im Zimmer nebenan schlief, unterhielten wir uns fast noch bis Mitternacht über alles mögliche. Ich hatte der Schwägerin Lisbeth (Rech, Elisabeth geb. Frings, Witwe von Christian Rech) in Olsdorf geschrieben, ich wollte zur Nachlaßregulierung von Ohm zu ihr kommen, sie schrieb mir ab in einem schön abgeschriebenen, augenscheinlich von fremder Hand sehr höflich aber mit allerlei Verwechslungen zwischen mir und Bruder Josef aufgesetzten Fehdebriefe, in dem sie ankündigt, sie werde durch einen Vertreter verhandeln. Da für uns ganz offensichtlich ist, daß ihr Hauslehrer Lessenich und dessen Familie, vermutlich auch der Vater dahintersteckt und gleiche Einmischungen Dritter in unsere Familienangelegenheiten bei nächster Gelegenheit wieder zu erwarten sind, so schrieb Mama sogleich eine letztwillige Verfügung, die dergleichen nach Möglichkeit ausschließen soll. Mama erzählte mir u. a., daß mein verstorbener Vater ihr im Jahre 1900, als Bruder Christian seine unglückliche Heirat schloß, diesen Traum erzählte: „Ich sah, wie Ohm in ein Krankenhaus ging, er war nicht lange drin, so starb er.“ Nach 18 Jahren geschah dem so. Mama aber hatte seit jener Traumerzählung oft die Vorstellung, sie sähe Ohm mit einem in ein rotes Sacktuch zusammengeknotenen Bündelchen ins Johannishospital in Bonn wandern. – Auch spaßige Geschichten wurden erzählt und herzlich gelacht dabei. Erst nach Mitternacht schlief ich ein.
Am anderen Morgen hatte ich das dringende Bedürfnis, bald nach Hause zu reisen und gab – es regnete zudem heftig, meinen Plan einer Kölner Reise auf. Mit Mama hielt ich nochmals ein recht ausgiebiges Frühstück und fuhr dann 924 nach Rheinbach zurück, wo ich Mariannchen an Husten und Grippe krank im Bettchen vorfand. Sie hatte schon andauernd nach mir gefragt und war froh, mich wiederzusehen. Helene hatte mancherlei Arbeit gehabt. Anderen Tages war der anscheinend gewaltige Gerichtsaktenhaufen bald abgearbeitet und jetzt wäre alles wieder im eingefahrenen Geleise, wäre nur erst das seit Wochenfrist angestellte Kinderfräulein aus M’Gladbach hier. –
12. März 1919. Es liegen einige unruhige Wochen hinter uns. Der Wegzug unserer Nachbarsleute Opificius traf sich höchst unglücklich mit einem schmerzhaften Muskelrheuma, das Helene heftig angriff, das Dienstmädchen hatte eine leichte Magenblutung mit heftigen Beschwerden, das Frl. Herde blieb wegen Grippeerkrankung aus, dazu mitunter 3 - 4 Personen mehr zu Tisch, eine Schwester von Frau Opificius zum Übernachten, dazwischen die Unruhe der ewig und überall Abschied nehmenden Familie, die schließlich ganz erschöpft von alledem war, kurz es war wenig schön. Montag vor 8 Tagen war der Umschlag, „Opi’s“ reisten nachmittags weg, abends kam unser neu angeworbenes Fräulein aus M’Gladbach, Helene verlor das Rheuma und Gretchen wurde wieder arbeitsfähig. Ich hatte in jenen Tag früh morgens schon lustig zu hüpfen, um Herta zeitig ins „Garnatt“ (?) zu bringen. Ende der Woche benutzte ich dafür

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eine gerichtliche Vorladung zu Ohms Testamentseröffnung, um einen längeren Abstecher nach Bonn und Cöln zu machen. In Bonn gabs eine Besprechung mit Dr. Haase, Lisbeths (Rech, Elisabeth) verständigem Anwalt. Abends war ich kurz bei Gerhardt, denen ich 30 Pfd. Kartoffeln mitgebracht hatte. Da wir nächsten Sonntag der Bahnsperre wegen nicht zu Papas Geburtstag (74 Jahre alt) fahren konnten, so hatte ich schon Geschenke: Honigkuchen, Glas Honig und einige Äpfel, alles eigenes Gewächs, mitgenommen. Am 6.3., einem regnerischen bedeckten Tage hatte ich eine Fülle der mannigfachsten Eindrücke im alten hilligen Köln, das sich jetzt stolz wieder mit einem K schreibt. –
13.3.19. Erst heute komme ich zum Weiterschreiben. – Unter einem grauen feuchten Himmel war in Cöln die Stadt in lebhafter Bewegung. In mancherlei Geschäften sah ich Waren, leider keine Lebensmittel. Fische soll es neuerdings dort geben, ich habe nichts gesehen davon. Man spricht von 2,30 - 3,00 M das Pfund. Ich erkundigte mich nach Stoffen, für angebliches Friedenstuch, leichte Ware, wollte man 60 M, für Kriegserzeugnis mit Kunstwolle 40 M für 1 m haben. In der Mühlengasse hörte ich, daß aus Elsaß geringe Posten Baumwollgewebe kämen, vermutlich alte Ladenhüter, die die Franzosen dort hinüber einschöben. Gleichwohl habe diese geringe Einfuhr den Kurs der Mark sofort um 50 % geworfen. Die Mühlengasse selbst erwartet Stoffe aus Holland, Holländische Ausfuhr- und hiesige englische Einfuhrerlaubnis liegt bereits vor, fehlt noch die Ausfuhrerlaubnis der NOT (Nederlandsche Oversee Trust = britische Kontrollbehörde in Holland!) Ich hoffe also mit auf diese für einen Sommeranzug, den ich nötig habe. Gegen Mittag traf ich in der Mühlengasse fast sämtliche Kölner Vettern an, u. a. finden sie es derzeit sehr beneidenswert, daß mein Schwiegervater Reitmeister noch Landbesitz hat. Sie möchten sich auch wohl ein anständiges Bauerngut kaufen! – Ja, das Interesse an der Landwirtschaft wird wohl selbst dem Großstädter noch für einige Zeit erhalten bleiben. Nachmittags besuchte ich Onkel Albert Brügelmann, der außer Brot- ect. marken jetzt auch mannigfache Formulare für die Briten druckt und daher reichliche Beschäftigung hat. Ich fürchte, er wird solche wohl noch dauernd haben. – Auf der Rückfahrt schlenkerte das letzte Abteil der Rheinuferbahn derart, daß es mir mordsübel wurde und ich nur durch die Hilfe einer Dame mit Kölnisch Wasser und Fensteröffnung vor dem Schlimmsten in dem engbesetzten Wagen bewahrt blieb. Es ist fast unglaublich, wie überfüllt diese Züge stets sind. Auf der Staatsbahn ist das Reisen nun seit 2 Tagen wieder freigegeben, ohne daß aber wieder die frühere Anzahl Züge fährt. Was das aber erst eine Bedrängnis geben wird! Dabei fährt ein den Offizieren reservierter Wagen II. Klasse fast stets völlig leer. Wie sagte kürzlich unser Bürgermeister Commesmann?: „Das Reisen ist heute eine Qual und eine Demütigung!“ Sehr richtig. Mich hats gleichwohl nicht abgehalten, am Montag den 10. ds. gelegentlich eines Ortsbesichtigungstermins in Stotzheim noch einen tüchtigen Hamstermarsch von dort über Cuchenheim nach Klein- und Großbüllesheim zu machen, der sich sehr lohnte und

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als ich 5 ¾ in Cuchenheim mit schwerbepacktem Rucksack die Bahn wiedererreichte, fand ich sogar eine bequeme Leere im Zuge. Eine wahre Erquickung! Aber wie sieht heute solch ein Wagen aus! Wohin sind unsere sauberen Abteile III. Klasse? Die Türfüllung innen eingetreten, die Ersatzfensterriemen abgeschnitten, die Gepäcknetze zerrissen oder die Halteschnüre selbst aus Papiergarn gestohlen, alles verdreckt, gottlob durchweg die Scheiben noch erhalten. – Am vergangenen Freitagnachmittag fuhr ich von Bonn heim und überwand die Reiseschwierigkeit spielend durch eine ausgezeichnete Unterhaltung mit dem katholischen Religionslehrer Fischer vom hiesigen Gymnasium, der sich als ein kunsthistorisch und anscheinend auch künstlerisch geschulter Mann zu meiner großen Freude entpuppte. Dergleichen Gespräche sind heute erquicklich wie eine Oase in dürrer Wüste. Desgleichen freut man sich bewegten Herzens an schönen Frühlingstagen, wie wir jetzt eben deren 2 hatten mit blendend blauem Himmel, glänzenden Wolken und in feuchter Bläue und dunkelfarbiger Fernsicht erschimmernden Bergketten des Siebengebirges. Welche Freude und Hoffnung an den heimatlichen Boden! Man hat solche wirklich nötig, will man sich nicht völlig an den Boden drücken lassen. Auf der einen Seite die geradezu wüsten kommunistischen Gewalt- und Greuelszenen in Berlin und anderer Großstädten, – wie mag es bei Bruder Johannes in Halle aussehen? – gegen die wir uns hier im besetzten Gebiet bei aller Plackerei mit den Besatzungstruppen immerhin doch noch vorab recht geschützt fühlen. Auf der anderen Seite die langsam bekannt werdenden Bedingungen des angeblich in den nächsten 6 Wochen abzuschließenden Friedens, bei dem die Feinde drohen, seine Erfüllung durch die Besetzung der Rheinlande – nicht etwa durch Vormarsch ins Innere Deutschland – zu erpressen. War man früher auf 3 - 5 Jahre Besatzung hier gefaßt, so reden jetzt die Feinde von – 10 Jahren! Freilich wachsen auch bei ihnen die Bäume nicht in den Himmel, die älteren Jahrgänge wollen bei ihnen auch nicht mehr bei der Fahne bleiben, diese werden andauernd durch ganz junge Kerlchen ersetzt, die naturgemäß allen bolschewistischen Einflüsterungen am ersten unterliegen. Sollte es schließlich einmal soweit kommen, daß diese sich mit unseren Kommunisten, Arbeitern und dem Straßenpöbel zu gemeinsamem Aufruhr vereinigten, dann würden wir gerade am Rhein Sachen erleben, gegen die alle Vorkommnisse in Berlin und sonst im Reich ein Kinderspiel sein würden.
14.3. Schließlich muß einen der Gedanke trösten, daß es dem Deutschen gar nicht schlecht genug ergehen kann, soll er alle Fähigkeiten zeigen, die er wirklich hat. Hoffen wir daher stets immer noch das Beste und lassen uns durch die wüste Gegenwart nicht beirren, die überall fast nur Trümmer aufweist. – Jetzt heißt es hier, am 26. oder 28. ds. würde unsere hiesige Besatzung abziehen, vermutlich um einer neuen, ebenso starken Platz zu machen. Optimisten hoffen auf eine schwächere. Riesige Geschütze krochen die letzten Tage hier über die Straßen, von schnaubenden und rasselnden Ungetümen gezogen, die anstatt Räder große laufende Schaufelgliedbänder an der Seite hatten. Im Garten wird jetzt fleißig gearbeitet in der leuchtenden Frühjahrssonne mit Ausblicken allenthalben

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weit ins Land hinein. Das füllt einen mit zuversichtlicheren Gedanken, mögen noch so viele neugierige britan Tommys draußen ihre Köpfe zwischen den Gartenzaun stecken. Von den 4 Bienenvölkern scheint eins leider sehr gefährdet, wenn nicht schon verloren. Am Bienenhaus soll kommende Woche zu bauen begonnen werden. – So eifrig ich jetzt die Zeitung erwarte, so widerwärtig ist mir ihre Lektüre und mit ängstlicher Spannung verfolge ich alles, was sich auf die rheinische oder westliche Republik bezieht. Weiß der Teufel, wie es damit ausgeht. Solange wir fest zu Preußen gehörten, pflegte ich stets den Rheinländer in mir zu betonen und erinnerte mich mit Vergnügen, wie schon mein Großvater (1848 Ortsvorsteher in Alfter, der die Alfterer auf dem Weg nach Bonn, um dieses zu stürmen, in Dransdorf wieder umbekam, sich nicht gerade entrüstet, so doch nicht ohne Bedenken gegen die Verse aussprach:
„Freiheit und Republik!  Wären wir doch die Preußen quick!“
Heute, da mir der Zusammenhalt mit Preußen bedroht erscheint, trage ich ein sonderliches Verlangen, mich am Alten Fritz und den Freiheitskriegen zu erbauen, lese Goethes Hermann und Dorothea wohl zum erstenmal mit vollem Verständnis des düsteren geschichtlichen Hintergrundes (aus Elsaß-Lothringen werden 30 Jahre dort ansässige Leute von den Franzosen in brutalster Weise hinausgeworfen, wobei sie 30 K Fahrhabe mitnehmen können!) Stets neuen Genuß und Erbauung finde ich in Schriften der François, in der sich preußische Kraft in anmutender und erquicklicher Form dartut. Und gerade Preußen will man im inneren und äußeren jetzt zerstückeln! Hols der Teufel! – Selbst die geistigen Ausspannungen führen einen täglich und stündlich immer wieder auf den wie rasenden, stets rotierenden Gedankengang zurück: „Wie soll das alles werden?“ Fast jeder, bin ich überzeugt, denkt so oder ähnlich. Selbst durch die Träume nachts spinnt es sich fort, wiewohl ich gottlob einen gesunden Schlaf habe. Dazu aber auch eine gehörige Dosis Faulheit oder Arbeitsunlust. Nicht im Beruf, meine richterlichen Geschäfte erledige ich mit einer Art Gier; aber außer ihnen sonst etwas ersprießliches, halbwegs geistiges zu tun, ist mir zuwider; und zu diesen Aufzeichnungen muß ich mich gelegentlich mit aller Gewalt zwingen. Immer wieder kommen tausend Gründchen, sie aufzuschieben; und obwohl ich vieles teils fertig, teils unfertig im Schädel wälze, kann ich mich nur mit äußerstem Widerstreben zur Niederschrift zwingen. Dabei könnte ich stets und reichlich essen, und spreche unserer recht einfachen, aber hier gottlob stets mehr als ausreichenden Nahrung recht kräftig zu. Meist schlafe ich nach Tisch von 2 - 4, was mich nicht hindert, vom 10 Uhr abends bis 7 Uhr morgens ein Gleiches zu tun. Dieser stark vegetativer Zustand muß wohl nicht nur mit der Jahreszeit, sondern mit der ganzen politischen und wirtschaftlichen Atmosphäre zusammenhängen, und ich ertappe mich selbst

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schon auf dem Gedanken, es müsse ein wohliger Zustand sein, die nächsten 3 Jahre einfach zu – verschlafen! – So, dies hätte ich mir mal von der Seele gebürstet. Es sitzt noch mancher Staub darauf und ich will sehen, ihn energisch abzuklopfen.
Daß z. Zt. in Belgien geschossen wird, ist mal sicher. Verwundete kommen daher, das steht fest. Eben um 9 ½ Uhr abends hören wir die Briten an ihrem Vorratsschuppen hämmern, sie scheinen sie schon abzubrechen.
16.3.1919. Mariannchens überzeugtes Abendgebet „Liebe Sonne, scheine morgen!“ hat plötzlich seine Kraft verloren: Statt eines warmen und sonnigen Frühlingstages haben wir einen staubigen und schneidendkalten Wintermorgen, trübverhangener bleigrauer Himmel mit kalter Schneeluft und leichtem Dunst. Darin beobachtete ich soeben 10 ½ vormittags einen 17wagigen, sehr langen englischen Lazarettzug zu Tal dampfen. Ist da alles in Ordnung? Anscheinend nicht, denn dergleichen Züge kommen allzu oft von Westen her. – Eine rechte Unbehaglichkeit innen und außen. –

Der Rheinbacher Kastengeist
Vor Tisch erledigten wir noch einige Besuche, bei welchen mal wieder der von uns so oft schon als besonders angenehm empfundene Kastengeist sich ordentlich ins Fäustchen lachte. Jener Kastengeist aber, der zur Sorte der kleinen bald wohltätigen und erfreulich wirkenden, bald bösartiger Kobolde gehört, hat uns schon derart viele angenehme Streiche gespielt, daß er schon mal eine besondere Darstellung verdiente. Von seinem Dasein und seinem Treiben hier in Rheinbach hörten wir zuerst aus einem Briefe meines früheren Sekretärs Brinckmann, in dem dieser uns seine Erlebnisse bzw. das schilderte, was sein College Wunder, der partout von Rheinbach fortwollte, ihm aufgebunden und der gute Br. alles für bare Münze genommen hatte. Da hieß es denn: „In Rheinbach herrscht der Kastengeist.“
Kaum waren wir hier, als namentlich Helene dies außerordentlich angenehm zu spüren bekam. Sie konnte sich noch gar keinen rechten Vers darauf machen, wie es kam, daß wir in Berncastel selbst gegen ersparte Brotmarken und gute Worte kein Mehl zu kriegen wußten, während hier plötzlich der Bäcker „für die Frau Amtsrichter“ nicht nur mitunter 1 - 2 Brote außer der Karte sondern auch sogar 1 - 2 Pfd. Mehl und gegen mäßige Bezahlung übrig hatte. Der Metzger konnte zwar rein gar nichts liefern und doch waren die kleinen Fleischrationen für je die Hälfte der Fleischkarten – diese waren durch eine eigene Folge von Ereignissen auf zwei Metzger verteilt worden – beide jeweils viel größer als in Berncastel, und dergleichen mehr. Ich erkannte darin bald das wohlgesinnte Verhalten jenen launenhaften Elementargeistes und seitdem sehen wir allenthalben fast täglich die Spuren seiner neckischen Tätigkeit. Rückzug, schmachvollster Waffenstillstand, Revolution und britische Besatzung lassen ihn augenscheinlich ganz kalt und selbst gegen den bacillus bolschewisticus, der ihn, sollte man glauben, zu Tode vergiften müßte, scheint er hier in der Rheinbacher Luft völlig immun zu sein. Nicht so sehr die Größe des Geldbeutels als vielmehr die Kastenzugehörigkeit bedingt anscheinend sein wohlwollendes Verhalten. In Berncastel war selbst von einer mittleren Näherin kaum etwas gemacht zu bekommen; hier ist die erste sofort bereit. Der

