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mehr so knapp sind und nicht fast alle Gerichte ausschließlich
aus Kartoffeln bestehen. Auf Dreikönige kam ein kleiner Junge von
9 Jahren in Holzschuhen, Militärmütze und zerlumpten Kleidern,
schlecht aber nicht gerade verhungert aussehend und bettelte um Kartoffeln.
Ich nahm ihn scharf ins Verhör, er gab offen und zutreffend Antwort,
war der Sohn eines Kesselschmieds aus Stollberg bei Aachen, Franzosen seien
dort sehr frech u.s.w. Er war vor 2 Wochen mit gutem Erfolg auf einer Hamsterfahrt
hier gewesen und machte nun eine zweite. Es stellte sich bald heraus, daß
eine etwa 11jährige Schwester ihn begleitete. Helene gab ihm ein Honigbrot
und etliche Kartoffeln. – Unsere Nachbarin hat an ihrem Quartiergast, einem
Major-sergeant von der englischen Expeditionsarmee, einem angenehmen Mann,
der als junger Ehemann vor allem sehr nett zu den Kindern ist und auch
sonst sich als den vorzüglichen englischen Gentleman zu zeigen bemüht
ist, einen hervorragenden Nährvater, der in Hülle und Fülle
mancherlei herbeischleppt, so daß selbst für uns noch manches
abfällt. So weit sind wir also, daß wir uns vom Erzfeinde ernähren
lassen. Was sie aber auch jeden Morgen vor dem Eingang der Strafanstalt
an Fett, Speck, Butter, Käse u.s.w. vor allem an gefrorenem fettem
Rindvieh verteilen, ist nicht zu sagen. Die Ordonnanz unseres Nachbarn,
mit der ich mich gestern morgen unterhielt, berichtete, daß viele
bei ihnen krank seien vom ewigen Speckessen. Ich schlug ihm Tausch von
Wein gegen Speck vor. Vielleicht läßt sich da etwas machen.
Aus einer Bekanntmachung über die Regelung des Eisenbahnverkehrs geht
hervor, daß die Blockadegrenze gegen Deutschland nunmehr die Rheinlinie
einschließlich der rechtsrheinischen Brückenköpfe ist;
wir sind also derzeit bereits aus der Blockade heraus und werden dies vermutlich
bald zu verspüren bekommen. Frl. Ida (Menn, Ida) kaufte gestern einen
hübschen bräunlich-grau karrierten Stoff zu einem Anzug für
ihren Bruder für 22 M das Meter. Für Dr. Trebes habe ich 21 m
zu 22 M gekauft, für mich selbst kürzlich einen schweren dunklen
Stoff für 24 M das Meter. – Die Kinder haben ab und an Schokolade,
wir Fleisch, Kerzen, Reis und derlei, alles von den Engländern. Gestern
gabs von der Stadt sogar ganz heimlich ein Handvoll Eier; auf solche sind
die Briten sehr versessen, wollen aber natürlich kein 58 Pf. fürs
Stück bezahlen. –
22. Januar 1919. Jetzt sind wir etwa ¼ Jahr hier und haben bereits
eine solche Fülle der Ereignisse hier erlebt, daß wir schon
wer weiß wie lange hier zu sein glauben. Um gleich mit dem letzten
anzufangen: Am Montag begruben wir unseren tüchtigen, aufrechten und
tapferen Strafanstaltsdirektor Georg Trautmann. Donnerstag zuvor war er
nachts an kurzem Anfall verstorben, nachdem er den Tag noch im Dienst gewesen
und der Schöffensitzung beigewohnt hatte. Er starb fast in den Armen
seiner britischen Quartiergästen, die sich dabei sehr als Ehrenmänner
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benahmen. Samstag darauf gebar seine Tochter den ersten Enkel, ein
Söhnchen, das er nun nicht mehr erlebte. Der Sohn weit in Sibirien,
seit 6 Monaten keine Nachricht mehr von ihm, der entsetzliche Fall Preußens
und des Reiches, die Revolution und wer weiß was sonst alles hatten
diesem stets straff sich haltenden, freundlichen Manne mit den klugen Augen
und dem sympathischen wohlgeformten Kopfe auf der kleinen Körperfigur
den letzten Rest gegeben. Ich hatte ihn in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft
recht lieb gewonnen. Leider nur einmal waren wir kürzlich mit ihm
bei Pfarrers in ihrem Lesekränzchen zusammen gewesen, wo Pfarrer Echternacht
eine recht mäßige Weihnachtsnovelle von Hertzog verlas und ich
daran anknüpfend eine kleine stilkritische Würdigung dieses billigen
Machwerks zu geben versuchte. Wir hatten den Eindruck, in kurzer Zeit an
Trautmann einen aufrichtigen Freund zu gewinnen. Seiner Liebenswürdigkeit
verdanken wir unser bescheidenes, aber recht wohnsames und unabhängiges
Obdach hier und gestern hatte ich Gelegenheit, seiner Witwe mich ein wenig
erkenntlich zu erzeigen durch Besorgung einer Angelegenheit ihrer Lebensversicherung.
– Fast zu gleicher Zeit ist in Bernkastel Cues der 80jährige ehemalige
Feuerwerksmajor Gohlke, der Schwiegervater von Kreisarzt Dr. Knoll gestorben.
Seit der amerikanischen Besatzung war dieser prächtige Greis, der
sein 50jähriges Militärjubiläum vor etlichen Jahren noch
so frisch und rüstig gefeiert hatte, schnell dahingewelkt. Der Fall
des Vaterlandes hat auch ihn wohl zu Fall gebracht, wie so manchen. Ich
sehe ihn stets mit seinen kurzen energischen Schritten, ganz in schwarz,
den Gehrock nach alter Manier in den Hüften eingeschnitten, über
die Bernkastler Brücke gehen; das frische Gesicht vom weißen
Bart umrahmt, immer freundlich und soldatisch straff, das Bild des wackeren
alten Militärs. Er war volle 20 Jahre älter als Trautmann, der
sich übrigens ebenfalls aus der Feuerwerkerei (er war Oberfeuerwerker
gewesen) mit außergewöhnlicher Begabung, Klugheit und scharfem
Blick zu hoher Stellung emporgearbeitet und dabei seinen Kindern bei aller
Beschränktheit seiner Mittel eine gute Erziehung gegeben hatte. Als
ich gestern seine privaten Papiere durchmustern konnte, bekam ich gleich
ein Bild davon, mit welch peinlicher Sorgfalt er seine geringen Mittel
verwaltet und bei aller Knappheit noch Ersparnisse gemacht und Kriegsanleihe
gezeichnet hatte. Es wehte mich ein Hauch ernstester Beamtenehrlichkeit
daraus an, denn ich bin überzeugt, es wäre ihm ein Leichtes gewesen,
aus seiner Stellung irgendwelche Nebeneinnahmen zu ziehen, wie es mancher
seiner Unterbeamten sicher vorzüglich verstanden. Ob es in der künftigen
Reichs- und in den noch künftigeren Bundesrepubliken auch so hergehen
wird? Ich möchte es fast verneinen.
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Jedenfalls bleibt uns heute nichts erspart: Bald überwiegt die
französische, bald die englische Brutalität bei den unerhörten
Forderungen der Waffenstillstandsbedingungen; kaum ist der Spartakus- (=
Kommunisten und Räuber-) aufstand in Berlin einigermaßen niedergeschlagen,
fängt dasselbe Spiel in Düsseldorf von neuem an; selbst die britische
Besatzung hier muß der ruhige Bürger als einen Schutz gegen
die rote Seuche betrachten. Diese geistige Erkrankung – sie kommt wie so
vieles aus dem Osten und wogt nach Westen – überschwemmt langsam und
sicher die ganze Erde, und wenn die Alliierten glauben, hier am Rhein bauten
sie einen Damm dagegen, so irren sie sehr. Die Besatzungstruppen werden
in den Städten ganz selbstverständlich davon ergriffen, mögen
sie noch so viele Stäbe hinlegen, Belehrungen abhalten, die Soldaten
von der Bevölkerung und von allem geistigen Einfluß Deutschlands
abzuschließen suchen u.s.w. Briten und Kanadier stechen sich gelegentlich
schon mal tot – so in Bonn kürzlich – oder liefern sich Gefechte untereinander;
so in Siegburg. =
Bei Weinhändler Pfahl hörten wir Sonntag - wir machen immer
noch Besuche hier im Philisternest, auf daß niemand sich benachteiligt
fühle – daß in Gladbach und Umgegend die belgischen Offiziere
selbst Frauen und Kinder kommen ließen und in Bürgerquartiere
legten. Die Folgen und Freuden kann man sich leicht ausmalen. Wir selbst
können noch über nichts klagen. Wir haben noch keinen Briten
im Hause gehabt und Mr. Brings, der Major-sergeant unserer Nachbarin versorgt
diese so reichlich mit allen Lebensmitteln, daß für uns im Wege
des Tauschverfahrens noch manches abfällt und wir gegen früher
unvergleichlich besser leben. Unsere Nachbarin, eine wirklich kluge Dame,
hat noch nie so viel Fleisch im Hause gehabt und Helene muß ihr zeigen,
wie alles eingeteilt und versorgt werden muß, damit nichts verkommt.
2 x haben wir dort abends zusammen dem weiterer Nachbar und den Frauen
solide Rumpunschabende gehalten, für die Mr. Brings den Rum und Wisky
zu stellen sich als besondere Ehre anrechnet. Zwischendurch verproviantiert
sich Marianne bei ihm mit Schokolade u.s.w. – Das Gericht ist immer noch
völlig belegt. – Beim Begräbnis des Direktors Trautmann war Staatsanwalt
Dr. Neumann von der Oberstaatsanwaltschaft Cöln hier, tauchte mit
Lackschuhen durch den handhohen Straßenschlamm und fand Rheinbach
sehr dörflich. Er kann ebensowenig wie LGerichtPräsident Junkermann
begreifen, wie ich mich aus dem „kultivierten“ Bernkastel nach hier habe
versetzen lassen können. Haben die Leute denn kein wurzelechtes Heimatgefühl
mehr? Neumann hatte große Besorgnisse ob der künftigen rheinischen
Republik und ihrer wahrscheinlichen Abhängigkeit von Frankreich, sogar
eventueller Besetzung des linken Rheinufers durch die Franzosen. Er schien
alsbald sich nach Preußen
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zurückziehen zu wollen. Ich setzte fröhlich dagegen: „Ich
bleibe hier und wenn wir japanisch werden.“ Und so denke ich es auch zu
tun. Die Heimat ist mal das nächste Vaterland und solange ich mein
Brot in ihr essen kann, tu ich dies unter allen Umständen und werde
auch unter den schlimmsten Verhältnissen meine Kinder deutsch zu erziehen
verstehen. – Jetzt kommt die neue Reichsverfassung heraus; schade, daß
es nicht ohne „Bundesstaaten“ hergehen kann, die verdammte alte deutsche
Eigenbrödelei wird ihre alten Siege zum Schaden des Ganzen erleben.
Das Wahlergebnis scheint im großen und ganzen das zu sein: Die Sozialisten
sind die stärkste Partei, aber kein Zusammenhalt der anderen in der
Minderheit. – Meine Kollegen haben jetzt endlich eine Gegenmine gegen Landrat
und Bürgermeister gelegt, deren freundlichem Verfügen über
das Amtsgerichtsgebäude gegenüber der britischen Besatzung wir
die Besetzung des Amtsgerichts zu verdanken haben. Vielleicht hats Erfolg
für die nächste Besatzung, wenn erst diese mal weg sind. Mich
selbst berührt es nicht stark. Ich halte meine Zivilsitzungen in der
Strafanstalt, desgleichen die Termine und arbeite die Akten zu Hause. Die
Kollegen aber kränkt es sehr. Leider sind sie zu umständlich
und ehrlich, um ränkevoll und energisch vorzugehen, wie es mir besser
liegen und sicher bald zum Ziele führen würde. Dabei hätte
es College Simons z. B. sehr leicht mit dem Divisionskommandanten, der
in seinem Hause wohnt, zu klüngeln. Er hat ihn aber überhaupt
noch nie gesprochen! – Ein Mr. Weamer oder ähnlich, britischer Offizier,
der gut Deutsch spricht und sich für deutsche Verhältnisse interessiert,
liegt bei JR Schneider und hat aus der Schule geplaudert darüber wie
die Gerichtsbelegung zustande kam. Ich holte ihn zu einer Verschwörung
der Collegen und er gab uns praktische Winke. – Traurig, daß bei
dem törichten Widerstand des Landrats = er will nichts von seinen
unbenutzten Diensträumen abgeben = eine solche Inanspruchnahme feindlicher
Offiziere zwischen „Königlich“ Preußischen Behörden nötig
ist. – Wenig erfreulich auch, einen Prozeß darüber zu verhandeln,
ob unter einem verflossenen Kriegsliebespaar sogar die Aufwendungen für
Liebespakete ersetzt werden müssen. Ich las den Leutchen gestern recht
eindeutig den Text und habe Aussicht, diese leidige Sache vergleichsweise
aus der Welt zu schaffen.
8. Februar 1919. Ein breiter reißender Strom flutet weit über
seine Ufer, übergießt die fruchtbare Ebene mit tosendem Gewässer
und läßt befürchten, daß er viel mehr Geröll
und taubes Gestein zurücklassen als fruchtbares Schwemmland absetzen
wird. Was in seinen Bereich gerät, ist zunächst einmal gründlichster
Vernichtung ausgesetzt. Von leidlich sicherer Anhöhe dies zu beobachten
füllt einem das Herz anfangs mit grausem Entsetzen und schließlich
mit einer öden leeren Stumpfheit. Solche und ähnliche Empfindungen
befallen einen, sieht man den trüben Strom
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unserer Jetztzeit mit tobenden Wirbeln vorüberbrausen. In erst
2 ½ Wochen seit meiner letzten Aufzeichnung hatten wir wieder derart
viel zu erleben, daß eine geistige Verarbeitung nicht möglich
ist und die wechselnden Bilder fast wie im Kino mit abscheulicher Geschwindigkeit
vor den Augen auftauchen, um sofort wieder zu verschwinden und blitzschnell
von anderen abgelöst zu werden. Man fühlt sich förmlich
geäfft durch die blöde und schnelle Aufeinanderfolge.
Heute friert es -15°C bei leichter Schneedecke, strahlender Sonne
und unbewegter Luft, so daß der Winter einem recht durch Seele und
Körper geht. Wochenlang war der Himmel grauverhangen und ließ
nur hin und wieder etwas Schnee niederrieseln. An solchem stillen grauen
Tag marschierte ich (letzten Dienstag, 4.2.19) mit dem Bonner Nachbar Wilhelm
Mai morgens ½ 8 zu Fuß in Pelz und Cylinderhut auf den alten
Wegen unserer Kindheit zu Fuß von Bonn nach Alfter, um dort unseren
guten Ohm (Rech, Johann d. Ä.) und mit ihm den letzten Familienzeugen
unserer glücklichen Olsdorfer Kindheit zu begraben. Es war ein würdiges
Begräbnis und seltsamerweise ich der einzige seiner Neffen, der ihm
das letzte Geleit geben konnte. Josef hatte sich höchst unnütz
mit der Schwägerin in Oldorf entzweit, konnte aber wegen des höchst
bedenklichen Zustandes seiner Frau auch so nicht mitkommen. Die Roisdorfer
Verwandten und zahlreiche aus der Kindheit her vertraute Gesichter frischten
die alten Bilder von neuem auf und das feierliche Hochamt in der eisig
kalten Dorfkirche war mir im Nu herum, ich hatte die ganze Zeit in den
hellen Kerzenglanz gestarrt und nur an die Jugendtage in Olsdorf gedacht.
Waren das noch Zeiten! – Alle anderen Erlebnisse treten hiergegen in den
Hintergrund. Das Begräbnis an dem windstillen grauen Wintertag in
der beschneiten heimatlichen Flur wird mir stets im Gedächtnis bleiben,
ebenso wie mein letzter Besuch bei Ohm im Kessenicher Krankenhaus. Auf
alles andere muß ich mich mit Mühe besinnen. (Am 31. Jan. 1919
abends starb Ohm, ohne daß er Schmerzen oder Beschwerden gehabt hätte,
nachdem er an einem tuberkulösen Brustgeschwür von Prof. Graff
operiert worden war, vermutlich an Miliartuberkulose).
Am 24. war ich in Bonn, besuchte nach Tisch den guten Ohm und brachte
ihm ein Glas Honig mit. Er freute sich sehr darüber, nicht minder
auch, daß ich gekommen war. – Soeben kommt die Kölnische wieder,
da muß ich hier pausieren. – In der Zeitung das alte Lied: Der Niederbruch
unseres deutschen Vaterlandes, ja das Gespenst des Hungers grinst aus allen
Ecken. In Weimar tagt die Nationalversammlung. Ob was dabei herauskommt?
Es kommt mir manchmal ähnlich vor wie unsere Tagungen hier, im Beamtenverein
nämlich, der plötzlich zu großer Blüte gelangt ist
und nun auch kommunalpolitisch ein Röllchen spielen will. Selbst mich,
der ich noch keine 4 Monate hier am Orte bin, will man in den Stadtrat
wählen, doch hoffe ich, falls ich überhaupt
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auf eine Kandidatenliste kommen sollte, darauf an solcher Stelle zu
kandidieren, daß der Ausfall gewiß ist. So sehr ich heute die
politische Betätigung eines jeden für nötig halte, der Richter
bleibt vielleicht doch besser aus dem Stadtklüngel, zumal ein Mann
von solch scharfer loser Zunge, wie sie mir nun mal im Maule sitzt. –
Am 28. Januar war Oberlandesgerichtsrat Kuttenkeuler von Cöln
hier, er kam auf einen Privatbrief von mir, hatte aber inzwischen auch
offiziellen Bericht über die unhaltbaren Gerichtszustände infolge
der englischen Besatzung bekommen. Er besah sich alles gründlich,
auch unsere „öffentliche Zivilsitzung“ im Zuchthaus und verhandelte
mit Briten und Landrat. Bis heute ist noch nichts geändert hier. Er
aß bei uns zu Tisch und erzählte manches Interessante von Köln.
Meine Versetzung ist von einem besonderen „Kriegsfall“ in Andernach abgesehen,
die einzige im Rheinland. Ganze 3 Amtsrichterstellen sind hier ausgeschrieben.
Dabei in Cöln an 100 Assessoren. Hier haben wir zur Zeit 3 Referendare
und 3 Assessoren. Die Aussichten für diese Collegen sind geradezu
jämmerlich. Am 30. machte ich eine große Hamstertour, kehrte
erst bei Kröger in Kl. Büllesheim ein und aß dort zu Mittag,
ging dann nachmittags mit dessen Sohn zu Mirbach nach Gr. Büllesheim,
wo es Speck und selbst etwas Butter gab. Bei prächtigem Winterwetter
besahen wir uns den schwiegerväterlichen (Schwiegervater: Reitmeister,
Peter) Grundbesitz von Großbüllesheim aus auf Straßfeld
zu, in einem geschlossenen Block zwischen 4 umsäumenden Wegen gelegen,
den sich die 3 Pächter Kröger, Steinhausen und Mirbach untereinander
geteilt haben. Es war ein erfreulicher Blick über die weitgestreckte
große Parzelle in dem grauen Winterkleid , ringsum in der Ferne die
Kirchtürme der Dörfer. Nachmittags hatte ich dann in Kl. Büllesheim
einen solchen Rucksack voll zusammengehamstert, daß an ein Tragen
kein Gedanke war. Der Pferdehändler Isidor Oster aus Flamersheim brachte
mich glücklich zum Bahnhof und hier erwartete mich Gretchen mit dem
Handwagen. Eine weitere Frucht jener Hamsterfahrt war der gestrige Besuch
des Pächters Heinrich Mirbach, der schon vom Großvater Reitmeister
Land in Pachtbesitz hatte, ein prächtiger 67jähriger, sehr rüstiger
Junggeselle, der in Steuersachen sich beraten ließ und ½ Pfd.
Butter und etliche Eier mitbrachte. Butter ist derzeit fast nicht aufzutreiben.
Für Kartoffeln werden bis zu 31 M der Zentner geboten und in den Städten
klopft die Hungersnot an. Wir sollen 2 Pfd. pro Kopf und Woche zurückgeben,
was 3 - 4 Zt. für uns ausmachen würde. Auf der Strecke Euskirchen
- Bonn ist die II. Wagenklasse theoretisch abgeschafft und so fährt
man II. mit Fahrkarte III. = In Bonn besuchte ich neulich am Tage vor Ohms
Begräbnis Frau Gerhardt, wo es zum Tee – natürlich englischer!
– Schinken und sogar frisches Schweinernes gab. Abends begleitete ich Walter
nach Hause und suchte ihn nochmals abends nach Tisch auf. In seiner ungewöhnlich
großen weiträumigen Wohnung fühlte ich mich noch mal wohl
in geistig hochstehender und künstlerisch ernsthaft angeregter Umgebung.
Es wirkte
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auf mich wie ein warmes prickelndes Bad und veranlaßte mich vermutlich
zu manchem übermütigen Schwatzen. Es ist aber nötig, mitunter
derartige Unterhaltung und geistige Erfrischung als Gegengewicht gegen
die bleischwer drückende Wirklichkeit zu haben. Walter Gerhard hat
eine famose Bücherei, für die seine kluge und recht sympathische
junge Frau volles Verständnis zu haben scheint. Sie ist vorzügliche
Musikerin, dabei ihm eine Stütze in geschäftlichen Dingen. Seine
Bildersammlung, vornehmlich gute Stücke von August Macke und Heinrich
Brüne ist sehr erfreulich. –
12. Februar 1919. Herrliche Frosttage, doch sieht man mit Bedenken
die Kohlenvorräte zusammenschmilzen. Na, auch dafür findet sich
schon Rat. Bei den Besatzungsengländern scheint es langsam zu rumoren
anfangen. Der Ton, in dem die Mannschaften über ihre Offiziere zu
sprechen beginnen, ist recht unschön und erinnert in vielem an ähnliche
Erscheinungen bei uns vor Jahresfrist. In unserer nächsten Nachbarschaft
sind die Quartiergäste namentlich recht erbittert darüber, daß
ihnen der bereits gewährte Heimatsurlaub im letzten Augenblick kurz
vor der Abreise widerrufen wurde. „Offizier Schweine“ und dergleichen ist
leicht zu hören. Unser Nachbar Biggs ist nun glücklich nach London,
er hatte seinen Genossen Flackfield (natürlich Sohn eines Frankfurters
Flachfeld!) neulich mal wieder zu Frau Opificius mitgebracht und diese
erzählte gestern abend hiervon Erfreuliches: Besagter sergeant – übrigens
ein ausgesprochener derber Spaßvogel – lobt das deutsche Volk und
beschimpft Kaiser und Kronprinz, der „Prinz“ (d. h. der Hund dort) sei
besser, stellt sich vor das Kaiserbild und streckt die Zunge heraus u.s.w.,
kurz reizt Frau Opi. derart, daß sie voller Wut ihm eine kräftige
Ohrfeige appliziert. Dafür bittet er zum Schluß noch um Verzeihung.
– Jedenfalls famos! – An unseren Gerichtssitzungen im Sitzungssaal der
Strafanstalt scheinen die Engländer Geschmack zu gewinnen. für
Mittwochs haben sie das Zimmer von 10 - 3 Uhr für ihre Strafsitzungen
in Beschlag belegt. Gestern wurde das Kaiserbild dort bereits zu diesem
Zwecke abgehängt. Also jetzt Dienstag: meine Zivil-, Mittwoch: Britische
Straf-, Donnerstag: unsere Strafsitzung im gleichen Raum. Statt uns andere
Räume zu beschaffen, beginnen die Briten sich nun selbst im Landratsamt
auszudehnen. Politisch scheint unser schon reichlich finsterer Himmel sich
nun vollends zu verdüstern. Jede Waffenstillstandsverlängerung
bringt tollere Forderungen und Lebensmittel giebts anscheinend noch lange
nicht. Dafür toben die wütigen Anarchisten in Düsseldorf,
Wesel und neuerdings aus Münster, Braunschweig und wo weiß ich.
