ENDE DES BANDES 1918/1919
1920 / 1921 - 1925
Rheinbacher, Bonner und Kölnische Hauschronik
des Amtsrichters Dr. Rech
Auf dem Vorblatt:
Aufzeichnungen des Amtsrichters, späteren Amtgerichtsrats a. D.
und Justitiars der Firma F. W. Brügelmann Söhne, Dr. Matthias
Konrad Hubert Rech zu Rheinbach, später zu Bonn, 50 Bachstraße,
in der Zeit vom 8. Januar 1920 bis 31.12.1925
8.I.20 – 31.XII.25
Dr. M. Rech
Amtsgerichtsrat s. D.
Bonn 50 Bachstraße
Mit Gott und dem Teufel! –
Seite 1 (in diesem Band ist jede Seite numeriert)
8. Jan. 1920. Das wird ein Jahr geben! Und hat gleich schwer angefangen:
Erst Hochwasser allenthalben im Schwarzwald, Rhein und Mosel und wo weiß
ich und gestern saßen wir zum erstenmal ganz im Düstern, der
„Berggeist“ streikte. Die Eisenbahner sind gleichfalls toll und streiken
hier und da, alles wird wie wahnsinnig teurer, die Beamten werden unruhig
und aufsässig und wollen auch bald streiken. Helene ist heute nach
Bonn, ich habe einen stürmischen Tag hinter mir. Für den Geheimrat
übernahm ich eine Schöffensitzung. 16 Sachen, die ich gestern
wegen Lichtmangel nicht lesen konnte und heute früh nur flüchtig
überflog, peitschte ich bis Mittag durch, wobei es 1590 M Geldstrafe,
3 Monate Gefängnis, 4 Freisprüche und 3 Vertagungen gab. Alles
lächelte, man hatte gerechnet, die Sitzung werde bis in den Abend
dauern; als gegen 6 der Geheimrat wieder auftauchte, waren die Urteile
schon fertig geschrieben (die meisten sind durch Anerkenntnis bereits rechtskräftig).
Man sieht, es geht auch mit der alten Prozeßordnung, wenn mans nur
versteht. Zwischendurch biß ich etliche Leberwurstbutterbrote in
der Beratung tot und die biederen Schöffen taten voll Freude das Gleiche
mit den ihrigen. Nun leuchtet gottlob die Birne wieder, ich lese statt
der jetzt wahrlich saudummen Zeitungen Hermann Löns letzten Hansbur.
Eine kernhafte Sprache. Jetzt werden Briefe unseres Kaisers an seinen Zar
und Vetter „Nicky“ veröffentlicht: ordentlich heiß und kalt
wird mir, wenn ich das lese und der wahnwitzigen Dummheit gedenke, mit
der unser großes
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Volk regiert wurde. Jeder Ortsvorsteher macht es besser. Es ist zum
Aufheulen und Dreinschlagen! Nicht für Ausliefern, für glattes
Entmündigen bin ich in diesem Fall. Nun, wir müssen die Suppe
ausbrocken und bekommen wohl in diesem Jahr die härtesten Happen zu
schlucken. Das Volk ist wie besessen, die Hungersnot steht ihm vor den
Augen und dabei will jeder faulenzen und stets mehr Geld haben. Wann kommt
der Mann, der da kommen muß und mit der harten Faust zuschlägt?
Mariannchen ist im Magen etwas wehleidig. Wir waren Dreikönige
auf 1 ½ Tage in Bonn und da hat sie sich zu voll gestopft. Für
Papa wird nun statt Hausdame und Mädchen eine tüchtige Haushälterin
gesucht und schon sind wir mit einer sehr gut bezeugten in Unterhandlung.
– Nach der vielen Arbeit heute bin ich frisch wie ein Vogel und fresse
wie ein Scheunendrescher. Wir sind gut versorgt und haben fürs Erste
nichts zu befürchten. Auch ein halbes Schwein soll noch gekauft werden.