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Kunstschreiner Müllenbruck, bei dem ich gestern wegen Holz zur Bekleidung des Bienenhauses vorsprach, war wider mein Erwarten gleich zur Lieferung bereit, wiewohl es noch nicht so lange her ist, daß er in einer Gerichtsverhandlung von mir „vergewaltigt“ zu sein behauptete. Bei diesem ebenso tüchtigen wie eigensinnigen Kunsthandwerker hat mich das Walten des Kastengeistes doppelt überrascht. Beim Molkereidirektor, besser gesagt seiner Frau, tobte jener Kobold noch toller. Schon vor Monaten war mir etwas Butterlieferung in Aussicht gestellt, ich war damals noch zu bescheiden und bemühte mich nicht sonderlich darum. Der Hauskobold nahm dies nicht mal übel, sorgte dafür, daß neulich bei der bloßen Voranzeige von mir, wir wollten dort auch Besuch machen und seien bisher nicht dazu gekommen, gab schon ein Stück jenes jetzt so raren Fettes, und heute bei der endlichen Ausführung gleich nochmals und ein Stück Käse obendrein. Also sorgt jener Geist für Brot, Mehl, Kleidung, Butter, Käse und wer weiß was noch da kommen mag. Nb. Mist nicht zu vergessen: Zunächst besorgten uns Wipperfürths (der Alte, ehedem Schuster, jetzt Bauer, der einmal sich dahin geäußert hatte, er könne so ein Scharfrichter werden, führt seitdem den zu seinem gutmütigen Charakter und struppigen Aussehen in drolligem Gegensatz stehenden Spitznamen „der Scharfrichter“) W’s als hatten uns die erste Fuhre guten Kuhmist nachgewiesen, und Fuss, der Knecht von Lehrer Schäfer (bei ihm und seiner netten alten Schwester hat der Kobold auch gut für uns gewirkt! – er spendet hier täglich nicht nur auf Krankenschein sondern auch drüber gute Milch.) besagter Fuss also brachte solchen im Herbst heran; jetzt im Frühjahr schon das II. Mal je eine große Fuhre englischen Pferdedünger (o. L. M. s.!) vom Landwirt aD und Rentner Johann Schorn in der Weiherstraße. Selbst die Landwirte Schragen, unsere nächsten bäuerlichen Nachbarn, die sonst im Geruche stehen, ihre Erzeugnisse zur Stadt gegen gehörige Preise zu liefern, scheinen den Einflüsterungen des neckischen Geistes zu unterliegen. Denn sehr zeitig wurde die fast morgengroße Parzelle vor meiner Wohnung, die wohl auch nicht ohne des Kastengeistes wohlwollende Mitwirkung auf den ersten Anhieb zur gemeinschaftlichen Bewirtschaftung mit Rentmeister Königsfeld zu haben war, zeitig wurde sie umgepflügt und das Vergnügen mit 10 M mäßig bereichnet. Auch schon Beziehungen dort für Abfuhr und Kleinsägen von Scheitholz auf der Kreissäge, desgleichen Anfuhr von Dünger angeknüpft. (Wie weit dabei ein derzeit schwebender Prozeß zweier „Döppesbäcker“ mitspielt, ist unentschieden.) Vorgestern lernte ich einen Bonner Landsmann näher kennen, der es hier mit einer Strohhülsen und Häckselfabrik anscheinend zu ansehnlicher Wohlhabenheit gebracht hat. Reinartz. Seine Fabrik ist derzeit ein einziges riesiges britisches Pferdedepot, der Betrieb liegt still, und die gut gefütterten Rösser demolieren Böden, Wände und sonstiges, die zahlreichen Mannschaften schonen auch die Maschinen nicht. Täglich giebts dort eine Karre Pferdemist und da die sehr hungrige Feldparzelle solchen dringend benötigt, so habe ich jetzt Aussicht, dort einige 8 Karren zu bekommen. Reinartz wird sein Bestes tun. Mit seinem Nachbar Schadt (einem gleichfalls hier zu Wohlstand gediehenen Cölner, der anscheinend die im Töpfergewerbe hier ruhende hohe Gewinnmöglichkeit kaufmännisch ausgenutzt hat) hat er einen Prozeß glänzend gewonnen, und das mag ihm neben der Bonner Landsmannschaft eine besonders gute Laune mir gegenüber eingegeben haben. Ganz ohne jenen Kobold geht es auch wohl bei ihm nicht her, denn die unbefangene Art des neuen Amtsrichters macht es ihm gegenüber dem reservierten Verhalten der älteren Herren Collegen

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ohnehin recht leicht, für uns sich zu rühren, und nicht ausgeschlossen, daß sich der früher fast ausschließlich aristokratische Hausgeist neuerdings auch ein demokratisches Mäntelchen nach neuester Mode hat zurechtschneidern lassen. Jedenfalls werde ich sein unsichtbares aber deutlich zu verfolgendes Treiben weiter mit Aufmerksamkeit beobachten und gelegentlich darüber wieder mal berichten.
30. März 1919. Seit einer Woche nichts wie Schneetreiben, hin und wieder etwas eisig kalten Regen. Am Mittwoch hatte ich verhältnismäßig Glück, fuhr morgens in der frühe nach Münstereifel, lernte in dem Bürgermeister Schumacher dort einen Altersgenossen von Bruder Christian (Rech, Christian) kennen (der mit manchen Mitschülern Christians in Bonn studiert hatte) besah mir erstmals flüchtig die Stiftskirche, besuchte das Katasteramt und erledigte mit Rechnungsrat Ruland die ½ Dutzend Gerichtstermine zwischen 7 ½ und 11 Uhr. In Euskirchen frühstückte ich mittags auf dem Bahnhof, war nach 1 mit dem Zug in Großbüllesheim. Ich hatte etlichen Wein mit und erbeutete auf diesem Pächterüberfall (ich hatte mich vorher auf diesen Tag angesagt) Butter, Eier, Mehl, Speck und Käse; Helene fuhr am gleichen Mittwoch nach Bonn und ist bis heute, Sonntagmittag, noch nicht zurück. Sie schrieb, daß Papa 60 Mann in Hersel bekommen hat, darunter leider auch 16 ins Haus. Hier sprach der Major-Sergeant Biggs vor, der zum Abmarsch an Arloff rüstet; einmal sollte seine 3te Brigade schon Freitag morgen dorthin, jetzt dauerts noch einige 5 Tage. So übermäßig fix zu klappen scheinen derartige Truppenverschiebungen bei den Engländern nicht. Die erste Division des 9. Armeekorps, mit deren Hauptquartier wir nun schon monatelang im Gericht gesegnet sind, wird mit 2 Divisionen nach Wesseling ect. an den Rhein (Stab auf Gut Eichholz), mit der 3ten nach Münstereifel gelegt. Diese sollen dann später untereinander abwechseln. Die Furcht der Engländer vor dem Bolschewismus ist nicht zu knapp. Zusehends tauchen stets jüngere Leute unter ihnen auf, manche scheinen noch nicht lange von der Schulbank weg zu sein. Gestern bekamen die Kinder von Mr. Biggs eine Tafel Schokolade und ich übersetzte ihm einen Brief an „Mama“ Opificius. – Durch das abscheuliche naßkalte Schnee- und Winterwetter komme ich am Bienenhaus nicht weiter, es steht vorläufig aufgestellt, im Hof, das Dach soll ihm erst noch verpäßt werden. Im Beamtenverein rührt es sich. Eins unserer Mitglieder, der Abgeordnete Busch, ist Unterstaatssekretär im preußischen Landwirtschaftsministerium geworden; jetzt haben wir die erste Tonne Heringe – mehr noch zur Probe – gekauft und heute vormittag soll mit hiesigen Kaufleuten über die Übernahme der Verteilung verhandelt werden. Gestern aßen wir 2 Pfd. Stockfisch à 2 M, kleine köstliche Fische und vorgestern kaufte ich 6 große Salzheringe je zu 0,90 M. Das ist doch endlich mal etwas. Auch hatten wir diese Woche mal Stockfisch, allerdings zu 2,70 M das Pfund gewässert. Die Kinder essen gar zu gerne Fische und mit Beschämung erinnere ich mich meiner kindlichen

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Torheit im gleichen Alter und noch viel später, mir diesen schönen Genuß selbst zu verbieten durch eigensinniges Nichtessenwollen. Seit 3 Tagen erwarten die Kinder nun täglich die Mutter zurück. Vermutlich hat sie an ihren Zähnen noch allerhand machen zu lassen und wird nicht fertig damit. – Heute morgen bekam ich seit langer Zeit mal wieder ein Lebenszeichen von Frl. Tholen, sie schreibt auf einer Karte, daß sie von einer Grippe ein klatriges Herz zurückbehalten hat. – Die Kohlen werden ganz unglaublich teuer und vermutlich ist das noch nicht das Ende. Auch mit den Steuern beginnt langsam die Traufe, jetzt 10 % aller Kapitalanten abzugeben. Die Beamten hingegen bekommen mehr, ich erhielt kürzlich 300 M als Vorschuß (ich glaube der erste Vorschuß meines Lebens!) auf die neue Zulage und alles in allem scheine ich an 900 M (vielleicht auch 1200 M) jährlich mehr zu bekommen. Wie das alles noch enden mag? Bei Onkel Dietrich wird heute mal wieder ein 40jähriges Jubiläum, diesmal des altbewährten Prokuristen Funckenhaus gefeiert, wobei eine Hotelküche das Essen für 32 Personen gleich fertig liefert. Ich sandte Glückwunschdepesche und gestern auch Brief mit einer „kernigen“ Ansprache an die Festversammelten. – Die Briten, deren Zufuhr in letzter Zeit auch hier ein wenig knapp geworden war, haben jetzt reichlich. Ein Sergeantenmessenkoch aus Kleinbüllesheim, mit dem ich Tauschgeschäft Wein gegen Käse, Margarine ect. verabredet hatte, ist leider bis dato ausgeblieben. Dafür aber gabs von Krögers, denen ich eine Flasche guten Wein für den kleinen erkrankten Sohn mitgebracht hatte, einen ordentlichen Happen Speck. „Sie könntens jetzt besser geben, weil sie durch die britische Küche allerhand mit hätten.“ Seit einer Woche ist auch Frau Direktor Trautmann wieder vom Sohn nach hier zurückgekommen, nachdem sie geradezu tolle Schwierigkeiten für ihren Rückreisepaß gehabt hatte. Immer und stets wurde er ihr verweigert, endlich erlangte sie mit vieler Mühe Zutritt zu einem General „Altmeyer“ (nomen est omen!) in Mainz, einem verbissenen Deutschenfresser, der angeblich sein Besitztum hinter unserer Front verwüstet vorfand, Frau und Kinder weg u.s.w. (letztere soll ihn als brutalen Gewaltmenschen unter kluger Benutzung dieser Gelegenheit verlassen haben) und der sich nun persönlich an den deutschen Barbaren dafür rächen will. Sein rohes Benehmen gegen Frau Trautmann ist kaum glaublich, er riß ihr in einer in gebrochenem Deutsch mit ihr geführten Verhandlung ihren Einreisepaß und ihren Personalausweis in Stücke und warf ihr diese vor die Füße. Sie konnte sich zum Schluß kaum aufrecht erhalten, wurde von einem Offizier hinausgeführt, der so menschlich war, sie zu beruhigen und – erhielt dann auf irgend einem Umweg nunmehr den ihr andauernd und schließlich noch in jener Gewaltszene ausdrücklich verweigerten Paß. Kindischer Haß! So etwas ist bei „unseren“

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Briten hier nicht gut denkbar. Nb. Auf Rheinbach scheinen viele der Alliierten einen besonderen Pick zu haben, der Name ist ihnen unangenehm bekannt durch die Strafanstalt hier, in der manche von ihnen im Krieg gebrummt haben. Vorbesagter General Altmeier soll sich jeden Truppenteil mit dem letzten Leutnant auf Grund hartnäckig geführter Nachforschungen festgestellt haben, die auf seinem Besitztum je gelegen haben. Ob er damit etwas erreichen wird? – Hier müssen der britischen Militärbehörde alle wehrfähigen Männer bezeichnet werden und diese werden demnächst vom Bezirkskommando Bonn einen ausführlichen Fragebogen zur Beantwortung bekommen. Zweck dieser Veranstaltung ist unbekannt. Liegt er in der Vergangenheit (Feststellung von Greueln ect.), Gegenwart (am Ende Kampf gegen Bolschewisten?) oder Zukunft (Staatsgestaltung der Rheinlande)?
31.3.19. Es giebt ernsthaft denkende Leute, die der Ansicht sind, daß die Gründung einer Westrepublik uns eine schnellere, ja sogar alsbaldige Befreiung des Rheinlandes von feindlicher Besatzung gebracht haben würde. Wenn diese sich nur nicht gewaltig täuschen, und vielleicht gerade das Gegenteil der Fall wäre z. B. auf einen Abmarsch erfolgten bolschewistische Unruhen hier und es bestände Gefahr, daß sie wie ein fressendes Feuer westwärts liefen, würde dann nicht alsbald wieder neue Besatzung einrücken und uns vielleicht viel schärfer bedrücken als die heutige? Würde sich dieses Spiel nicht für Jahrzehnte bei jedem beliebigen Anlaß wiederholen können, so daß wir in steter Sorge hierfür zu leben hätten? Von der sehr nahe liegenden Gefahr, der Schauplatz kriegerischer Verwicklungen, das Objekt von Angliederungsbestrebungen vom Westen und Osten und in jedem Fall stets der Dumme zu sein? Gegen welche Vorteile? –
Die Verhandlungen mit den Kaufleuten und den Kohlenhändlern gestern Vormittag vollzogen sich recht glatt. Die Heringe werden heute morgen bei Franz Scheben ausgezählt und er erhält 5 Pf. fürs Stück drauf. Vom Mittag ab sollen sie ausgegeben werden. Verba docent, exempla trahunt: Es sind auf den Heringsfischzug 2 sonst abseitsstehende Gymnasiallehrer sofort dem Verein und seiner Wirtschaftsabteilung beigetreten und haben das hierfür festgesetzte erhöhte Eintrittsgeld zu bezahlen. Allgemeine Heiterkeit ob dieser ergötzlichen und längst vorausgesehenen Tatsache. – Die Bauern stecken allenthalben voller Geld. Ihre Töchter haben daher, von der mangelhaften städtischen Verpflegung ganz abgesehen, vorab keine sonderliche Lust, als Dienstmägde auszugehen. So ist denn an solchen nach wie vor ein großer Mangel, trotz aller Fabrikeinstellungen u.s.w.
13. April 1919. Es geschah in den letzten Wochen soviel, daß ich kaum zur rechten Besinnung, geschweige zu Aufzeichnungen kam. Seit Donnerstag sind wir alle, die 12 - 45jährigen, gegen Typhus geimpft. Natürlich höchst mangelhafte Vorbereitung dazu hier und daher ein widerliches Volksgedränge an der Schule. Mit Schubs von je 50 Mann (je in 2 großen Autos) bringen die Engländer jetzt Gefängnisgefangene von Cöln hierher, ohne sich weiter um den Strafvollzug der von ihnen Bestraften zu kümmern. Ich hatte etliche Tage tüchtige

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Gartenarbeiter, Kleinbauern und Eisenbahnschaffner aus der Sieggegend, die anscheinend völlig unbeteiligt Zuschauer einer Rauferei mit englischen Soldaten waren, ob einer von den Briten einen Messerstich durch den Rock ins Notizbuch bekam. 2 Jahre Zwangsarbeit, umgewandelt in 2 Jahre Gefängnis. Ein Schaffner Kraus aus Sieglar, der mir fleißig Garten und Feld besorgte, entpuppte sich in der Unterhaltung als ein ernsthafter, ehrenhafter und glücklicher Mensch, der sich noch immer nicht darüber fassen kann, im Zuchthauskittel zu stecken. Mittwoch wird er entlassen und nimmt Mariannchens zu enge thüringer Holzschuhe für eins seiner Kinder mit. Der Mann wird mit seiner Familie ein frohes und innerlich gesegnetes Osterfest (Wiedersehen und Auferstehung) feiern. Er ist Kleinbauer, arbeitet auch als Bahnangstellter mit Verwandten in gemeinsamer Wirtschaft, hat ernsthafte Ansichten, liebt Frau und Kinder – in diesen geht er ganz auf! – und schätzt sich glücklicher als irgendeinen Großkapitalisten, die er übrigens für sehr notwendig hält. Zu einer Zeit, wo das Volk im Wahnsinn fiebert, in Baiern die Räterepublik tollste Ausgeburten in die Welt setzt und in Düsseldorf mit Geschützen und Minenwerfern scharf geschossen wird, eine bemerkenswerte Erscheinung. Der andere, ein 18jähriger Junge aus Porz, ganz noch ein Unbedarfter. Er schlachtete uns 2 Karnickel, strich das endlich fertiggestellte Bienenhaus – eben wurde mir die horrende Holzrechnung von 225 M von Müllenbruck darüber überbracht – mit einer kittartigen hellfeldgrauen „Leinölersatzfarbe“ an und handlangerte bei den sonstigen Gartenarbeiten. Nun hat seit gestern ein durchdringender Frühlingsregen eingesetzt, ein neu angelegtes Rasenstück, dicke Bohnen, Zwiebel (50 gr Samen 4 M!) und andere Sämereien werden von ihm hoffentlich gründlich befruchtet und zum schnellen Keimen gebracht. Der übrige Gartenteil ist schön eingeebnet und umgespatet, die große Feldparzelle – mit 84! M Pferdemist, auch eine kümmerliche Lichtseite der englischen Einquartierung – frisch gepflügt, harrt nun der vorgekeimten Frühkartoffeln, Saaterbsen u.s.w. Kurz, es ist allerlei geschehen. Die englische Besatzung hat gewechselt, der Divisionsstab der 1. Div. 9. Armee ist aus dem Amtsgericht weg, dafür sind Simons’ und mein Zimmer mit Artilleriebüro und Mannschaften neu belegt. Die 9 Mann, die meine Amtsbude beglücken, veranlaßten mich gestern zur alsbaldigen Räumung des Zimmers, Bücherschrank wurde auseinandergenommen, nach oben in die Gerichtsspeicherkammer gebracht, desgleichen Sitztruhe, Standuhr und Tisch, den mir diese neuen Briten bereits in Simons Zimmer verschleppt hatten. So hätte ich nun nach mehrfachem Umzug meine eigenen Möbel bei Gericht wieder alle auf der Speicherkammer zusammen versammelt. Für wie lange? Wer weiß es? Jedenfalls ist es mir nicht sonderlich unangenehm, weiter daheim zu arbeiten. Frau Direktor (...?)