Die Polen vor Bromberg, kurz es ist zum Haare raufen. Die Nationalversammlung
in Weimar sieht einem gewissen stupiden deutschen Reichstag ähnlich.
Die Baiern wollen mal wieder für ihre Reservatrechte sterben. Die
rheinische Republik ist anscheinend
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verschoben. Warum die Kölnische 8 Tage verboten war, ist mir noch
nicht recht klar. Außer Elsaß - Lothringen dürfte
uns auch wohl das Saarbecken verlorengehen.
23.2.1919. Der Frost ist vorbei und hin und wieder will sich schüchtern
der Vorfrühling hervorwagen, mit löblichem Eifer von unermüdlich
lärmenden Spatzenscharen begrüßt. Im Mistbeet keimt es
emsig, leider aber nicht vom Eingesäten, sondern –lauter Hafer, den
die britischen Gäule nicht recht verdaut haben und der nun durch die
Misterde zum Licht drängt. Im Zimmer gekeimte Tomaten erleiden wechselvolle
Schicksale, indem sie häufig umgestoßen werden und dann einer
groben Verschulung unterliegen, die ihnen schlecht bekommt. Die Briten
sind nach wie vor hier, schließen Pachtverträge auf 3, ja man
hört sogar von 5 Jahren (ähnlich wie 1914 in Frankreich!) und
richten sich allenthalben häuslich ein. So gestern wieder in der Strafanstalt,
in denen ihnen die 3 größten Büroräume geräumt
werden mußten. Es scheint dies im Zusammenhang mit den „Gerichtsumtrieben“
zu stehen; denn tatsächlich ist nun erreicht, daß wir im Landratsamt
3 Räume bekommen und dort zum Verdruß des Landrats Recht sprechen
werden. Zur besonderen Genugtuung nicht nur meiner Collegen gegenüber
dem stets ablehnenden Verhalten, sondern auch zur Freude unseres Kassenrechnungsrats
darüber, daß wir nun nachdem die Briten unsere Kohlen verheizt
haben, dort auf Kreiskosten uns beheizen lassen. So hat jeder seine kleinen
Freuden! – Aus meinem Vorschlag, mit Pauken und pipe men in Hochländertracht,
Dudelsack ect. feierlich unter präsentiertem Gewehr ins Landratsamt
einzuziehen, wird wohl leider nichts werden, wiewohl der die Gerichts-„belange“
wacker vertretende Lt. Mr. Weaver eine militärische Wache zu Verfügung
stellen will. Immerhin habe ich heute unseren ersten Gerichtsschreiber
Ruland angestiftet, ein Gerichtsschild an den Landratsamtseingang zu hängen
und das wird er schon mit größtem Vergnügen verüben.
–
Anfang verflossener Woche starb der Sohn des Kreisarztes Kessel hier,
mit dem ich ein fast freundschaftliches Verhältnis seit unserer gemeinsamen
Bestrahlungskur im Herbst 1917 in der Universitätsklinik für
innere Medizin in Bonn hatte. Der Vater ist tief erschüttert, die
Mutter findet eher Trost in religiösen Übungen. Er war mir ein
sympathischer junger Mensch. Sein Tod kann noch mancherlei Folgen hier
haben; denn wenn seine Mutter von hier weg will, ist die Familie Simons
gesprengt und es könnten leicht gleichzeitig mehrere größere
Hausgrundstücke hier an den Markt kommen. Mit einem aber ist der Markt
schon leicht überfüllt und alle Hausbesitzer erwägen ängstlich
derartige ungünstige Konjunkturen. Denn
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zur Zeit grassiert noch die heftigste Wohnungsnot, auch hier, und bei
der gewaltigen Geldblähung stehen bebaute Grundstücke hoch im
Wert, oft im doppelten der Anschaffungskosten. Da ist kein Hausbesitzer
im Städtchen, der nicht jetzt heimlich den heutigen Wert seines Anwesens
brennend gern durch Verkauf liquidieren möchte, zumal die fortgesetzte
Einquartierung einem je mehr je gründlicher die Freude am eigenen
Hause verderben kann. Zumal je besser das Haus eingerichtet und ausgestattet
ist, um so größer ist der unwiderstehliche Zuzug britischer
Quartiergäste. Nur die leidige Unmöglichkeit, für sich selbst
dann ein Obdach zu finden, hält den Besitzer vom Verkaufe ab, doch
beobachtet er mit ängstlichem Mißtrauen jeden Vorgang, aus dem
er schließen kann, daß Verhandlungen über einen Hausverkauf
im Gange sind. Bei einer Unterhaltung mit den beiden hausbesitzenden Ruland
und Bommerich, die heute morgen mit Frauen bei uns Besuch machten, war
dies ebenso erfreulich zu beobachten, wie vor kurzem gelegentlich unserer
Besuche bei Weinhändler Müller und Katasterbeamten Assenmacher.
Ich gelte nach wie vor für die Hausbesitzerhechte als ein fetter Karpfen,
den jeder, wenn auch nicht heute, so doch später bei gelegener Zeit,
da man sich zur Ruhe und anderswo niederlassen möchte, gern selbst
schnappen möchte und daher jedem anderen Mithechte unchristlich mißgönnt.
Ich selbst aber gedenke vorab gar nicht, meine lächerlich billige
Wohnung, die mich ganze 420,00 M im Jahre kostet, aufzugeben, um mich mit
Zinsen, täglichem Ärger über britische Einquartierung und
sonstigen Annehmlichkeiten zu belasten. Klein, wenn auch nicht mein, so
doch mir allein und ohne Einquartierung, so lebt es sich heute bene, auch
in Rheinbach. College Simons aber ist seines „schönsten Hauses“ hier
nun so herzlich satt, daß er scheinbar mit rechtem Ernst ans Verkaufen
denkt. Für 40 Tausend soll er es losschlagen wollen, ob ich ihm aber
derzeit 30 bieten möchte, weiß ich nicht. Es kann nicht ausbleiben,
daß Hunger und Auswanderung letzten Endes die Folgen unseres gewaltigen
Sturzes sein werden. Dann aber sinken bei ungenügenden Kornzöllen
die landwirtschaftlichen Werte und später auch die Häuser, das
muß mit eiserner Notwendigkeit kommen, hat erst unsere derzeitige
Geldblähung ein Ende und wirkt sich das Kriegsunglück erst einmal
recht aus.
Vor 8 Tagen war ich auf einer Bauernvereinsversammlung hier, wo den
Bauern recht eindringlich die Folgen des neuen Gemeindewahlrechts vorgeführt
wurde. Bürgermeister Commesmann wurde weil Nichtbauer als 2. Vorsitzender
herausgewählt. Busch redete nicht übel und v. Loe etwas zu gelehrt.
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Jedenfalls aber beginnt sich der rheinische Bauer emsig zu rühren.
Geld hat er derzeit genug und so soll er jetzt eifrig staatsbürgerlich
und politisch in Bewegung gebracht werden. Vielleicht, daß ich dabei
nicht bloß untätig zusehen werde. –
Jedenfalls schnuppert alles die Witterung kommender Zeiten. In München
tobt der Bürgerkrieg, im Ruhrrevier der Spartakus, den das Volk auf
dem „2. a“ betont. Ich kann mir nicht helfen, das ganze hat verfluchte
Ähnlichkeit mit manchen Bewegungen der Reformationszeit; wenn nicht
trotz aller Reichsverfassung, die sich ja recht schön anläßt
– die Richter sind darin fein heraus! – schließlich doch wieder ein
deutsche Kleinstaaterei aus diesem trüben Meer der Bewegungen heraustauchen
wird! –
Ich war die letzten beiden Wochen je einmal in Bonn und traf dort Mama
in recht guter körperlicher Verfassung. Vorgestern feierte sie ihren
74. (73 Jahre alt) Geburtstag, zu dem ich ihr einen guten Kuchen von Helene
mitgebracht hatte. Papa Reitmeister dagegen ist, natürlich nur Hersels
wegen, in fortgesetzter Aufregung. Vorletzte Wochen widersprach er allen
meinen Ratschlägen, seine Vorräte vor der gewißlich zu
erwartenden britischen Einquartierung wegzuräumen, am letzten Donnerstag,
als ich mit ihm nach Hersel ging, waren bereits geräumt: das gesamte
Lager, da im Packraum schon eine warme Duscheinrichtung, vulgo Ortsbadestube
eingerichtet war. Der Hof steht voll Fahrzeuge einer Maschinengewehrkompanie,
im rechten Schreinereiraum befinden sich Waffen und Munition unter Verschluß,
die mechanische Schreinerei wird Quartierraum, desgleichen die oberen Fabrikräume,
in denen Bettstellagen für 50 Mann eingebaut werden sollen. Im alten
Dampfkesselraum ist ein Depot von prächtigen Packsätteln, die
Gartenwiese ist unterminiert: Kleiderentlausungsanstalt. Alle Tore und
Türen stets offen. Was das für Papa heißen will, kann nur
der verstehen, der ihn seit Jahrzehnten genau kennt. Es soll mich nicht
wundern, wenn er es schließlich nicht mehr erträgt. Willi ist
mit Siegburger Arbeiter dort gewesen und Frida hilft mit englischen Sprachkenntnissen.
2 dort einquartierte Offiziere verhalten sich recht angenehm. Bei Wielers
haben sie Messe. Durch Bärtel Faßbender hoffe ich Rhabarberstecklinge
von Bergheim oder Mondorf zu bekommen. –
Einen bunten Tag voller Eindrücke und Erlebnisse brachte mir der
letzte Freitag (21., Mamas Geburtstag). Ich fuhr ½ 9 nach Ahrweiler,
wurde in Rolandseck von amerikanischer Besatzung wegen einer Datumsänderung
auf meinem Reisepaß als vermeintlicher Paßfälscher aus
dem Zuge geholt und angehalten und sah mich im Geiste bereits unter Eskorte
nach Mehlem gebracht. Mit meinem gelinden Englisch brachte ich die Leute
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nachher im Wartesaal zur Ansicht, daß ich nichts am Paß
geändert hatte und sie gaben mir dies sogar schriftlich. Leider war
damit der Zug weg und damit auch die Möglichkeit, den Vernehmungstermin
in Ahrweiler rechtzeitig wahrzunehmen. Ich war bei allem über meine
eigene Ruhe erstaunt. Der beanstandende Sergeant begleitete mich noch zum
Postamt, wo ich telefonieren konnte. Dann fand ich Gelegenheit zu einem
herrlichen Fußmarsch nach Mehlem, wo ich Tante Sophie (Brügelmann,
Sophie) zu besuchen gedachte. Es konnte einen schon mit bitterer Wut erfüllen,
wenn man die altbekannten großen Gasthäuser mit ihren Rheingärten
voll amerikanischer Soldaten sah, die sich allenthalben recht zwanglos
herumlümmeln, die Straße voller Kraft- und Pferdefahrzeuge.
. . Eine klare regenfeuchte Luft ließ vor weichem hellgrauem
Wolkenhimmel die Berge in satten Tönen gewaltig nah sich hintereinander
auftürmen, der Rhein ging hoch, allenthalben zeigen die fahlen Baumbestände
der Ufersäume ein Knospen des Vorfrühlings, die Vögel lärmen
und alles atmet die würzige Luft unseres herrlichen Stromes im Rahmen
seines schönsten Bildes stromauf, stromab, verfl– ja, daß wir
diese grünlichbräunlichen gelben Läuse in der Landschaft
haben müssen. Unterwegs war mit einmal „Amerika“ zu Ende und es begann
England. Wieder beargwöhnte die Wache, die halbenwegs nach Mehlem
an der Straße stand, den Paß und ließ mich aber doch
bald meines Weges ziehen. Der Besuch wurde im Hause der Witwe Le Brun,
das sich bald fand, sehr freundlich aufgenommen. Tante Sophie, kürzlich
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mageren Händchen geworden, im Gesicht und Geist aber noch frisch.
Im Gedanken an ihre Schwester Helene, unsere herzensgute Schwiegermutter,
wurde ich mit Essen vollgestopft und trat die Weiterreise an, nachdem ich
noch Frau Le Brun im Gartenkostüm kennen gelernt und ihren Garten
flüchtig bewundert hatte. Diesmal gelang die Durchfahrt durch die
Paßenge und in Ahrweiler holte mich am Bahnhof bereits ein sehr netter
Referendar Spichs (aus Saarlouis) und der Wagen der Ehrenwall’schen Anstalt
ab. Es stellte sich heraus, daß besagter Referendarius ein Bekannter
von Weinz in Berncastel war und von diesem auch zum Berkastler Landratsamtsverwaltung
eingeladen worden war. In der Anstalt begrüßte mich der Chef
und Eigner, ein kleiner freundlicher Greis mit wallendem Barte und geradezu
auffälliger Freundlichkeit und stellte mir seinen Schwiegersohn, ein
Dr. Marx vor. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl bei dem allem,
wie wohl man sich höchst korrekt und höflich, mir wohl etwas
zu höflich,
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benahm. Über das arme Menschenskind, ein greises altes Frl. Scheib
von Gut Hospelt bei Münstereifel, die ich entmündigen soll aber
vermutlich nicht werde, lieber ein anderes Mal ausführlich. Ihre Vernehmung
gab mir jedenfalls die Gewißheit, nicht vergeblich dorthin gegangen
zu sein. – ½ 3 besuchte ich Frau Röder, geb. Harzheim, die
Tochter einer Base meines Vaters. Sie freute sich sehr darüber, zeigte
mir ihr ganzes, sehr praktisch gebautes und wohlversehenes kleines Haus,
bewirtete mich mit Kaffee u.s.w., ja gab mir sogar eine gute Flasche Ahrwein
mit, als ich solchen nicht trinken wollte. Ich freute mich ordentlich darüber,
daß die amerikanischen Paßmänner auch zu diesem Besuch
Gelegenheit gegeben hatten, denn bei rechtzeitiger Vernehmung wäre
ich alsbald wieder heimgefahren. Vater Röder, der ja nach Bernkastel
versetzt ist, dort aber einige 200 - 230 Amerikaner in seiner Wein- und
Obstbaumschule hat, war leider nicht da. 4 prächtige Kinder sorgen
für Nachwuchs. Ich kann verstehen, daß es ihm schwer wird, aus
dem eigengebauten Hause in diesem entzückenden Erdenwinkel vor den
Toren Walporzheims bei Ahrweiler wegzuziehen. Ein windiger, reich mit glänzend
weißen Wolken befahrener Himmel spannte sich über dem fast geschlossenen
Rund der scharf charakteristischen in rebenbestandenen Terrassen abfallenden
Ahrberge, nach Osten übersäumt von den Kämmen rechtsrheinischer
Höhenzüge und der Landskrone. Die silbrige Sonne übergoß
alles mit blendendem Licht, die Straße schnurrte voller Auto, Räder
und Motorfahrzeuge, Züge von Soldaten und Kolonnen marschierten über
das hellglänzende Kleinpflaster, dazu die windbewegte zitternde Luft,
ein Bild so voller Leben und Bewegung, daß ich stets zum Fenster
hinausgucken mußte. Später brachte die Eisenbahnfahrt im (auch
vor) sehr stark und dicht besetzten Abteil etwas Ruhe nach all der Augenweide.
In Remagen benutzte ich eine reichliche Stunde Aufenthalt zu einem Rheinbummel,
bei dem der Anblick der allenthalben auch dort in großen Gasthöfen
und Terrassen herumflegelnden Amerikaner und eines sternenbannergeflaggten
Dampfers der Köln - Mülheimer - Gesellschaft einem ernstlich
den Genuß an dem reichen Landschaftsbild beeinträchtigte. Die
Erpelerley stand im beginnenden Abenddüster herrlich in finsterer
Pracht dort, ordentlich drohend gegen Westen und die Linien der großzügigen
neuen Sinziger Brücke schaden der Landschaft nicht, geben ihr vielmehr
eine famose Führung auf den Leykopf zu und werden ein unvergeßliches
Andenken an den großen verlorenen Weltkrieg bilden, der diese Brücke
dorthin
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spannte und damit ein schöneres und sachlicheres Denkmal setzte,
als wenn oben irgendeine mißglückte Bismarcksdenkmalsanlage
die Berglinie zerstörte. –
Im überfüllten, gänzlich dunklen Zug hielten eine Reihe
einsichtiger Männer eine sehr anregende Unterhaltung, bei der sie
allerlei Ursachen unseres Zusammenbruchs mit Ruhe und Sachkunde behandelten.
Verschiedene waren im Felde gewesen. Das Toben der Spartakiden betrachteten
alle als Wahnsinn. Unserer Aushungerung gaben sie am Ende mit rechtem Widerwillen
aber ohne sonderlichen Widerspruch mit die Hauptschuld. Ich stand und hörte
so angeregt zu, ohne selbst zu reden, daß ich in Bonn fast nicht
ausgestiegen wäre. Auffällig war mir auch hier, daß solche
vernünftig denkende, scharf sehende und urteilende Menschen nicht
mal dazu kommen, über die Größe und Gewalt jener Gedankenwelt
nachzudenken, die wir heute unter dem Namen Bolschewismus, Spartakismus
u.s.w. zusammenzufassen belieben und die die unterste Volksschicht doch
scheinbar mit einer ehernen Gewalt eines völlig unabwendbaren Naturereignisses
nach Westen, alles versengend, auf ihrem Wege. Jetzt ist sie dicht am Rhein
angekommen, noch schützt uns hier auf der linken Rheinseite die feindliche
Besatzung. Diese mag noch so stark und noch so gut diszipliniert
sein, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie diese unzweifelhaft
geistige Bewegung innehalten oder gar zurückdrängen kann. In
Frankreich scheint mir schon die einer Lawine vorhergehende plötzliche
Veränderung des Luftdrucks bemerkbar zu werden. Auf den Ministerpräsidenten
Clemenceau hat man geschossen; er war nicht tot, ist aber anscheinend schwer
verletzt. (Eisner, der alte Hansnarr der bairischen Republik war gleich
tot). Was die nächsten 2 - 3 Jahre uns bringen werden, kann nur schlimmer
sein, jene geistige Volksbewegung wird noch lange toben und weiter sich
wälzen, auch nach England und Amerika, und bleibt die gelbe Race von
ihr verschont, so giebt ihr das vielleicht ein Übergewicht bei der
späteren Abrechnung (NB: Daß nach dem neuen amerikanischen Flottenprogramm
diese sich eine Flotte bauen wird, die stärker ist als die beiden
von England und Frankreich zusammen, ist erbaulich!). Schließlich
könnte uns hier eine bolschewistisch infizierte feindliche Besatzung
im Verein mit unseren eigenen Bolschewisten noch das Tollste vom Tollen
liefern. Wer weiß, was
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noch kommt?! Jedenfalls ist diese, dem besitzenden Gebildeten und Ungebildeten
als Wahnsinn erscheinende geistige Bewegung lange nicht zum Abschluß
gekommen und vermutlich muß vieles wieder neu aufgebaut werden, worüber
diese Flut ihr Geröll gedeckt haben wird. Ich mag mir aber denken,
daß die von ihrer „Wahrheit“ ergriffenen darin eine neue und fast
religiöse Offenbarung erblicken, die sie zu den höchsten Leistungen
und rücksichtslosen Opfern zu begeistern vermag. Leider sehe ich für
mich keine Möglichkeit, mich in solchen Gedankengang zu versetzen.
Vielleicht sehen wir heute auch an dem Ganzen lediglich das Zertrümmernde,
mit dem nun mal alle große Strömungen behaftet zu sein scheinen,
und es giebt vielleicht doch noch Keime oder Ansätze zu irgend etwas
Gestaltbarem darin. Wer die Schwere der Zeit übersteht, wird noch
manches zu sehen und zu hören bekommen. –
Zu Hause aß ich dann mit meiner Mutter, die nachmittags mit Josef,
dessen Frau und Anita ihren Geburtstag mit reichlichem Kaffee gefeiert
hatte, ziemlich früh zu Abend, sprach noch mit Vater Reitmeister,
der zur Beglückwünschung vorsprach und ging dann bis 9 Uhr zu
Walter Gerhardt hinüber, wo ich mich mit ihm, seiner Frau und einer
recht einsichtigen Dame Meisenbach sehr angeregt unterhielt, auch einige
beachtenswerte Winke über die Ehrenwall’sche Anstalt bekam u.s.w.
Wir sprachen von seltsamen Menschenschicksalen und Walter erzählte
eine Geschichte eines Kriegskameraden von ihm, deren Spannungen sie selbst
miterlebt hatten: Ein junger Sohn eines reichen Aachener Fabrikanten ist
vom vorsorglichen und um die Versorgung seiner Kinder ängstlich bedachten
Vater mit der Tochter einer anderen Familie verlobt. Der junge Mann, reichlich
willensschwach, ist hiermit einverstanden; in dem Mädchen hat sich
so etwas wie eine Neigung für ihn entwickelt. Er wird im Kriege verwundet,
erhält einen Erholungsposten und kommt dazu, Kriegstrauung zu halten.
(in Hönningen?) Hierzu ist die Braut da, Gäste sind versammelt,
Essen im Gasthof vorbereitet, kurz alles fertig, als eine Depesche seines
Vaters eintrifft, der ihm anbefiehlt, von der Kriegstrauung abzustehen
und die Sache aufzuschieben. Allgemeines Tableau. Energisches Zureden auf
den Bräutigam, die Trauung sofort zu vollziehen, alsdann vom Postamt
dem Vater durch Fernruf mitzuteilen, seine Depesche sei zu spät gekommen
u.s.w. Der Bräutigam tut nichts von alledem, geht schließlich
einfach weg und überläßt Braut und Gäste seinen Freunden.
Die Braut fährt auch nicht etwa entrüstet heim, sondern bleibt
auch dort und pflegt späterhin den Bräutigam, nachdem dieser
einen Rückfall seiner Nachwehen eines Lungenschusses erlebt hat. Sie
hängt an ihm, ob ihr eigener Vater geschäftliche Verluste erlitten,
bleibt unklar. Schließlich löst sich die Sache. Das Mädchen
heiratet einen anderen und der Exbräutigam überrascht seine Freunde
durch die Mitteilung, er werde
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bei dem neuen Paar Hausfreund werden. Dabei war das Mädchen hübsch
und ansprechend, er dagegen durchaus nicht. –
Abends war meine Mutter noch wach im Bett, und da ich im Zimmer nebenan
schlief, unterhielten wir uns fast noch bis Mitternacht über alles
mögliche. Ich hatte der Schwägerin Lisbeth (Rech, Elisabeth geb.
Frings, Witwe von Christian Rech) in Olsdorf geschrieben, ich wollte zur
Nachlaßregulierung von Ohm zu ihr kommen, sie schrieb mir ab in einem
schön abgeschriebenen, augenscheinlich von fremder Hand sehr höflich
aber mit allerlei Verwechslungen zwischen mir und Bruder Josef aufgesetzten
Fehdebriefe, in dem sie ankündigt, sie werde durch einen Vertreter
verhandeln. Da für uns ganz offensichtlich ist, daß ihr Hauslehrer
Lessenich und dessen Familie, vermutlich auch der Vater dahintersteckt
und gleiche Einmischungen Dritter in unsere Familienangelegenheiten bei
nächster Gelegenheit wieder zu erwarten sind, so schrieb Mama sogleich
eine letztwillige Verfügung, die dergleichen nach Möglichkeit
ausschließen soll. Mama erzählte mir u. a., daß mein verstorbener
Vater ihr im Jahre 1900, als Bruder Christian seine unglückliche Heirat
schloß, diesen Traum erzählte: „Ich sah, wie Ohm in ein Krankenhaus
ging, er war nicht lange drin, so starb er.“ Nach 18 Jahren geschah dem
so. Mama aber hatte seit jener Traumerzählung oft die Vorstellung,
sie sähe Ohm mit einem in ein rotes Sacktuch zusammengeknotenen Bündelchen
ins Johannishospital in Bonn wandern. – Auch spaßige Geschichten
wurden erzählt und herzlich gelacht dabei. Erst nach Mitternacht schlief
ich ein.