Der Wind jagt seit dieser Nacht wie toll aus dem Westen, erst Glatteis,
jetzt Tauwetter. Man fliegt fast weg. Umso heimlicher ists drinnen. Käse
(beileibe nicht vollfett!) gabs von der Stadt, 30 gr pro Nase, für
4,68 M 180 gr! 3monatlich bekomme ich jetzt 1933,50 M
11.Jan. 20. Tolle Weststürme. Frieden anscheinend jetzt entgiltig.
Traurige Sache, hilflose Regierung. Jetzt Streik der Braunkohlengrubenarbeiter,
mitunter kein Licht und – kein Wasser, hier und da streiken die Eisenbahner,
dabei sollen die Beamten jetzt 150 statt 50 % Teuerungszulage erhalten,
das würde etwa 967,10 M mit Gehalt den Monat für uns ausmachen.
Woher soll das Geld alles genommen werden? Das kann unmöglich so weitergehen.
Etwas Kopfzerbrechen macht mir jetzt die für demnächst bevorstehende
Steuererklärung.
Helene erzählte mir gestern folgende Szene: Der Geheimrat Forstmann,
der sich ob des Zusammenbruchs selbst erschossen hat, muß sich diesen
freiwilligen Tod nach allen Seiten genau vorher überlegt haben. Er
steht beim Rückzug an einem Bonner Eisenbahnübergang und sieht
dort Geschütze vorbeifahren, auf welche die Truppen rote Fahnen gesteckt
haben. Laut ruft er „Pfui“. Die Soldaten drohen und legen das Gewehr auf
ihn an; der reißt den Hut ab und sich den Rock auf und schreit ihnen
zu, sie sollten ihn erschießen, das sei ein schöner Tod für
ihn. Es sammeln sich viele Leute an, die das entsetzt und stumm mit ansehen.
Die Soldaten sind natürlich beschämt. Forstmann aber kommt kreidebleich
und voll verhaltener Aufregung nach Hause. Ferner: u. a. vorbereitenden
Briefen hatte er am Tage vor seiner Tat seinem alten fast gleichaltrigen
Freunde Lohmann geschrieben, er möchte sich anderen morgens
7 Uhr bereit halten und dann um 8 Uhr zu ihm kommen, er macht sich morgens
zeitig fertig und sagt zwischen 7 und 8 Uhr plötzlich zu seiner Frau
oder wer sonst
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bei ihm im Zimmer war, als er sich gerade die Strümpfe anzog:
„Was war das?“ Er glaubte nämlich, einen heftigen Knall gehört
zu haben. Als er um 8 Uhr an das Haus Forstmann kommt, sagt er gleich beim
Eintritt: „Hier ist ein Unglück geschehen.“ Es wird festgestellt,
daß er den Knall genau zu der Zeit hörte, als der Geheimrat
sich den tötlichen Schuß gab. Lohmann wohnt in der Argelanderstraße.
Es ist kaum möglich, daß die Schallwellen von dem Bonnertalweg
bis zu dieser Wohnung (vorletztes Haus zur Poppelsdorfer Allee) dringen
konnten. – Mit der Unterschrift seiner Hausdame hatte er seinen Kindern
depeschiert und um 9 Uhr stand schon seine Tochter in Trauerkleidung am
Hause.
19. Januar 1920. Seit dem 10ten (ein schwärzester Tag deutscher
Vergangenheit!) haben wir Frieden, in Frankreich ist der alte Tiger Clemenceau
nicht Präsident geworden und zieht sich knurrend in seine Privathöhle
zurück, die deutschen Zeitungen veröffentlichen Briefe von Willy
an Nicky, des Kaisers an den Zaren, in denen eine geradezu hanebüchene,
ja was soll man sagen, Torheit, Dummheit oder blöder Vertrauensseligkeit
zugleich mit bornierter Überhebung sich zeigt, daß ich zwischen
Wutanfällen und lautlosem Lachen hin und her pendele. Jeder Dorfvorsteher
hier hätte es besser gemacht.