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21.4.1919. Ostermontag. Abscheulich rauh und kalt. Der Osterhase zeigte sich trotzdem im Garten, schade daß die Kinder noch nie bei schönem Wetter danach suchen konnten. Der Großvater war an dem schönen und milden Charfreitag auf etliche Stunden hier und freute sich sehr mit den Enkeln. Wir hatten einen prächtigen Feld- und Waldrandspaziergang gemacht und die Kinder unter hellem Jubel viele Veilchen und Primeln gefunden. Das in unserer „Kolonie“ ( = Strafanstalt und Beamtenwohnungen) grassierende „Hühnerparkfieber“ hat nun auch uns ergriffen. Es war freilich höchste Zeit, denn die Drahtpreise steigen ins Unermeßliche (Ich kaufte für an 100 M Draht!) und seit mit dem dem 1.4. die Eierbewirtschaftung aufgehört hat, wird wohl bald auf dem Lande kaum mehr ein Ei zu haben sein. Ich schreibe nun nach allen Seiten wegen Hennen, Bruteiern, Glucken u.s.f., hoffentlich hats einigen Erfolg. Morgen müssen unbedingt der Rest der Frühkartoffeln gesetzt werden und soll ich unsere Mädchen dafür heranziehen müssen. Desgleichen ists hohe Zeit für Felderbsen. Leider blieb der Großpapa heute morgen aus, so daß keine Aussicht mehr ist, daß er heute noch kommt. Von Mühlengasse in Cöln bekam ich gleich 6 paar Prachtsocken zu dem erstaunlichen natürlich „Familienpreise“ von 3 M das Stück. Sie kosten heute an die 20 M das Paar. Für Beamtenverein bestellte ich dort Stiefelwichse und Schuhriemen. Er hatte auch Heringe und Schellfische für die Chartage beschafft. Hoffentlich sind letztere kein geschäftlicher Hereinfall. Lebensmittelnot bessert sich langsam. Helene und ich war Chardonnerstag mit Herta in Bonn, abscheulicher Regentag. Dort gabs dieselben englischen Fleischbüchsen zu 3,50 M, die hier 4,50 M kosten. Hier scheint man sie in Erwartung (oder bereits im Besitz) billigerer Zufuhren gerne alsbald abstoßen zu wollen. Englischer Zwieback, ein „hundekuchenartiges“ Biskuit kostet noch 2,20 M das Pfund und schmeckt wie Matzen. – Es sterben jetzt die alten Tanten, gut daß Mutter Reitmeister das nicht auch noch zu erleben hatten. Wir sprechen oft von ihr und finden es gut, daß ihr all die unsäglichen Aufregungen mit der Herseler Besatzung u.s.w. erspart geblieben sind. – Tante Henriette (Neitzer, Henriette), ihre liebe Schwester, ist nun dahin, Tante Sophie (Brügelmann, Sophie) scheint im Sterben zu liegen. – Über Belgien ist wegen bolschewistischer Unruhen der Kriegszustand verhängt worden. Heute morgen sah ich wieder einen langen englischen Lazarettzug (No 41) daherkommen voll jugendlicher Verwundeter. Die großen bequemen Wagen solcher englischen Lazarettzüge sind ganz was anderes gegen unsere, die meist aus rumpeligen Wagen IV.Klasse bestanden. – Anstalt und Kolonie sind diesmal von englischer Besatzung ganz frei. Bei Gericht 3 Zimmer, beim Landrat in seiner Wohnung dagegen 9 Räume belegt und er „ganz krank“ davon; was manche andere nicht ohne Genugtuung feststellen.

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27.4.19. Nun ist Tante Sophie (Brügelmann, Sophie) auch gestorben (3 Todesanzeigen eingelegt: Neitzer, de Bruyn, Brügelmann). Sie ist einer besonderen Betrachtung wert. Hoffentlich finde ich einmal Zeit und Ruhe dazu. Das Wetter heute, scheußlichster Regen und Schneesturm bei bitterer Kälte war schon einladend genug. Allerlei Akten und sonstiger Kleinkram zersplitterten mich heute. Ich bekomme nicht einmal die einfachsten Dinge zusammen: Wir setzten hier Frühkartoffeln, Bauern und Gärtner sind wohl derzeit die einzigen im Reiche, die noch mit Überzeugung weiterarbeiten. In Baiern tobt der Bürgerkrieg um München in der besten Form, die Friedenskonferenz soll allgemach beginnen, langsam kommen Waren vornehmlich aus dem Saargebiet französischen Ursprungs. Das Schicksal Rheinlands ist dunkler denn je. Die Italiener haben Krach bei den Alliierten, sie werden den rheinischen Markt nicht missen wollen, was böse Rückschlüsse auf das Vorhaben der Franzosen zuläßt. Die Birnbäume wollen trotz allen Wetterungemachs mit aller Gewalt blühen. Mit den Bienchen sieht es sehr böse aus, der Raps will bald blühen und die Völker sind so schwach wie je. Dagegen ist unser 8köpfiger Karnickelwurf besser und kräftiger entwickelt als alle seine Vorgänger, man merkt deutlich das bessere Futter, vor allem die Weizenkleie, die das Muttertier bekommt. Uns selbst gehts nicht anders. Herta tun die langen Ferien gut, sie ist ordentlich gebräunt und hat farbige Wangen bekommen, Mariannchen prangt wie eine reife Kirsche. Neuerdings giebts auch amerikanische Konserven: Weiße Bohnen mit 30 gr Speck, etwa 250 gr trockene Bohnen, diese zu 2 M das ½ K und den Speck zu 7,50 M gerechnet, so hat man annähenrd den Preis von 1,50 pro Büchse. Wenig und teuer, doch etwas und nicht schlecht. Ferner Corned beef zu 3,50 M die Pfundbüchse. Vorigen Sonntag machten wir prächtigen Waldmarsch, erreichten auf Umwegen den Tomberg und hatten herrliche Rundsicht. Heute nachmittag hellte es sich so weit auf, daß aus einem Bummel durch die erstmals beaugenscheinigten „alten Anlagen“ – manches darin rührend kleinstädtisch – noch ein kleiner Marsch zum Waldhotel wurde. Auf dem Rückweg sahen wir an der Straße die alten bemosten Birnbäume überreich voller Knospen, alles in feinem silbergrauen-rosigen Flor. Der Frühling, wie er im Buche steht, doch auch kalte Hände und Nasen und heute morgen mehr als frisches Schneegestöber. –
Manche sehen für das Rheinland mit dem allergrößten Pessimismus in die Zukunft. In der Tat kann uns noch sehr Schlimmes bevorstehen. Einstweilen ist es aber etwas gemütlicher auf der linken Rheinseite, drüben gehts schlimm her. Eisenbahnen fahren wohl demnächst überhaupt nicht mehr. Und das Hungern und Frieren kann nächsten Winter erst recht beginnen.

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3. Mai 1919. Der Mai hat am ersten mit Kälte und Regen, am 2. mit etwas Wärme und wenig Regen, am 3. mit viel Regen und mäßiger Wärme begonnen. Gestern war ich mit Marianne bei leidlichem Wetter in Bonn, wo sie große Freude bei Großvater Reitmeister und Großmutter Rech erlebte. Auch für mich war der Tag recht befriedigend. Es fahren auch einige Züge mehr. Man ist jetzt für kleinste Erleichterungen in allem dankbar. In Paris soll nun der Frieden ausgeheckt werden. Was mit dem Rheinland geschehen soll, ist allenthalben die bange Frage, und es schwirren tolle Gerüchte umher. Die Möglichkeit einer Internierung aller Waffenfähigen bis zum 60. Lebensjahre und ihre Verschickung nach Belgien zur Zwangs- und Wiederherstellungsarbeit (für den Fall einer Weigerung unserer Reichsleitung, den Frieden anzunehmen), wird eifrig erörtert. Es kommen jetzt Fragebogen von den Bezirksämtern, deren Beantwortung als Befehl der britischen Besatzung gefordert wird. Im Deutschen Reiche brodelt es unentwegt weiter, in Baiern wird kräftig reine Bahn gemacht, München ist erobert und die Bauern verlangen ihre Bewaffnung. Also endlich einmal. Es wird noch allerlei passieren.
Samstag, 17. Mai 19. Bei prächtigstem Frühsommerwetter sitze ich in der Gartenlaube, die Sonne scheint, die Akten sind erledigt, im Garten arbeiten 2 von den Briten bestraften Brüder Eck, Ackerer aus Odenthal bei Bergisch Gladbach, oben schwirren englische Flieger, englische Autos wirbeln den Straßenstaub auf. . .  alles wäre erträglich, wären nicht die geradezu schamlos unerträglichen Friedensbedingungen, mit denen man uns versklaven und für ein Jahrhundert tot machen will. Ich hoffe darauf, daß auch bei unseren Feinden die Bäume nicht in den Himmel wachsen werden. Wir Deutsche machen die altbekannte anscheinend uns alle Jahrhunderte neu notwendige härteste Prüfung durch. Vielleicht daß sie doch noch irgendwelche Ergebnisse zeitigt. Es kostet mich ordentlich Überwindung, von den beiden letzten Wochen etwas niederzuschreiben. Sie brachten uns das schönste Wetter und die schwersten Lebensbedingungen für die Zukunft. Ich suchte, durch angestrengte Arbeit darüber hinwegzukommen. Vorletzte Woche stand ich fast Tag um Tag von morgens bis abends auf dem Feldgrundstück, das bald 3, mitunter auch 7 Mann bearbeiteten. Ich wurde ordentlich braun dabei. Am Donnerstag den 8ten besuchten besuchten Willi und Frida uns nach Tisch und Willi brachte mir die ersten Nachrichten und Zeitungen über die Friedensbedingungen aufs Feld. Es ist schwer zu sagen, was ich dabei empfand. Man hat das Gefühl, sich gegen eine schwere Last stemmen zu müssen. – Garten und Feld sind nun reich und sauber bestellt und es wächst alles zusehends. Die kleinen Karnickel spielen auf der Wiese, wie schön könnte alles sein, wenn, ja wenn . . .
Morgen besuchen wir Mutter Reitmeisters Grab, die Gute starb am 18. vor einem Jahre. Auch damals war das schönste Wetter, nur schnurrten noch deutsche Flieger durch die Luft und feindliche warfen kurze Zeit darauf Bomben auf Bonn ab. Wie weit scheint das alles zu liegen! Dabei geht die Gärung in unseren Volksmassen trotz der augenblicklichen Rückschläge,

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namentlich der Einnahme Münchens und des scharfen Gerichts über die Schuldigen dort, augenscheinlich weiter und es wird wohl noch lange dauern, bis da eine Beruhigung eintritt. Für den Augenblick wendet sich der Blick allenthalben nach außen und in der entsetzlichen Not geht auch so etwas wie ein neuer Zusammenschluß durch das Volk. Aber bei den Arbeitern sieht es nach wie vor so aus, daß sie sich leicht verhetzen und verführen lassen. Allenthalben giebts bald hier bald dort Tumulte, Streiks u.s.w. Alle diese Erscheinungen, für die man mangels eines genügenden geschichtlichen Abstandes noch keinen rechten umfassenden und überschauenden Gesichtspunkt hat, versucht ein jeder nach seiner Art, sich bildlich klar zu machen und diese Versuche spiegeln sich deutlich in der Tagespressen. Der eine spricht vom brennenden Haus, in dem ein Teil der Bewohner über Neubauten plant, ohne ans Löschen zu denken und der andere Teil noch alles das einzureißen sucht, was vor dem Feuer gerettet werden könnte. Sehr beliebt ist das Bild des erkrankten Volkskörpers, dem das Blut fiebrigerregt durch die Adern jagt und den Patienten zwischen heftigen Erregungszuständen und Perioden widerstandsloser Schwäche hin- und herwirft. Hier und da bilden sich eitrige Abzesse (Berlin und München), die blutig operiert werden müssen, die Regierungstruppen als das Messer des Chirurgen könnten dem Kranken hier und da Erleichterungen verschaffen und die schlimmste Gefahr einer akuten Vergiftung beseitigen, ohne des eigentlichen Krankheitserregers und damit der verzehrenden Infektionskrankheit  selbst Herr zu werden. Die Pflastermethode hat sich als völlig unzureichend erwiesen. Wieder andere sehen bald den tiefgründig brodelnden Vulkan, bald den fürchterlichen Abgrund, über den das Volk in völliger Verkennung seiner äußersten Gefahrlage auch noch zu tanzen wagt. Die Bilder drängen sich wie die Fülle der Eindrücke überhaupt in dieser gerade rasend dahinschießenden Zeit und der brodelnde Kessel, in dem das Vaterland zu kochen scheint, wirbelt die tollste Blasen aus dem Grunde an die Oberfläche, wo sie nach sekundenlangem Schillern mit Geräusch und übelster Gasentleerung zerplatzen, die hochschäumende Masse droht überzukochen und schließlich der ganze Kesselinhalt sich ins Leere zu ergießen, so daß nur noch ein angebrannter Rest zurückbleibt. Scheu gewordenen Rosse sind mit dem Wagen des Reiches durchgegangen und rasen mit ihm über weglose Strecken bergauf und bergab, seinen Inhalt verschüttend und sind voraussichtlich erst zur Ruhe zu bringen, wenn Gespann und Zugtiere verunglückt sind. Ein wildgewordener Eisenbahnzug, an Stelle von überlegsam ruhiger und sachkundiger Beamten und Technik gefahren und geleitet, rast von trunkenen Wahnsinnigen besetzt und geführt mit äußerster Dampfspannung dahin, um bald zu entgleisen und vom Bahndamm hinabzustürzen, wobei die gestrandete Maschine noch eine Zeitlang mit leerlaufenden

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Rädern die heftigsten Anstrengungen machen wird, um dann durch eine Explosion sich selbst zu zerreißen. So und ähnlich jagt ein Bild das andere und ein Ende dieser kinoartigen Flucht ist noch nicht abzusehen. Der Optimist sieht den Acker des Vaterlandes umgestürzt als Vorbereitung für das Aufgehen künftiger Neusaat. . . .
Hinter allen diesen äußeren Erscheinungen steht natürlich doch eine stete innere Entwicklung, deren Züge aber doch sehr undeutlich und kaum erkennbar sind, so einfach und klar sie später erscheinen mögen: Neben, bei oder trotz der Demokratie mit allgemeinem, auch Frauenstimmrecht, entwickelt sich eine berufsständische des Gesamtvolkskörpers. Arbeiter- und Soldatenräte mit ihren kindischen Gehaben, hohen Kosten und nichtsnutzigen Leistungen kommen allmählich außer Mode. Dagegen wachsen langsam Vertretungen der Bauernschaft, viel schneller schon solche der Beamtenschaft und der Keim zu solchen der sonstigen bürgerlichen Berufe ist schon gelegt. Neben Landwirtschafts-, Ärzte-, Handels- und Handwerkskammern werden wir wohl auch Arbeiter und Beamtenkammern bekommen. Ob diese emporwachsende berufsständische Gliederung soviel treibende Kraft haben wird, um Konfessions- und Parteischranken zu durchbrechen, bleibt abzuwarten. Vorab hat dies bisher nur ein Stand, die Arbeiter, erreicht oder vielleicht gerade nicht erreicht, weil die Sozialdemokratie zwar eine reine Arbeiterpartei aber eben doch eine politische Partei und daher etwas sehr Verschiedenes von den Gewerkschaften ist, von denen ein Teil eben auch noch aus parteipolitischen und konfessionellen Gründen – solche hängen bei uns meist recht eng miteinander zusammen –  (Gottlob fährt auch zwischen der gewöhnlichen britischen Straßen-Autowelt auch einmal ein deutscher Kraftlastzug vorbei, vom Bahnneubau, der wenigsten einige Hoffnung geben kann.) Mit der Durchführung einer solchen berufsständischen Gliederung könnten wir dann den üblen Reichstag und sein kaum weniger übles Nachgewächs, die „deutsche Nationalversammlung“ begraben. Geht die Entwicklung diesen Weg, so ist vorher natürlich gründliche Umackerung nötig und es würde keinen Widerspruch bedeuten, daß eben jetzt gerade der letzte Rest ständischer Gliederung alter Art aus den Kommunal- und Kreisvertretungen beseitigt werden soll. – Nb. die Landräte fallen jetzt wie welkes Laub. Wann fangen die Richter an? – Ob die Friedens-, richtiger Knechtschafts- (denn ein „Frieden“ wird es nie!) bedingungen eine solche Entwicklung finden oder befördern, läßt sich noch nicht übersehen. – In diesen Monaten ist die Ernährung stets besonders schwierig. Über das Schlimmste scheinen wir im besetzten Gebiet verhältnismäßig leicht hinweg kommen zu können. In wirtschaftlichen Dingen wird der Gegensatz zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet stets stärker. –
Mein Amtszimmer ist nach wie vor belegt und ich habe es wochenlang nicht mehr gesehen. Am Tage habe ich reichlich Beschäftigung in Haus und Hof, Garten und Feld und abends werden die vom Gerichtsdiener angeschleppten Akten