Am anderen Morgen hatte ich das dringende Bedürfnis, bald nach
Hause zu reisen und gab – es regnete zudem heftig, meinen Plan einer Kölner
Reise auf. Mit Mama hielt ich nochmals ein recht ausgiebiges Frühstück
und fuhr dann 924 nach Rheinbach zurück, wo ich Mariannchen an Husten
und Grippe krank im Bettchen vorfand. Sie hatte schon andauernd nach mir
gefragt und war froh, mich wiederzusehen. Helene hatte mancherlei Arbeit
gehabt. Anderen Tages war der anscheinend gewaltige Gerichtsaktenhaufen
bald abgearbeitet und jetzt wäre alles wieder im eingefahrenen Geleise,
wäre nur erst das seit Wochenfrist angestellte Kinderfräulein
aus M’Gladbach hier. –
12. März 1919. Es liegen einige unruhige Wochen hinter uns. Der
Wegzug unserer Nachbarsleute Opificius traf sich höchst unglücklich
mit einem schmerzhaften Muskelrheuma, das Helene heftig angriff, das Dienstmädchen
hatte eine leichte Magenblutung mit heftigen Beschwerden, das Frl. Herde
blieb wegen Grippeerkrankung aus, dazu mitunter 3 - 4 Personen mehr zu
Tisch, eine Schwester von Frau Opificius zum Übernachten, dazwischen
die Unruhe der ewig und überall Abschied nehmenden Familie, die schließlich
ganz erschöpft von alledem war, kurz es war wenig schön. Montag
vor 8 Tagen war der Umschlag, „Opi’s“ reisten nachmittags weg, abends kam
unser neu angeworbenes Fräulein aus M’Gladbach, Helene verlor das
Rheuma und Gretchen wurde wieder arbeitsfähig. Ich hatte in jenen
Tag früh morgens schon lustig zu hüpfen, um Herta zeitig ins
„Garnatt“ (?) zu bringen. Ende der Woche benutzte ich dafür
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eine gerichtliche Vorladung zu Ohms Testamentseröffnung, um einen
längeren Abstecher nach Bonn und Cöln zu machen. In Bonn gabs
eine Besprechung mit Dr. Haase, Lisbeths (Rech, Elisabeth) verständigem
Anwalt. Abends war ich kurz bei Gerhardt, denen ich 30 Pfd. Kartoffeln
mitgebracht hatte. Da wir nächsten Sonntag der Bahnsperre wegen nicht
zu Papas Geburtstag (74 Jahre alt) fahren konnten, so hatte ich schon Geschenke:
Honigkuchen, Glas Honig und einige Äpfel, alles eigenes Gewächs,
mitgenommen. Am 6.3., einem regnerischen bedeckten Tage hatte ich eine
Fülle der mannigfachsten Eindrücke im alten hilligen Köln,
das sich jetzt stolz wieder mit einem K schreibt. –
13.3.19. Erst heute komme ich zum Weiterschreiben. – Unter einem grauen
feuchten Himmel war in Cöln die Stadt in lebhafter Bewegung. In mancherlei
Geschäften sah ich Waren, leider keine Lebensmittel. Fische soll es
neuerdings dort geben, ich habe nichts gesehen davon. Man spricht von 2,30
- 3,00 M das Pfund. Ich erkundigte mich nach Stoffen, für angebliches
Friedenstuch, leichte Ware, wollte man 60 M, für Kriegserzeugnis mit
Kunstwolle 40 M für 1 m haben. In der Mühlengasse hörte
ich, daß aus Elsaß geringe Posten Baumwollgewebe kämen,
vermutlich alte Ladenhüter, die die Franzosen dort hinüber einschöben.
Gleichwohl habe diese geringe Einfuhr den Kurs der Mark sofort um 50 %
geworfen. Die Mühlengasse selbst erwartet Stoffe aus Holland, Holländische
Ausfuhr- und hiesige englische Einfuhrerlaubnis liegt bereits vor, fehlt
noch die Ausfuhrerlaubnis der NOT (Nederlandsche Oversee Trust = britische
Kontrollbehörde in Holland!) Ich hoffe also mit auf diese für
einen Sommeranzug, den ich nötig habe. Gegen Mittag traf ich in der
Mühlengasse fast sämtliche Kölner Vettern an, u. a. finden
sie es derzeit sehr beneidenswert, daß mein Schwiegervater Reitmeister
noch Landbesitz hat. Sie möchten sich auch wohl ein anständiges
Bauerngut kaufen! – Ja, das Interesse an der Landwirtschaft wird wohl selbst
dem Großstädter noch für einige Zeit erhalten bleiben.
Nachmittags besuchte ich Onkel Albert Brügelmann, der außer
Brot- ect. marken jetzt auch mannigfache Formulare für die Briten
druckt und daher reichliche Beschäftigung hat. Ich fürchte, er
wird solche wohl noch dauernd haben. – Auf der Rückfahrt schlenkerte
das letzte Abteil der Rheinuferbahn derart, daß es mir mordsübel
wurde und ich nur durch die Hilfe einer Dame mit Kölnisch Wasser und
Fensteröffnung vor dem Schlimmsten in dem engbesetzten Wagen bewahrt
blieb. Es ist fast unglaublich, wie überfüllt diese Züge
stets sind. Auf der Staatsbahn ist das Reisen nun seit 2 Tagen wieder freigegeben,
ohne daß aber wieder die frühere Anzahl Züge fährt.
Was das aber erst eine Bedrängnis geben wird! Dabei fährt ein
den Offizieren reservierter Wagen II. Klasse fast stets völlig leer.
Wie sagte kürzlich unser Bürgermeister Commesmann?: „Das Reisen
ist heute eine Qual und eine Demütigung!“ Sehr richtig. Mich hats
gleichwohl nicht abgehalten, am Montag den 10. ds. gelegentlich eines Ortsbesichtigungstermins
in Stotzheim noch einen tüchtigen Hamstermarsch von dort über
Cuchenheim nach Klein- und Großbüllesheim zu machen, der sich
sehr lohnte und
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als ich 5 ¾ in Cuchenheim mit schwerbepacktem Rucksack die Bahn
wiedererreichte, fand ich sogar eine bequeme Leere im Zuge. Eine wahre
Erquickung! Aber wie sieht heute solch ein Wagen aus! Wohin sind unsere
sauberen Abteile III. Klasse? Die Türfüllung innen eingetreten,
die Ersatzfensterriemen abgeschnitten, die Gepäcknetze zerrissen oder
die Halteschnüre selbst aus Papiergarn gestohlen, alles verdreckt,
gottlob durchweg die Scheiben noch erhalten. – Am vergangenen Freitagnachmittag
fuhr ich von Bonn heim und überwand die Reiseschwierigkeit spielend
durch eine ausgezeichnete Unterhaltung mit dem katholischen Religionslehrer
Fischer vom hiesigen Gymnasium, der sich als ein kunsthistorisch und anscheinend
auch künstlerisch geschulter Mann zu meiner großen Freude entpuppte.
Dergleichen Gespräche sind heute erquicklich wie eine Oase in dürrer
Wüste. Desgleichen freut man sich bewegten Herzens an schönen
Frühlingstagen, wie wir jetzt eben deren 2 hatten mit blendend blauem
Himmel, glänzenden Wolken und in feuchter Bläue und dunkelfarbiger
Fernsicht erschimmernden Bergketten des Siebengebirges. Welche Freude und
Hoffnung an den heimatlichen Boden! Man hat solche wirklich nötig,
will man sich nicht völlig an den Boden drücken lassen. Auf der
einen Seite die geradezu wüsten kommunistischen Gewalt- und Greuelszenen
in Berlin und anderer Großstädten, – wie mag es bei Bruder Johannes
in Halle aussehen? – gegen die wir uns hier im besetzten Gebiet bei aller
Plackerei mit den Besatzungstruppen immerhin doch noch vorab recht geschützt
fühlen. Auf der anderen Seite die langsam bekannt werdenden Bedingungen
des angeblich in den nächsten 6 Wochen abzuschließenden Friedens,
bei dem die Feinde drohen, seine Erfüllung durch die Besetzung der
Rheinlande – nicht etwa durch Vormarsch ins Innere Deutschland – zu erpressen.
War man früher auf 3 - 5 Jahre Besatzung hier gefaßt, so reden
jetzt die Feinde von – 10 Jahren! Freilich wachsen auch bei ihnen die Bäume
nicht in den Himmel, die älteren Jahrgänge wollen bei ihnen auch
nicht mehr bei der Fahne bleiben, diese werden andauernd durch ganz junge
Kerlchen ersetzt, die naturgemäß allen bolschewistischen Einflüsterungen
am ersten unterliegen. Sollte es schließlich einmal soweit kommen,
daß diese sich mit unseren Kommunisten, Arbeitern und dem Straßenpöbel
zu gemeinsamem Aufruhr vereinigten, dann würden wir gerade am Rhein
Sachen erleben, gegen die alle Vorkommnisse in Berlin und sonst im Reich
ein Kinderspiel sein würden.
14.3. Schließlich muß einen der Gedanke trösten, daß
es dem Deutschen gar nicht schlecht genug ergehen kann, soll er alle Fähigkeiten
zeigen, die er wirklich hat. Hoffen wir daher stets immer noch das Beste
und lassen uns durch die wüste Gegenwart nicht beirren, die überall
fast nur Trümmer aufweist. – Jetzt heißt es hier, am 26. oder
28. ds. würde unsere hiesige Besatzung abziehen, vermutlich um einer
neuen, ebenso starken Platz zu machen. Optimisten hoffen auf eine schwächere.
Riesige Geschütze krochen die letzten Tage hier über die Straßen,
von schnaubenden und rasselnden Ungetümen gezogen, die anstatt Räder
große laufende Schaufelgliedbänder an der Seite hatten. Im Garten
wird jetzt fleißig gearbeitet in der leuchtenden Frühjahrssonne
mit Ausblicken allenthalben
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weit ins Land hinein. Das füllt einen mit zuversichtlicheren Gedanken,
mögen noch so viele neugierige britan Tommys draußen ihre Köpfe
zwischen den Gartenzaun stecken. Von den 4 Bienenvölkern scheint eins
leider sehr gefährdet, wenn nicht schon verloren. Am Bienenhaus soll
kommende Woche zu bauen begonnen werden. – So eifrig ich jetzt die Zeitung
erwarte, so widerwärtig ist mir ihre Lektüre und mit ängstlicher
Spannung verfolge ich alles, was sich auf die rheinische oder westliche
Republik bezieht. Weiß der Teufel, wie es damit ausgeht. Solange
wir fest zu Preußen gehörten, pflegte ich stets den Rheinländer
in mir zu betonen und erinnerte mich mit Vergnügen, wie schon mein
Großvater (1848 Ortsvorsteher in Alfter, der die Alfterer auf dem
Weg nach Bonn, um dieses zu stürmen, in Dransdorf wieder umbekam,
sich nicht gerade entrüstet, so doch nicht ohne Bedenken gegen die
Verse aussprach:
„Freiheit und Republik! Wären wir doch die Preußen
quick!“
Heute, da mir der Zusammenhalt mit Preußen bedroht erscheint,
trage ich ein sonderliches Verlangen, mich am Alten Fritz und den Freiheitskriegen
zu erbauen, lese Goethes Hermann und Dorothea wohl zum erstenmal mit vollem
Verständnis des düsteren geschichtlichen Hintergrundes (aus Elsaß-Lothringen
werden 30 Jahre dort ansässige Leute von den Franzosen in brutalster
Weise hinausgeworfen, wobei sie 30 K Fahrhabe mitnehmen können!) Stets
neuen Genuß und Erbauung finde ich in Schriften der François,
in der sich preußische Kraft in anmutender und erquicklicher Form
dartut. Und gerade Preußen will man im inneren und äußeren
jetzt zerstückeln! Hols der Teufel! – Selbst die geistigen Ausspannungen
führen einen täglich und stündlich immer wieder auf den
wie rasenden, stets rotierenden Gedankengang zurück: „Wie soll das
alles werden?“ Fast jeder, bin ich überzeugt, denkt so oder ähnlich.
Selbst durch die Träume nachts spinnt es sich fort, wiewohl ich gottlob
einen gesunden Schlaf habe. Dazu aber auch eine gehörige Dosis Faulheit
oder Arbeitsunlust. Nicht im Beruf, meine richterlichen Geschäfte
erledige ich mit einer Art Gier; aber außer ihnen sonst etwas ersprießliches,
halbwegs geistiges zu tun, ist mir zuwider; und zu diesen Aufzeichnungen
muß ich mich gelegentlich mit aller Gewalt zwingen. Immer wieder
kommen tausend Gründchen, sie aufzuschieben; und obwohl ich vieles
teils fertig, teils unfertig im Schädel wälze, kann ich mich
nur mit äußerstem Widerstreben zur Niederschrift zwingen. Dabei
könnte ich stets und reichlich essen, und spreche unserer recht einfachen,
aber hier gottlob stets mehr als ausreichenden Nahrung recht kräftig
zu. Meist schlafe ich nach Tisch von 2 - 4, was mich nicht hindert, vom
10 Uhr abends bis 7 Uhr morgens ein Gleiches zu tun. Dieser stark vegetativer
Zustand muß wohl nicht nur mit der Jahreszeit, sondern mit der ganzen
politischen und wirtschaftlichen Atmosphäre zusammenhängen, und
ich ertappe mich selbst
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schon auf dem Gedanken, es müsse ein wohliger Zustand sein, die
nächsten 3 Jahre einfach zu – verschlafen! – So, dies hätte ich
mir mal von der Seele gebürstet. Es sitzt noch mancher Staub darauf
und ich will sehen, ihn energisch abzuklopfen.
Daß z. Zt. in Belgien geschossen wird, ist mal sicher. Verwundete
kommen daher, das steht fest. Eben um 9 ½ Uhr abends hören
wir die Briten an ihrem Vorratsschuppen hämmern, sie scheinen sie
schon abzubrechen.
16.3.1919. Mariannchens überzeugtes Abendgebet „Liebe Sonne, scheine
morgen!“ hat plötzlich seine Kraft verloren: Statt eines warmen und
sonnigen Frühlingstages haben wir einen staubigen und schneidendkalten
Wintermorgen, trübverhangener bleigrauer Himmel mit kalter Schneeluft
und leichtem Dunst. Darin beobachtete ich soeben 10 ½ vormittags
einen 17wagigen, sehr langen englischen Lazarettzug zu Tal dampfen. Ist
da alles in Ordnung? Anscheinend nicht, denn dergleichen Züge kommen
allzu oft von Westen her. – Eine rechte Unbehaglichkeit innen und außen.
–
Der Rheinbacher Kastengeist
Vor Tisch erledigten wir noch einige Besuche, bei welchen mal wieder
der von uns so oft schon als besonders angenehm empfundene Kastengeist
sich ordentlich ins Fäustchen lachte. Jener Kastengeist aber, der
zur Sorte der kleinen bald wohltätigen und erfreulich wirkenden, bald
bösartiger Kobolde gehört, hat uns schon derart viele angenehme
Streiche gespielt, daß er schon mal eine besondere Darstellung verdiente.
Von seinem Dasein und seinem Treiben hier in Rheinbach hörten wir
zuerst aus einem Briefe meines früheren Sekretärs Brinckmann,
in dem dieser uns seine Erlebnisse bzw. das schilderte, was sein College
Wunder, der partout von Rheinbach fortwollte, ihm aufgebunden und der gute
Br. alles für bare Münze genommen hatte. Da hieß es denn:
„In Rheinbach herrscht der Kastengeist.“
Kaum waren wir hier, als namentlich Helene dies außerordentlich
angenehm zu spüren bekam. Sie konnte sich noch gar keinen rechten
Vers darauf machen, wie es kam, daß wir in Berncastel selbst gegen
ersparte Brotmarken und gute Worte kein Mehl zu kriegen wußten, während
hier plötzlich der Bäcker „für die Frau Amtsrichter“ nicht
nur mitunter 1 - 2 Brote außer der Karte sondern auch sogar 1 - 2
Pfd. Mehl und gegen mäßige Bezahlung übrig hatte. Der Metzger
konnte zwar rein gar nichts liefern und doch waren die kleinen Fleischrationen
für je die Hälfte der Fleischkarten – diese waren durch eine
eigene Folge von Ereignissen auf zwei Metzger verteilt worden – beide jeweils
viel größer als in Berncastel, und dergleichen mehr. Ich erkannte
darin bald das wohlgesinnte Verhalten jenen launenhaften Elementargeistes
und seitdem sehen wir allenthalben fast täglich die Spuren seiner
neckischen Tätigkeit. Rückzug, schmachvollster Waffenstillstand,
Revolution und britische Besatzung lassen ihn augenscheinlich ganz kalt
und selbst gegen den bacillus bolschewisticus, der ihn, sollte man glauben,
zu Tode vergiften müßte, scheint er hier in der Rheinbacher
Luft völlig immun zu sein. Nicht so sehr die Größe des
Geldbeutels als vielmehr die Kastenzugehörigkeit bedingt anscheinend
sein wohlwollendes Verhalten. In Berncastel war selbst von einer mittleren
Näherin kaum etwas gemacht zu bekommen; hier ist die erste sofort
bereit. Der
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Kunstschreiner Müllenbruck, bei dem ich gestern wegen Holz zur
Bekleidung des Bienenhauses vorsprach, war wider mein Erwarten gleich zur
Lieferung bereit, wiewohl es noch nicht so lange her ist, daß er
in einer Gerichtsverhandlung von mir „vergewaltigt“ zu sein behauptete.
Bei diesem ebenso tüchtigen wie eigensinnigen Kunsthandwerker hat
mich das Walten des Kastengeistes doppelt überrascht. Beim Molkereidirektor,
besser gesagt seiner Frau, tobte jener Kobold noch toller. Schon vor Monaten
war mir etwas Butterlieferung in Aussicht gestellt, ich war damals noch
zu bescheiden und bemühte mich nicht sonderlich darum. Der Hauskobold
nahm dies nicht mal übel, sorgte dafür, daß neulich bei
der bloßen Voranzeige von mir, wir wollten dort auch Besuch machen
und seien bisher nicht dazu gekommen, gab schon ein Stück jenes jetzt
so raren Fettes, und heute bei der endlichen Ausführung gleich nochmals
und ein Stück Käse obendrein. Also sorgt jener Geist für
Brot, Mehl, Kleidung, Butter, Käse und wer weiß was noch da
kommen mag. Nb. Mist nicht zu vergessen: Zunächst besorgten uns Wipperfürths
(der Alte, ehedem Schuster, jetzt Bauer, der einmal sich dahin geäußert
hatte, er könne so ein Scharfrichter werden, führt seitdem den
zu seinem gutmütigen Charakter und struppigen Aussehen in drolligem
Gegensatz stehenden Spitznamen „der Scharfrichter“) W’s als hatten uns
die erste Fuhre guten Kuhmist nachgewiesen, und Fuss, der Knecht von Lehrer
Schäfer (bei ihm und seiner netten alten Schwester hat der Kobold
auch gut für uns gewirkt! – er spendet hier täglich nicht nur
auf Krankenschein sondern auch drüber gute Milch.) besagter Fuss also
brachte solchen im Herbst heran; jetzt im Frühjahr schon das II. Mal
je eine große Fuhre englischen Pferdedünger (o. L. M. s.!) vom
Landwirt aD und Rentner Johann Schorn in der Weiherstraße. Selbst
die Landwirte Schragen, unsere nächsten bäuerlichen Nachbarn,
die sonst im Geruche stehen, ihre Erzeugnisse zur Stadt gegen gehörige
Preise zu liefern, scheinen den Einflüsterungen des neckischen Geistes
zu unterliegen. Denn sehr zeitig wurde die fast morgengroße Parzelle
vor meiner Wohnung, die wohl auch nicht ohne des Kastengeistes wohlwollende
Mitwirkung auf den ersten Anhieb zur gemeinschaftlichen Bewirtschaftung
mit Rentmeister Königsfeld zu haben war, zeitig wurde sie umgepflügt
und das Vergnügen mit 10 M mäßig bereichnet. Auch schon
Beziehungen dort für Abfuhr und Kleinsägen von Scheitholz auf
der Kreissäge, desgleichen Anfuhr von Dünger angeknüpft.
(Wie weit dabei ein derzeit schwebender Prozeß zweier „Döppesbäcker“
mitspielt, ist unentschieden.) Vorgestern lernte ich einen Bonner Landsmann
näher kennen, der es hier mit einer Strohhülsen und Häckselfabrik
anscheinend zu ansehnlicher Wohlhabenheit gebracht hat. Reinartz. Seine
Fabrik ist derzeit ein einziges riesiges britisches Pferdedepot, der Betrieb
liegt still, und die gut gefütterten Rösser demolieren Böden,
Wände und sonstiges, die zahlreichen Mannschaften schonen auch die
Maschinen nicht. Täglich giebts dort eine Karre Pferdemist und da
die sehr hungrige Feldparzelle solchen dringend benötigt, so habe
ich jetzt Aussicht, dort einige 8 Karren zu bekommen. Reinartz wird sein
Bestes tun. Mit seinem Nachbar Schadt (einem gleichfalls hier zu Wohlstand
gediehenen Cölner, der anscheinend die im Töpfergewerbe hier
ruhende hohe Gewinnmöglichkeit kaufmännisch ausgenutzt hat) hat
er einen Prozeß glänzend gewonnen, und das mag ihm neben der
Bonner Landsmannschaft eine besonders gute Laune mir gegenüber eingegeben
haben. Ganz ohne jenen Kobold geht es auch wohl bei ihm nicht her, denn
die unbefangene Art des neuen Amtsrichters macht es ihm gegenüber
dem reservierten Verhalten der älteren Herren Collegen
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ohnehin recht leicht, für uns sich zu rühren, und nicht ausgeschlossen,
daß sich der früher fast ausschließlich aristokratische
Hausgeist neuerdings auch ein demokratisches Mäntelchen nach neuester
Mode hat zurechtschneidern lassen. Jedenfalls werde ich sein unsichtbares
aber deutlich zu verfolgendes Treiben weiter mit Aufmerksamkeit beobachten
und gelegentlich darüber wieder mal berichten.
30. März 1919. Seit einer Woche nichts wie Schneetreiben, hin
und wieder etwas eisig kalten Regen. Am Mittwoch hatte ich verhältnismäßig
Glück, fuhr morgens in der frühe nach Münstereifel, lernte
in dem Bürgermeister Schumacher dort einen Altersgenossen von Bruder
Christian (Rech, Christian) kennen (der mit manchen Mitschülern Christians
in Bonn studiert hatte) besah mir erstmals flüchtig die Stiftskirche,
besuchte das Katasteramt und erledigte mit Rechnungsrat Ruland die ½
Dutzend Gerichtstermine zwischen 7 ½ und 11 Uhr. In Euskirchen frühstückte
ich mittags auf dem Bahnhof, war nach 1 mit dem Zug in Großbüllesheim.
Ich hatte etlichen Wein mit und erbeutete auf diesem Pächterüberfall
(ich hatte mich vorher auf diesen Tag angesagt) Butter, Eier, Mehl, Speck
und Käse; Helene fuhr am gleichen Mittwoch nach Bonn und ist bis heute,
Sonntagmittag, noch nicht zurück. Sie schrieb, daß Papa 60 Mann
in Hersel bekommen hat, darunter leider auch 16 ins Haus. Hier sprach der
Major-Sergeant Biggs vor, der zum Abmarsch an Arloff rüstet; einmal
sollte seine 3te Brigade schon Freitag morgen dorthin, jetzt dauerts noch
einige 5 Tage. So übermäßig fix zu klappen scheinen derartige
Truppenverschiebungen bei den Engländern nicht. Die erste Division
des 9. Armeekorps, mit deren Hauptquartier wir nun schon monatelang im
Gericht gesegnet sind, wird mit 2 Divisionen nach Wesseling ect. an den
Rhein (Stab auf Gut Eichholz), mit der 3ten nach Münstereifel gelegt.