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bearbeitet. Letzten Montag brachten die Engländer auf einem Wagen einen Neffen von Unterstenhöfer in Heimerzheim sowie anderen tüchtigen Bauernsohn hierher, der auf Veranlassung eines Majors aus nichtigen Gründen verhaftet worden war. Ich nahm mich der Leute an, sorgte, daß sie ins Amtsgerichtsgefängnis gesetzt wurden. Mittwoch wurden sie vom Pastor Dr. Rath verteidigt, den ich darum gebeten hatte. Ich mußte nach Münstereifel zum Gerichtstag, die Anwälte gleichfalls. Gottlob wurden beide freigesprochen, nachdem U. eine Sicherheitsleistung von 6000 M abgelehnt und die Jungens 2 Nächte im Gerichtsgefängnis gebrummt hatten. Das Verurteilen betreiben die Engländer nämlich z. T. auch als Geldgeschäft. Den Gerichtstag nutzte ich nachmittags noch zu einer Pächterheimsuchung in Groß- und Klein Büllesheim aus, wobei ½ Pfd. Butter und 1 Pfund Speck gegen 1 Fl. Branntwein, Eier, Brot, Fett, Bohnen und Weck gegen 1 Fl. Wein getauscht, auch die Bekanntschaft mit Gutsbesitzer Komp in Gr. Büllesheim geschlossen wurde. Raps habe ich derzeit in Aussicht von Kröger, Mirbach, Unterstenhöfer.
15. Juni 19. Seit dem 3. Mai bis Anfang Juni fortgesetzt so schönes Wetter, daß fast Dürre drohte, dann etliche Regen und Gewitter, jetzt wieder Trockenheit. Friedens-„verhandlungen“ mit Noten hin und her.  Jedenfalls hat die Aussicht, daß wir Deutsche jenes Machwerk nicht unterschreiben, bisher einige Früchte gezeitigt. In Nord- und Süddeutschland rechnet man mit dem Vorrücken der Feinde, ob diese aber bedingungslos auf ihre Truppen rechnen können, erscheint fraglich. In Wiesbaden hat unser früherer Mitschüler Adam Dorten aus Endenich eine rheinische Republik ganz augenscheinlich mit Hilfe der Franzosen auszurufen versucht. Die Sache ist, wie es bei dem flachen Hohlkopf Dortens nicht anders zu erwarten war, höchst kläglich verlaufen, und selbst Zentrumsleute rücken jetzt alle von ihm ab, obschon zwischen ihnen und ihm sicher Beziehungen, wenn auch vorsichtigerweise nur indirekte, bestanden. Immerhin haben 2 unserer Cölner Zentrumsabgeordneten, Kastert und Kuckhoff, ihr Mandat im Zusammenhang mit dieser Sache niederlegen müssen und die anfangs keineswegs ungefährliche Sache scheint vorläufig erstickt zu sein, wobei die Lächerlichkeit des guten Dorten jedenfalls ein gutes Teil mitgeholfen hat. Es kribbelte mich in den Fingern, eine satirische Skizze über ihn in die Kölnische Zeitung zu senden, doch besorgten dies schon andere hinreichend. Er böte übrigens einen guten Stoff zu einer burlesk-satirischen Skizze à la Simplicissimus. 2 Zeitungsausschnitte (einer liegt bei) will ich mir hierzu aufheben. Mir war er im Wintersemester 1899/1900 in München recht lästig, zumal im Frühjahr 1900, wo ich mit Sonnenburg nach Oberitalien fuhr und er mitwollte, bis wir ihn im grauen Bären in Innsbruck absetzten. –
2 Bienenvölker haben sich doch noch gut entwickelt und seit einigen Tagen ist ein in Oberdrees gekaufter Schwarm hinzugekommen. Honig ist nächstens auch zu schleudern und so macht die Imkerei wieder Freude. Rundum fallen andauernd Schwärme.

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Die Gerichstarbeit ist mäßig, ich lebe mitunter fast wie in Ferien und widme mich Garten- und Feldbau. Freilich hatte ich für Mai auch zu meinem Schrecken 70 M an Gefangenenlöhnen zu bezahlen, wobei allerdings irrig die Gartenarbeit auch mit zum Satze von 3,50 pro Mann und Tag berechnet war. Das soll nun wieder ausgeglichen werden. Die Bohnen haben sich famos gemacht, gegen die das ganze Feldstück gründlich verseuchende ewig neu sprossende Melde führen wir einen hartnäckigen Kampf und hoffen darin Sieger zu bleiben; ein Möhrenfeld mußte allerdings geräumt werden. – Es ist jetzt täglich mehr an Lebensmitteln, freilich immer noch zu recht teuren Preisen zu haben. Die Preisschwankungen sind ganz bedeutend. Kürzlich kostete Schweineschmalz noch 14, jetzt 8,50 M. Butter, die die Stadt bezogen hatte, wurde zu 13,25 M verkauft; die Kauflust ist bei der Hitze nicht übermäßig. Im Beamtenverein hier wird tüchtig gearbeitet. Wir wollten Schmalz aus Holland beziehen, der Regierungspräsident verweigerte hierauf, wie zu erwarten, die Einfuhrbewilligung, da alles durch einen Großfettkaufmannsring in Cöln gehen muß, ein echter Kölscher Klüngel, bei dem sich alles um 50 - 80 % verteuert und womöglich noch englische Offiziere oder Juden mit im Spiele und Verdienst sind. Gegen diese Spitzbübereien schrieb ich einen scharfen Artikel, den die Kölnische Zeitung heute brachte, dabei aber vorsichtigerweise einen Satz über das von der britischen Besatzung bewilligte Einfuhrkontingent ausließ, während die „biedere“ demokratische Zeitung in Bonn, die den Artikel schon früher brachte, dafür (?) 2 Tage durch Nichterscheinen büßen mußte. –
19.6.19. Fronleichnam, heißer trockener Sommertag, wenn es nur mal gehörig gewittern wollte! Helene ist seit Montag bei ihrer Freundin Meta Spindler und verlebt mit Herta dort gewiß herrliche Tage Sie luden mich dringend ein, über Samstag bis Montag sie abholen zu kommen, ich sagte nicht zu, glücklicherweise; denn heute giebts hier Einquartierung und wir sollen mit 4 gesegnet werden. Derweil habe ich etwas stumpfe Gedanken, ärgerte mich nicht schlecht über einen Brief des Anstaltsdirektors, der mir das Aufseherspielen (und auch wohl die billigen Gefangenenkräfte) legen will und lese zur Zerstreuung ein seltsam dunstig-saftiges Buch „Piraths Insel“. Gehört zu den guten Tropenromanen, wie sie neuerdings nicht selten sind.
20. Juni 19. Die letzten paar Tage lebe ich in einer dumpfen abgespannten und nervös gereizten Stimmung. Alles ist mit zuwider, Kleinigkeiten erregen mich stark, ich suche mit aller Gewalt nach Zerstreuung, der Kopf schmerzt mich und ein Gefühl kraftloser Hitze steckt im Körper. Arbeitsunlustig im höchsten Grade und doch stürze ich mich sofort auf die gebrachten Gerichtsakten und erledige sie. Leider artet die lange trockene Hitze in Dürre aus, der ersehnte Regen blieb selbst bei der heutigen schwülen Hitze aus. Die britische

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Einquartierung kam gestern abend durch Hitze und Marsch aufs äußerste abgespannt hier an. Unsere 4 jungen Leute benahmen sich sehr ruhig und gesittet, wie alle sehnen sie sich nach Hause und waren dankbar für kleine Aufmerksamkeiten, ließen sogar einen Klumpen Margarine hier. Im Schlafe nebenan haben sie mich nicht im geringsten gestört, der älteste war knapp über 20 Jahre alt. Fettangebot ist reichlich, für 8,50 M ist das schönste Schweineschmalz hier zu haben. Es liegt einem schon wenig mehr an diesem vor kurzem noch so heftig begehrten Nahrungsmittel. Der traurige Frieden wird denn wohl die nächsten Tage unterzeichnet werden. Wir Rheinländer bekommen einen „Hohen Ausschuß“, hole ihn schon im Voraus der Teufel! und dann wird die Republikerei wieder eifrig weiter gehen. Wenig erfreulich. Freilich die Zustände im inneren Deutschland sind vielleicht noch schlimmer. Wir sind eben mal wieder, wie wohl alle 100 Jahre, gründlich im Schlamassel. Helene entbehre ich in diesen Tagen sehr und Mariannchen, die heute Leibbeschwerden hatte und trotz strenger Diät beim Beerenpflücken erwischt und darüber ernst ermahnt und mit Stubenarrest bestraft war, hatte sich bisher sehr tapfer gehalten und ihrer unbezwinglichen Sehnsucht nach der Mutter keinen Ausdruck gegeben. Als aber infolge eines Fliegenstiches ein Beinchen eine kleine Anschwellung erhielt und sie nicht mehr zu gehen vermeinte, saß sie mit stillen Tränen in ihrem Sesselchen und auf mein freundliches Zureden murmelte sie endlich ganz leise etwas von der Mutter. Die Kleine ist wirklich tapfer. Ich behielt sie abends bei mir und brachte sie mit zu Bett. Damit schlief sie selig ein. Es ist gut, daß Helene bald heimkommt. Dies mal wurde mir die Trennung wirklich etwas schwer. Ich habe auch gegen meine sonstige Gewohnheit keine Lust, mich mit anderen auszusprechen. Eben steht im Generalanzeiger, Edmund Frings ist mit 42 Jahren gestorben. Die arme Tina.
23.6.19. Die Krisis scheint einen Höhepunkt erreicht zu haben: Aufstände, Streiks, Plünderungen, häßliches Gezänk und Hin und Her der Politiker, neue Reichsregierung, Nationalversammlung nimmt den Frieden an. Damit ist das Deutsche Reich für die nächsten 50 - 100 Jahre ruhmlos geschwächt. Die Rheinlande, was geschieht mit ihnen? Das Zentrum will es mit Gewalt zu einer eigenen Republik machen, die Besatzung bleibt und die Zollgrenze soll sogar an den Rhein gelegt werden. Wir werden noch manche Dinge erleben, ob schöne, ist mehr als fraglich. Jetzt ist Dürre und vielleicht giebts Regen. Ähnlich auch im Großen so. Mit Marianne war ich gestern im Wald, Helene soll heute abend mit Herta zurückkommen. Ich will versuchen, in Odendorf mir noch einen Bienenschwarm zu kaufen. Die Mädchen holten gestern von Straßfeld eine Glucke mit 7 Kücken (von 15 Eiern!) und brachten sie glücklich heim. Sie sitzt

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mit den flüggen Tierchen bereits im Kückenlauf und ich habe so viel Spannkraft wiedergewonnen, mich an eine satirisch-humoristische Skizze: „Eierselbstversorgung“ zu geben. Die Abkühlung tut ihr Gutes. Ob auch sonst der Frieden mehr Arbeitslust mit sich bringen wird? Ich glaube es kaum.
3. August 1919. Der Juli war ein rechter Arbeitsmonat für mich. Dank dem eigenbrötlerischen Sinn des Herrn Coll. Simons, der weder Ferien haben noch vertreten wollte, hatte ich 2 Abteilungen am Halse, dazu die eigene stark mit Grundbuchverkehr in Bewegung. Ärger als Aufsichtführender u.s.w. Ich bin froh, daß er vorbei ist und freue mich der Ferien. Die begannen gleich mit ganztägiger Arbeit auf dem Felde mit dem fleißigen Strafgefangenen Trimborn aus Cöln, der vorzüglich den Gartenbau versteht. Rheinbach ist mal wieder stark mit Briten belegt, abends kann man bis 11 Uhr aus sein, sonst aber spürten wir vom Frieden nur die allenthalben steigenden Preise für die notwendigsten Lebensbedürfnisse. Alles ist ja reichlich gegen vordem zu haben, aber alles auch sehr teuer. Der Sommer scheint kühl und regenerisch zu bleiben, Raps und Gerste sind herein, Roggen steht auf Garben. Gestern habe ich noch einmal die geradezu kümmerlichen Honigreste geschleudert, die nach der langdauernden feuchten Kühle noch vorhanden waren. Man kann schon froh sein, nicht füttern zu müssen. In der Siedlungsfrage ist viel verhandelt und den mittleren Beamten Aussicht auf eine recht angenehme Wohnung gemacht worden. Auch mich sucht man mit allerlei Aussichtseröffnungen dazu heranzuziehen, ich gehe aber nicht darauf ein, um nicht schließlich unter Festlegung fast meiner ganzen derzeitigen Barschaft in einem noch engeren und jedenfalls unsolideren Häuschen fern der Stadt am Waldrand auf dürrem Boden zu sitzen. Steuerinspektor Assenmacher will sein Haus verkaufen, nur 100000 M fordert er in beneidenswerter Unbefangenheit. Freilich ein kleines Bahnmeisterhaus, das jetzt hier in der Nähe des Bahnhofs gebaut wird, soll an 60000 M kommen. Es ist eine geradezu wahnsinnige Wirtschaft. Ich werde mich schön hüten, mir zu dem heutigen lächerlichen Markpreis ein Haus hier an die Beine zu binden. Schlimmstenfalls ziehen wir nach Bonn. Ob es mit der Direktor-Wohnung etwas wird, die mir der neue Strafanstaltsdirektor Dr. Rath zur Verfügung stellen wollte, erscheint noch fraglich. Jedenfall wird Frau Wwe. Direktor Trautmann jetzt langsam und sicher aus ihr herausgedrängelt, nachdem sie sie freilich fast ausschließlich durch die Familie ihrer Tochter bewohnen ließ und sebst meist abwesend war. Die Stadt Rheinbach betreibt die Einrichtung eines städtischen, ich die eines Kreis-Mieteinigungsamtes. Wird dann erst – vermutlich aber erst nach erfolgten neuen Kommunalwahlen – ein scharfes Ortstatut durchgedrückt, so soll sich schon Wohnung finden, auch für uns. Das steckt noch in weiten Säcken, kommt aber sicher. Könnte ich das Assenmachersche Haus dem Justizfiskus andrehen und selbst Dienstwohnung

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darin erhalten, so wäre dies eine glänzende Lösung. Etliche unserer Küken sind eingegangen, ein Huhn hat eine ernstliche Krankheit durchgemacht und stand in Gefahr, gemetzelt zu werden, doch immer giebts ab und an ein Ei und die Aussichten für nächstes Jahr sind glänzend. Die Zwangswirtschaft geht weiter und so heißt es Frucht hamstern, auf daß man etwas hat. Gerste und Raps habe ich in Aussicht. Anderes wird wohl folgen.
Wie leider häufig, so hatte ich auch jüngst in unseren Gesetzblättern herumzustöbern. Glücklich, wer sie nie zu Gesicht bekommt. Schon die letzten Jahre vor dem Kriege war das Reichsgesetzblatt, das früher nur hin und wieder einmal in etlichen Jahren einen Fettsuchtsanfall bekommen hat, sonst aber jung und schlank geblieben war, zu einem allzufetten Bourgeois herangediehen. Im Kriege ward es zu einem Kriegsgewinner schlimmster Sorte, ja es barst schließlich vor aufgeschwemmter Dickheit wörtlich in 2 Teile und jeder Halbjahrsband mit seinen eigenen Registern ist reichlich so dick, wie die fettesten alten Jahrgänge. Aus dem Kriegs- ist jetzt ein Revolutionsgewinner noch beängstigender Sorte geworden und am Ende erleben wir es noch, daß selbst die Halbjahrszwillinge infolge allzu starker Ernährung abermals platzen und sich in mehrere teilen werden. Schließlich giebts noch monatliche Register.
Sucht man sich eine Bestimmung aus diesem dickleibigen Quartanten und läßt die Augen die Register entlang laufen, so wirbelt es einem im Kopfe und man hat ein Gefühl, „gejazzt“ zu werden, wie es vor einiger Zeit von amerikanischen Musik- und Geräuschsausbrüchen zu lesen war. Wie in einem futuristischen Gemälde fliegen die Dinge da durcheinander: Reichswehr, Druckpapier, Schifffahrtsunternehmen, Schwerbeschädigte, Stickstoff, Garne, Eisenbahn, Erwerbslose, Kohle, Landwirtschaft, Druckfarbe, Gänse, Biersteuer, Reichsbank, Branntwein, Bucheckern, Wertpapiere u.s.w.: ein farbiger Mischmasch, der wohl schwerlich überboten werden kann. Versucht man sich gegenüber diesem Erynniengesang – gesinnungraubend, herzbetörend – ein wenig auf sich selbst zu besinnen, so will es einem vorkommen, als ob man auf einen Jahrmarkt oder eine Börse geraten sei, auf der von jeder Ecke und Richtung aus die verschiedenartigsten Gesetze einem angeschrieen werden, alle mit den obligaten Posaunenstößen der Strafandrohnungen, und einem abschließenden Paukenwirbel. Der eine kümmert sich dabei wenig um den anderen. Kreischend und mißtönend, aber mit unentrinnbarer Deutlichkeit schallt es aus allen Buden. Jedes Ressort arbeitet für sich und überall wird die Gesetzesmühle eifriger und mit überzeugungsvoller gedreht als die Gebetsmühle des Tibetaners. Vom Publikum ist wenig zu sehen auf diesem Jahrmarkt. Einzelne, anscheinend völlig Taube, schreiten erhobenen Hauptes durch das Tongetümmel, andere taumeln mit verbundenen Ohren wie betäubt hin und her und mit schuldverratenden

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Mienen hasten Schleichhändler mit geschwollenen Säcken durch die engen Gassen. Große Massen biederer Bürger, die sich auf diesen grellen Markt verloren haben, sind den Häschern in die Hände gefallen und werden in hellen Haufen, Greise, Frauen, Kinder, Männer, alle durcheinander, dem Gerichte zugetrieben.
31. August 1919. Mein Ferienmonat geht heute zu Ende. Es waren schöne Wochen voll Sommer, Sonne, Ernte, Freunde und Wiedersehen. 8 Tage war ich in herzlicher Gastfreundschaft bei unserem alten „Hospes“ Leistner in Berncastel, sah die Mosel und gute alte Bekannte wieder und verlebte bei Wein (ja auch bei Tanz) und angeregter Unterhaltung manche frohe Stunde dort. Einen Morgen widmete ich der Hamsterei. Ich hatte einen Zentner Raps mit 2 Eilgutkisten an einen mir zu Dank verpflichteten Ölmüller verschoben, dem ich im Laufe des Winters und Frühjahrs nach viel Schreiberei Filterpreßtuch verschafft hatte. Ganze 23 l waren die Ausbeute, womit wir auf lange Zeit hinaus versorgt sind. Ein wahrer Schatz in den unsicheren Tagen heute, wo die Preise allenthalben wieder anziehen, da Fettnot abermals vor der Tür steht und unser Haushalt sich um rund 100 M im Monat verteuert hat. Ich lernte jenen schönen Morgen den bekannten Dr. Wiesemes in Mülheim inmitten seiner kunstsinnig ausgestatteten Häuslichkeit, seinen sehr anregenden Bau- und Gartenplänen und seiner famosen Gartenbesitzungen kennen, und zwar von einer sehr schätzenswerten Seite. Er ist um seine Besitzungen zu beneiden und genießt so recht die Freuden eines verständnisvollen Aufbaues. In sehr freundlicher Weise fuhr er mich in seinem Auto zum Ölmüller, so daß ich 2 schwere Kannen spielend nach Bernkastel bekam. Ich war am 20. August 19 mit Molkereidirektor Zingsheim von hier bis Bullay an einem prachtvollen heißen Tage mit bewegter Luft zusammen gefahren und in Berncastel von Leistner, seiner Tochter Ida und Collegen Reinecke froh und herzlich an der Bahn begrüßt worden. Am 26. August waren dieselben mit Dr. Schmitz zum Abschied morgens am Bahnhof. Dazwischen lagen Tage voll frohen und ernsten Wiedersehens mit mancherlei Bekannten, auch lernte ich im Hause Leistner 2 tüchtige junge Leute, beide Nationalökonomen, Müller aus Saarbrücken und Conrad aus Dusemond kennen. Deren Wesen gab mir auch mit die Gewißheit, daß es mit uns noch lange nicht zu Ende ist. Das Begehren nach Wein ist sehr stark und Leistner war geradezu übermüdet von allem Versenden größerer und kleinerer Posten trotz der ungeheuerlich hohen Preise. Die dringenden Einladungen waren schließlich ein wenig ermüdend. Hauths traf ich in vorzüglicher Verfassung in Wehlen, bei Knolls verbrachte ich angenehmen Abend. Sonntags mittag war ich Gast bei Paul Thanisch, der sehr schlimm aussieht. Er hat wohl den bösesten Winter seines Lebens hinter sich. Macht er nicht sehr energisch Kur, so setze ich auf sein Leben nicht allzu viel. Sonntags nachmittag wohnte ich einer Versammlung bei, die Winckler leitete und die scharfe Resolution und Reden gegen die Rheinische Republik führte,

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abends bei Gessen ein recht anregendens Konzert zur Laute von einer Frl. Schmid, die bei Gescher zu Besuch, darnach Tanz, von denen ich je einen mit Frl. Ida Leistner, Frau Paul Thanisch und Frau Winckler tanzte, wohl das erste mal seit langen Jahren, vermutlich seit Fastnacht 1913 (?). Frau Bürgermeister Pfeiffer war sehr dankbar für einen Besuch, Bienenfreund Kuntz verschaffte mir sogar noch 45 Pfd. Zucker, von Krings, die leider unterdessen nach Jülich verreisten, 2 große amerikanische Speckbüchsen zu je 10 Pfd. (7,80 M das Pfd.) und 10 Pfd Reis zu je 2 M.  Mit allerlei Schätzen beladen reiste ich heim. In Coblenz ging ich auf die Pürsch nach Leder, fand leider wenig solches, jedoch einen deftigen amerikanischen Gummimantel für 90 und 1 Paar Schuhe für 45 Mark. Auch merkwürdige Sachen. In Sinzig und Coblenz stehen die verkäuflichen Autos in unabsehbaren Zügen und Reihen, in Sinzig auch einige 16000 Pferde. Alles verkäuflich. Die Amerikaner, die allenthalben abziehen, verkaufen wahrhaft großzügig, auch alte Uniformen, Wäsche u.s.w. Der Mantel, denke ich, hält mir fast mein Leben aus, denn er ist von seltener Gediegenheit. Zurückreisend verbrachte ich den Abend und die Nacht in Bonn, fand meine Mutter sehr wohl und frisch, Vater Reitmeister dagegen sehr alt und greisenhaft vor. Heute wollen Helene und ich ihn besuchen.
1. November 1919. Allerheiligen. Ein rauher Nordost, eisig kalt, hier und da etwas Schneegeriesel, wohlige Wärme hinterm Ofen. Ein früher und böser Winteranfang. In den Städten geht das Hungergespenst um. Kartoffel- und Getreideablieferung stocken. Auf dem Lande ein unglaublicher Schleich- und Schieberhandel. Sogar Getreide wird ins Ausland geschoben und kommt riesig verteuert zurück. Hiergegen scheint sich im Volke jetzt etwas wie Selbsthilfe zu regen. Wir sind gut versorgt, Kartoffeln, Gerste, Weizen die Fülle, Zuckerrüben demnächst, köstliches Rübenkraut dieses Jahr. Die Kosten des Haushalts haben sich verdoppelt, sie wachsen von Monat zu Monat, unsere Währung verschlechtert sich andauernd. Dabei werde ich endlich einmal etwas dicker. Unsere Kaninchen sind die Fleischquelle. Aus der unmäßig fressenden Rotte des Kleingeflügels vertauschte ich 6 gegen 100 K Getreide. Kohlen reichlich eingedeckt. Daher können wir dem Winter ohne Sorgen ins Angesicht sehen, aber leider viele Stadtmenschen nicht. Für Papa, der jetzt mit Frl. Fabian als angeblicher Mieterin, tatsächlicher Hausdame, wieder aufzuleben beginnt, und meiner Mutter reichlich Kartoffeln aus Kl. Büllesheim noch rechtzeitig beschafft. Jetzt alle Ausfuhr streng verschlossen, auch für Selbstversorger. Im Nest war einige Bewegung: Die von den 3 Berufsvereinigungen ausgegangene Wahlliste ist vom Zentrum angenommen und als seine Liste aufgestellt worden. Ich stehe an 14. Stelle (unter 18) darauf und bin daher gegen Wahl so gut wie völlig gesichert. Anfangs Oktober gerieten wir in Gefahr, obdachlos zu werden: Feierliche Erklärung der Kölner Zentraljustizbehörde, ich sollte alsbald ausziehen. Gegenmaßnahme meinerseits: Verlangte kath. Geistlichenwohnung an Anstalt. Folge: Ich bleibe vorab wohnen. Doch unbehagliche Lage. Werde versuchen, einen Neubau Eschweiler hier zu kaufen. Freilich die schlechte Velute macht Kauf sehr unrentabel. Vielleicht könnten wir einen Pensionär nehmen, was hier sehr beliebt ist. Papa hatte in Bonn eine Zeitlang eine Sergeantenküche mit 3 Gästen, Koch, Offizier mit Bursche, letztere 3 im Hause schlafen. Es waren gerade die Tage, als Frl. Fabian zu ihm kam. Sie bewährte sich herrlich. Helene und ich verstehen uns vorzüglich mit ihr. Langsam übernimmt sie das Regiment im Hause. Da wird sich manches ändern. –
Frieden haben wir nun immer noch nicht. Eine elende Sache. Heinz Reitmeister war mit Rücksicht auf die Geburt seines Brüderchens an 4 Wochen hier bei uns in Rheinbach in unserer bedrängten Wohnung. Er hat außerordentliche Talente im Essen, Herta schulmeisterte ihn zum Schlusse sehr und er flüchtete zu Marianne, die alle freie Zeit mit ihm spielte. Aus dem Jungen, der viele angenehme Seiten zeigt, ist keineswegs schnell klug zu werden. Ich bin es in den 4 Wochen nicht geworden. Wir glauben, daß er sich seiner Mutter noch sehr gut erinnert, jedoch nie davon spricht. Als wir Frida im Wochenbett besuchten und ihn mitnahmen, standen ihm die Tränen in den Augen, als er sein Halbbrüderchen sah. Er war recht befangen und in sich zurückgezogen dabei. –
Wegen Hertas Religionsunterricht habe ich mit den anderen Eltern eine kleine Revolutionsverschwörung gebildet um durchzusetzen, daß Pfarrer Echternacht diesen Unterricht hier erteilt. Der alte Superintendent Fischer in Euskirchen sträubt sich mit aller Gewalt dagegen.
Wir sind nun 1 Jahr hier in Rheinbach und fühlen uns sehr wohl dabei. Es hat sich der Beginn eines angenehmen Verkehrs hier für uns angebahnt, wir leben sehr viel besser als ehedem an der Mosel, sind mit allem reichlich versehen u.s.w., nur mit unserer Wohnung sind wir nach wie vor im Gedränge.
College Reinecke hat sich mit einer Tochter des Bürgermeisters von Hagen in Kempfeld, eine Dr. phil., verlobt.

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9. November 1919. Ein Jahr nach der Revolution, besser dem Beginn des Zusammenbruchs, der jetzt erst in erschreckenden Umrissen in Erscheinung tritt.
Sonntagmorgen. Ich sitze auf unserem winzigen Wohnstübchen. Ein Kohlenfeuer im kleinen Ofen giebt wohlige Wärme. Gestern ist beschlossen worden, einem Lesezirkel in der Stadt, als Auswärtiger mit 4 Bänden beizutreten. Morgen soll das Fräulein, das seine Mutter in der Stadt besuchen will, die Bestellung besorgen, bezahlen und gleich 4 Bände mitbringen. – Nun habe ich eine emsige Arbeit. Solange habe ich ganze Bücher hintereinander kaum mehr gelesen. Nun bricht die Lesewut plötzlich wie ein aufgestauter Bach aus dem Bett und verwandelt alles ringsum in einen See, auf dem ich eifrig herumpaddele. Die Anzeigen über die Neuerscheinungen genügen nicht, allerhand halbvergessene Notizen über Bücher, die ich als Desiderata mir vermerkt hatte, werden hervorgeholt, aus der guten Zeitschrift läßt sich noch eine Reihe genauer Titel von Werken solcher Leute feststellen, die mir schon länger im Kopfe herumgehen, kurz es kreuft (? oder kraust, krauft?) sich hieraus, aus Verlagsanzeigen, Zeitungsausschnitten u.s.w. ein buntes Verzeichnis von Büchern zusammen, Erzählungen, Gedichte, Romane, Novellen, Gedichtwerke, halbpolitische Schriften, alles das soll nun morgen in den Wunschkasten geworfen werden, aus dem dann der blinde Zufall 4 Bände herausziehen wird. Neugierig bin ich, was für welche?
Da fällt mir ein; im Bienenhaus stehen seit vorgestern 2 neue Schnappfallen, um dort sich einhausende kleine Nager, die mir die Bienen in der Winterruhe stören, zu fangen und zu töten. Die letzte Falle ist spurlos von einer Maus verschleppt worden, und so kaufte ich 2 neue, die noch nicht erprobt sind. Ein Blick auf den nassen Gartenweg giebt einen unangenehmen Ausblick auf nasse und kalte Füße; ob ich wohl heute nachmittag zu der Parteiversammlung gehen soll, in der man den allzu milden Vorsitzenden der Lokalpartei hier durch einen Mann mit kräftigerer und durchgreifender Hand ersetzen will? Der Himmel gießt zur Antwort einen kurzen durchdringenden Regen herab; ich vermerke eifrig weiter Bücher; die Mausefalle bringt mich auf Löns und so bin ich schnell wieder im Fluß. Zwischendurch wird noch eine Knochenmühle bestellt für den Geflügelhof. („Manch einer giebt sich viele Müh’ – mit dem lieben Federvieh.“) – ist jetzt die allgemeine Losung, scheußlich, statt 31 M kostet solch nutzloses Instrument jetzt mit 150 % Aufschlag 77,50 M. Was kanns nutzen. Nächsten Frühjahr das Ei vielleicht 2 Mark, wer weiß? Gestern abend gabs eine schöne Beschäftigung: Auf dem „Höchstspeicher“ wie die Kinder sagen, wurde der jetzt so ziemlich zusammengebrachte Weizen und die Gerste in gewaltigen Säcken in eine dunkle und geschützte Ecke verstaut. Die Petroleumlampe warf einen sanften Schein in diese sonst nie beleuchteten Winkel. Das Geriesel der köstlichen Frucht in die Säcke sang wie Musik in die Ohren des vor Jahresfrist sich solche Schätze noch kaum verschaffenden Hamsters. Die Aussicht auf Eier scheint gesichert. Was tut der Mensch heute nicht  für den Fraß für sich und die Seinen? Die Arbeit war besinnlich, ermüdend und erwärmend. Ein Bad vor Tisch und nachher ein traum- und wunschloser Schlaf bis in den späten Morgen. –
23. November 1919. Ich muß mich ordentlich zwingen, etwas ins Heft hineinzuschreiben. Der so scharf und allzu früh einsetzende Winter ist wieder gewichen. Fast fußhohen Schnee hatten wir vor 8 Tagen und am letzten Montag holte ich die seit 10 Jahren unbenutzten Schier heraus und fuhr damit bis zum Waldrand. Allerhand Erinnerungen an schöne Schiwanderungen im Bündner Hochgebirgswinter. Montag besuchte uns Frl. Lorchen Leistner aus Bernkastel, ein lieber Besuch. Die Kinder hingen förmlich stets an ihr. Ende der Woche hatte Mariannchen einen bösen Darmkatarrh, war sehr brav im Bett und bei schmalster Kost, erholte sich aber bald wieder und geht heute schon wieder zum Kindergottesdienst. Vorigen Sonntag war Kommunalwahlschlacht: 10 Zentrum, 3 Bürgerliche, 3 Demokraten, 2 Sozis. Gottlob ich mit 3 Ve... (?) ausgefallen. Gestern abend hörten wir ein recht gutes Konzert hier; heute abend bei Hoelzers, etwas altmodische umständliche Leute, zum Abendessen.
Vor einer Woche verschlang ich in seltsamer Stimmung Hermann Stehr’s Heiligenhof. Draußen lag hoher Schnee, das kleine Stübchen (ebenso mein schmales Dienstzimmer, in dem ich gleichfalls schmökerte) waren von dem kalten Licht der Schneedecke ganz hell und diffus erleuchtet, der Ofen gab behagliche Wärme und wie eine Motte sich nicht vom Licht trennen kann, so flog ich Seite um Seite um dieses prachtvoll geschilderte tiefe Seelenleben des Heiligenbauers herum. Ich habe mir das 2bändige Buch, das ich aus dem Bonner Lesezirkel von Röhrscheid hatte, gekauft. Mit Helene gedenke ich es an langen Winterabenden in gegeseitigem Vorlesen noch einmal gründlich durchzuackern und erst dann die ganze künstlerische Reife und den tiefen Gedankengang des Buches auszukosten. Daneben dann und zwischendurch ging die Lektüre von Meernarsch’s (?) Tierbildern, an denen namentlich auch die Kinder große Freude haben, sowie ein brasilianisches Reiseforschungswerk von Dr. Krause. Mit voller Teilnahme meines Herzens las ich jetzt die letzten Tage ein Buch des trefflichen Deutschböhmen Watzlik: O du mein Böhmen. Es ist entsetzlich, wie auch dort jetzt alle Hoffnungen der Deutschen zu schanden geworden sind und die Tschechen unsere Landsleute unterdrücken. Immer wieder muß ich dabei auch der Deutschen im Baltenlande gedenken. Dort ist anscheinend alles zusammengebrochen und selbst die Truppen, die sich von der deutschen Heimat losgesagt hatten, um dort für sich und das Deutschtum weiter zu streiten, werden zurückkommen und sich noch durch Litauen durchschlagen müssen. Wann werden für uns Deutsche aus diesem Elend noch einmal bessere Tage kommen? Ich hoffe, es noch zu erleben und werde die Hoffnung darauf als Stütze zu einem hohen Alter benutzen. Jetzt haben wir die Franzosen auch schon hier in Rheinbach, darnach in Bonn und schließlich wohl auch noch in Cöln. Sie wollen uns vom Reich, vor allem von Preußen ablösen. Zu allem Unglück ist nun auch noch der aufrecht-deutsche Kölner Erzbischof v. Hartmann gesprochen (soll wohl gestorben heißen), nach der neuen Verfassung wird unglücklicherweise der Staat sich nicht mehr um die Neubesetzung des Stuhles kümmern. Desto eifriger werden es die Franzosen tun, sie wissen wohl, warum. Der Tod des Erzbischofs erinnert mich an die feierliche Inthronisationsprozession, der ich im Frühjahr 1912 in Cöln zufällig zusah. Ein prächtiger farbiger und erfreulicher Anblick damals. Wie gern kehrt man in Gedanken zu solch schönen glückliche Zeiten zurück, um sich etwas Erleichterung von dem bleiernen Druck der Jetztzeit zu verschaffen. Damals war es mir gelungen,