Diese sollen dann später untereinander abwechseln. Die Furcht der
Engländer vor dem Bolschewismus ist nicht zu knapp. Zusehends tauchen
stets jüngere Leute unter ihnen auf, manche scheinen noch nicht lange
von der Schulbank weg zu sein. Gestern bekamen die Kinder von Mr. Biggs
eine Tafel Schokolade und ich übersetzte ihm einen Brief an „Mama“
Opificius. – Durch das abscheuliche naßkalte Schnee- und Winterwetter
komme ich am Bienenhaus nicht weiter, es steht vorläufig aufgestellt,
im Hof, das Dach soll ihm erst noch verpäßt werden. Im Beamtenverein
rührt es sich. Eins unserer Mitglieder, der Abgeordnete Busch, ist
Unterstaatssekretär im preußischen Landwirtschaftsministerium
geworden; jetzt haben wir die erste Tonne Heringe – mehr noch zur Probe
– gekauft und heute vormittag soll mit hiesigen Kaufleuten über die
Übernahme der Verteilung verhandelt werden. Gestern aßen wir
2 Pfd. Stockfisch à 2 M, kleine köstliche Fische und vorgestern
kaufte ich 6 große Salzheringe je zu 0,90 M. Das ist doch endlich
mal etwas. Auch hatten wir diese Woche mal Stockfisch, allerdings zu 2,70
M das Pfund gewässert. Die Kinder essen gar zu gerne Fische und mit
Beschämung erinnere ich mich meiner kindlichen
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Torheit im gleichen Alter und noch viel später, mir diesen schönen
Genuß selbst zu verbieten durch eigensinniges Nichtessenwollen. Seit
3 Tagen erwarten die Kinder nun täglich die Mutter zurück. Vermutlich
hat sie an ihren Zähnen noch allerhand machen zu lassen und wird nicht
fertig damit. – Heute morgen bekam ich seit langer Zeit mal wieder ein
Lebenszeichen von Frl. Tholen, sie schreibt auf einer Karte, daß
sie von einer Grippe ein klatriges Herz zurückbehalten hat. – Die
Kohlen werden ganz unglaublich teuer und vermutlich ist das noch nicht
das Ende. Auch mit den Steuern beginnt langsam die Traufe, jetzt 10 % aller
Kapitalanten abzugeben. Die Beamten hingegen bekommen mehr, ich erhielt
kürzlich 300 M als Vorschuß (ich glaube der erste Vorschuß
meines Lebens!) auf die neue Zulage und alles in allem scheine ich an 900
M (vielleicht auch 1200 M) jährlich mehr zu bekommen. Wie das alles
noch enden mag? Bei Onkel Dietrich wird heute mal wieder ein 40jähriges
Jubiläum, diesmal des altbewährten Prokuristen Funckenhaus gefeiert,
wobei eine Hotelküche das Essen für 32 Personen gleich fertig
liefert. Ich sandte Glückwunschdepesche und gestern auch Brief mit
einer „kernigen“ Ansprache an die Festversammelten. – Die Briten, deren
Zufuhr in letzter Zeit auch hier ein wenig knapp geworden war, haben jetzt
reichlich. Ein Sergeantenmessenkoch aus Kleinbüllesheim, mit dem ich
Tauschgeschäft Wein gegen Käse, Margarine ect. verabredet hatte,
ist leider bis dato ausgeblieben. Dafür aber gabs von Krögers,
denen ich eine Flasche guten Wein für den kleinen erkrankten Sohn
mitgebracht hatte, einen ordentlichen Happen Speck. „Sie könntens
jetzt besser geben, weil sie durch die britische Küche allerhand mit
hätten.“ Seit einer Woche ist auch Frau Direktor Trautmann wieder
vom Sohn nach hier zurückgekommen, nachdem sie geradezu tolle Schwierigkeiten
für ihren Rückreisepaß gehabt hatte. Immer und stets wurde
er ihr verweigert, endlich erlangte sie mit vieler Mühe Zutritt zu
einem General „Altmeyer“ (nomen est omen!) in Mainz, einem verbissenen
Deutschenfresser, der angeblich sein Besitztum hinter unserer Front verwüstet
vorfand, Frau und Kinder weg u.s.w. (letztere soll ihn als brutalen Gewaltmenschen
unter kluger Benutzung dieser Gelegenheit verlassen haben) und der sich
nun persönlich an den deutschen Barbaren dafür rächen will.
Sein rohes Benehmen gegen Frau Trautmann ist kaum glaublich, er riß
ihr in einer in gebrochenem Deutsch mit ihr geführten Verhandlung
ihren Einreisepaß und ihren Personalausweis in Stücke und warf
ihr diese vor die Füße. Sie konnte sich zum Schluß kaum
aufrecht erhalten, wurde von einem Offizier hinausgeführt, der so
menschlich war, sie zu beruhigen und – erhielt dann auf irgend einem Umweg
nunmehr den ihr andauernd und schließlich noch in jener Gewaltszene
ausdrücklich verweigerten Paß. Kindischer Haß! So etwas
ist bei „unseren“
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Briten hier nicht gut denkbar. Nb. Auf Rheinbach scheinen viele der
Alliierten einen besonderen Pick zu haben, der Name ist ihnen unangenehm
bekannt durch die Strafanstalt hier, in der manche von ihnen im Krieg gebrummt
haben. Vorbesagter General Altmeier soll sich jeden Truppenteil mit dem
letzten Leutnant auf Grund hartnäckig geführter Nachforschungen
festgestellt haben, die auf seinem Besitztum je gelegen haben. Ob er damit
etwas erreichen wird? – Hier müssen der britischen Militärbehörde
alle wehrfähigen Männer bezeichnet werden und diese werden demnächst
vom Bezirkskommando Bonn einen ausführlichen Fragebogen zur Beantwortung
bekommen. Zweck dieser Veranstaltung ist unbekannt. Liegt er in der Vergangenheit
(Feststellung von Greueln ect.), Gegenwart (am Ende Kampf gegen Bolschewisten?)
oder Zukunft (Staatsgestaltung der Rheinlande)?
31.3.19. Es giebt ernsthaft denkende Leute, die der Ansicht sind, daß
die Gründung einer Westrepublik uns eine schnellere, ja sogar alsbaldige
Befreiung des Rheinlandes von feindlicher Besatzung gebracht haben würde.
Wenn diese sich nur nicht gewaltig täuschen, und vielleicht gerade
das Gegenteil der Fall wäre z. B. auf einen Abmarsch erfolgten bolschewistische
Unruhen hier und es bestände Gefahr, daß sie wie ein fressendes
Feuer westwärts liefen, würde dann nicht alsbald wieder neue
Besatzung einrücken und uns vielleicht viel schärfer bedrücken
als die heutige? Würde sich dieses Spiel nicht für Jahrzehnte
bei jedem beliebigen Anlaß wiederholen können, so daß
wir in steter Sorge hierfür zu leben hätten? Von der sehr nahe
liegenden Gefahr, der Schauplatz kriegerischer Verwicklungen, das Objekt
von Angliederungsbestrebungen vom Westen und Osten und in jedem Fall stets
der Dumme zu sein? Gegen welche Vorteile? –
Die Verhandlungen mit den Kaufleuten und den Kohlenhändlern gestern
Vormittag vollzogen sich recht glatt. Die Heringe werden heute morgen bei
Franz Scheben ausgezählt und er erhält 5 Pf. fürs Stück
drauf. Vom Mittag ab sollen sie ausgegeben werden. Verba docent, exempla
trahunt: Es sind auf den Heringsfischzug 2 sonst abseitsstehende Gymnasiallehrer
sofort dem Verein und seiner Wirtschaftsabteilung beigetreten und haben
das hierfür festgesetzte erhöhte Eintrittsgeld zu bezahlen. Allgemeine
Heiterkeit ob dieser ergötzlichen und längst vorausgesehenen
Tatsache. – Die Bauern stecken allenthalben voller Geld. Ihre Töchter
haben daher, von der mangelhaften städtischen Verpflegung ganz abgesehen,
vorab keine sonderliche Lust, als Dienstmägde auszugehen. So ist denn
an solchen nach wie vor ein großer Mangel, trotz aller Fabrikeinstellungen
u.s.w.
13. April 1919. Es geschah in den letzten Wochen soviel, daß
ich kaum zur rechten Besinnung, geschweige zu Aufzeichnungen kam. Seit
Donnerstag sind wir alle, die 12 - 45jährigen, gegen Typhus geimpft.
Natürlich höchst mangelhafte Vorbereitung dazu hier und daher
ein widerliches Volksgedränge an der Schule. Mit Schubs von je 50
Mann (je in 2 großen Autos) bringen die Engländer jetzt Gefängnisgefangene
von Cöln hierher, ohne sich weiter um den Strafvollzug der von ihnen
Bestraften zu kümmern. Ich hatte etliche Tage tüchtige
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Gartenarbeiter, Kleinbauern und Eisenbahnschaffner aus der Sieggegend,
die anscheinend völlig unbeteiligt Zuschauer einer Rauferei mit englischen
Soldaten waren, ob einer von den Briten einen Messerstich durch den Rock
ins Notizbuch bekam. 2 Jahre Zwangsarbeit, umgewandelt in 2 Jahre Gefängnis.
Ein Schaffner Kraus aus Sieglar, der mir fleißig Garten und Feld
besorgte, entpuppte sich in der Unterhaltung als ein ernsthafter, ehrenhafter
und glücklicher Mensch, der sich noch immer nicht darüber fassen
kann, im Zuchthauskittel zu stecken. Mittwoch wird er entlassen und nimmt
Mariannchens zu enge thüringer Holzschuhe für eins seiner Kinder
mit. Der Mann wird mit seiner Familie ein frohes und innerlich gesegnetes
Osterfest (Wiedersehen und Auferstehung) feiern. Er ist Kleinbauer, arbeitet
auch als Bahnangstellter mit Verwandten in gemeinsamer Wirtschaft, hat
ernsthafte Ansichten, liebt Frau und Kinder – in diesen geht er ganz auf!
– und schätzt sich glücklicher als irgendeinen Großkapitalisten,
die er übrigens für sehr notwendig hält. Zu einer Zeit,
wo das Volk im Wahnsinn fiebert, in Baiern die Räterepublik tollste
Ausgeburten in die Welt setzt und in Düsseldorf mit Geschützen
und Minenwerfern scharf geschossen wird, eine bemerkenswerte Erscheinung.
Der andere, ein 18jähriger Junge aus Porz, ganz noch ein Unbedarfter.
Er schlachtete uns 2 Karnickel, strich das endlich fertiggestellte Bienenhaus
– eben wurde mir die horrende Holzrechnung von 225 M von Müllenbruck
darüber überbracht – mit einer kittartigen hellfeldgrauen „Leinölersatzfarbe“
an und handlangerte bei den sonstigen Gartenarbeiten. Nun hat seit gestern
ein durchdringender Frühlingsregen eingesetzt, ein neu angelegtes
Rasenstück, dicke Bohnen, Zwiebel (50 gr Samen 4 M!) und andere Sämereien
werden von ihm hoffentlich gründlich befruchtet und zum schnellen
Keimen gebracht. Der übrige Gartenteil ist schön eingeebnet und
umgespatet, die große Feldparzelle – mit 84! M Pferdemist, auch eine
kümmerliche Lichtseite der englischen Einquartierung – frisch gepflügt,
harrt nun der vorgekeimten Frühkartoffeln, Saaterbsen u.s.w. Kurz,
es ist allerlei geschehen. Die englische Besatzung hat gewechselt, der
Divisionsstab der 1. Div. 9. Armee ist aus dem Amtsgericht weg, dafür
sind Simons’ und mein Zimmer mit Artilleriebüro und Mannschaften neu
belegt. Die 9 Mann, die meine Amtsbude beglücken, veranlaßten
mich gestern zur alsbaldigen Räumung des Zimmers, Bücherschrank
wurde auseinandergenommen, nach oben in die Gerichtsspeicherkammer gebracht,
desgleichen Sitztruhe, Standuhr und Tisch, den mir diese neuen Briten bereits
in Simons Zimmer verschleppt hatten. So hätte ich nun nach mehrfachem
Umzug meine eigenen Möbel bei Gericht wieder alle auf der Speicherkammer
zusammen versammelt. Für wie lange? Wer weiß es? Jedenfalls
ist es mir nicht sonderlich unangenehm, weiter daheim zu arbeiten. Frau
Direktor (...?)
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21.4.1919. Ostermontag. Abscheulich rauh und kalt. Der Osterhase zeigte
sich trotzdem im Garten, schade daß die Kinder noch nie bei schönem
Wetter danach suchen konnten. Der Großvater war an dem schönen
und milden Charfreitag auf etliche Stunden hier und freute sich sehr mit
den Enkeln. Wir hatten einen prächtigen Feld- und Waldrandspaziergang
gemacht und die Kinder unter hellem Jubel viele Veilchen und Primeln gefunden.
Das in unserer „Kolonie“ ( = Strafanstalt und Beamtenwohnungen) grassierende
„Hühnerparkfieber“ hat nun auch uns ergriffen. Es war freilich höchste
Zeit, denn die Drahtpreise steigen ins Unermeßliche (Ich kaufte für
an 100 M Draht!) und seit mit dem dem 1.4. die Eierbewirtschaftung aufgehört
hat, wird wohl bald auf dem Lande kaum mehr ein Ei zu haben sein. Ich schreibe
nun nach allen Seiten wegen Hennen, Bruteiern, Glucken u.s.f., hoffentlich
hats einigen Erfolg. Morgen müssen unbedingt der Rest der Frühkartoffeln
gesetzt werden und soll ich unsere Mädchen dafür heranziehen
müssen. Desgleichen ists hohe Zeit für Felderbsen. Leider blieb
der Großpapa heute morgen aus, so daß keine Aussicht mehr ist,
daß er heute noch kommt. Von Mühlengasse in Cöln bekam
ich gleich 6 paar Prachtsocken zu dem erstaunlichen natürlich „Familienpreise“
von 3 M das Stück. Sie kosten heute an die 20 M das Paar. Für
Beamtenverein bestellte ich dort Stiefelwichse und Schuhriemen. Er hatte
auch Heringe und Schellfische für die Chartage beschafft. Hoffentlich
sind letztere kein geschäftlicher Hereinfall. Lebensmittelnot bessert
sich langsam. Helene und ich war Chardonnerstag mit Herta in Bonn, abscheulicher
Regentag. Dort gabs dieselben englischen Fleischbüchsen zu 3,50 M,
die hier 4,50 M kosten. Hier scheint man sie in Erwartung (oder bereits
im Besitz) billigerer Zufuhren gerne alsbald abstoßen zu wollen.
Englischer Zwieback, ein „hundekuchenartiges“ Biskuit kostet noch 2,20
M das Pfund und schmeckt wie Matzen. – Es sterben jetzt die alten Tanten,
gut daß Mutter Reitmeister das nicht auch noch zu erleben hatten.
Wir sprechen oft von ihr und finden es gut, daß ihr all die unsäglichen
Aufregungen mit der Herseler Besatzung u.s.w. erspart geblieben sind. –
Tante Henriette (Neitzer, Henriette), ihre liebe Schwester, ist nun dahin,
Tante Sophie (Brügelmann, Sophie) scheint im Sterben zu liegen. –
Über Belgien ist wegen bolschewistischer Unruhen der Kriegszustand
verhängt worden. Heute morgen sah ich wieder einen langen englischen
Lazarettzug (No 41) daherkommen voll jugendlicher Verwundeter. Die großen
bequemen Wagen solcher englischen Lazarettzüge sind ganz was anderes
gegen unsere, die meist aus rumpeligen Wagen IV.Klasse bestanden. – Anstalt
und Kolonie sind diesmal von englischer Besatzung ganz frei. Bei Gericht
3 Zimmer, beim Landrat in seiner Wohnung dagegen 9 Räume belegt und
er „ganz krank“ davon; was manche andere nicht ohne Genugtuung feststellen.
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27.4.19. Nun ist Tante Sophie (Brügelmann, Sophie) auch gestorben
(3 Todesanzeigen eingelegt: Neitzer, de Bruyn, Brügelmann). Sie ist
einer besonderen Betrachtung wert. Hoffentlich finde ich einmal Zeit und
Ruhe dazu. Das Wetter heute, scheußlichster Regen und Schneesturm
bei bitterer Kälte war schon einladend genug. Allerlei Akten und sonstiger
Kleinkram zersplitterten mich heute. Ich bekomme nicht einmal die einfachsten
Dinge zusammen: Wir setzten hier Frühkartoffeln, Bauern und Gärtner
sind wohl derzeit die einzigen im Reiche, die noch mit Überzeugung
weiterarbeiten. In Baiern tobt der Bürgerkrieg um München in
der besten Form, die Friedenskonferenz soll allgemach beginnen, langsam
kommen Waren vornehmlich aus dem Saargebiet französischen Ursprungs.
Das Schicksal Rheinlands ist dunkler denn je. Die Italiener haben Krach
bei den Alliierten, sie werden den rheinischen Markt nicht missen wollen,
was böse Rückschlüsse auf das Vorhaben der Franzosen zuläßt.
Die Birnbäume wollen trotz allen Wetterungemachs mit aller Gewalt
blühen. Mit den Bienchen sieht es sehr böse aus, der Raps will
bald blühen und die Völker sind so schwach wie je. Dagegen ist
unser 8köpfiger Karnickelwurf besser und kräftiger entwickelt
als alle seine Vorgänger, man merkt deutlich das bessere Futter, vor
allem die Weizenkleie, die das Muttertier bekommt. Uns selbst gehts nicht
anders. Herta tun die langen Ferien gut, sie ist ordentlich gebräunt
und hat farbige Wangen bekommen, Mariannchen prangt wie eine reife Kirsche.
Neuerdings giebts auch amerikanische Konserven: Weiße Bohnen mit
30 gr Speck, etwa 250 gr trockene Bohnen, diese zu 2 M das ½ K und
den Speck zu 7,50 M gerechnet, so hat man annähenrd den Preis von
1,50 pro Büchse. Wenig und teuer, doch etwas und nicht schlecht. Ferner
Corned beef zu 3,50 M die Pfundbüchse. Vorigen Sonntag machten wir
prächtigen Waldmarsch, erreichten auf Umwegen den Tomberg und hatten
herrliche Rundsicht. Heute nachmittag hellte es sich so weit auf, daß
aus einem Bummel durch die erstmals beaugenscheinigten „alten Anlagen“
– manches darin rührend kleinstädtisch – noch ein kleiner Marsch
zum Waldhotel wurde. Auf dem Rückweg sahen wir an der Straße
die alten bemosten Birnbäume überreich voller Knospen, alles
in feinem silbergrauen-rosigen Flor. Der Frühling, wie er im Buche
steht, doch auch kalte Hände und Nasen und heute morgen mehr als frisches
Schneegestöber. –
Manche sehen für das Rheinland mit dem allergrößten
Pessimismus in die Zukunft. In der Tat kann uns noch sehr Schlimmes bevorstehen.
Einstweilen ist es aber etwas gemütlicher auf der linken Rheinseite,
drüben gehts schlimm her. Eisenbahnen fahren wohl demnächst überhaupt
nicht mehr. Und das Hungern und Frieren kann nächsten Winter erst
recht beginnen.
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3. Mai 1919. Der Mai hat am ersten mit Kälte und Regen, am 2.
mit etwas Wärme und wenig Regen, am 3. mit viel Regen und mäßiger
Wärme begonnen. Gestern war ich mit Marianne bei leidlichem Wetter
in Bonn, wo sie große Freude bei Großvater Reitmeister und
Großmutter Rech erlebte. Auch für mich war der Tag recht befriedigend.
Es fahren auch einige Züge mehr. Man ist jetzt für kleinste Erleichterungen
in allem dankbar. In Paris soll nun der Frieden ausgeheckt werden. Was
mit dem Rheinland geschehen soll, ist allenthalben die bange Frage, und
es schwirren tolle Gerüchte umher. Die Möglichkeit einer Internierung
aller Waffenfähigen bis zum 60. Lebensjahre und ihre Verschickung
nach Belgien zur Zwangs- und Wiederherstellungsarbeit (für den Fall
einer Weigerung unserer Reichsleitung, den Frieden anzunehmen), wird eifrig
erörtert. Es kommen jetzt Fragebogen von den Bezirksämtern, deren
Beantwortung als Befehl der britischen Besatzung gefordert wird. Im Deutschen
Reiche brodelt es unentwegt weiter, in Baiern wird kräftig reine Bahn
gemacht, München ist erobert und die Bauern verlangen ihre Bewaffnung.
Also endlich einmal. Es wird noch allerlei passieren.
Samstag, 17. Mai 19. Bei prächtigstem Frühsommerwetter sitze
ich in der Gartenlaube, die Sonne scheint, die Akten sind erledigt, im
Garten arbeiten 2 von den Briten bestraften Brüder Eck, Ackerer aus
Odenthal bei Bergisch Gladbach, oben schwirren englische Flieger, englische
Autos wirbeln den Straßenstaub auf. . . alles wäre erträglich,
wären nicht die geradezu schamlos unerträglichen Friedensbedingungen,
mit denen man uns versklaven und für ein Jahrhundert tot machen will.
Ich hoffe darauf, daß auch bei unseren Feinden die Bäume nicht
in den Himmel wachsen werden. Wir Deutsche machen die altbekannte anscheinend
uns alle Jahrhunderte neu notwendige härteste Prüfung durch.
Vielleicht daß sie doch noch irgendwelche Ergebnisse zeitigt. Es
kostet mich ordentlich Überwindung, von den beiden letzten Wochen
etwas niederzuschreiben. Sie brachten uns das schönste Wetter und
die schwersten Lebensbedingungen für die Zukunft. Ich suchte, durch
angestrengte Arbeit darüber hinwegzukommen. Vorletzte Woche stand
ich fast Tag um Tag von morgens bis abends auf dem Feldgrundstück,
das bald 3, mitunter auch 7 Mann bearbeiteten. Ich wurde ordentlich braun
dabei. Am Donnerstag den 8ten besuchten besuchten Willi und Frida uns nach
Tisch und Willi brachte mir die ersten Nachrichten und Zeitungen über
die Friedensbedingungen aufs Feld. Es ist schwer zu sagen, was ich dabei
empfand. Man hat das Gefühl, sich gegen eine schwere Last stemmen
zu müssen. – Garten und Feld sind nun reich und sauber bestellt und
es wächst alles zusehends. Die kleinen Karnickel spielen auf der Wiese,
wie schön könnte alles sein, wenn, ja wenn . . .
Morgen besuchen wir Mutter Reitmeisters Grab, die Gute starb am 18.
vor einem Jahre. Auch damals war das schönste Wetter, nur schnurrten
noch deutsche Flieger durch die Luft und feindliche warfen kurze Zeit darauf
Bomben auf Bonn ab. Wie weit scheint das alles zu liegen! Dabei geht die
Gärung in unseren Volksmassen trotz der augenblicklichen Rückschläge,
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namentlich der Einnahme Münchens und des scharfen Gerichts über
die Schuldigen dort, augenscheinlich weiter und es wird wohl noch lange
dauern, bis da eine Beruhigung eintritt. Für den Augenblick wendet
sich der Blick allenthalben nach außen und in der entsetzlichen Not
geht auch so etwas wie ein neuer Zusammenschluß durch das Volk. Aber
bei den Arbeitern sieht es nach wie vor so aus, daß sie sich leicht
verhetzen und verführen lassen. Allenthalben giebts bald hier bald
dort Tumulte, Streiks u.s.w. Alle diese Erscheinungen, für die man
mangels eines genügenden geschichtlichen Abstandes noch keinen rechten
umfassenden und überschauenden Gesichtspunkt hat, versucht ein jeder
nach seiner Art, sich bildlich klar zu machen und diese Versuche spiegeln
sich deutlich in der Tagespressen. Der eine spricht vom brennenden Haus,
in dem ein Teil der Bewohner über Neubauten plant, ohne ans Löschen
zu denken und der andere Teil noch alles das einzureißen sucht, was
vor dem Feuer gerettet werden könnte. Sehr beliebt ist das Bild des
erkrankten Volkskörpers, dem das Blut fiebrigerregt durch die Adern
jagt und den Patienten zwischen heftigen Erregungszuständen und Perioden
widerstandsloser Schwäche hin- und herwirft. Hier und da bilden sich
eitrige Abzesse (Berlin und München), die blutig operiert werden müssen,
die Regierungstruppen als das Messer des Chirurgen könnten dem Kranken
hier und da Erleichterungen verschaffen und die schlimmste Gefahr einer
akuten Vergiftung beseitigen, ohne des eigentlichen Krankheitserregers
und damit der verzehrenden Infektionskrankheit selbst Herr zu werden.
Die Pflastermethode hat sich als völlig unzureichend erwiesen. Wieder
andere sehen bald den tiefgründig brodelnden Vulkan, bald den fürchterlichen
Abgrund, über den das Volk in völliger Verkennung seiner äußersten
Gefahrlage auch noch zu tanzen wagt. Die Bilder drängen sich wie die
Fülle der Eindrücke überhaupt in dieser gerade rasend dahinschießenden
Zeit und der brodelnde Kessel, in dem das Vaterland zu kochen scheint,
wirbelt die tollste Blasen aus dem Grunde an die Oberfläche, wo sie
nach sekundenlangem Schillern mit Geräusch und übelster Gasentleerung
zerplatzen, die hochschäumende Masse droht überzukochen und schließlich
der ganze Kesselinhalt sich ins Leere zu ergießen, so daß nur
noch ein angebrannter Rest zurückbleibt. Scheu gewordenen Rosse sind
mit dem Wagen des Reiches durchgegangen und rasen mit ihm über weglose
Strecken bergauf und bergab, seinen Inhalt verschüttend und sind voraussichtlich
erst zur Ruhe zu bringen, wenn Gespann und Zugtiere verunglückt sind.
Ein wildgewordener Eisenbahnzug, an Stelle von überlegsam ruhiger
und sachkundiger Beamten und Technik gefahren und geleitet, rast von trunkenen
Wahnsinnigen besetzt und geführt mit äußerster Dampfspannung
dahin, um bald zu entgleisen und vom Bahndamm hinabzustürzen, wobei
die gestrandete Maschine noch eine Zeitlang mit leerlaufenden
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Rädern die heftigsten Anstrengungen machen wird, um dann durch
eine Explosion sich selbst zu zerreißen. So und ähnlich jagt
ein Bild das andere und ein Ende dieser kinoartigen Flucht ist noch nicht
abzusehen. Der Optimist sieht den Acker des Vaterlandes umgestürzt
als Vorbereitung für das Aufgehen künftiger Neusaat. . . .
Hinter allen diesen äußeren Erscheinungen steht natürlich
doch eine stete innere Entwicklung, deren Züge aber doch sehr undeutlich
und kaum erkennbar sind, so einfach und klar sie später erscheinen
mögen: Neben, bei oder trotz der Demokratie mit allgemeinem, auch
Frauenstimmrecht, entwickelt sich eine berufsständische des Gesamtvolkskörpers.
Arbeiter- und Soldatenräte mit ihren kindischen Gehaben, hohen Kosten
und nichtsnutzigen Leistungen kommen allmählich außer Mode.
Dagegen wachsen langsam Vertretungen der Bauernschaft, viel schneller schon
solche der Beamtenschaft und der Keim zu solchen der sonstigen bürgerlichen
Berufe ist schon gelegt. Neben Landwirtschafts-, Ärzte-, Handels-
und Handwerkskammern werden wir wohl auch Arbeiter und Beamtenkammern bekommen.
Ob diese emporwachsende berufsständische Gliederung soviel treibende
Kraft haben wird, um Konfessions- und Parteischranken zu durchbrechen,
bleibt abzuwarten. Vorab hat dies bisher nur ein Stand, die Arbeiter, erreicht
oder vielleicht gerade nicht erreicht, weil die Sozialdemokratie zwar eine
reine Arbeiterpartei aber eben doch eine politische Partei und daher etwas
sehr Verschiedenes von den Gewerkschaften ist, von denen ein Teil eben
auch noch aus parteipolitischen und konfessionellen Gründen – solche
hängen bei uns meist recht eng miteinander zusammen – (Gottlob
fährt auch zwischen der gewöhnlichen britischen Straßen-Autowelt
auch einmal ein deutscher Kraftlastzug vorbei, vom Bahnneubau, der wenigsten
einige Hoffnung geben kann.) Mit der Durchführung einer solchen berufsständischen
Gliederung könnten wir dann den üblen Reichstag und sein kaum
weniger übles Nachgewächs, die „deutsche Nationalversammlung“
begraben. Geht die Entwicklung diesen Weg, so ist vorher natürlich
gründliche Umackerung nötig und es würde keinen Widerspruch
bedeuten, daß eben jetzt gerade der letzte Rest ständischer
Gliederung alter Art aus den Kommunal- und Kreisvertretungen beseitigt
werden soll. – Nb. die Landräte fallen jetzt wie welkes Laub. Wann
fangen die Richter an? – Ob die Friedens-, richtiger Knechtschafts- (denn
ein „Frieden“ wird es nie!) bedingungen eine solche Entwicklung finden
oder befördern, läßt sich noch nicht übersehen. –
In diesen Monaten ist die Ernährung stets besonders schwierig. Über
das Schlimmste scheinen wir im besetzten Gebiet verhältnismäßig
leicht hinweg kommen zu können. In wirtschaftlichen Dingen wird der
Gegensatz zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet stets stärker.
–
Mein Amtszimmer ist nach wie vor belegt und ich habe es wochenlang
nicht mehr gesehen. Am Tage habe ich reichlich Beschäftigung in Haus
und Hof, Garten und Feld und abends werden die vom Gerichtsdiener angeschleppten
Akten
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bearbeitet. Letzten Montag brachten die Engländer auf einem Wagen
einen Neffen von Unterstenhöfer in Heimerzheim sowie anderen tüchtigen
Bauernsohn hierher, der auf Veranlassung eines Majors aus nichtigen Gründen
verhaftet worden war. Ich nahm mich der Leute an, sorgte, daß sie
ins Amtsgerichtsgefängnis gesetzt wurden. Mittwoch wurden sie vom
Pastor Dr. Rath verteidigt, den ich darum gebeten hatte. Ich mußte
nach Münstereifel zum Gerichtstag, die Anwälte gleichfalls. Gottlob
wurden beide freigesprochen, nachdem U. eine Sicherheitsleistung von 6000
M abgelehnt und die Jungens 2 Nächte im Gerichtsgefängnis gebrummt
hatten. Das Verurteilen betreiben die Engländer nämlich z. T.
auch als Geldgeschäft. Den Gerichtstag nutzte ich nachmittags noch
zu einer Pächterheimsuchung in Groß- und Klein Büllesheim
aus, wobei ½ Pfd. Butter und 1 Pfund Speck gegen 1 Fl. Branntwein,
Eier, Brot, Fett, Bohnen und Weck gegen 1 Fl. Wein getauscht, auch die
Bekanntschaft mit Gutsbesitzer Komp in Gr. Büllesheim geschlossen
wurde. Raps habe ich derzeit in Aussicht von Kröger, Mirbach, Unterstenhöfer.
15. Juni 19. Seit dem 3. Mai bis Anfang Juni fortgesetzt so schönes
Wetter, daß fast Dürre drohte, dann etliche Regen und Gewitter,
jetzt wieder Trockenheit. Friedens-„verhandlungen“ mit Noten hin und her.
Jedenfalls hat die Aussicht, daß wir Deutsche jenes Machwerk nicht
unterschreiben, bisher einige Früchte gezeitigt. In Nord- und Süddeutschland
rechnet man mit dem Vorrücken der Feinde, ob diese aber bedingungslos
auf ihre Truppen rechnen können, erscheint fraglich. In Wiesbaden
hat unser früherer Mitschüler Adam Dorten aus Endenich eine rheinische
Republik ganz augenscheinlich mit Hilfe der Franzosen auszurufen versucht.
Die Sache ist, wie es bei dem flachen Hohlkopf Dortens nicht anders zu
erwarten war, höchst kläglich verlaufen, und selbst Zentrumsleute
rücken jetzt alle von ihm ab, obschon zwischen ihnen und ihm sicher
Beziehungen, wenn auch vorsichtigerweise nur indirekte, bestanden. Immerhin
haben 2 unserer Cölner Zentrumsabgeordneten, Kastert und Kuckhoff,
ihr Mandat im Zusammenhang mit dieser Sache niederlegen müssen und
die anfangs keineswegs ungefährliche Sache scheint vorläufig
erstickt zu sein, wobei die Lächerlichkeit des guten Dorten jedenfalls
ein gutes Teil mitgeholfen hat. Es kribbelte mich in den Fingern, eine
satirische Skizze über ihn in die Kölnische Zeitung zu senden,
doch besorgten dies schon andere hinreichend. Er böte übrigens
einen guten Stoff zu einer burlesk-satirischen Skizze à la Simplicissimus.
2 Zeitungsausschnitte (einer liegt bei) will ich mir hierzu aufheben. Mir
war er im Wintersemester 1899/1900 in München recht lästig, zumal
im Frühjahr 1900, wo ich mit Sonnenburg nach Oberitalien fuhr und
er mitwollte, bis wir ihn im grauen Bären in Innsbruck absetzten.
–
2 Bienenvölker haben sich doch noch gut entwickelt und seit einigen
Tagen ist ein in Oberdrees gekaufter Schwarm hinzugekommen. Honig ist nächstens
auch zu schleudern und so macht die Imkerei wieder Freude. Rundum fallen
andauernd Schwärme.
Seite 96
Die Gerichstarbeit ist mäßig, ich lebe mitunter fast wie
in Ferien und widme mich Garten- und Feldbau. Freilich hatte ich für
Mai auch zu meinem Schrecken 70 M an Gefangenenlöhnen zu bezahlen,
wobei allerdings irrig die Gartenarbeit auch mit zum Satze von 3,50 pro
Mann und Tag berechnet war. Das soll nun wieder ausgeglichen werden. Die
Bohnen haben sich famos gemacht, gegen die das ganze Feldstück gründlich
verseuchende ewig neu sprossende Melde führen wir einen hartnäckigen
Kampf und hoffen darin Sieger zu bleiben; ein Möhrenfeld mußte
allerdings geräumt werden. – Es ist jetzt täglich mehr an Lebensmitteln,
freilich immer noch zu recht teuren Preisen zu haben. Die Preisschwankungen
sind ganz bedeutend. Kürzlich kostete Schweineschmalz noch 14, jetzt
8,50 M. Butter, die die Stadt bezogen hatte, wurde zu 13,25 M verkauft;
die Kauflust ist bei der Hitze nicht übermäßig. Im Beamtenverein
hier wird tüchtig gearbeitet. Wir wollten Schmalz aus Holland beziehen,
der Regierungspräsident verweigerte hierauf, wie zu erwarten, die
Einfuhrbewilligung, da alles durch einen Großfettkaufmannsring in
Cöln gehen muß, ein echter Kölscher Klüngel, bei dem
sich alles um 50 - 80 % verteuert und womöglich noch englische Offiziere
oder Juden mit im Spiele und Verdienst sind. Gegen diese Spitzbübereien
schrieb ich einen scharfen Artikel, den die Kölnische Zeitung heute
brachte, dabei aber vorsichtigerweise einen Satz über das von der
britischen Besatzung bewilligte Einfuhrkontingent ausließ, während
die „biedere“ demokratische Zeitung in Bonn, die den Artikel schon früher
brachte, dafür (?) 2 Tage durch Nichterscheinen büßen mußte.
–
19.6.19. Fronleichnam, heißer trockener Sommertag, wenn es nur
mal gehörig gewittern wollte! Helene ist seit Montag bei ihrer Freundin
Meta Spindler und verlebt mit Herta dort gewiß herrliche Tage Sie
luden mich dringend ein, über Samstag bis Montag sie abholen zu kommen,
ich sagte nicht zu, glücklicherweise; denn heute giebts hier Einquartierung
und wir sollen mit 4 gesegnet werden. Derweil habe ich etwas stumpfe Gedanken,
ärgerte mich nicht schlecht über einen Brief des Anstaltsdirektors,
der mir das Aufseherspielen (und auch wohl die billigen Gefangenenkräfte)
legen will und lese zur Zerstreuung ein seltsam dunstig-saftiges Buch „Piraths
Insel“. Gehört zu den guten Tropenromanen, wie sie neuerdings nicht
selten sind.
20. Juni 19. Die letzten paar Tage lebe ich in einer dumpfen abgespannten
und nervös gereizten Stimmung. Alles ist mit zuwider, Kleinigkeiten
erregen mich stark, ich suche mit aller Gewalt nach Zerstreuung, der Kopf
schmerzt mich und ein Gefühl kraftloser Hitze steckt im Körper.
Arbeitsunlustig im höchsten Grade und doch stürze ich mich sofort
auf die gebrachten Gerichtsakten und erledige sie. Leider artet die lange
trockene Hitze in Dürre aus, der ersehnte Regen blieb selbst bei der
heutigen schwülen Hitze aus. Die britische
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Einquartierung kam gestern abend durch Hitze und Marsch aufs äußerste
abgespannt hier an. Unsere 4 jungen Leute benahmen sich sehr ruhig und
gesittet, wie alle sehnen sie sich nach Hause und waren dankbar für
kleine Aufmerksamkeiten, ließen sogar einen Klumpen Margarine hier.
Im Schlafe nebenan haben sie mich nicht im geringsten gestört, der
älteste war knapp über 20 Jahre alt. Fettangebot ist reichlich,
für 8,50 M ist das schönste Schweineschmalz hier zu haben. Es
liegt einem schon wenig mehr an diesem vor kurzem noch so heftig begehrten
Nahrungsmittel. Der traurige Frieden wird denn wohl die nächsten Tage
unterzeichnet werden. Wir Rheinländer bekommen einen „Hohen Ausschuß“,
hole ihn schon im Voraus der Teufel! und dann wird die Republikerei wieder
eifrig weiter gehen. Wenig erfreulich. Freilich die Zustände im inneren
Deutschland sind vielleicht noch schlimmer. Wir sind eben mal wieder, wie
wohl alle 100 Jahre, gründlich im Schlamassel. Helene entbehre ich
in diesen Tagen sehr und Mariannchen, die heute Leibbeschwerden hatte und
trotz strenger Diät beim Beerenpflücken erwischt und darüber
ernst ermahnt und mit Stubenarrest bestraft war, hatte sich bisher sehr
tapfer gehalten und ihrer unbezwinglichen Sehnsucht nach der Mutter keinen
Ausdruck gegeben. Als aber infolge eines Fliegenstiches ein Beinchen eine
kleine Anschwellung erhielt und sie nicht mehr zu gehen vermeinte, saß
sie mit stillen Tränen in ihrem Sesselchen und auf mein freundliches
Zureden murmelte sie endlich ganz leise etwas von der Mutter. Die Kleine
ist wirklich tapfer. Ich behielt sie abends bei mir und brachte sie mit
zu Bett. Damit schlief sie selig ein. Es ist gut, daß Helene bald
heimkommt. Dies mal wurde mir die Trennung wirklich etwas schwer. Ich habe
auch gegen meine sonstige Gewohnheit keine Lust, mich mit anderen auszusprechen.
Eben steht im Generalanzeiger, Edmund Frings ist mit 42 Jahren gestorben.
Die arme Tina.
23.6.19. Die Krisis scheint einen Höhepunkt erreicht zu haben:
Aufstände, Streiks, Plünderungen, häßliches Gezänk
und Hin und Her der Politiker, neue Reichsregierung, Nationalversammlung
nimmt den Frieden an. Damit ist das Deutsche Reich für die nächsten
50 - 100 Jahre ruhmlos geschwächt. Die Rheinlande, was geschieht mit
ihnen? Das Zentrum will es mit Gewalt zu einer eigenen Republik machen,
die Besatzung bleibt und die Zollgrenze soll sogar an den Rhein gelegt
werden. Wir werden noch manche Dinge erleben, ob schöne, ist mehr
als fraglich. Jetzt ist Dürre und vielleicht giebts Regen. Ähnlich
auch im Großen so. Mit Marianne war ich gestern im Wald, Helene soll
heute abend mit Herta zurückkommen. Ich will versuchen, in Odendorf
mir noch einen Bienenschwarm zu kaufen. Die Mädchen holten gestern
von Straßfeld eine Glucke mit 7 Kücken (von 15 Eiern!) und brachten
sie glücklich heim. Sie sitzt
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mit den flüggen Tierchen bereits im Kückenlauf und ich habe
so viel Spannkraft wiedergewonnen, mich an eine satirisch-humoristische
Skizze: „Eierselbstversorgung“ zu geben. Die Abkühlung tut ihr Gutes.
Ob auch sonst der Frieden mehr Arbeitslust mit sich bringen wird? Ich glaube
es kaum.
3. August 1919. Der Juli war ein rechter Arbeitsmonat für mich.
Dank dem eigenbrötlerischen Sinn des Herrn Coll. Simons, der weder
Ferien haben noch vertreten wollte, hatte ich 2 Abteilungen am Halse, dazu
die eigene stark mit Grundbuchverkehr in Bewegung. Ärger als Aufsichtführender
u.s.w. Ich bin froh, daß er vorbei ist und freue mich der Ferien.
Die begannen gleich mit ganztägiger Arbeit auf dem Felde mit dem fleißigen
Strafgefangenen Trimborn aus Cöln, der vorzüglich den Gartenbau
versteht. Rheinbach ist mal wieder stark mit Briten belegt, abends kann
man bis 11 Uhr aus sein, sonst aber spürten wir vom Frieden nur die
allenthalben steigenden Preise für die notwendigsten Lebensbedürfnisse.
Alles ist ja reichlich gegen vordem zu haben, aber alles auch sehr teuer.
Der Sommer scheint kühl und regenerisch zu bleiben, Raps und Gerste
sind herein, Roggen steht auf Garben. Gestern habe ich noch einmal die
geradezu kümmerlichen Honigreste geschleudert, die nach der langdauernden
feuchten Kühle noch vorhanden waren. Man kann schon froh sein, nicht
füttern zu müssen. In der Siedlungsfrage ist viel verhandelt
und den mittleren Beamten Aussicht auf eine recht angenehme Wohnung gemacht
worden. Auch mich sucht man mit allerlei Aussichtseröffnungen dazu
heranzuziehen, ich gehe aber nicht darauf ein, um nicht schließlich
unter Festlegung fast meiner ganzen derzeitigen Barschaft in einem noch
engeren und jedenfalls unsolideren Häuschen fern der Stadt am Waldrand
auf dürrem Boden zu sitzen. Steuerinspektor Assenmacher will sein
Haus verkaufen, nur 100000 M fordert er in beneidenswerter Unbefangenheit.
Freilich ein kleines Bahnmeisterhaus, das jetzt hier in der Nähe des
Bahnhofs gebaut wird, soll an 60000 M kommen. Es ist eine geradezu wahnsinnige
Wirtschaft. Ich werde mich schön hüten, mir zu dem heutigen lächerlichen
Markpreis ein Haus hier an die Beine zu binden. Schlimmstenfalls ziehen
wir nach Bonn. Ob es mit der Direktor-Wohnung etwas wird, die mir der neue
Strafanstaltsdirektor Dr. Rath zur Verfügung stellen wollte, erscheint
noch fraglich. Jedenfall wird Frau Wwe. Direktor Trautmann jetzt langsam
und sicher aus ihr herausgedrängelt, nachdem sie sie freilich fast
ausschließlich durch die Familie ihrer Tochter bewohnen ließ
und sebst meist abwesend war. Die Stadt Rheinbach betreibt die Einrichtung
eines städtischen, ich die eines Kreis-Mieteinigungsamtes. Wird dann
erst – vermutlich aber erst nach erfolgten neuen Kommunalwahlen – ein scharfes
Ortstatut durchgedrückt, so soll sich schon Wohnung finden, auch für
uns. Das steckt noch in weiten Säcken, kommt aber sicher. Könnte
ich das Assenmachersche Haus dem Justizfiskus andrehen und selbst Dienstwohnung
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darin erhalten, so wäre dies eine glänzende Lösung.
Etliche unserer Küken sind eingegangen, ein Huhn hat eine ernstliche
Krankheit durchgemacht und stand in Gefahr, gemetzelt zu werden, doch immer
giebts ab und an ein Ei und die Aussichten für nächstes Jahr
sind glänzend. Die Zwangswirtschaft geht weiter und so heißt
es Frucht hamstern, auf daß man etwas hat. Gerste und Raps habe ich
in Aussicht. Anderes wird wohl folgen.
Wie leider häufig, so hatte ich auch jüngst in unseren Gesetzblättern
herumzustöbern. Glücklich, wer sie nie zu Gesicht bekommt. Schon
die letzten Jahre vor dem Kriege war das Reichsgesetzblatt, das früher
nur hin und wieder einmal in etlichen Jahren einen Fettsuchtsanfall bekommen
hat, sonst aber jung und schlank geblieben war, zu einem allzufetten Bourgeois
herangediehen. Im Kriege ward es zu einem Kriegsgewinner schlimmster Sorte,
ja es barst schließlich vor aufgeschwemmter Dickheit wörtlich
in 2 Teile und jeder Halbjahrsband mit seinen eigenen Registern ist reichlich
so dick, wie die fettesten alten Jahrgänge. Aus dem Kriegs- ist jetzt
ein Revolutionsgewinner noch beängstigender Sorte geworden und am
Ende erleben wir es noch, daß selbst die Halbjahrszwillinge infolge
allzu starker Ernährung abermals platzen und sich in mehrere teilen
werden. Schließlich giebts noch monatliche Register.
Sucht man sich eine Bestimmung aus diesem dickleibigen Quartanten und
läßt die Augen die Register entlang laufen, so wirbelt es einem
im Kopfe und man hat ein Gefühl, „gejazzt“ zu werden, wie es vor einiger
Zeit von amerikanischen Musik- und Geräuschsausbrüchen zu lesen
war. Wie in einem futuristischen Gemälde fliegen die Dinge da durcheinander:
Reichswehr, Druckpapier, Schifffahrtsunternehmen, Schwerbeschädigte,
Stickstoff, Garne, Eisenbahn, Erwerbslose, Kohle, Landwirtschaft, Druckfarbe,
Gänse, Biersteuer, Reichsbank, Branntwein, Bucheckern, Wertpapiere
u.s.w.: ein farbiger Mischmasch, der wohl schwerlich überboten werden
kann. Versucht man sich gegenüber diesem Erynniengesang – gesinnungraubend,
herzbetörend – ein wenig auf sich selbst zu besinnen, so will es einem
vorkommen, als ob man auf einen Jahrmarkt oder eine Börse geraten
sei, auf der von jeder Ecke und Richtung aus die verschiedenartigsten Gesetze
einem angeschrieen werden, alle mit den obligaten Posaunenstößen
der Strafandrohnungen, und einem abschließenden Paukenwirbel. Der
eine kümmert sich dabei wenig um den anderen. Kreischend und mißtönend,
aber mit unentrinnbarer Deutlichkeit schallt es aus allen Buden. Jedes
Ressort arbeitet für sich und überall wird die Gesetzesmühle
eifriger und mit überzeugungsvoller gedreht als die Gebetsmühle
des Tibetaners. Vom Publikum ist wenig zu sehen auf diesem Jahrmarkt. Einzelne,
anscheinend völlig Taube, schreiten erhobenen Hauptes durch das Tongetümmel,
andere taumeln mit verbundenen Ohren wie betäubt hin und her und mit
schuldverratenden
Seite 100
Mienen hasten Schleichhändler mit geschwollenen Säcken durch
die engen Gassen. Große Massen biederer Bürger, die sich auf
diesen grellen Markt verloren haben, sind den Häschern in die Hände
gefallen und werden in hellen Haufen, Greise, Frauen, Kinder, Männer,
alle durcheinander, dem Gerichte zugetrieben.