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meine Teilnahme an einem wissenschaftlichen Fortbildungskursus in Cöln zu erreichen. Ich wohnte mit Frau und Kind (Herta war damals ½ Jahr alt, bei den Schwiegereltern in Bonn, fuhr täglich nach Cöln, hörte Vorlesungen im Gürzenich, machte Besichtigungen u.s.w. und aß des öfteren bei den Kölner Verwandten. Als ich eines schönen Morgens die Bechergasse überquerte, hörte ich feierliches Glockengeläute und sah Leute auf den Dom zu eilen und ging mit. Da ging die feierliche Prozession des neuen Erzbischofs um den Dom herum. Ein unendlicher Zug von Geistlichen, großen und kleinen, mit allen möglichen Spitzenverzierungen an den weiten Chorhemden über dem schwarzen Rock, die Domherren mit Pelzkragen, Fahnen, Baldachin, hinter einem baumlangen Geistlichen, der Bischof, wahrhaft fürstlich frei und frank marschierend, den Segen so nebenbei mit prächtiger Gebärde austeilend, der Adel in malerischen z. T. roten und schwarzen Trachten mit Federbaretten u.s.w., Studenten, kurz ein erbaulicher Anblick, die Luft durchdröhnt von Musik und Glockengeläute, eine Kundgebung der katholischen Kirche in schönster Form. Und heute? ––
College Simons gab mir vor etlichen Tagen zu verstehen, daß Dr. Rath, der Anstaltsdirektor, recht böse auf mich sei, weil ich mir die Wohnung des katholischen Anstaltsgeistlichen erobern möchte. Ich hatte dieserhalb einen recht gesalzenen Bericht ins Justizministerium gepfeffert und den wird er jetzt zu bearbeiten haben. Das kommt davon, wenn man mich nicht in Ruhe läßt und angreift. In der Defensive bleibe ich nicht gern und gehe dann stramm zur Offensive über. Viel schaden kann es nicht, aus der jetztigen Wohnung, die uns nachgerade nun sehr eng, bringen sie mich gegen meinen Willen doch nicht heraus. Gelingts mit der Geistlichenwohnung, so solls mir recht sein. Dr. Rath muß es wurmen, weil seine eigenen Äußerungen zu mir darin stehen und er vielleicht in den (sehr wohl begründeten) Verdacht der Doppelzüngigkeit gerät. Zu verdienen ist an mir nichts mehr und ich bin ihm hier mehr wie lästig. Offen mit mir zu streiten wird er sich aus bestimmten Gründen versagen müssen und so sucht er durch die völlig klerikale Sippe Simons auf mich einzuwirken. Kommt damit bei mir aber grade an den Rechten. Den Päffchen erkenne ich für mein Teil keinen höheren Ordo vor mir an. Daher der Jammer. Ich möchte mich tot lachen, wenn es wider Erwarten mit der Wohnung gelingen sollte. Wenn nicht, giebts neue Berichte ins Ministerium über Lehmbau (?) und dergleichen. Ein Buch darüber steht noch aus, ist es da, so geht es los. Bis meine Wohnungsfrage gelöst ist, werde ich noch oft ins Ministerium schreiben! – Das sind so kleine Nebenfreuden, die eine kämpferisch gestellte Seele auch heute noch ab und an am Wegrand des Lebensweges findet. Eine größere ist solch ein Lichtblick wie das wahrhaft herrische Auftreten des Riesen Hindenburg vor diesem verfluchten Kriegsschuldfeststellungsausschuß. Ich hefte hierüber einen Zeitungsausschnitt ein (fehlt). Diese Sache ist zu schön. Gottlob, daß wir wenigstens noch etliche Männer haben. Hoffentlich kommen sie bald nach oben. –

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Rheinbach, 5. Dezember 1919. Heftige Stürme durchbrausen das Land. Dabei ist es reichlich warm, daß mir seit einigen Tagen vom Wetter, Nichtstun und übermäßigen Lesen (Justi’s Michelangelo nimmt mich ganz in Beschlag und daneben lese ich noch von Reymont einen dickleibigen, ungewöhnlich lebendigen Buche „polnische Bauern“) der Kopf ganz dösig und schmerzhaft geworden ist. Die widerliche Wärme löste gestern abend sogar ein kleines Gewitter aus, das mir anscheinend eine kleine Erleichterung brachte, so daß ich anfange, wieder an die Oberfläche zu steigen und mit Hülfe einer neuen spitzen Feder hin und wieder einiges aufzuzeichnen Lust empfinde. Die vorige Woche habe ich mich selbst durch unschlüssiges Hin- und Herschwanken genügend selbst gequält, ob ich eine längst vorgehabte Reise nach Cöln machen sollte oder nicht. Endlich fand der „unfehlbare“ Dämon der eigenen Brust Freitag nachmittag den erlösenden Entschluß: Du fährst. Nun wurde ich auch gleich im übrigen mobil, sammelte Aufträge für allerhand, was es am Obergericht etwa zu besprechen gäbe und fand sogar den P. Bertram bereit, als Bewerber um die Anstaltsgeistlichenstelle auf die Dienstwohnung zu verzichten. Freilich hatte er einen Brief in Händen, nach dem er seine Bewerbung als aussichtlos ansehen mußte. Im übrigen auf die hiesige Klerisei, nicht minder auf den Dr. Rath erbost, weil er vermutet, diese hätten seiner Bewerbung heimlich entgegengearbeitet. Na, ich setzte abends sofort einen Bericht an den Minister auf, um dieses Moment nicht ungenutzt zu lassen, denn aus der Defensive zur Offensive übergehend hatte ich ja jenen Angriff auf die Pfarrerwohnung zum großen Verdrusse des Herrn Direktors gemacht. Erfolg ist davon ja nicht zu versprechen, aber es macht doch Spaß und hat Folgen, die nach anderer Seite ausgenutzt werden können. Am Ende ist es noch Stoff für die Notwendigkeit einer später eben gewünschten Versetzung nach Bonn oder ähnliches. – Die Erkundigung abends auf der Bahn nach Zügen gab dann noch Veranlassung, dort einige belehrende Bemerkungen dem demokratischen „Stadtrat“ Krüger zu verzapfen. Ich hörte nämlich, daß auf der ersten Sitzung des neuen „Stadtverordnetenkollegiums“ hier gleich die Frage der Zwangseinmietung auf dem Tapet steht. Diese beschäftigt uns natürlich auch lebhaft, zumal sie in Bonn jetzt greifbare, und zwar recht unangenehm greifbare Form angenommen hat. Vermutlich wird man mich hier – mit Unrecht – als der Teufel hinter der Bühne bei diesem Punkt der städtischen Tagesordnung ansehen. Es kommt ja schließlich doch, was da kommen muß. –
Helene also machte mir schon des abends vorher den Mundvorrat mit Butterbroten und Äpfel bereit, den ich in Cöln und Bonn getreulich mit mir herumgeschleppt und als ziemlich harte Kursten bei meiner Mutter verzehrt habe. Als geistiges Gegenstück zu diesem heute leider fast unabweislich nötigen Reiserequisit schleppte ich dann noch eine Mappe Bücher mit, die ich in Bonn im Lesezirkel einzutauschen gedachte. Samstag nachmittag gelang dies auch noch eben und daher die oben angedeutete neue Schmökerei. ––

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(6.12.) Ein leuchtender, eben aufsteigender Morgen mit farbigen Wolkenrändern. Ich fuhr 4. Klasse und hatte Platz genug, auch von Euskirchen nach Köln. Es sitzen jetzt auffallend viele recht gut bürgerlich gekleidete Leute in 4. Klasse. Dort ist man im Durchschnitt höflich und gegenseitig behülflich bis eben auf die flegelhaften jugendlichen Arbeiter und Raufbolde bis 25 Jahren, die teilweise eine erschreckende Rohheit an den Tag legen. Anfänglich war die Kälte noch zu ertragen, die hellblinkende Wintersonne aber brachte keinerlei Wärme und schließlich war ich recht steifgefroren und froh, in Köln gründlich die Beine schwenken und damit die Füße aus der Erstarrung bringen zu können. Vom Bahnhof eilte ich gleich an den Rhein, dessen großer Anblick mir auch jetzt seinen Eindruck nicht verfehlte und die Brust erweiterte. Die Fahrt auf der Elektrischen brachte die schmerzhafte Erfahrung, daß es jetzt 25 Pf. kostet, was ehedem nur 1 Groschen ausmachte. Die ermunternde Unterhaltung eines älteren Schaffners, der sich als Landsmann aus Bonn erwies, brachte mich schnell hierüber hinweg. Dann wieder die mir aufs äußerste verhaßte Irrfahrt in jenem schrecklichsten aller Gebäude, das sich das Oberlandesgericht in Cöln nennt. Sobald ich nur gezwungen bin, dort in einem der unendlich vielen Flure ein Zimmer aufzusuchen, befällt mich ein Gefühl grenzenloser Öde. Ich wünsche mir ein Fahrrad, ja ein Motorad, besser noch die Schwingen einer Eule, um lautlos durch diese trüben, endlos umherwirbelnden Korridore zu streichen und schließlich irgendeine höchst gleichgültige Nummer auf einer Türe zu finden, in der das geschehen soll, was ich wünsche. – Ich wußte es schon zum voraus: Trotzdem ich mich diesmal genau vorher erkundigt hatte, geriet ich doch wieder auf ein falsches Stockwerk und irrte eine zeitlang verzweifelt und und mit inneren Verwünschungen in dem Rechtsmalapartus umher. (Übrigens ein treffliches Sinnbild auf die dem Laien nicht weniger verwirrten und schwer übersichtlichen Gedankengänge der Juristen in ihrer Rechtssprache.) Endlich also die richtige Tür gefunden, natürlich der Beamte nicht dort, erwartete ihn jedoch hartnäckig und endlich kommt der Rech.-Direktor Reinartz, während ich eben in die Stadt telefonieren wollte. Im Gegensatz zu seiner bisher mir nur schriftlich bekannten Persönlichkeit auf den ersten Blick und so auch fernerhin in der Unterhaltung wenig sympathisch. Bestenfalls trockener Bürokrat mit gediegener Personal- und Sachkenntnis. Anscheinend entgegenkommend und schließlich doch wieder mit den üblichen Vorbehalten, Bericht ect. Ich hoffe trotzdem, daß eine Generalreinigung unseres äußerst verdreckten Amtsgerichtsgebäudes erreicht wird. Er fing zum Schluß selbst – augenscheinlich instruiert! – von meiner Wohnungsfrage an und äußerte scharfe Meinungen, die ich replezierte und auf falsche Auffassungen der Oberstaatsanwaltschaft hinwies. – Leider traf ich unseren Wohnungsnöten dezernenten Dr. Fritsch leider nicht an, auch als ich später nochmals ihn zu treffen versuchte. Staatsanwalt Reis wurde mir als krank geschildert und den nur stellvertretenden Dahmen zu sprechen, erschien mir überflüssig. In allem merkte ich hinreichend: aus der Wohnung hätte man mich gern möglichst bald und unter allen Umständen heraus und jedes Mittel erscheint hierzu recht. Das giebt mir die Freiheit, in der Wahl meiner Gegenmittel ebenso unbedenklich zu sein. Ich feuerte daher noch gleichen abends den Bericht an das Justizministerium ab. –
Aus Tante Marias (Brügelmann, Maria) Wohnung in der Wörthstraße strömte eben eine Bande affenartig aufgeputzter Weiblichkeit in verschiedenen Altersstufen heraus: der Anhang des Amerikaners, der dort zwangseinquartiert ist und sich durch die ganze Wohnung breitmacht, so daß Tante Maria sogar keine Küche mehr hat und nach Deutz zu Grete (Riesen, Grete) zum Essen hinaus war. Bei Tante Emma wurde ich gleich zu Tisch eingeladen. Ich konnte daher alles dort lassen und vor Tisch noch ein wenig bummeln gehen. Die weite Rheinterrasse war fast menschenleer, nur einige wenige ältere Herren hielten einen kleinen Spaziergang, ich sah: Köln war an der Arbeit. Der Rhein, ja unser stolzer breiter Rhein, er trägt den starken Rücken voller Schiffe, stromauf stromab fahren die kostbaren Güter, ein Warenverkehr wie nie; das Loch im Westen ist da ganz weit offen stehend zu sehen. Immer aber reckt sich über alle dem Getriebe der wuchtige und prächtig gegliederte große Turmbau  von Groß St. Martin. Der Gegensatz solch stolz ragenden alten Bauwerkes mit seiner ruhigen Größe und Unbewegtheit im aufgeregten Treiben der krankhaft übergeschäftigen Menschenmenge ladet mich zum Eintritt in eine Kirche ein, St Kunibert ist gerade zur Hand und so gehe ich dort hinauf. Der ehemals fast in freier Landschaft liegende Pfarrgarten ist jetzt allerseits eingeengt, er schläft wie ein verzaubertes Anwesen seinen Dornröschenschlaf, statt der Hecken umzäunen roh gespannte Stacheldrähte sein ehedem so lustig auf den Strom hinausblickendes Gartenhäuschen mit den grauen Läden. In der Kirche umfängt mich die Stille, hier und da etwas unterbrochen durch Geräusche von Handwerkern, die hoch oben im Chor auf luftigen Gerüsten an den Fenstern hängen. Anscheinend werden dort neue bunte Glasfenster eingesetzt. Wie wohltuend die Ruhe. An den mächtigen ungegliederten Pfeilern gottlob hier mal keine abscheuliche moderne Pseudokunst mit Töpferbäckerfiguren, sondern alle gediegene Bilder; sie mögen von Meistern zweiten Ranges sein, es ist kein Kitsch und besehe ich mir einzelne Tafeln näher, so entdecke ich auf jeder alle liebe Bekannte aus der Zeit meiner kunstgeschichtlichen Studien als Student, als ich in München die alten Meister, auch gerade unsere rheinischen mit einem heftigen Eifer studierte. Ich hätte mich damals diesem Studium ganz widmen und die Jurisprudenz schwimmen lassen sollen, ich glaube sicher, ich wäre heute in einer Stellung, die meinen

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Fähigkeiten mehr zusagte. Na, darüber ist es mir schon gar nicht möglich, irgendwie unmutig zu werden. Die mater Justitia hat mich bisher auch noch recht wohlwollend behandelt und so wollen wir ihr vorab treu bleiben. Ich sitze so in beschaulicher Betrachtung, da zieht ein ganz kleiner Hochzeitszug mit unsicheren Schritten durch das lange Schiff hinauf zur Kirche, hinter dem Bräutigam in Schwarz, die Braut nur einen weißen zarten Schleier übergeworfen, zwei Mädchen, ein ganz kleines, allerliebst mit einem Blumenstrauß, Bild der künftigen Früchte der Ehe. Das Brautpaar kniet lange vor dem Altar auf einer Bank, der Küster hat die wenigen Gäste rechts und links geordnet, die Handwerker lassen die Gelegenheit zur Pausse nicht ungenützt und ziehen sich diskret zurück. Mir kommen allerhand Gedanken: Immerdar blüht das Volk und immerdar segnet der Priester seine frommen Lebensbünde. Mag der Zusammenbruch noch so gewaltig sein, die Kriegsrüstung zerschellt am Boden liegen, Reichsprovinzen absplittern, das Gefüge der alten Staaten auf deutschem Boden in allen Fugen krachen und beben, eins bleibt unberührt: Familie und Kirche. Die Stärke dieser Institutionen sollte man doch nie vergessen, noch weniger je unterschätzen. Auf ihnen beruhen tatsächlich unsere gesamten Kulturunterlagen. Der alte greise Priester erscheint in ragender Gestalt und würdigem Kleide, die Zeremonie geht still und feierlich vor sich. Ich fühle mich wie entrückt in eine ferne Welt und es dauert eine Weile, bis ich wieder zu mir und meiner Umgebung komme. Das Paar hat sich mit dem Priester entfernt, der Chor flammt auf, da die Sonne mit ihren schrägen Winterstrahlen rot hineinfingert, die ragende Kraft der Wände, die Wucht der Pfeiler, der farbigen Steinbemalung, alles taucht in ein goldiges funkelndes Licht und seine glühenden Schatten und Reflexe. Auch der obere Himmelsteil im Chor bevölkert sich wieder. Die Arbeiter rühren sich und ich erhebe mich, um mir nicht das reine Bild der großen Stimmung trüben zu lassen und gehe weg. Ich bin noch nicht draußen, so beherrscht mich – wie so oft! – der Gedanke, du mußt bei nächster Gelegenheit noch mal dort hin gehen und dir einzelnes genauer besehen. Denn der Deutsche braucht nur irgendwo hinein in seine geschichtliche Vergangenheit zu greifen und überall hat er alle Hände voll Gold – nicht jenes gelbe Metall – nein reines Gold überlieferter Kulturwerte. Wie sagt mein Freund, der tüchtige Kunsthistoriker: Ich wundere mich über nichts in Deutschland. Wo ich nur immer hinkomme, entdecke ich eine Überfülle alter Kunst und Kulturgüter. Hoffentlich überstehen wir auch noch den heutigen schwindelerregenden allgemeinen Ausverkauf, der gewiß auch Unmengen bester Kunstschätze dem Vaterland entfremden wird.
Vor Tisch traf ich bei Tante Emma  (Brügelmann, Emma) deren mir bisher unbekannten Bruder Hill aus New York, der herübergekommen war, um nach seinen Verwandten zu sehen. Er machte mir den Eindruck eines bedächtigen und klugen Kopfes, wir unterhielten uns recht anregend. Er schilderte, wie alle Länder den Zuzug der Fremden abzuschließen suchten, auch jetzt noch nach dem Kriege, einmal um den Andrang ungebetener Mitesser fernzuhalten, dann auch und das wohl vor allem, um sich vor der Seuche des Bolschewismus zu schützen. Wir waren darin einig, daß diese Bewegung der Geister sich nicht bannen ließe, die unaufhaltsam von Osten nach Westen ströme und gegen die nicht Damm noch Meere, nicht Roß noch Reiter eine Abwehr bilde. Die Ideen des Ostens fallen in den Tiegel deutscher Geistesarbeit, werden darin auch bei aller krankhaften Erregung und Ermattung unseres Volkes eingeschmolzen und neugegossen und gehen von da durch die ganze Welt, lassen überall die gewaltigen Ströme des Wirtschaftslebens aus den bisherigen Betten steigen und unabsehbares Land überfluten. Ob die Wasser wieder in Bette zurückgelenkt und ob sie Geröll oder befruchtenden Schlamm hinterlassen werden, alles steht heute dahin. Wir befinden uns allenthalben in einer gewaltigen Umbildung der Wirtschaftsformen, wir vermögen vorab nichts zu sehen als eine endlose Zertrümmerung der bisherigen Formen. Allem bisherigen nach sollte man annehmen müssen, unter den Trümmern keime die neue Saat. Man sieht jedoch nichts davon. Immer nur sausen die Scherben. Jan Hill erzählte, daß die Arbeiterbewegungen in Nordamerika von ganz unvergleichlich größerer Wucht als in Europa seien und in ihren Endzielen noch viel radikaler als unsere besonnenen Sozialisten. –
Zu Tisch waren dann auch Konrad Fulda und Elli da, die ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Konrad lebhaft, hager, sehr lebendig, leider aber auch viel schärfer hinkend als früher, wobei er auch in der Hüfte einknickte. Elli wohlbehäbig, frohgelaunt und voll munterer Einfälle, gewiß eine gute Mutter ihrer Kinder. Sie sind auch Kleinlandwirte geworden und wollen sich nun Bienen zulegen. Er legt sich nach Tisch ebenfalls zum Schlaf ins Bett und hat jeden Tag doppelt, indem er nachmittags abermals mit der Arbeit beginnt. Sie haben dort in Arnsberg einen sozialdemokratischen Parteigenossen, früheren Dreher als Regierungspräsidenten, der sich nach Konrads Schilderungen bis jetzt noch recht leidlich verhalten hat. Onkel Dietrich danke ich noch besonders für die 50 Flaschen Wein, die tags zuvor eben in Rheinbach angekommen war. Er meinte lächelnd, der Wein sei mit ca 5 M