31. August 1919. Mein Ferienmonat geht heute zu Ende. Es waren schöne
Wochen voll Sommer, Sonne, Ernte, Freunde und Wiedersehen. 8 Tage war ich
in herzlicher Gastfreundschaft bei unserem alten „Hospes“ Leistner in Berncastel,
sah die Mosel und gute alte Bekannte wieder und verlebte bei Wein (ja auch
bei Tanz) und angeregter Unterhaltung manche frohe Stunde dort. Einen Morgen
widmete ich der Hamsterei. Ich hatte einen Zentner Raps mit 2 Eilgutkisten
an einen mir zu Dank verpflichteten Ölmüller verschoben, dem
ich im Laufe des Winters und Frühjahrs nach viel Schreiberei Filterpreßtuch
verschafft hatte. Ganze 23 l waren die Ausbeute, womit wir auf lange Zeit
hinaus versorgt sind. Ein wahrer Schatz in den unsicheren Tagen heute,
wo die Preise allenthalben wieder anziehen, da Fettnot abermals vor der
Tür steht und unser Haushalt sich um rund 100 M im Monat verteuert
hat. Ich lernte jenen schönen Morgen den bekannten Dr. Wiesemes in
Mülheim inmitten seiner kunstsinnig ausgestatteten Häuslichkeit,
seinen sehr anregenden Bau- und Gartenplänen und seiner famosen Gartenbesitzungen
kennen, und zwar von einer sehr schätzenswerten Seite. Er ist um seine
Besitzungen zu beneiden und genießt so recht die Freuden eines verständnisvollen
Aufbaues. In sehr freundlicher Weise fuhr er mich in seinem Auto zum Ölmüller,
so daß ich 2 schwere Kannen spielend nach Bernkastel bekam. Ich war
am 20. August 19 mit Molkereidirektor Zingsheim von hier bis Bullay an
einem prachtvollen heißen Tage mit bewegter Luft zusammen gefahren
und in Berncastel von Leistner, seiner Tochter Ida und Collegen Reinecke
froh und herzlich an der Bahn begrüßt worden. Am 26. August
waren dieselben mit Dr. Schmitz zum Abschied morgens am Bahnhof. Dazwischen
lagen Tage voll frohen und ernsten Wiedersehens mit mancherlei Bekannten,
auch lernte ich im Hause Leistner 2 tüchtige junge Leute, beide Nationalökonomen,
Müller aus Saarbrücken und Conrad aus Dusemond kennen. Deren
Wesen gab mir auch mit die Gewißheit, daß es mit uns noch lange
nicht zu Ende ist. Das Begehren nach Wein ist sehr stark und Leistner war
geradezu übermüdet von allem Versenden größerer und
kleinerer Posten trotz der ungeheuerlich hohen Preise. Die dringenden Einladungen
waren schließlich ein wenig ermüdend. Hauths traf ich in vorzüglicher
Verfassung in Wehlen, bei Knolls verbrachte ich angenehmen Abend. Sonntags
mittag war ich Gast bei Paul Thanisch, der sehr schlimm aussieht. Er hat
wohl den bösesten Winter seines Lebens hinter sich. Macht er nicht
sehr energisch Kur, so setze ich auf sein Leben nicht allzu viel. Sonntags
nachmittag wohnte ich einer Versammlung bei, die Winckler leitete und die
scharfe Resolution und Reden gegen die Rheinische Republik führte,
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abends bei Gessen ein recht anregendens Konzert zur Laute von einer
Frl. Schmid, die bei Gescher zu Besuch, darnach Tanz, von denen ich je
einen mit Frl. Ida Leistner, Frau Paul Thanisch und Frau Winckler tanzte,
wohl das erste mal seit langen Jahren, vermutlich seit Fastnacht 1913 (?).
Frau Bürgermeister Pfeiffer war sehr dankbar für einen Besuch,
Bienenfreund Kuntz verschaffte mir sogar noch 45 Pfd. Zucker, von Krings,
die leider unterdessen nach Jülich verreisten, 2 große amerikanische
Speckbüchsen zu je 10 Pfd. (7,80 M das Pfd.) und 10 Pfd Reis zu je
2 M. Mit allerlei Schätzen beladen reiste ich heim. In Coblenz
ging ich auf die Pürsch nach Leder, fand leider wenig solches, jedoch
einen deftigen amerikanischen Gummimantel für 90 und 1 Paar Schuhe
für 45 Mark. Auch merkwürdige Sachen. In Sinzig und Coblenz stehen
die verkäuflichen Autos in unabsehbaren Zügen und Reihen, in
Sinzig auch einige 16000 Pferde. Alles verkäuflich. Die Amerikaner,
die allenthalben abziehen, verkaufen wahrhaft großzügig, auch
alte Uniformen, Wäsche u.s.w. Der Mantel, denke ich, hält mir
fast mein Leben aus, denn er ist von seltener Gediegenheit. Zurückreisend
verbrachte ich den Abend und die Nacht in Bonn, fand meine Mutter sehr
wohl und frisch, Vater Reitmeister dagegen sehr alt und greisenhaft vor.
Heute wollen Helene und ich ihn besuchen.
1. November 1919. Allerheiligen. Ein rauher Nordost, eisig kalt, hier
und da etwas Schneegeriesel, wohlige Wärme hinterm Ofen. Ein früher
und böser Winteranfang. In den Städten geht das Hungergespenst
um. Kartoffel- und Getreideablieferung stocken. Auf dem Lande ein unglaublicher
Schleich- und Schieberhandel. Sogar Getreide wird ins Ausland geschoben
und kommt riesig verteuert zurück. Hiergegen scheint sich im Volke
jetzt etwas wie Selbsthilfe zu regen. Wir sind gut versorgt, Kartoffeln,
Gerste, Weizen die Fülle, Zuckerrüben demnächst, köstliches
Rübenkraut dieses Jahr. Die Kosten des Haushalts haben sich verdoppelt,
sie wachsen von Monat zu Monat, unsere Währung verschlechtert sich
andauernd. Dabei werde ich endlich einmal etwas dicker. Unsere Kaninchen
sind die Fleischquelle. Aus der unmäßig fressenden Rotte des
Kleingeflügels vertauschte ich 6 gegen 100 K Getreide. Kohlen reichlich
eingedeckt. Daher können wir dem Winter ohne Sorgen ins Angesicht
sehen, aber leider viele Stadtmenschen nicht. Für Papa, der jetzt
mit Frl. Fabian als angeblicher Mieterin, tatsächlicher Hausdame,
wieder aufzuleben beginnt, und meiner Mutter reichlich Kartoffeln aus Kl.
Büllesheim noch rechtzeitig beschafft. Jetzt alle Ausfuhr streng verschlossen,
auch für Selbstversorger. Im Nest war einige Bewegung: Die von den
3 Berufsvereinigungen ausgegangene Wahlliste ist vom Zentrum angenommen
und als seine Liste aufgestellt worden. Ich stehe an 14. Stelle (unter
18) darauf und bin daher gegen Wahl so gut wie völlig gesichert. Anfangs
Oktober gerieten wir in Gefahr, obdachlos zu werden: Feierliche Erklärung
der Kölner Zentraljustizbehörde, ich sollte alsbald ausziehen.
Gegenmaßnahme meinerseits: Verlangte kath. Geistlichenwohnung an
Anstalt. Folge: Ich bleibe vorab wohnen. Doch unbehagliche Lage. Werde
versuchen, einen Neubau Eschweiler hier zu kaufen. Freilich die schlechte
Velute macht Kauf sehr unrentabel. Vielleicht könnten wir einen Pensionär
nehmen, was hier sehr beliebt ist. Papa hatte in Bonn eine Zeitlang eine
Sergeantenküche mit 3 Gästen, Koch, Offizier mit Bursche, letztere
3 im Hause schlafen. Es waren gerade die Tage, als Frl. Fabian zu ihm kam.
Sie bewährte sich herrlich. Helene und ich verstehen uns vorzüglich
mit ihr. Langsam übernimmt sie das Regiment im Hause. Da wird sich
manches ändern. –
Frieden haben wir nun immer noch nicht. Eine elende Sache. Heinz Reitmeister
war mit Rücksicht auf die Geburt seines Brüderchens an 4 Wochen
hier bei uns in Rheinbach in unserer bedrängten Wohnung. Er hat außerordentliche
Talente im Essen, Herta schulmeisterte ihn zum Schlusse sehr und er flüchtete
zu Marianne, die alle freie Zeit mit ihm spielte. Aus dem Jungen, der viele
angenehme Seiten zeigt, ist keineswegs schnell klug zu werden. Ich bin
es in den 4 Wochen nicht geworden. Wir glauben, daß er sich seiner
Mutter noch sehr gut erinnert, jedoch nie davon spricht. Als wir Frida
im Wochenbett besuchten und ihn mitnahmen, standen ihm die Tränen
in den Augen, als er sein Halbbrüderchen sah. Er war recht befangen
und in sich zurückgezogen dabei. –
Wegen Hertas Religionsunterricht habe ich mit den anderen Eltern eine
kleine Revolutionsverschwörung gebildet um durchzusetzen, daß
Pfarrer Echternacht diesen Unterricht hier erteilt. Der alte Superintendent
Fischer in Euskirchen sträubt sich mit aller Gewalt dagegen.
Wir sind nun 1 Jahr hier in Rheinbach und fühlen uns sehr wohl
dabei. Es hat sich der Beginn eines angenehmen Verkehrs hier für uns
angebahnt, wir leben sehr viel besser als ehedem an der Mosel, sind mit
allem reichlich versehen u.s.w., nur mit unserer Wohnung sind wir nach
wie vor im Gedränge.
College Reinecke hat sich mit einer Tochter des Bürgermeisters
von Hagen in Kempfeld, eine Dr. phil., verlobt.
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9. November 1919. Ein Jahr nach der Revolution, besser dem Beginn des
Zusammenbruchs, der jetzt erst in erschreckenden Umrissen in Erscheinung
tritt.
Sonntagmorgen. Ich sitze auf unserem winzigen Wohnstübchen. Ein
Kohlenfeuer im kleinen Ofen giebt wohlige Wärme. Gestern ist beschlossen
worden, einem Lesezirkel in der Stadt, als Auswärtiger mit 4 Bänden
beizutreten. Morgen soll das Fräulein, das seine Mutter in der Stadt
besuchen will, die Bestellung besorgen, bezahlen und gleich 4 Bände
mitbringen. – Nun habe ich eine emsige Arbeit. Solange habe ich ganze Bücher
hintereinander kaum mehr gelesen. Nun bricht die Lesewut plötzlich
wie ein aufgestauter Bach aus dem Bett und verwandelt alles ringsum in
einen See, auf dem ich eifrig herumpaddele. Die Anzeigen über die
Neuerscheinungen genügen nicht, allerhand halbvergessene Notizen über
Bücher, die ich als Desiderata mir vermerkt hatte, werden hervorgeholt,
aus der guten Zeitschrift läßt sich noch eine Reihe genauer
Titel von Werken solcher Leute feststellen, die mir schon länger im
Kopfe herumgehen, kurz es kreuft (? oder kraust, krauft?) sich hieraus,
aus Verlagsanzeigen, Zeitungsausschnitten u.s.w. ein buntes Verzeichnis
von Büchern zusammen, Erzählungen, Gedichte, Romane, Novellen,
Gedichtwerke, halbpolitische Schriften, alles das soll nun morgen in den
Wunschkasten geworfen werden, aus dem dann der blinde Zufall 4 Bände
herausziehen wird. Neugierig bin ich, was für welche?
Da fällt mir ein; im Bienenhaus stehen seit vorgestern 2 neue
Schnappfallen, um dort sich einhausende kleine Nager, die mir die Bienen
in der Winterruhe stören, zu fangen und zu töten. Die letzte
Falle ist spurlos von einer Maus verschleppt worden, und so kaufte ich
2 neue, die noch nicht erprobt sind. Ein Blick auf den nassen Gartenweg
giebt einen unangenehmen Ausblick auf nasse und kalte Füße;
ob ich wohl heute nachmittag zu der Parteiversammlung gehen soll, in der
man den allzu milden Vorsitzenden der Lokalpartei hier durch einen Mann
mit kräftigerer und durchgreifender Hand ersetzen will? Der Himmel
gießt zur Antwort einen kurzen durchdringenden Regen herab; ich vermerke
eifrig weiter Bücher; die Mausefalle bringt mich auf Löns und
so bin ich schnell wieder im Fluß. Zwischendurch wird noch eine Knochenmühle
bestellt für den Geflügelhof. („Manch einer giebt sich viele
Müh’ – mit dem lieben Federvieh.“) – ist jetzt die allgemeine Losung,
scheußlich, statt 31 M kostet solch nutzloses Instrument jetzt mit
150 % Aufschlag 77,50 M. Was kanns nutzen. Nächsten Frühjahr
das Ei vielleicht 2 Mark, wer weiß? Gestern abend gabs eine schöne
Beschäftigung: Auf dem „Höchstspeicher“ wie die Kinder sagen,
wurde der jetzt so ziemlich zusammengebrachte Weizen und die Gerste in
gewaltigen Säcken in eine dunkle und geschützte Ecke verstaut.
Die Petroleumlampe warf einen sanften Schein in diese sonst nie beleuchteten
Winkel. Das Geriesel der köstlichen Frucht in die Säcke sang
wie Musik in die Ohren des vor Jahresfrist sich solche Schätze noch
kaum verschaffenden Hamsters. Die Aussicht auf Eier scheint gesichert.
Was tut der Mensch heute nicht für den Fraß für sich
und die Seinen? Die Arbeit war besinnlich, ermüdend und erwärmend.
Ein Bad vor Tisch und nachher ein traum- und wunschloser Schlaf bis in
den späten Morgen. –
23. November 1919. Ich muß mich ordentlich zwingen, etwas ins
Heft hineinzuschreiben. Der so scharf und allzu früh einsetzende Winter
ist wieder gewichen. Fast fußhohen Schnee hatten wir vor 8 Tagen
und am letzten Montag holte ich die seit 10 Jahren unbenutzten Schier heraus
und fuhr damit bis zum Waldrand. Allerhand Erinnerungen an schöne
Schiwanderungen im Bündner Hochgebirgswinter. Montag besuchte uns
Frl. Lorchen Leistner aus Bernkastel, ein lieber Besuch. Die Kinder hingen
förmlich stets an ihr. Ende der Woche hatte Mariannchen einen bösen
Darmkatarrh, war sehr brav im Bett und bei schmalster Kost, erholte sich
aber bald wieder und geht heute schon wieder zum Kindergottesdienst. Vorigen
Sonntag war Kommunalwahlschlacht: 10 Zentrum, 3 Bürgerliche, 3 Demokraten,
2 Sozis. Gottlob ich mit 3 Ve... (?) ausgefallen. Gestern abend hörten
wir ein recht gutes Konzert hier; heute abend bei Hoelzers, etwas altmodische
umständliche Leute, zum Abendessen.
Vor einer Woche verschlang ich in seltsamer Stimmung Hermann Stehr’s
Heiligenhof. Draußen lag hoher Schnee, das kleine Stübchen (ebenso
mein schmales Dienstzimmer, in dem ich gleichfalls schmökerte) waren
von dem kalten Licht der Schneedecke ganz hell und diffus erleuchtet, der
Ofen gab behagliche Wärme und wie eine Motte sich nicht vom Licht
trennen kann, so flog ich Seite um Seite um dieses prachtvoll geschilderte
tiefe Seelenleben des Heiligenbauers herum. Ich habe mir das 2bändige
Buch, das ich aus dem Bonner Lesezirkel von Röhrscheid hatte, gekauft.
Mit Helene gedenke ich es an langen Winterabenden in gegeseitigem Vorlesen
noch einmal gründlich durchzuackern und erst dann die ganze künstlerische
Reife und den tiefen Gedankengang des Buches auszukosten. Daneben dann
und zwischendurch ging die Lektüre von Meernarsch’s (?) Tierbildern,
an denen namentlich auch die Kinder große Freude haben, sowie ein
brasilianisches Reiseforschungswerk von Dr. Krause. Mit voller Teilnahme
meines Herzens las ich jetzt die letzten Tage ein Buch des trefflichen
Deutschböhmen Watzlik: O du mein Böhmen. Es ist entsetzlich,
wie auch dort jetzt alle Hoffnungen der Deutschen zu schanden geworden
sind und die Tschechen unsere Landsleute unterdrücken. Immer wieder
muß ich dabei auch der Deutschen im Baltenlande gedenken. Dort ist
anscheinend alles zusammengebrochen und selbst die Truppen, die sich von
der deutschen Heimat losgesagt hatten, um dort für sich und das Deutschtum
weiter zu streiten, werden zurückkommen und sich noch durch Litauen
durchschlagen müssen. Wann werden für uns Deutsche aus diesem
Elend noch einmal bessere Tage kommen? Ich hoffe, es noch zu erleben und
werde die Hoffnung darauf als Stütze zu einem hohen Alter benutzen.
Jetzt haben wir die Franzosen auch schon hier in Rheinbach, darnach in
Bonn und schließlich wohl auch noch in Cöln. Sie wollen uns
vom Reich, vor allem von Preußen ablösen. Zu allem Unglück
ist nun auch noch der aufrecht-deutsche Kölner Erzbischof v. Hartmann
gesprochen (soll wohl gestorben heißen), nach der neuen Verfassung
wird unglücklicherweise der Staat sich nicht mehr um die Neubesetzung
des Stuhles kümmern. Desto eifriger werden es die Franzosen tun, sie
wissen wohl, warum. Der Tod des Erzbischofs erinnert mich an die feierliche
Inthronisationsprozession, der ich im Frühjahr 1912 in Cöln zufällig
zusah. Ein prächtiger farbiger und erfreulicher Anblick damals. Wie
gern kehrt man in Gedanken zu solch schönen glückliche Zeiten
zurück, um sich etwas Erleichterung von dem bleiernen Druck der Jetztzeit
zu verschaffen. Damals war es mir gelungen,
Seite 103
meine Teilnahme an einem wissenschaftlichen Fortbildungskursus in Cöln
zu erreichen. Ich wohnte mit Frau und Kind (Herta war damals ½ Jahr
alt, bei den Schwiegereltern in Bonn, fuhr täglich nach Cöln,
hörte Vorlesungen im Gürzenich, machte Besichtigungen u.s.w.
und aß des öfteren bei den Kölner Verwandten. Als ich eines
schönen Morgens die Bechergasse überquerte, hörte ich feierliches
Glockengeläute und sah Leute auf den Dom zu eilen und ging mit. Da
ging die feierliche Prozession des neuen Erzbischofs um den Dom herum.
Ein unendlicher Zug von Geistlichen, großen und kleinen, mit allen
möglichen Spitzenverzierungen an den weiten Chorhemden über dem
schwarzen Rock, die Domherren mit Pelzkragen, Fahnen, Baldachin, hinter
einem baumlangen Geistlichen, der Bischof, wahrhaft fürstlich frei
und frank marschierend, den Segen so nebenbei mit prächtiger Gebärde
austeilend, der Adel in malerischen z. T. roten und schwarzen Trachten
mit Federbaretten u.s.w., Studenten, kurz ein erbaulicher Anblick, die
Luft durchdröhnt von Musik und Glockengeläute, eine Kundgebung
der katholischen Kirche in schönster Form. Und heute? ––
College Simons gab mir vor etlichen Tagen zu verstehen, daß Dr.
Rath, der Anstaltsdirektor, recht böse auf mich sei, weil ich mir
die Wohnung des katholischen Anstaltsgeistlichen erobern möchte. Ich
hatte dieserhalb einen recht gesalzenen Bericht ins Justizministerium gepfeffert
und den wird er jetzt zu bearbeiten haben. Das kommt davon, wenn man mich
nicht in Ruhe läßt und angreift. In der Defensive bleibe ich
nicht gern und gehe dann stramm zur Offensive über. Viel schaden kann
es nicht, aus der jetztigen Wohnung, die uns nachgerade nun sehr eng, bringen
sie mich gegen meinen Willen doch nicht heraus. Gelingts mit der Geistlichenwohnung,
so solls mir recht sein. Dr. Rath muß es wurmen, weil seine eigenen
Äußerungen zu mir darin stehen und er vielleicht in den (sehr
wohl begründeten) Verdacht der Doppelzüngigkeit gerät. Zu
verdienen ist an mir nichts mehr und ich bin ihm hier mehr wie lästig.
Offen mit mir zu streiten wird er sich aus bestimmten Gründen versagen
müssen und so sucht er durch die völlig klerikale Sippe Simons
auf mich einzuwirken. Kommt damit bei mir aber grade an den Rechten. Den
Päffchen erkenne ich für mein Teil keinen höheren Ordo vor
mir an. Daher der Jammer. Ich möchte mich tot lachen, wenn es wider
Erwarten mit der Wohnung gelingen sollte. Wenn nicht, giebts neue Berichte
ins Ministerium über Lehmbau (?) und dergleichen. Ein Buch darüber
steht noch aus, ist es da, so geht es los. Bis meine Wohnungsfrage gelöst
ist, werde ich noch oft ins Ministerium schreiben! – Das sind so kleine
Nebenfreuden, die eine kämpferisch gestellte Seele auch heute noch
ab und an am Wegrand des Lebensweges findet. Eine größere ist
solch ein Lichtblick wie das wahrhaft herrische Auftreten des Riesen Hindenburg
vor diesem verfluchten Kriegsschuldfeststellungsausschuß. Ich hefte
hierüber einen Zeitungsausschnitt ein (fehlt). Diese Sache ist zu
schön. Gottlob, daß wir wenigstens noch etliche Männer
haben. Hoffentlich kommen sie bald nach oben. –
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Rheinbach, 5. Dezember 1919. Heftige Stürme durchbrausen das Land.
Dabei ist es reichlich warm, daß mir seit einigen Tagen vom Wetter,
Nichtstun und übermäßigen Lesen (Justi’s Michelangelo nimmt
mich ganz in Beschlag und daneben lese ich noch von Reymont einen dickleibigen,
ungewöhnlich lebendigen Buche „polnische Bauern“) der Kopf ganz dösig
und schmerzhaft geworden ist. Die widerliche Wärme löste gestern
abend sogar ein kleines Gewitter aus, das mir anscheinend eine kleine Erleichterung
brachte, so daß ich anfange, wieder an die Oberfläche zu steigen
und mit Hülfe einer neuen spitzen Feder hin und wieder einiges aufzuzeichnen
Lust empfinde. Die vorige Woche habe ich mich selbst durch unschlüssiges
Hin- und Herschwanken genügend selbst gequält, ob ich eine längst
vorgehabte Reise nach Cöln machen sollte oder nicht. Endlich fand
der „unfehlbare“ Dämon der eigenen Brust Freitag nachmittag den erlösenden
Entschluß: Du fährst. Nun wurde ich auch gleich im übrigen
mobil, sammelte Aufträge für allerhand, was es am Obergericht
etwa zu besprechen gäbe und fand sogar den P. Bertram bereit, als
Bewerber um die Anstaltsgeistlichenstelle auf die Dienstwohnung zu verzichten.
Freilich hatte er einen Brief in Händen, nach dem er seine Bewerbung
als aussichtlos ansehen mußte. Im übrigen auf die hiesige Klerisei,
nicht minder auf den Dr. Rath erbost, weil er vermutet, diese hätten
seiner Bewerbung heimlich entgegengearbeitet. Na, ich setzte abends sofort
einen Bericht an den Minister auf, um dieses Moment nicht ungenutzt zu
lassen, denn aus der Defensive zur Offensive übergehend hatte ich
ja jenen Angriff auf die Pfarrerwohnung zum großen Verdrusse des
Herrn Direktors gemacht. Erfolg ist davon ja nicht zu versprechen, aber
es macht doch Spaß und hat Folgen, die nach anderer Seite ausgenutzt
werden können. Am Ende ist es noch Stoff für die Notwendigkeit
einer später eben gewünschten Versetzung nach Bonn oder ähnliches.
– Die Erkundigung abends auf der Bahn nach Zügen gab dann noch Veranlassung,
dort einige belehrende Bemerkungen dem demokratischen „Stadtrat“ Krüger
zu verzapfen. Ich hörte nämlich, daß auf der ersten Sitzung
des neuen „Stadtverordnetenkollegiums“ hier gleich die Frage der Zwangseinmietung
auf dem Tapet steht. Diese beschäftigt uns natürlich auch lebhaft,
zumal sie in Bonn jetzt greifbare, und zwar recht unangenehm greifbare
Form angenommen hat. Vermutlich wird man mich hier – mit Unrecht – als
der Teufel hinter der Bühne bei diesem Punkt der städtischen
Tagesordnung ansehen. Es kommt ja schließlich doch, was da kommen
muß. –
Helene also machte mir schon des abends vorher den Mundvorrat mit Butterbroten
und Äpfel bereit, den ich in Cöln und Bonn getreulich mit mir
herumgeschleppt und als ziemlich harte Kursten bei meiner Mutter verzehrt
habe. Als geistiges Gegenstück zu diesem heute leider fast unabweislich
nötigen Reiserequisit schleppte ich dann noch eine Mappe Bücher
mit, die ich in Bonn im Lesezirkel einzutauschen gedachte. Samstag nachmittag
gelang dies auch noch eben und daher die oben angedeutete neue Schmökerei.
––
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(6.12.) Ein leuchtender, eben aufsteigender Morgen mit farbigen Wolkenrändern.
Ich fuhr 4. Klasse und hatte Platz genug, auch von Euskirchen nach Köln.
Es sitzen jetzt auffallend viele recht gut bürgerlich gekleidete Leute
in 4. Klasse. Dort ist man im Durchschnitt höflich und gegenseitig
behülflich bis eben auf die flegelhaften jugendlichen Arbeiter und
Raufbolde bis 25 Jahren, die teilweise eine erschreckende Rohheit an den
Tag legen. Anfänglich war die Kälte noch zu ertragen, die hellblinkende
Wintersonne aber brachte keinerlei Wärme und schließlich war
ich recht steifgefroren und froh, in Köln gründlich die Beine
schwenken und damit die Füße aus der Erstarrung bringen zu können.
Vom Bahnhof eilte ich gleich an den Rhein, dessen großer Anblick
mir auch jetzt seinen Eindruck nicht verfehlte und die Brust erweiterte.
Die Fahrt auf der Elektrischen brachte die schmerzhafte Erfahrung, daß
es jetzt 25 Pf. kostet, was ehedem nur 1 Groschen ausmachte. Die ermunternde
Unterhaltung eines älteren Schaffners, der sich als Landsmann aus
Bonn erwies, brachte mich schnell hierüber hinweg. Dann wieder die
mir aufs äußerste verhaßte Irrfahrt in jenem schrecklichsten
aller Gebäude, das sich das Oberlandesgericht in Cöln nennt.
Sobald ich nur gezwungen bin, dort in einem der unendlich vielen Flure
ein Zimmer aufzusuchen, befällt mich ein Gefühl grenzenloser
Öde. Ich wünsche mir ein Fahrrad, ja ein Motorad, besser noch
die Schwingen einer Eule, um lautlos durch diese trüben, endlos umherwirbelnden
Korridore zu streichen und schließlich irgendeine höchst gleichgültige
Nummer auf einer Türe zu finden, in der das geschehen soll, was ich
wünsche. – Ich wußte es schon zum voraus: Trotzdem ich mich
diesmal genau vorher erkundigt hatte, geriet ich doch wieder auf ein falsches
Stockwerk und irrte eine zeitlang verzweifelt und und mit inneren Verwünschungen
in dem Rechtsmalapartus umher. (Übrigens ein treffliches Sinnbild
auf die dem Laien nicht weniger verwirrten und schwer übersichtlichen
Gedankengänge der Juristen in ihrer Rechtssprache.) Endlich also die
richtige Tür gefunden, natürlich der Beamte nicht dort, erwartete
ihn jedoch hartnäckig und endlich kommt der Rech.-Direktor Reinartz,
während ich eben in die Stadt telefonieren wollte. Im Gegensatz zu
seiner bisher mir nur schriftlich bekannten Persönlichkeit auf den
ersten Blick und so auch fernerhin in der Unterhaltung wenig sympathisch.
Bestenfalls trockener Bürokrat mit gediegener Personal- und Sachkenntnis.
Anscheinend entgegenkommend und schließlich doch wieder mit den üblichen
Vorbehalten, Bericht ect. Ich hoffe trotzdem, daß eine Generalreinigung
unseres äußerst verdreckten Amtsgerichtsgebäudes erreicht
wird. Er fing zum Schluß selbst – augenscheinlich instruiert! – von
meiner Wohnungsfrage an und äußerte scharfe Meinungen, die ich
replezierte und auf falsche Auffassungen der Oberstaatsanwaltschaft hinwies.
– Leider traf ich unseren Wohnungsnöten dezernenten Dr. Fritsch leider
nicht an, auch als ich später nochmals ihn zu treffen versuchte. Staatsanwalt
Reis wurde mir als krank geschildert und den nur stellvertretenden Dahmen
zu sprechen, erschien mir überflüssig. In allem merkte ich hinreichend:
aus der Wohnung hätte man mich gern möglichst bald und unter
allen Umständen heraus und jedes Mittel erscheint hierzu recht. Das
giebt mir die Freiheit, in der Wahl meiner Gegenmittel ebenso unbedenklich
zu sein. Ich feuerte daher noch gleichen abends den Bericht an das Justizministerium
ab. –
Aus Tante Marias (Brügelmann, Maria) Wohnung in der Wörthstraße
strömte eben eine Bande affenartig aufgeputzter Weiblichkeit in verschiedenen
Altersstufen heraus: der Anhang des Amerikaners, der dort zwangseinquartiert
ist und sich durch die ganze Wohnung breitmacht, so daß Tante Maria
sogar keine Küche mehr hat und nach Deutz zu Grete (Riesen, Grete)
zum Essen hinaus war. Bei Tante Emma wurde ich gleich zu Tisch eingeladen.
Ich konnte daher alles dort lassen und vor Tisch noch ein wenig bummeln
gehen. Die weite Rheinterrasse war fast menschenleer, nur einige wenige
ältere Herren hielten einen kleinen Spaziergang, ich sah: Köln
war an der Arbeit. Der Rhein, ja unser stolzer breiter Rhein, er trägt
den starken Rücken voller Schiffe, stromauf stromab fahren die kostbaren
Güter, ein Warenverkehr wie nie; das Loch im Westen ist da ganz weit
offen stehend zu sehen. Immer aber reckt sich über alle dem Getriebe
der wuchtige und prächtig gegliederte große Turmbau von
Groß St. Martin. Der Gegensatz solch stolz ragenden alten Bauwerkes
mit seiner ruhigen Größe und Unbewegtheit im aufgeregten Treiben
der krankhaft übergeschäftigen Menschenmenge ladet mich zum Eintritt
in eine Kirche ein, St Kunibert ist gerade zur Hand und so gehe ich dort
hinauf. Der ehemals fast in freier Landschaft liegende Pfarrgarten ist
jetzt allerseits eingeengt, er schläft wie ein verzaubertes Anwesen
seinen Dornröschenschlaf, statt der Hecken umzäunen roh gespannte
Stacheldrähte sein ehedem so lustig auf den Strom hinausblickendes
Gartenhäuschen mit den grauen Läden. In der Kirche umfängt
mich die Stille, hier und da etwas unterbrochen durch Geräusche von
Handwerkern, die hoch oben im Chor auf luftigen Gerüsten an den Fenstern
hängen. Anscheinend werden dort neue bunte Glasfenster eingesetzt.
Wie wohltuend die Ruhe. An den mächtigen ungegliederten Pfeilern gottlob
hier mal keine abscheuliche moderne Pseudokunst mit Töpferbäckerfiguren,
sondern alle gediegene Bilder; sie mögen von Meistern zweiten Ranges
sein, es ist kein Kitsch und besehe ich mir einzelne Tafeln näher,
so entdecke ich auf jeder alle liebe Bekannte aus der Zeit meiner kunstgeschichtlichen
Studien als Student, als ich in München die alten Meister, auch gerade
unsere rheinischen mit einem heftigen Eifer studierte. Ich hätte mich
damals diesem Studium ganz widmen und die Jurisprudenz schwimmen lassen
sollen, ich glaube sicher, ich wäre heute in einer Stellung, die meinen
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Fähigkeiten mehr zusagte. Na, darüber ist es mir schon gar
nicht möglich, irgendwie unmutig zu werden. Die mater Justitia hat
mich bisher auch noch recht wohlwollend behandelt und so wollen wir ihr
vorab treu bleiben. Ich sitze so in beschaulicher Betrachtung, da zieht
ein ganz kleiner Hochzeitszug mit unsicheren Schritten durch das lange
Schiff hinauf zur Kirche, hinter dem Bräutigam in Schwarz, die Braut
nur einen weißen zarten Schleier übergeworfen, zwei Mädchen,
ein ganz kleines, allerliebst mit einem Blumenstrauß, Bild der künftigen
Früchte der Ehe. Das Brautpaar kniet lange vor dem Altar auf einer
Bank, der Küster hat die wenigen Gäste rechts und links geordnet,
die Handwerker lassen die Gelegenheit zur Pausse nicht ungenützt und
ziehen sich diskret zurück. Mir kommen allerhand Gedanken: Immerdar
blüht das Volk und immerdar segnet der Priester seine frommen Lebensbünde.
Mag der Zusammenbruch noch so gewaltig sein, die Kriegsrüstung zerschellt
am Boden liegen, Reichsprovinzen absplittern, das Gefüge der alten
Staaten auf deutschem Boden in allen Fugen krachen und beben, eins bleibt
unberührt: Familie und Kirche. Die Stärke dieser Institutionen
sollte man doch nie vergessen, noch weniger je unterschätzen. Auf
ihnen beruhen tatsächlich unsere gesamten Kulturunterlagen. Der alte
greise Priester erscheint in ragender Gestalt und würdigem Kleide,
die Zeremonie geht still und feierlich vor sich. Ich fühle mich wie
entrückt in eine ferne Welt und es dauert eine Weile, bis ich wieder
zu mir und meiner Umgebung komme. Das Paar hat sich mit dem Priester entfernt,
der Chor flammt auf, da die Sonne mit ihren schrägen Winterstrahlen
rot hineinfingert, die ragende Kraft der Wände, die Wucht der Pfeiler,
der farbigen Steinbemalung, alles taucht in ein goldiges funkelndes Licht
und seine glühenden Schatten und Reflexe. Auch der obere Himmelsteil
im Chor bevölkert sich wieder. Die Arbeiter rühren sich und ich
erhebe mich, um mir nicht das reine Bild der großen Stimmung trüben
zu lassen und gehe weg. Ich bin noch nicht draußen, so beherrscht
mich – wie so oft! – der Gedanke, du mußt bei nächster Gelegenheit
noch mal dort hin gehen und dir einzelnes genauer besehen. Denn der Deutsche
braucht nur irgendwo hinein in seine geschichtliche Vergangenheit zu greifen
und überall hat er alle Hände voll Gold – nicht jenes gelbe Metall
– nein reines Gold überlieferter Kulturwerte. Wie sagt mein Freund,
der tüchtige Kunsthistoriker: Ich wundere mich über nichts in
Deutschland. Wo ich nur immer hinkomme, entdecke ich eine Überfülle
alter Kunst und Kulturgüter. Hoffentlich überstehen wir auch
noch den heutigen schwindelerregenden allgemeinen Ausverkauf, der gewiß
auch Unmengen bester Kunstschätze dem Vaterland entfremden wird.
Vor Tisch traf ich bei Tante Emma (Brügelmann, Emma) deren
mir bisher unbekannten Bruder Hill aus New York, der herübergekommen
war, um nach seinen Verwandten zu sehen. Er machte mir den Eindruck eines
bedächtigen und klugen Kopfes, wir unterhielten uns recht anregend.
Er schilderte, wie alle Länder den Zuzug der Fremden abzuschließen
suchten, auch jetzt noch nach dem Kriege, einmal um den Andrang ungebetener
Mitesser fernzuhalten, dann auch und das wohl vor allem, um sich vor der
Seuche des Bolschewismus zu schützen. Wir waren darin einig, daß
diese Bewegung der Geister sich nicht bannen ließe, die unaufhaltsam
von Osten nach Westen ströme und gegen die nicht Damm noch Meere,
nicht Roß noch Reiter eine Abwehr bilde. Die Ideen des Ostens fallen
in den Tiegel deutscher Geistesarbeit, werden darin auch bei aller krankhaften
Erregung und Ermattung unseres Volkes eingeschmolzen und neugegossen und
gehen von da durch die ganze Welt, lassen überall die gewaltigen Ströme
des Wirtschaftslebens aus den bisherigen Betten steigen und unabsehbares
Land überfluten. Ob die Wasser wieder in Bette zurückgelenkt
und ob sie Geröll oder befruchtenden Schlamm hinterlassen werden,
alles steht heute dahin. Wir befinden uns allenthalben in einer gewaltigen
Umbildung der Wirtschaftsformen, wir vermögen vorab nichts zu sehen
als eine endlose Zertrümmerung der bisherigen Formen. Allem bisherigen
nach sollte man annehmen müssen, unter den Trümmern keime die
neue Saat. Man sieht jedoch nichts davon. Immer nur sausen die Scherben.
Jan Hill erzählte, daß die Arbeiterbewegungen in Nordamerika
von ganz unvergleichlich größerer Wucht als in Europa seien
und in ihren Endzielen noch viel radikaler als unsere besonnenen Sozialisten.
–
Zu Tisch waren dann auch Konrad Fulda und Elli da, die ich seit vielen
Jahren nicht mehr gesehen hatte. Konrad lebhaft, hager, sehr lebendig,
leider aber auch viel schärfer hinkend als früher, wobei er auch
in der Hüfte einknickte. Elli wohlbehäbig, frohgelaunt und voll
munterer Einfälle, gewiß eine gute Mutter ihrer Kinder. Sie
sind auch Kleinlandwirte geworden und wollen sich nun Bienen zulegen. Er
legt sich nach Tisch ebenfalls zum Schlaf ins Bett und hat jeden Tag doppelt,
indem er nachmittags abermals mit der Arbeit beginnt. Sie haben dort in
Arnsberg einen sozialdemokratischen Parteigenossen, früheren Dreher
als Regierungspräsidenten, der sich nach Konrads Schilderungen bis
jetzt noch recht leidlich verhalten hat. Onkel Dietrich danke ich noch
besonders für die 50 Flaschen Wein, die tags zuvor eben in Rheinbach
angekommen war. Er meinte lächelnd, der Wein sei mit ca 5 M
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die Flasche noch recht billig geworden. In seine scherzhaft zum Empfang
der 250 M geöffnete Hand schlage ich lachend ein. Bei Tisch wurde
dieser Wein auch gleich probiert, er ist noch etwas vom Abfüllen angegriffen,
sonst aber erfreulich und wird sicher noch mit der Zeit viel schöner.
(Nb. Ich packte vor etlichen Tagen die Kiste aus und verstaute die Flaschen
in unserem Vorratskeller, ich habe in meinem Leben noch nie so viel Wein
besessen als gerade heute, wo man durchschnittlich keinen mehr zu haben
pflegt.)
Bei Tisch herrschte angeregte Unterhaltung und als die Rede, wie unvermeidlich,
auch auf unsere Rheinbacher Wohnungsnöte kam, und die Mittel zu deren
Abhülfe besprochen wurden, wollte Onkel Dietrich als Bekannter von
Reg. R. Lothes in Cöln lachend dafür einsetzen, dem ehemaligen
Kreistierarzt Dr. Peters hier binnen wenigen Wochen eine gute Kreistierarztstelle
zu verschaffen, auf daß sein Haus hier für mich frei werde.
Ich mußte ihm versprechen, ihm diesen Fall mit Namen auf einen Zettel
zu schreiben, damit er ihn nicht vergesse. Ich tat dies auch nachmittags
im Geschäft und gab ihn seiner Assistentin Frl Nettchen Schnorrenberg,
die sozusagen sein Cabinetschef ist. Es wurde recht gut gegessen; es gab
reichlich Geflügel. – Nach Tisch gabs dann noch eine kleine Familienunterhaltung
und als Onkel Dietrich von seinem kurzen Mittagsschläfchen zurückkam,
verabschiedete ich mich von den übrigen und ging mit ihm zur Stadt.
Unterwegs erzählte er mir u. a., daß die Firma wo sie früher
10 Millionen umgschlagen habe, deren jetzt 100! umschlage, früher
habe sie rund 10 % am Umsatz verdient, heute tun sie desgleichen. Daran
mag man den großen Warenumsatz jetzt hier im Westen ermessen. Tatsächlich
floß dann auch in der Mühlengasse die Ware in Kisten, Frachtwagen
und Autos nur so ein und aus. Ich traf leider Will Brügelmann nicht
an, ließ meine Sachen dort und bummelte ziellos in der Altstadt Köln
herum, für mich stets ein besonderer Reiz, so aufs Geradewohl darin
herum zu laufen. Immer finde ich dann in dem unerschöpflichen alten
Stadtbild eine Fülle von Anregungen. In den Hauptgeschäftsstraßen
mit offenen Läden herrscht ein Leben und Treiben sonder gleichen.
Kaum, daß die Abenddämmerung des Winternachmittags hereinbricht,
so blitzen allenthalben die Schaukästen, funkelndes Geschmeide, weithinglänzendes
Silbergeschirr, köstliches Schuhzeug, die schönsten Leckerbissen,
sorgfältig geordnete Bücher, alles lockt mit tausend Winken zum
Kaufe. Abschreckend nur die kleinen Schildchen, auf denen die Preise verzeichnet
stehen. Sie können einem Schwindel erregen. Schon Herr Hill, „der
reiche Onkel aus Amerika“, hatte mittags einen kleinen verzierten Silberbecher
für Werners Erstgeborenen als Pathengeschenk vorgewiesen, der 360
M gekostet hatte! – Merkwürdig unbewußt lassen mich alle diese
heute so heiß begehrten Herrlichkeiten, die tausende und abertausende
mit hungrigen Augen verschlingen. Freilich habe ich daheim noch hinreichend
zu essen, und vieles ist mir seit Jahren entbehrlich geworden, was ich
früher für sehr begehrenswert, ja fast für notwendig hielt.
Es zieht mich ab von den so hell und aufdringlich beleuchteten Straßen
in stillere Viertel, auch hier strömt das Geschäftsleben ohne
Unterbrechung. Hinter halbverdeckten Fenstern wird in den Kontoren eifrig
gearbeitet, in großen Toreingängen werden Waren verfrachtet,
ich höre Aufträge an den Fuhrmann. „Rechtsrheinisch“ und „linksrheinisch“
klingt es mir im Vorbeigehen aus einer solchen Torwölbung in die Ohren
und ich fühle einen schmerzlichen Schnitt in der Seele. Die „Auffang-
und Nachverzollungsgrenze“ längst des besetzten Gebiets wird sich
mit unerbittlicher Notwendigkeit zu einer Zollgrenze mit all ihren brennenden
Folgen auswachsen und dann – es wird mir heiß und kalt, mir die weitere
Entwicklung auszumalen und doch scheinen sich fast alle über die nächste
Zukunft Hinausblickende darin einig zu sein, daß ein langsames Abdrücken
des Rheinlandes vom Reiche kommen wird. Eines Tages auch die „rheinische
Mark?“ –– Was hilft es, sich darüber quälen? Es gilt, die Augen
aufzuhalten und sicheren Schrittes weiter zu gehen. Die stillen und doch
so lebendigen Gassen, in die der frühe Winterabend hereindämmert,
führen mich zu einem stattlichen Kirchturm, der wie ein General ohne
Truppen, ohne Schiff und ohne Chor dort steht, arg bedrängt durch
nahe an ihn heranrückende Bürgerhäuser. Er wankt und weicht
aber nicht und träumt auch er von seiner Zukunft, daß er noch
einmal als Haupt- und Schmuckstück seines neuerstandenen Hauses mit
ehernem Mund das Viertel rundum zu sich rufen wird. (St. Martin). Endlich
stehe ich zu meiner eigenen Überraschung auf einem kleinen altvertrauten
Platze und sehe vor mir den ehrwürdigen Chor von St. Maria im Kapitol.
Nie könnte ich dort vorbeigehen, ohne einen Blick in diesen deutschen
Tempel zu tun, der wie kein anderer geeignet ist, den Glanz deutscher mittelalterlicher
Geschichte am Rhein einem aufs greifbarste zu zeigen. Ich steige die hohe
Treppe hinan und trete durch die uralte Seitentüre in den dämmerigen
Innenraum, der zunächst schwarz und höhlenartig daliegt nur an
2 Stellen durch 2 Lampen erhellt. Allmählich dringt das Auge in den
Wald wundervoller Säulen des Umganges in Chor und Querschiff. Auch
hier die fast greifbare tiefe Stille, das fühlbare Weben des Raumes,
die unendlich wohltuende und beruhigende Harmonie der ganzen Umgebung.
Wie geborgen fühlt man sich hier nach dem blendenden verwirrenden
Treiben draußen. Einige Frauen mit den weit ausladenden weißen
Leinenhauben flämischer Beguinen knien reglos in den Bänken,
fast sollte man glauben, es seien Bildwerke. Der grauenvolle Leidenschristus
am dürren Marterbaum zur linken Hand hat einige Milderung durch seine
neue Umgebung, einen dort
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hergerichteten kleinen Altar erhalten. Ehedem an dem nackten Pfeiler
wirkte er freilich noch ergreifender in der Stimmung einer trostlosen Verlassenheit.
Gern würde ich die Krypta aufsuchen, aber bei diesem Abenddunkel ist
es wohl nicht angängig. Der dem Deutschen wohl unausrottbare Kaisergedanke
steigt mir hier mit feierlicher Gewalt fast wie im Aachener Münster
empor. Singen wir nicht in einem beliebten Rheinlied vom „Kaiser der Zukunft,
dem Fürsten am Rhein“? welche Sehnsucht wird unser Volk noch später
wieder – wer weiß wie bald? – nach einem Kaiser ergreifen? Ist denn
ein Kaiser an der Spitze eines völlig zur Einheit eingeschmolzenen
Reiches nicht ein wahrhaft „demokratischer“ Gedanke. Ich glaube hier im
tiefen Dunkel des Säulenumganges uralte hehre Gestalten auftauchen
und wandeln zu sehen, mit traurig stummen Blicken verschwinden sie wieder.
Sollten sie nie wieder Fleisch und Bein werden? Merkwürdig, daß
mir in solchen genußreichen Augenblicken, in denen Körper und
Seele einmal gründlich Ruhe zu gewinnen scheinen, immerzu dergleichen
Traumbilder aufsteigen, um mich dann wieder in die grausame Wirklichkeit
zurückzuführen. Einen belebenden Funken nie erlöschender
Hoffnung aber nehme ich davon jedesmal mit. Beim Hinausgehen fällt
mein Blick auf sauber gemeißelte Wappen Medaillons an den Pfeilern
des Lettners, einer vorzüglichen Arbeit eines Mechelner Meisters.
Ja, Vlamland, diese Hoffnung ist nun auch wohl für lange Zeit dahin.
– Draußen überläßt der Kopf die Führung des
Körpers ganz den Beinen und so schwimme ich, einem Korkstopfen vergleichbar,
der jedem Zug der Strömung folgt, wieder durch allerhand Nebenstraßen
und über Plätze mit unentrinnbarer Sicherheit jenem Hauptstrom
zu, der sich unablässig über die Hohe Straße ergießt.
Im Vorbeischwimmen grüße ich den Gürzenich, der sich aus
der Enge seiner Umgebung herausgeschält hat und sich anschickt, die
stattliche Flanke eines Platzes zu bilden, dann wirble ich wieder mit dem
strudelnden Strom der Menschen, der sich mit merkwürdig leisem Gesumm
und Getrappel immer weiterschiebt. Immerdar Menschen, viele englische Besatzungstruppen,
allerhand aufgedonnerte Gestalten beiderlei Geschlechts, die noch gar nicht
gelernt haben, sich mit dem Besitz ihrer reichlichen und gewiß betäubend
schnell errungenen Mittel auseinanderzusetzen, die Weibchen in teilweise
geradezu komischer Aufmachung, die mich so heftig zum Lachen reizt, daß
ich darüber das ekelerregende mancher ihrer Visagen nicht mehr recht
empfinde. Der Tanz um das goldene Kalb ist hier so offensichtlich und wird
mit so hingebender und und für alles andere benehmender Andacht betrieben,
daß auch das mich ordentlich zum Lachen kitzelt. Es ist so etwas
wie eine gedrängte Übersicht des alleroberflächlichsten
einer hochentwickelten Zivilisation. Die Kulturhöhe vieler, die da
wie die Motten ums Licht schwärmen, mag tief unter der Stufe der sogenannten
primitiven Völker stehen. Lese ich eine wissenschaftliche Reisebeschreibung,
wie kürzlich eine mit Beobachtungen über innerbrasilianische
Indianerstämme, so freue ich mich stets über die stilvolle Kultureinheit
derlei Völker, die sich bis auf den kleinsten Gebrauchsgegenstand
erstreckt. –
Diese blasse Tinte ist des Teufels noch einmal, äußerst
verdrießlich! Sie verwässert einem förmlich die Gedanken.