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die Flasche noch recht billig geworden. In seine scherzhaft zum Empfang der 250 M geöffnete Hand schlage ich lachend ein. Bei Tisch wurde dieser Wein auch gleich probiert, er ist noch etwas vom Abfüllen angegriffen, sonst aber erfreulich und wird sicher noch mit der Zeit viel schöner. (Nb. Ich packte vor etlichen Tagen die Kiste aus und verstaute die Flaschen in unserem Vorratskeller, ich habe in meinem Leben noch nie so viel Wein besessen als gerade heute, wo man durchschnittlich keinen mehr zu haben pflegt.)
Bei Tisch herrschte angeregte Unterhaltung und als die Rede, wie unvermeidlich, auch auf unsere Rheinbacher Wohnungsnöte kam, und die Mittel zu deren Abhülfe besprochen wurden, wollte Onkel Dietrich als Bekannter von Reg. R. Lothes in Cöln lachend dafür einsetzen, dem ehemaligen Kreistierarzt Dr. Peters hier binnen wenigen Wochen eine gute Kreistierarztstelle zu verschaffen, auf daß sein Haus hier für mich frei werde. Ich mußte ihm versprechen, ihm diesen Fall mit Namen auf einen Zettel zu schreiben, damit er ihn nicht vergesse. Ich tat dies auch nachmittags im Geschäft und gab ihn seiner Assistentin Frl Nettchen Schnorrenberg, die sozusagen sein Cabinetschef ist. Es wurde recht gut gegessen; es gab reichlich Geflügel. – Nach Tisch gabs dann noch eine kleine Familienunterhaltung und als Onkel Dietrich von seinem kurzen Mittagsschläfchen zurückkam, verabschiedete ich mich von den übrigen und ging mit ihm zur Stadt. Unterwegs erzählte er mir u. a., daß die Firma wo sie früher 10 Millionen umgschlagen habe, deren jetzt 100! umschlage, früher habe sie rund 10 % am Umsatz verdient, heute tun sie desgleichen. Daran mag man den großen Warenumsatz jetzt hier im Westen ermessen. Tatsächlich floß dann auch in der Mühlengasse die Ware in Kisten, Frachtwagen und Autos nur so ein und aus. Ich traf leider Will Brügelmann nicht an, ließ meine Sachen dort und bummelte ziellos in der Altstadt Köln herum, für mich stets ein besonderer Reiz, so aufs Geradewohl darin herum zu laufen. Immer finde ich dann in dem unerschöpflichen alten Stadtbild eine Fülle von Anregungen. In den Hauptgeschäftsstraßen mit offenen Läden herrscht ein Leben und Treiben sonder gleichen. Kaum, daß die Abenddämmerung des Winternachmittags hereinbricht, so blitzen allenthalben die Schaukästen, funkelndes Geschmeide, weithinglänzendes Silbergeschirr, köstliches Schuhzeug, die schönsten Leckerbissen, sorgfältig geordnete Bücher, alles lockt mit tausend Winken zum Kaufe. Abschreckend nur die kleinen Schildchen, auf denen die Preise verzeichnet stehen. Sie können einem Schwindel erregen. Schon Herr Hill, „der reiche Onkel aus Amerika“, hatte mittags einen kleinen verzierten Silberbecher für Werners Erstgeborenen als Pathengeschenk vorgewiesen, der 360 M gekostet hatte! – Merkwürdig unbewußt lassen mich alle diese heute so heiß begehrten Herrlichkeiten, die tausende und abertausende mit hungrigen Augen verschlingen. Freilich habe ich daheim noch hinreichend zu essen, und vieles ist mir seit Jahren entbehrlich geworden, was ich früher für sehr begehrenswert, ja fast für notwendig hielt. Es zieht mich ab von den so hell und aufdringlich beleuchteten Straßen in stillere Viertel, auch hier strömt das Geschäftsleben ohne Unterbrechung. Hinter halbverdeckten Fenstern wird in den Kontoren eifrig gearbeitet, in großen Toreingängen werden Waren verfrachtet, ich höre Aufträge an den Fuhrmann. „Rechtsrheinisch“ und „linksrheinisch“ klingt es mir im Vorbeigehen aus einer solchen Torwölbung in die Ohren und ich fühle einen schmerzlichen Schnitt in der Seele. Die „Auffang- und Nachverzollungsgrenze“ längst des besetzten Gebiets wird sich mit unerbittlicher Notwendigkeit zu einer Zollgrenze mit all ihren brennenden Folgen auswachsen und dann – es wird mir heiß und kalt, mir die weitere Entwicklung auszumalen und doch scheinen sich fast alle über die nächste Zukunft Hinausblickende darin einig zu sein, daß ein langsames Abdrücken des Rheinlandes vom Reiche kommen wird. Eines Tages auch die „rheinische Mark?“ –– Was hilft es, sich darüber quälen? Es gilt, die Augen aufzuhalten und sicheren Schrittes weiter zu gehen. Die stillen und doch so lebendigen Gassen, in die der frühe Winterabend hereindämmert, führen mich zu einem stattlichen Kirchturm, der wie ein General ohne Truppen, ohne Schiff und ohne Chor dort steht, arg bedrängt durch nahe an ihn heranrückende Bürgerhäuser. Er wankt und weicht aber nicht und träumt auch er von seiner Zukunft, daß er noch einmal als Haupt- und Schmuckstück seines neuerstandenen Hauses mit ehernem Mund das Viertel rundum zu sich rufen wird. (St. Martin). Endlich stehe ich zu meiner eigenen Überraschung auf einem kleinen altvertrauten Platze und sehe vor mir den ehrwürdigen Chor von St. Maria im Kapitol. Nie könnte ich dort vorbeigehen, ohne einen Blick in diesen deutschen Tempel zu tun, der wie kein anderer geeignet ist, den Glanz deutscher mittelalterlicher Geschichte am Rhein einem aufs greifbarste zu zeigen. Ich steige die hohe Treppe hinan und trete durch die uralte Seitentüre in den dämmerigen Innenraum, der zunächst schwarz und höhlenartig daliegt nur an 2 Stellen durch 2 Lampen erhellt. Allmählich dringt das Auge in den Wald wundervoller Säulen des Umganges in Chor und Querschiff. Auch hier die fast greifbare tiefe Stille, das fühlbare Weben des Raumes, die unendlich wohltuende und beruhigende Harmonie der ganzen Umgebung. Wie geborgen fühlt man sich hier nach dem blendenden verwirrenden Treiben draußen. Einige Frauen mit den weit ausladenden weißen Leinenhauben flämischer Beguinen knien reglos in den Bänken, fast sollte man glauben, es seien Bildwerke. Der grauenvolle Leidenschristus am dürren Marterbaum zur linken Hand hat einige Milderung durch seine neue Umgebung, einen dort

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hergerichteten kleinen Altar erhalten. Ehedem an dem nackten Pfeiler wirkte er freilich noch ergreifender in der Stimmung einer trostlosen Verlassenheit. Gern würde ich die Krypta aufsuchen, aber bei diesem Abenddunkel ist es wohl nicht angängig. Der dem Deutschen wohl unausrottbare Kaisergedanke steigt mir hier mit feierlicher Gewalt fast wie im Aachener Münster empor. Singen wir nicht in einem beliebten Rheinlied vom „Kaiser der Zukunft, dem Fürsten am Rhein“? welche Sehnsucht wird unser Volk noch später wieder – wer weiß wie bald? – nach einem Kaiser ergreifen? Ist denn ein Kaiser an der Spitze eines völlig zur Einheit eingeschmolzenen Reiches nicht ein wahrhaft „demokratischer“ Gedanke. Ich glaube hier im tiefen Dunkel des Säulenumganges uralte hehre Gestalten auftauchen und wandeln zu sehen, mit traurig stummen Blicken verschwinden sie wieder. Sollten sie nie wieder Fleisch und Bein werden? Merkwürdig, daß mir in solchen genußreichen Augenblicken, in denen Körper und Seele einmal gründlich Ruhe zu gewinnen scheinen, immerzu dergleichen Traumbilder aufsteigen, um mich dann wieder in die grausame Wirklichkeit zurückzuführen. Einen belebenden Funken nie erlöschender Hoffnung aber nehme ich davon jedesmal mit. Beim Hinausgehen fällt mein Blick auf sauber gemeißelte Wappen Medaillons an den Pfeilern des Lettners, einer vorzüglichen Arbeit eines Mechelner Meisters. Ja, Vlamland, diese Hoffnung ist nun auch wohl für lange Zeit dahin. – Draußen überläßt der Kopf die Führung des Körpers ganz den Beinen und so schwimme ich, einem Korkstopfen vergleichbar, der jedem Zug der Strömung folgt, wieder durch allerhand Nebenstraßen und über Plätze mit unentrinnbarer Sicherheit jenem Hauptstrom zu, der sich unablässig über die Hohe Straße ergießt. Im Vorbeischwimmen grüße ich den Gürzenich, der sich aus der Enge seiner Umgebung herausgeschält hat und sich anschickt, die stattliche Flanke eines Platzes zu bilden, dann wirble ich wieder mit dem strudelnden Strom der Menschen, der sich mit merkwürdig leisem Gesumm und Getrappel immer weiterschiebt. Immerdar Menschen, viele englische Besatzungstruppen, allerhand aufgedonnerte Gestalten beiderlei Geschlechts, die noch gar nicht gelernt haben, sich mit dem Besitz ihrer reichlichen und gewiß betäubend schnell errungenen Mittel auseinanderzusetzen, die Weibchen in teilweise geradezu komischer Aufmachung, die mich so heftig zum Lachen reizt, daß ich darüber das ekelerregende mancher ihrer Visagen nicht mehr recht empfinde. Der Tanz um das goldene Kalb ist hier so offensichtlich und wird mit so hingebender und und für alles andere benehmender Andacht betrieben, daß auch das mich ordentlich zum Lachen kitzelt. Es ist so etwas wie eine gedrängte Übersicht des alleroberflächlichsten einer hochentwickelten Zivilisation. Die Kulturhöhe vieler, die da wie die Motten ums Licht schwärmen, mag tief unter der Stufe der sogenannten primitiven Völker stehen. Lese ich eine wissenschaftliche Reisebeschreibung, wie kürzlich eine mit Beobachtungen über innerbrasilianische Indianerstämme, so freue ich mich stets über die stilvolle Kultureinheit derlei Völker, die sich bis auf den kleinsten Gebrauchsgegenstand erstreckt. –
Diese blasse Tinte ist des Teufels noch einmal, äußerst verdrießlich! Sie verwässert einem förmlich die Gedanken.
Draußen (7.12.) klatscht nach heftigem Regen ein abscheulicher Schlackerschnee schräg hernieder und morgen solls nach Bonn gehen. – Jener bunte Glanz des Lebens, die verführerischen Auslagen der Schauläden muß notwendig bei den vielen, die das alles sehen aber nicht kaufen können und bei denen das Gegengewicht einer philosophischen oder religiösen Weltanschauung, auch vielleicht des Humors fehlt, zu bitteren Erwägungen führen, deren Ausflucht dann die Aufnahmefähigkeit für die sinnverwirrenden Lehren der Allerradikalsten ist. Eine böse Sache, aber wohl stets und überall und unabänderlich. Ich schwimme so in dem Verkehrsstrom und es kommt mir der Einfall „Sollst du nicht einmal in ein Kino gehen?“ Ich habe einen hohen Abscheu vor den Flimmerbuden, deren Besuch bei mir noch stets mit Kopfschmerzen geendet hat. Die halb Dutzend Kinoaufführungen, die ich bisher in meinem Leben gesehen habe, waren mir bis auf wenig grotesk komische völlig ungenießbar, und als ich vor Jahren wider willen mich entschloß, den so sehr gelobten Film „Quo vadis“ zu sehen, erlebte ich die gleiche Enttäuschung. Alles nur Unruhe, Rastlosigkeit, dazwischen offenbare Scheußlichkeiten, die nur rohe Instinkte kitzeln. – Spare ich mir also diese Marter. –
Das seltsam schnurrende, fast geräuschlose Auf und Ab der Menge in jener Straße , über die kein Fuhrwerk fährt, bringt mir so recht das Gefühl der Einsamkeit des einzelnen in der wildbewgten Großstadtmenge ins Bewußtsein. Ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit läßt mich plötzlich an Frau und Kinder

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denken und eine Zeitlang beherrscht mich nur der brennende Wunsch, sofort bei ihnen zu sein. Als ob das nicht schon morgen abend wieder der Fall sein soll und nun sich schon darnach sehnen!? Lächerlich und doch wahr. Und doch, ist es nicht berauschend das alles hier zu sehen und auf sich wirken zu lassen? Gewiß, das Leben ist in allen Formen schön, mag es auch noch so schmerzlich sein, in tiefster Seele ewig den Bleidruck und die leise aber unablässig hämmernde Frage zu spüren: Was wird aus deiner Heimat, deiner Heimat, dei . . .ner . . . Hei . . .mat? . . . Warum mußte auch gerade jetzt der Erzbischof sterben, wo die törichte preußische Regierung sich nicht um die Wahl seines Nachfolgers mehr kümmern will, und die Franzosen dies um so eifriger tun werden? Ich bin kein Klerikaler, noch überhaupt ein kirchlich Gesinnter, aber die Bedeutung des Kölner Stuhles in unserer wildbewegten Zeit, wo alles umbrandet ist, kommt mir nicht aus dem Kopf und nur der mit den Verhältnissen völlig Unvertraute kann die Bedeutung dieser Frage unterschätzen. Da hast du es ja: Der Mensch bleibt stets in seiner Haut, magst du durch das Menschengewimmel der Großstadt oder einsam durch den nächtlichen Wald schreiten, in dir selbst liegt alles das Grübeln, das zu keinem Ende führt. Besieh dir nur dort einmal das große blitzende blanke Silberbrett mit dem sich darin spiegelnden und in tausend Lichtreflexen funkelnden Gerät darauf! Würde dein Besitz dich glücklicher machen? kommt die Gegenfrage. Was soll mir solch ein „unerworbener Besitz“, bei dem ich dem Neid der anderen nicht einmal ein Gefühl meines Rechts darauf entgegensetzen könnte? Du siehst, so höre ich einen freundlichen Unbekannten mir über die Schultern mit lächelndem Munde zuflüstern: Dem Kleinstädter wird die Großstadt leicht zu einem Erlebnis mit unbestimmbaren Folgen! Werden wir ja sehen, antworte ich ihm in Gedanken; übrigens ja schließlich auch kein Schade; meine Bienen ziehen Honig aus giftigen Blüten und das giebt ihm später erst recht eine feine Würze. –– Zu meinem Glück verlaufe ich mich nicht über derlei Pflastergedanken, sondern komme mir selbst wieder einigermaßen ins Bewußtsein, als ich vor der Rheinuferbahn stehe, einem Esel nicht unähnlich, der in dunklem Drange zu seinem Karren eilt, um daran angeschirrt zu werden und dann dem Stalle zuzueilen. ––
In Bonn treffe ich meine Mutter gottlob in urfrischer Gesundheit und unverwüstlichem Frohsinn an. Ich bleibe bis Montag nachmittag bei ihr, zwischendurch viel auch bei Papa, mit ihm vor allem das unerschöpfliche und unerquickliche Thema der Zwangseinmietung druchgehend. Er wird mit einer vollen Etage und 1 Mansarde in Anspruch genommen und will natürlich nicht sich darin fügen. Sonntag abend nahm ich Josef mit (Rech, Josef), und der gab ihm eine gedrängte Übersicht über die derzeitige Lage in Bonn und das, was ihm in kurzer Zeit bevorstehen kann. Er hätte am liebsten maßlos getobt, konnte dies aber in unserer Gegenwart nicht und bezwang seinen kochenden Zorn so weit, daß er mit gelinderer Aufregung sich begnügte und namentlich hartnäckig daran festhielt, er ginge „kaput“. ––
Montag vormittag wurde dann ein fleißiges Marschieren bei den unterschiedlichen Behörden geübt: Wohnungsamt, Besatzungsamt, Kommission für Beschlagnahme u.s.w. Papa hatte sich schon vor mir auf die Lappen gemacht, erhielt aber nur eine Bestätigung der früher schon gemachten Anzeige, daß er eine Etage nebst Mansarde werde abgeben müssen. Allen Ratschlägen, sich hierauf zu richten, Frl. Fabian benebst ihrem künftigen Manne die Etage zu vermieten, Möbel zusammenzurücken u.s.w. widersteht Papa hartnäckig, auch Helene hat in diesem Punkt nichts mit ihm erreicht, als sie Donnerstag in Bonn war. Er wird noch oft seine Tobsuchtsanfälle darüber bekommen müssen, ehe er sich zu einer vernünftigen Einrichtung seines Haushalts entsprechend den allgemeinen Zeitverhältnissen entschließt. Vermutlich dann, wenn es zu spät ist. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß er in einem äußersten Wutanfall körperliche Komplikationen bekäme; ich habe mit Frl. Fabian

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überlegt, was sie in solchem Falle zu tun und wen zu rufen hätte.
Beim Landgerichtspräsidenten besprach ich dann vormittags noch einige unser Amtsgericht betreffende Fragen, so auch die der Aufsicht für den Fall eines Abganges von Hölzer. –
Nach fröhlichem Mittagessen bei Mama (Sonntag nachmittag und abend war ich mit ihr bei Josef gewesen, der in Ermangelung der Dienstmädchen eifrig den Hausknecht spielt, denn weder Emma noch Mama haben ein Dienstmädchen) fuhr ich wieder heim, traf am Bahnhof noch Papa, der mich dort erwartete. Leider war er nicht dazu zu bewegen, mit nach Rheinbach zu fahren. ==
7.XII.19. Die Kinder leben in froher Erwartung der Weihnachtszeit, lernen Verse zu kleinen Aufführungen. Mariannchen war gestern morgen mit Herta im Lyceum. Dort trat der St. Nikolaus leibhaftig auf und beschenkte die Kinder. Marianne hat sich einen Nikolausbeutel zugelegt, in den sie allenthalben den Segen dieses trefflichen Heiligen sammelt. =
Im allgemeinen dreht sich unser Denken trotz aller Essens-, Steuer- und Lebensnöte meist um die immer noch ungelöste Wohnungsfrage. Ganz Augenscheinlich plant man von Anstalts wegen abermals einen neuen Vorstoß gegen mich, um mich zum Verlassen der Wohnung zu zwingen. Ich habe aber bereits ein recht dickes Fell bekommen und letzten Endes muß das Mietschutzamt in Tätigkeit treten. Immer träumen wir davon, Dr. Peters Haus zu bekommen. Haben wir es schließlich, so werden wir auch nicht viel glücklicher sein. | Morgen soll es nun mit den Kindern zu deren Freude nach Bonn und gleich soll es für mich in eine Versammlung des Bienenzuchtvereins gehen. =
14.XII.19. Eine fürchterliche Weihnachtszeit für viele deutsche Gebiete! In Österreich muß es entsetzlich sein. Hunger und Frost und die Feinde pressen das Äußerste heraus, ehe sie etwas Getreide geben. Wie gut geht es uns noch. Hier aber geht der Franzose systematisch vor. Ich lege hier eine Nummer unseres herrlichen Kreis-Käseblattes (Käse kostet 25 M das ½ K!) bei, aus welcher der findige Leser alles herauswittern kann. Die Abtrennung des Rheinlandes vom übrigen Deutschland geht schrittweise und sicher voran. Ein Dr. Oppenheimer hat den Grund der Poverté entdeckt, die Kölnische bringt darüber einen Artikel von ihm: Es gab keine „freie Konkurrenz“ mehr, seitdem in Urzeiten der Boden unter die Besitzenden verteilt wurde. Der Gedanke ist nicht übel, das Heilmittel für heute aber zu einfach, um damit alles zu lösen: Der Landproletarier soll Land bekommen, damit er selbständig wird, also innere Kolonisation. Kann vielleicht noch einmal etwas werden. Mit Gier stürzte ich mich heute auf die Sonntagsausgabe der Kölnischen, mit dem erwarteten II. Artikel über die Relativitätstheorie, die insbesondere mit dem allgem. R. P. mir noch viele Rätsel zu knacken giebt. Doch wittere ich Morgenluft. Es wird eine neue Weltaschauung kommen müssen. (Seltsam, daß mit diesem Wort auch fast immer der Begriff des seelischen und religiösen Lebens und Anschauens verbunden wird) Daß aber in einem K Kohle solche ungeheure Energiewerte stecken, daß ein 50000 PS Dampfer damit 10 Jahre lang fahren könnte, wenn wir statt der Molekularlösung beim Verbrennen die Atome frei machen könnten, werde ich in meinem Leben nie vergessen. Vielleicht erlebe ich noch ungeahnte Ausblicke in Neues. Daß ich so wenig oder besser gesagt nichts von Höherer Mathematik verstehe, um diesen Gedankengängen bis aufs letzte folgen zu können, brennt mir arg auf der Seele. –
Auch sonst bin ich mit allerlei Stoffen und Sehnsüchten gestopft und geplagt. Es fehlt mir ein ruhiges und abgeschlossenes eigenes Zimmer und eine unbegrenzte Zeit, wollte ich alles nach Herzenslust auswirken, lebendig machen und selbst genießen. So bleibt es stets ein Stümpern und Zerstreuen mit heute diesem und morgen jenem. Freilich gehört es zu meinem Leben auch, dazwischen irgend etwas „Handliches“ zu tun, Bohnen abzupflücken, auszupellen und auszulesen, mal Karnickel oder Hühner zu füttern, auch wohl mal hier und da etwas aufzuräumen, zu flicken, zu basteln u.s.w. Dazu das Essen und Trinken und vor allem das Schlafen nicht zu vergessen. Mit Helene lese ich jetzt fast jeden abend wieder etwas zusammen, so gestern eine feine und zarte Novelle aus dem willkommenen Heft der Rheinlande; außerdem ist der Heiligenhof von Stehr fortlaufend unsere kleine tägliche Erbauung. Gestern fielen mir meine Aufzeichnungen über Kindheitserinnerungen wieder in die Hände und ich möchte sie wohl gern in eine entgültige Form gießen. Will ich aber damit beginnen, so kommt was anderes dazwischen. Von Freund Bruhns kam ein schönes Buch, „Erinnerungen an Ludwig Thoma“, dem Simplizissimusmann. Da er nichts dazu schrieb,

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kam ich zu dem Gedanken, er wolle wohl Weihnachten zu uns kommen und sandte ihm daher gestern eine Ladung in einer Patentstreitigkeit zum 22.XII. Hoffentlich versteht er das und bekommt keinen unnützen Schrecken. Durch ein Karte von mir ist er vorbereitet, aber wer weiß, ob er sie bekommen hat? Alles funktioniert nämlich äußerst mangelhaft. –
Für die Weihnachtsfeier der evangelischen Gemeinde am nächsten Sonntag hatte Geh. R. Hoelzer den Gerichtssitzungssaal zugesagt. Nun macht der Oberbürokratius Ruland Quertreiberei mit der Lichtberechnung. Ich werde eine Umleitung des Stromes um den Zähler für die betreffende Zeit durchzusetzen versuchen. Widerstände machen mir eine an sich gleichgültige Sache erst interessant. –
Auf dem Amt hatte ich kürzlich in einer Zivilsache (Alimantationsprozeß) eine scheußlich peinliche Vernehmung, deren Inhalt ich gar zu gerne mal in natürlich nur burlesk-komischer Form wiederzuerzählen versuchen möchte, etwa unter dem Titel „der erste männliche Versuch“. Es ist ein allzu heikles Thema, als daß nicht im nu eine Zote daraus würde. – Unter meinen Papierschnitzeln, die ich von Zeit zu Zeit der Ordnung wegen verbrennen muß, finde ich einen mit einer kleinen Skizze eines Naturblickes vom trüben Fenster meines staubigen Dienstzimmers: „Ein leuchtender Tag! Der Himmel glänzt im Hintergrund seiner Gewölbekapsel vom leichten lichten Blau oben nach hinten zu über alle Opalglanztöne bis zum schimmernden Silbergrau. Darunter und davor schieben sich riesige querliegende Brücken getürmter Wolken in langen, unten wie abgeschnittenen Züge immerfort nach Westen, von in hellblendender Sonnenbeleuchtung, von denen stets etliche kleine dunkelgraue Wolken sich noch etwas schneller hinschieben, vor lauter Eile über sich selbst stolpern, sich zersetzen, wieder ballen, bald auflösen, bald in kleinen Stücken als Sondersegler einherfahren. Dahinter immer tiefere Wolkenzüge, alle nach Westen drängend und schiebend. Fern am Horizont ist der Waldrand allenthalben in feuchtsatte Farben getaucht. Helle Kirchen in fernen Dörfern wirken wie kleine lustige Farbtupfen in dem Bilde. Vorn mitten durch den ganzen Himmel schaukelt sich ein breiter behäbiger Tannenbaum im Winde, als ob ein behäbiger starker Mann sich schüttle. Sein sattes Grün steckt voller rötlicher Untertöne, voller Lachen steht er hoch über den Obstbäumen und fühlt sich in der kalten Luft ordentlich warm an, als ob er rings alle Sonne für sich verschlucken wolle. Die Landschaft täuscht fast den Frühling vor mit all dem glitzernden, weichen feuchten Leuchten. Ich sitze im überheizten, von Braunkohlenasche überstäupten Amtszimmer wie ein gefangener Affe und starre durch die schmutzigen, seit Jahr und Tag ungeputzten Scheiben mit eisigen Füßen und heißem Kopf auf das bezaubernde und belebende Bild. Draußen drängen sich in dem steinernen Gerichtsflur die Leute um den Schöffengerichtssaal, vor meiner Türe läuft der Bonner Anwalt Dr. Cohn im Eilstampfschritt den schmalen Seitenflur auf und ab. Der Kopf schmerzt mich heftig, ich verliere die Geduld, gerate allmählich in Wutstimmung – und kritzle dies – nämlich jenes auf den Papierfetzen, der jetzt in den Ofen fliegt; in diesem habe ich eben ein tüchtiges Kohlenfeuer im Gange und Mariannchen darauf einen Apfel gebraten, den sie mit etwas Zucker jetzt eben in ihrem Bettchen hereinlöffelt. Somit hätte ich mich etwas erholt und kann an das erneute Studium des Relativitätsprinzip herangehen, um mir daran weiter die Hörner abzustoßen. Vorher giebts ein kleines Frühstück.
22.XII.19. Zu guterletzt im Jahre hatte ich am 18. ds. (nach dem Münstereifeler Gerichtstag und einem Nachmittagsbesuch in Klein Büllesheim bei ganz unglaublich nassem Nebelwetter) eine erbsengroße „Blutung“, auf die ich mir etliche Tage Stubenarrest auferlegte; dies fiel mir bei wohlgeheiztem Zimmer und mancherlei angenehmer Lektüre nicht sonderlich schwer, zumal es draußen stets stürmte und regnete. Helene hat leider viel zu tun, weil das Fräulein telegrafisch nach Hause berufen wurde, die Mutter scheint fast hoffnungslos erkrankt zu sein. Zum Glück sandte Frl. Ida (Menn, Ida) schon ihre Paßpapiere, sie wird am 15. Januar hoffentlich kommen. Das neue Mädchen aus Friesheim erweist sich als tüchtig und umsichtig und alles ist schon viel ordentlicher bei uns nach den wenigen Tagen, die sie hier ist. Gestern wagte ich mich mit Helene und Kindern zur evangelischen Weihnachtsfeier,

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die dann also doch zum Verdruß unseres Rechnungsoberbürokratius Ruland im Sitzungssaal des Amtsgerichts stattfand. Über dessen Leibschmerzen ob der Lichtberechnung ließe sich trefflich eine Satire schreiben. ( – Ja ich werde es versuchen müssen, der Stoff ist zu dankbar!) Am 2ten Weihnachtsfeiertage soll nun bei Willi in Siegburg die Taufe des 2ten Söhnchens sein. Es ist noch sehr fraglich, ob wir dorthin gehen können. Zu Weihnachten wurden wir durch Kröger gut mit Fleisch und Wurst versehen. Auch ist ein Karnickel geschlachtet. 2 Hähne, die auch noch dran sollten, haben sich damit vorab noch mal das Leben gerettet.
Aus Schultes Buch: Frankreich und das linke Rheinufer läßt sich mit fast mathematischer Sicherheit ablesen, was uns für die nächsten Jahre hier bevorstehen wird. | Freund Bruhns, der sich in Frankfurt ein Haus kauft und jetzt zu seiner Familie nach der Schweiz ist, sandte mir zu Weihnachten die Erinnerungen an Ludwig Thoma, die ich nun schon wiederholt mit großem Anteil lese. Ich fühle mich sehr gedrängt, ähnlich zu schreiben; es ist bei mir aber wohl noch zu früh dafür. Diese Tinte ist von einer ärgerlichen Dünnheit. Ich muß sie zu verbessern suchen. –
Weihnachten, 25.XII.1919. Wir hatten gestern eine wahrhaft erbauliche und tief befriedigende Feier des Christabends in dieser schweren Zeit. Die Lunge machte sich mir nicht mehr, wie etliche Tage zuvor, störend geltend, Helenes hausfrauliche Geschäftigkeit erreichte den Höhe- und Kulminationspunkt, ohne trotz bedeutender Anstrengung zu einem Knax zu führen und der Unterschied gegen das vorige Jahr mit der kaum überstandenen Operation und Rückkehr aus dem Krankenhaus war doch zu erfreulich, um nicht besonders dankbar empfunden zu werden. Vormittags sprach der Pächter Bohnen aus Straßfeld vor und brachte Helene auf heiße Kohlen, da sie noch unbedingt zur Stadt mußte. Außer einer Rechtsangelegenheit, die ich ihm gleich durch die Aufnahme eines Protokolls erledigte, brachte er noch einen Zentner prächtige Sommergerste (zu dem heute erstaunlichen Preise von 30 M, denn das Stroh kostet schon 22 - 24 M die 50 K!) und 1 ½ Pfd prächtigen Speck ihres eigenen Schweines mit. Eine geröstete Scheibe hiervon ergab für den Vater gleich ein treffliches Mittagsbrot. Die Kinder waren den Tag voller Erwartung und jubelnder Freude. Nach Tisch gingen sie zusammen den Großvater abholen, der auch richtig mit Frl. Fabian kam und mit größter Begeisterung nach Hause geschleppt und hier herzlich von uns empfangen wurde. Frl. Lisbeth hatte sehr annerkennenswerte Bäckerkünste geübt; allerhand halbsüßes Hefegebäck mundete allen ganz ausgezeichnet zu einem trefflichen Bohnenkaffee und es lag die Stimmung äußerster Behaglichkeit in unseren kleinen, gegen Wind und Wetter mit Schlagläden und Doppelfenster. (Steht wirklich so da.) Den Höhepunkt des Kinderjubels bildete natürlich die Bescherung im „Weihnachtszimmer“, wir knubbelten uns zu 8 in dem ohnehin sehr bedrängten engen Eßzimmer, sangen „so schön wie nie“ trotz Fräuleins Heiserkeit. Papa und Helene waren in Gedanken an die Großmutter (wie voriges Jahr) stark bewegt und Helene hatte, deren Überlieferung getreulich fortsetzend, einen jeden mit treffenden nützlichen und willkommenen Geschenken bedacht, so daß die Klugheit und Umsicht des Christkindchens ihre volle Würdigung fand. Herta hatte ihrer Mutter vorher auch nicht – ganz von sich aus – verfehlt, mehrfach dem Christkind einen Gruß an die Großmutter (Reitmeister) mitzugeben. Herta steht mit ihrer Großmutter immer noch in geistiger Verbindung. Frl. Fabian, ganz ohne alle Verwandten, war glücklich, den ihr sonst stets so schweren Christabend bei uns und namentlich mit Kindern zubringen zu können. So still und innig Herta sich an allem erfreute, ebenso unerschöpflich war Mariannchen, ihrer hellen Freude an allem Schönen durch Laute jeder Art und Mimik von äußerster Drastik Ausdruck zu verleihen. Vorher hatten beide gemeinsam ein gereimtes Zwiegespräch zweier Eheleute über einen Flausrock (von Frau Pastor Echternacht ihnen in der Sonntagsschule beigebracht) sehr gut mit verteilten Rollen und im Kostüm vorgetragen und dabei viel Beifall gefunden und Freude erregt.

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Mariannchen als kleine pummelige Landhausfrau sah dabei zu putzig aus und wußte auch schauspielerisch allerhand kleine Züge zu geben, die höchst ergötzlich waren. Sie trugen es voller Begeisterung zum 2. Mal vor. Zum Abendessen gab es dann nach einer tüchtigen Tomatensuppe einen ganz hervorragenden, förmlich friedensmäßigen Heringsalat (ein gebratenes Karnickel bildete einen vorzüglichen Ersatz für den fehlenden Kalbsbraten darin). Dazu einen schön mundenden 17er Graacher Münzlay; alles im besten Sinne nach der Art und Weise unserer guten und unvergeßlichen Mutter, Groß- und Schwiegermutter Reitmeister. Die Kinder waren schließlich ordentlich erschöpft von allem Freuen und Genießen. Papa und Frl. Fabian konnten mit reichgepacktem Köfferchen 9 ¼ bequem nach Bonn zurückfahren. Wir werden dieses schönen Tages noch lange mit Freude gedenken. –
Vorgestern besuchten mich RA Schneider und nachher auch College Simons und gestern vormittag war ich wieder auf dem Amt und kramte für Helene ein Buch als Weihnachtsgeschenk aus dem Schrank auf der Speisekammer dort heraus. Mein ganzes Sinnen und Trachten ist derzeit auf den käuflichen Erwerb eines Hauses hier in Rheinbach gerichtet, auch um meine beweglichen Mittel darin anzulegen. Hoffentlich bringt 1920 hierfür eine Gelegenheit.