Draußen (7.12.) klatscht nach heftigem Regen ein abscheulicher
Schlackerschnee schräg hernieder und morgen solls nach Bonn gehen.
– Jener bunte Glanz des Lebens, die verführerischen Auslagen der Schauläden
muß notwendig bei den vielen, die das alles sehen aber nicht kaufen
können und bei denen das Gegengewicht einer philosophischen oder religiösen
Weltanschauung, auch vielleicht des Humors fehlt, zu bitteren Erwägungen
führen, deren Ausflucht dann die Aufnahmefähigkeit für die
sinnverwirrenden Lehren der Allerradikalsten ist. Eine böse Sache,
aber wohl stets und überall und unabänderlich. Ich schwimme so
in dem Verkehrsstrom und es kommt mir der Einfall „Sollst du nicht einmal
in ein Kino gehen?“ Ich habe einen hohen Abscheu vor den Flimmerbuden,
deren Besuch bei mir noch stets mit Kopfschmerzen geendet hat. Die halb
Dutzend Kinoaufführungen, die ich bisher in meinem Leben gesehen habe,
waren mir bis auf wenig grotesk komische völlig ungenießbar,
und als ich vor Jahren wider willen mich entschloß, den so sehr gelobten
Film „Quo vadis“ zu sehen, erlebte ich die gleiche Enttäuschung. Alles
nur Unruhe, Rastlosigkeit, dazwischen offenbare Scheußlichkeiten,
die nur rohe Instinkte kitzeln. – Spare ich mir also diese Marter. –
Das seltsam schnurrende, fast geräuschlose Auf und Ab der Menge
in jener Straße , über die kein Fuhrwerk fährt, bringt
mir so recht das Gefühl der Einsamkeit des einzelnen in der wildbewgten
Großstadtmenge ins Bewußtsein. Ein Gefühl grenzenloser
Verlassenheit läßt mich plötzlich an Frau und Kinder
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denken und eine Zeitlang beherrscht mich nur der brennende Wunsch,
sofort bei ihnen zu sein. Als ob das nicht schon morgen abend wieder der
Fall sein soll und nun sich schon darnach sehnen!? Lächerlich und
doch wahr. Und doch, ist es nicht berauschend das alles hier zu sehen und
auf sich wirken zu lassen? Gewiß, das Leben ist in allen Formen schön,
mag es auch noch so schmerzlich sein, in tiefster Seele ewig den Bleidruck
und die leise aber unablässig hämmernde Frage zu spüren:
Was wird aus deiner Heimat, deiner Heimat, dei . . .ner . . . Hei . . .mat?
. . . Warum mußte auch gerade jetzt der Erzbischof sterben, wo die
törichte preußische Regierung sich nicht um die Wahl seines
Nachfolgers mehr kümmern will, und die Franzosen dies um so eifriger
tun werden? Ich bin kein Klerikaler, noch überhaupt ein kirchlich
Gesinnter, aber die Bedeutung des Kölner Stuhles in unserer wildbewegten
Zeit, wo alles umbrandet ist, kommt mir nicht aus dem Kopf und nur der
mit den Verhältnissen völlig Unvertraute kann die Bedeutung dieser
Frage unterschätzen. Da hast du es ja: Der Mensch bleibt stets in
seiner Haut, magst du durch das Menschengewimmel der Großstadt oder
einsam durch den nächtlichen Wald schreiten, in dir selbst liegt alles
das Grübeln, das zu keinem Ende führt. Besieh dir nur dort einmal
das große blitzende blanke Silberbrett mit dem sich darin spiegelnden
und in tausend Lichtreflexen funkelnden Gerät darauf! Würde dein
Besitz dich glücklicher machen? kommt die Gegenfrage. Was soll mir
solch ein „unerworbener Besitz“, bei dem ich dem Neid der anderen nicht
einmal ein Gefühl meines Rechts darauf entgegensetzen könnte?
Du siehst, so höre ich einen freundlichen Unbekannten mir über
die Schultern mit lächelndem Munde zuflüstern: Dem Kleinstädter
wird die Großstadt leicht zu einem Erlebnis mit unbestimmbaren Folgen!
Werden wir ja sehen, antworte ich ihm in Gedanken; übrigens ja schließlich
auch kein Schade; meine Bienen ziehen Honig aus giftigen Blüten und
das giebt ihm später erst recht eine feine Würze. –– Zu meinem
Glück verlaufe ich mich nicht über derlei Pflastergedanken, sondern
komme mir selbst wieder einigermaßen ins Bewußtsein, als ich
vor der Rheinuferbahn stehe, einem Esel nicht unähnlich, der in dunklem
Drange zu seinem Karren eilt, um daran angeschirrt zu werden und dann dem
Stalle zuzueilen. ––
In Bonn treffe ich meine Mutter gottlob in urfrischer Gesundheit und
unverwüstlichem Frohsinn an. Ich bleibe bis Montag nachmittag bei
ihr, zwischendurch viel auch bei Papa, mit ihm vor allem das unerschöpfliche
und unerquickliche Thema der Zwangseinmietung druchgehend. Er wird mit
einer vollen Etage und 1 Mansarde in Anspruch genommen und will natürlich
nicht sich darin fügen. Sonntag abend nahm ich Josef mit (Rech, Josef),
und der gab ihm eine gedrängte Übersicht über die derzeitige
Lage in Bonn und das, was ihm in kurzer Zeit bevorstehen kann. Er hätte
am liebsten maßlos getobt, konnte dies aber in unserer Gegenwart
nicht und bezwang seinen kochenden Zorn so weit, daß er mit gelinderer
Aufregung sich begnügte und namentlich hartnäckig daran festhielt,
er ginge „kaput“. ––
Montag vormittag wurde dann ein fleißiges Marschieren bei den
unterschiedlichen Behörden geübt: Wohnungsamt, Besatzungsamt,
Kommission für Beschlagnahme u.s.w. Papa hatte sich schon vor mir
auf die Lappen gemacht, erhielt aber nur eine Bestätigung der früher
schon gemachten Anzeige, daß er eine Etage nebst Mansarde werde abgeben
müssen. Allen Ratschlägen, sich hierauf zu richten, Frl. Fabian
benebst ihrem künftigen Manne die Etage zu vermieten, Möbel zusammenzurücken
u.s.w. widersteht Papa hartnäckig, auch Helene hat in diesem Punkt
nichts mit ihm erreicht, als sie Donnerstag in Bonn war. Er wird noch oft
seine Tobsuchtsanfälle darüber bekommen müssen, ehe er sich
zu einer vernünftigen Einrichtung seines Haushalts entsprechend den
allgemeinen Zeitverhältnissen entschließt. Vermutlich dann,
wenn es zu spät ist. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß
er in einem äußersten Wutanfall körperliche Komplikationen
bekäme; ich habe mit Frl. Fabian
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überlegt, was sie in solchem Falle zu tun und wen zu rufen hätte.
Beim Landgerichtspräsidenten besprach ich dann vormittags noch
einige unser Amtsgericht betreffende Fragen, so auch die der Aufsicht für
den Fall eines Abganges von Hölzer. –
Nach fröhlichem Mittagessen bei Mama (Sonntag nachmittag und abend
war ich mit ihr bei Josef gewesen, der in Ermangelung der Dienstmädchen
eifrig den Hausknecht spielt, denn weder Emma noch Mama haben ein Dienstmädchen)
fuhr ich wieder heim, traf am Bahnhof noch Papa, der mich dort erwartete.
Leider war er nicht dazu zu bewegen, mit nach Rheinbach zu fahren. ==
7.XII.19. Die Kinder leben in froher Erwartung der Weihnachtszeit,
lernen Verse zu kleinen Aufführungen. Mariannchen war gestern morgen
mit Herta im Lyceum. Dort trat der St. Nikolaus leibhaftig auf und beschenkte
die Kinder. Marianne hat sich einen Nikolausbeutel zugelegt, in den sie
allenthalben den Segen dieses trefflichen Heiligen sammelt. =
Im allgemeinen dreht sich unser Denken trotz aller Essens-, Steuer-
und Lebensnöte meist um die immer noch ungelöste Wohnungsfrage.
Ganz Augenscheinlich plant man von Anstalts wegen abermals einen neuen
Vorstoß gegen mich, um mich zum Verlassen der Wohnung zu zwingen.
Ich habe aber bereits ein recht dickes Fell bekommen und letzten Endes
muß das Mietschutzamt in Tätigkeit treten. Immer träumen
wir davon, Dr. Peters Haus zu bekommen. Haben wir es schließlich,
so werden wir auch nicht viel glücklicher sein. | Morgen soll es nun
mit den Kindern zu deren Freude nach Bonn und gleich soll es für mich
in eine Versammlung des Bienenzuchtvereins gehen. =
14.XII.19. Eine fürchterliche Weihnachtszeit für viele deutsche
Gebiete! In Österreich muß es entsetzlich sein. Hunger und Frost
und die Feinde pressen das Äußerste heraus, ehe sie etwas Getreide
geben. Wie gut geht es uns noch. Hier aber geht der Franzose systematisch
vor. Ich lege hier eine Nummer unseres herrlichen Kreis-Käseblattes
(Käse kostet 25 M das ½ K!) bei, aus welcher der findige Leser
alles herauswittern kann. Die Abtrennung des Rheinlandes vom übrigen
Deutschland geht schrittweise und sicher voran. Ein Dr. Oppenheimer hat
den Grund der Poverté entdeckt, die Kölnische bringt darüber
einen Artikel von ihm: Es gab keine „freie Konkurrenz“ mehr, seitdem in
Urzeiten der Boden unter die Besitzenden verteilt wurde. Der Gedanke ist
nicht übel, das Heilmittel für heute aber zu einfach, um damit
alles zu lösen: Der Landproletarier soll Land bekommen, damit er selbständig
wird, also innere Kolonisation. Kann vielleicht noch einmal etwas werden.
Mit Gier stürzte ich mich heute auf die Sonntagsausgabe der Kölnischen,
mit dem erwarteten II. Artikel über die Relativitätstheorie,
die insbesondere mit dem allgem. R. P. mir noch viele Rätsel zu knacken
giebt. Doch wittere ich Morgenluft. Es wird eine neue Weltaschauung kommen
müssen. (Seltsam, daß mit diesem Wort auch fast immer der Begriff
des seelischen und religiösen Lebens und Anschauens verbunden wird)
Daß aber in einem K Kohle solche ungeheure Energiewerte stecken,
daß ein 50000 PS Dampfer damit 10 Jahre lang fahren könnte,
wenn wir statt der Molekularlösung beim Verbrennen die Atome frei
machen könnten, werde ich in meinem Leben nie vergessen. Vielleicht
erlebe ich noch ungeahnte Ausblicke in Neues. Daß ich so wenig oder
besser gesagt nichts von Höherer Mathematik verstehe, um diesen Gedankengängen
bis aufs letzte folgen zu können, brennt mir arg auf der Seele. –
Auch sonst bin ich mit allerlei Stoffen und Sehnsüchten gestopft
und geplagt. Es fehlt mir ein ruhiges und abgeschlossenes eigenes Zimmer
und eine unbegrenzte Zeit, wollte ich alles nach Herzenslust auswirken,
lebendig machen und selbst genießen. So bleibt es stets ein Stümpern
und Zerstreuen mit heute diesem und morgen jenem. Freilich gehört
es zu meinem Leben auch, dazwischen irgend etwas „Handliches“ zu tun, Bohnen
abzupflücken, auszupellen und auszulesen, mal Karnickel oder Hühner
zu füttern, auch wohl mal hier und da etwas aufzuräumen, zu flicken,
zu basteln u.s.w. Dazu das Essen und Trinken und vor allem das Schlafen
nicht zu vergessen. Mit Helene lese ich jetzt fast jeden abend wieder etwas
zusammen, so gestern eine feine und zarte Novelle aus dem willkommenen
Heft der Rheinlande; außerdem ist der Heiligenhof von Stehr fortlaufend
unsere kleine tägliche Erbauung. Gestern fielen mir meine Aufzeichnungen
über Kindheitserinnerungen wieder in die Hände und ich möchte
sie wohl gern in eine entgültige Form gießen. Will ich aber
damit beginnen, so kommt was anderes dazwischen. Von Freund Bruhns kam
ein schönes Buch, „Erinnerungen an Ludwig Thoma“, dem Simplizissimusmann.
Da er nichts dazu schrieb,
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kam ich zu dem Gedanken, er wolle wohl Weihnachten zu uns kommen und
sandte ihm daher gestern eine Ladung in einer Patentstreitigkeit zum 22.XII.
Hoffentlich versteht er das und bekommt keinen unnützen Schrecken.
Durch ein Karte von mir ist er vorbereitet, aber wer weiß, ob er
sie bekommen hat? Alles funktioniert nämlich äußerst mangelhaft.
–
Für die Weihnachtsfeier der evangelischen Gemeinde am nächsten
Sonntag hatte Geh. R. Hoelzer den Gerichtssitzungssaal zugesagt. Nun macht
der Oberbürokratius Ruland Quertreiberei mit der Lichtberechnung.
Ich werde eine Umleitung des Stromes um den Zähler für die betreffende
Zeit durchzusetzen versuchen. Widerstände machen mir eine an sich
gleichgültige Sache erst interessant. –
Auf dem Amt hatte ich kürzlich in einer Zivilsache (Alimantationsprozeß)
eine scheußlich peinliche Vernehmung, deren Inhalt ich gar zu gerne
mal in natürlich nur burlesk-komischer Form wiederzuerzählen
versuchen möchte, etwa unter dem Titel „der erste männliche Versuch“.
Es ist ein allzu heikles Thema, als daß nicht im nu eine Zote daraus
würde. – Unter meinen Papierschnitzeln, die ich von Zeit zu Zeit der
Ordnung wegen verbrennen muß, finde ich einen mit einer kleinen Skizze
eines Naturblickes vom trüben Fenster meines staubigen Dienstzimmers:
„Ein leuchtender Tag! Der Himmel glänzt im Hintergrund seiner Gewölbekapsel
vom leichten lichten Blau oben nach hinten zu über alle Opalglanztöne
bis zum schimmernden Silbergrau. Darunter und davor schieben sich riesige
querliegende Brücken getürmter Wolken in langen, unten wie abgeschnittenen
Züge immerfort nach Westen, von in hellblendender Sonnenbeleuchtung,
von denen stets etliche kleine dunkelgraue Wolken sich noch etwas schneller
hinschieben, vor lauter Eile über sich selbst stolpern, sich zersetzen,
wieder ballen, bald auflösen, bald in kleinen Stücken als Sondersegler
einherfahren. Dahinter immer tiefere Wolkenzüge, alle nach Westen
drängend und schiebend. Fern am Horizont ist der Waldrand allenthalben
in feuchtsatte Farben getaucht. Helle Kirchen in fernen Dörfern wirken
wie kleine lustige Farbtupfen in dem Bilde. Vorn mitten durch den ganzen
Himmel schaukelt sich ein breiter behäbiger Tannenbaum im Winde, als
ob ein behäbiger starker Mann sich schüttle. Sein sattes Grün
steckt voller rötlicher Untertöne, voller Lachen steht er hoch
über den Obstbäumen und fühlt sich in der kalten Luft ordentlich
warm an, als ob er rings alle Sonne für sich verschlucken wolle. Die
Landschaft täuscht fast den Frühling vor mit all dem glitzernden,
weichen feuchten Leuchten. Ich sitze im überheizten, von Braunkohlenasche
überstäupten Amtszimmer wie ein gefangener Affe und starre durch
die schmutzigen, seit Jahr und Tag ungeputzten Scheiben mit eisigen Füßen
und heißem Kopf auf das bezaubernde und belebende Bild. Draußen
drängen sich in dem steinernen Gerichtsflur die Leute um den Schöffengerichtssaal,
vor meiner Türe läuft der Bonner Anwalt Dr. Cohn im Eilstampfschritt
den schmalen Seitenflur auf und ab. Der Kopf schmerzt mich heftig, ich
verliere die Geduld, gerate allmählich in Wutstimmung – und kritzle
dies – nämlich jenes auf den Papierfetzen, der jetzt in den Ofen fliegt;
in diesem habe ich eben ein tüchtiges Kohlenfeuer im Gange und Mariannchen
darauf einen Apfel gebraten, den sie mit etwas Zucker jetzt eben in ihrem
Bettchen hereinlöffelt. Somit hätte ich mich etwas erholt und
kann an das erneute Studium des Relativitätsprinzip herangehen, um
mir daran weiter die Hörner abzustoßen. Vorher giebts ein kleines
Frühstück.
22.XII.19. Zu guterletzt im Jahre hatte ich am 18. ds. (nach dem Münstereifeler
Gerichtstag und einem Nachmittagsbesuch in Klein Büllesheim bei ganz
unglaublich nassem Nebelwetter) eine erbsengroße „Blutung“, auf die
ich mir etliche Tage Stubenarrest auferlegte; dies fiel mir bei wohlgeheiztem
Zimmer und mancherlei angenehmer Lektüre nicht sonderlich schwer,
zumal es draußen stets stürmte und regnete. Helene hat leider
viel zu tun, weil das Fräulein telegrafisch nach Hause berufen wurde,
die Mutter scheint fast hoffnungslos erkrankt zu sein. Zum Glück sandte
Frl. Ida (Menn, Ida) schon ihre Paßpapiere, sie wird am 15. Januar
hoffentlich kommen. Das neue Mädchen aus Friesheim erweist sich als
tüchtig und umsichtig und alles ist schon viel ordentlicher bei uns
nach den wenigen Tagen, die sie hier ist. Gestern wagte ich mich mit Helene
und Kindern zur evangelischen Weihnachtsfeier,
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die dann also doch zum Verdruß unseres Rechnungsoberbürokratius
Ruland im Sitzungssaal des Amtsgerichts stattfand. Über dessen Leibschmerzen
ob der Lichtberechnung ließe sich trefflich eine Satire schreiben.
( – Ja ich werde es versuchen müssen, der Stoff ist zu dankbar!) Am
2ten Weihnachtsfeiertage soll nun bei Willi in Siegburg die Taufe des 2ten
Söhnchens sein. Es ist noch sehr fraglich, ob wir dorthin gehen können.
Zu Weihnachten wurden wir durch Kröger gut mit Fleisch und Wurst versehen.
Auch ist ein Karnickel geschlachtet. 2 Hähne, die auch noch dran sollten,
haben sich damit vorab noch mal das Leben gerettet.
Aus Schultes Buch: Frankreich und das linke Rheinufer läßt
sich mit fast mathematischer Sicherheit ablesen, was uns für die nächsten
Jahre hier bevorstehen wird. | Freund Bruhns, der sich in Frankfurt ein
Haus kauft und jetzt zu seiner Familie nach der Schweiz ist, sandte mir
zu Weihnachten die Erinnerungen an Ludwig Thoma, die ich nun schon wiederholt
mit großem Anteil lese. Ich fühle mich sehr gedrängt, ähnlich
zu schreiben; es ist bei mir aber wohl noch zu früh dafür. Diese
Tinte ist von einer ärgerlichen Dünnheit. Ich muß sie zu
verbessern suchen. –
Weihnachten, 25.XII.1919. Wir hatten gestern eine wahrhaft erbauliche
und tief befriedigende Feier des Christabends in dieser schweren Zeit.
Die Lunge machte sich mir nicht mehr, wie etliche Tage zuvor, störend
geltend, Helenes hausfrauliche Geschäftigkeit erreichte den Höhe-
und Kulminationspunkt, ohne trotz bedeutender Anstrengung zu einem Knax
zu führen und der Unterschied gegen das vorige Jahr mit der kaum überstandenen
Operation und Rückkehr aus dem Krankenhaus war doch zu erfreulich,
um nicht besonders dankbar empfunden zu werden. Vormittags sprach der Pächter
Bohnen aus Straßfeld vor und brachte Helene auf heiße Kohlen,
da sie noch unbedingt zur Stadt mußte. Außer einer Rechtsangelegenheit,
die ich ihm gleich durch die Aufnahme eines Protokolls erledigte, brachte
er noch einen Zentner prächtige Sommergerste (zu dem heute erstaunlichen
Preise von 30 M, denn das Stroh kostet schon 22 - 24 M die 50 K!) und 1
½ Pfd prächtigen Speck ihres eigenen Schweines mit. Eine geröstete
Scheibe hiervon ergab für den Vater gleich ein treffliches Mittagsbrot.
Die Kinder waren den Tag voller Erwartung und jubelnder Freude. Nach Tisch
gingen sie zusammen den Großvater abholen, der auch richtig mit Frl.
Fabian kam und mit größter Begeisterung nach Hause geschleppt
und hier herzlich von uns empfangen wurde. Frl. Lisbeth hatte sehr annerkennenswerte
Bäckerkünste geübt; allerhand halbsüßes Hefegebäck
mundete allen ganz ausgezeichnet zu einem trefflichen Bohnenkaffee und
es lag die Stimmung äußerster Behaglichkeit in unseren kleinen,
gegen Wind und Wetter mit Schlagläden und Doppelfenster. (Steht
wirklich so da.) Den Höhepunkt des Kinderjubels bildete
natürlich die Bescherung im „Weihnachtszimmer“, wir knubbelten uns
zu 8 in dem ohnehin sehr bedrängten engen Eßzimmer, sangen „so
schön wie nie“ trotz Fräuleins Heiserkeit. Papa und Helene waren
in Gedanken an die Großmutter (wie voriges Jahr) stark bewegt und
Helene hatte, deren Überlieferung getreulich fortsetzend, einen jeden
mit treffenden nützlichen und willkommenen Geschenken bedacht, so
daß die Klugheit und Umsicht des Christkindchens ihre volle Würdigung
fand. Herta hatte ihrer Mutter vorher auch nicht – ganz von sich aus –
verfehlt, mehrfach dem Christkind einen Gruß an die Großmutter
(Reitmeister) mitzugeben. Herta steht mit ihrer Großmutter immer
noch in geistiger Verbindung. Frl. Fabian, ganz ohne alle Verwandten, war
glücklich, den ihr sonst stets so schweren Christabend bei uns und
namentlich mit Kindern zubringen zu können. So still und innig Herta
sich an allem erfreute, ebenso unerschöpflich war Mariannchen, ihrer
hellen Freude an allem Schönen durch Laute jeder Art und Mimik von
äußerster Drastik Ausdruck zu verleihen. Vorher hatten beide
gemeinsam ein gereimtes Zwiegespräch zweier Eheleute über einen
Flausrock (von Frau Pastor Echternacht ihnen in der Sonntagsschule beigebracht)
sehr gut mit verteilten Rollen und im Kostüm vorgetragen und dabei
viel Beifall gefunden und Freude erregt.
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Mariannchen als kleine pummelige Landhausfrau sah dabei zu putzig aus
und wußte auch schauspielerisch allerhand kleine Züge zu geben,
die höchst ergötzlich waren. Sie trugen es voller Begeisterung
zum 2. Mal vor. Zum Abendessen gab es dann nach einer tüchtigen Tomatensuppe
einen ganz hervorragenden, förmlich friedensmäßigen Heringsalat
(ein gebratenes Karnickel bildete einen vorzüglichen Ersatz für
den fehlenden Kalbsbraten darin). Dazu einen schön mundenden 17er
Graacher Münzlay; alles im besten Sinne nach der Art und Weise unserer
guten und unvergeßlichen Mutter, Groß- und Schwiegermutter
Reitmeister. Die Kinder waren schließlich ordentlich erschöpft
von allem Freuen und Genießen. Papa und Frl. Fabian konnten mit reichgepacktem
Köfferchen 9 ¼ bequem nach Bonn zurückfahren. Wir werden
dieses schönen Tages noch lange mit Freude gedenken. –
Vorgestern besuchten mich RA Schneider und nachher auch College Simons
und gestern vormittag war ich wieder auf dem Amt und kramte für Helene
ein Buch als Weihnachtsgeschenk aus dem Schrank auf der Speisekammer dort
heraus. Mein ganzes Sinnen und Trachten ist derzeit auf den käuflichen
Erwerb eines Hauses hier in Rheinbach gerichtet, auch um meine beweglichen
Mittel darin anzulegen. Hoffentlich bringt 1920 hierfür eine Gelegenheit.