Ich habe die Hoffnung auf eine Zukunft nicht aufgegeben und mir eine
Parzelle aus dem Nachlaß Schorn gekauft, die ich mir schon seit Jahresfrist
als Bauplatz ausgesucht hatte. Die 13 ar kosteten mich 8800 M, gewiß
genug Geld und doch der heutigen Papierwährung (1 : 9) entsprechend
nicht zu teuer. Daß ich keinen Fehlgriff tat, zeigte, daß mich
gestern Professor Gerhartz und sein Schwager Freiberger am Abend aufsuchten,
um jetzt schon den Plan einer Umlagerung der dortigen Grundstücke
mir mundgerecht zu machen, durch den eine anzulegende Seitenstraße
die Grundstücke besser aufschließen soll. Ich habe bald begriffen,
daß die Länge meines Grundstückes, das südlich an
der Langseite von einem 4 m breiten Feldweg begrenzt wird, mir eine starke
Position giebt, die ich durch Hinzuerwerb des Hinterlandes auf den Bach
zu möglichst bald verstärken muß. Zu diesem Zwecke werde
ich Mittwoch nachmittag einen Lehrer Krutwig in Klein Büllesheim aufsuchen
und zum Verkauf seiner Nebenparzelle zu bestimmen suchen. Das Grundstück
ist noch bis 1924 verpachtet. Ob man bis dahin wieder bauen kann, erscheint
heute mehr wie fraglich. –
Gestern abend hatten wir Pastor Echternacht und Frau Direktor Trautmann
zu Besuch bei uns und unterhielten uns gut. Ihr Sohn Fritz scheint in Irkutsk
in einem Gefangenenlager arge Not, namentlich Hunger zu leiden.
1. Febr. 20. Heute vor 8 Tagen ging ich morgens bei milder Sonne mit
Zingsheim und dessen Kindern auf Ramershoven zu, wo wir die Dung’sche Ziegelei
besahen. Es wäre ein Gedanke, sie wieder – vorab zu öffentlichen
Bauzwecken – mit Hilfe der Strafgefangenen wieder in Betrieb zu setzen
und damit hier der Wohnungsnot zu steuern. Wir hatten uns alles eingehend
angesehen, da meinte ich, so dicht vor dem Dorfe
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könnte ich doch auch nochmals zu Langraths Mutter hingehen. Z.
war es zufrieden und so gingen wir hin. Es war still und wie ausgestorben
auf den Dorfstraßen dort, nur auf dem kleinen runden Weiher schwammen
Enten und Gänse im Sonnenschein umher. Im Hause L. war man in der
Küchenstube am Essen, 2 Brüder (der eine Bäcker in Siegburg)
kamen heraus und berichteten mit kummervollem Ernst, mit der Mutter gehe
es zu Ende, sie liege oben, erkenne keinen mehr; ich lehnte das Anerbieten,
sie noch einmal zu sehen, ab. Dem Bruder Wienand hatten sie depeschiert.
Ich ging mit Z. wieder heim, die Mutter L. starb wenige Stunden nach meinem
Besuch. Ich wußte ihren Tod noch nicht, als ich meinem alten Mitschüler
eine Karte schrieb, die damit schloß: Wir werden uns bald aus trauriger
Veranlassung hier wiedersehen. Etliche Tage darauf, Mittwoch nachmittag,
tauchte er richtig bei uns auf; ich hatte ihn seit 1902 nicht mehr gesehen;
sein Gesicht war knorrig und älter geworden, in Sprache und Bewegungen
hatte er noch viel aus seinen Pennäler- und Studentenjahren an sich.
Seitdem ist er nun jeden abend bei uns, teils zu Tisch, teils nach Tisch.
Wir frischen Jugenderinnerungen auf, er erzählt alle möglichen
Episoden aus seinem Leben. Es sind trotz der oft unerträglich übertriebenen,
maßlos betonten Trauer um sein älters Mädchen, das sich
in einem Nachbarhause in Ramershoven gelegentlich eines Besuches an Diphterie
ansteckte und nach etlichen Tagen in Bonn starb, sehr unterhaltsame Abende,
die wir jetzt erleben. Einige Ablenkung tut uns sehr, denn Herta liegt
an leichtem Scharlachfieber erkrankt, oben allein zu Bett (Frl. Ida schläft
bei ihr, die seit Dienstag das fuchsige Frl. Lisbeth gerade eben zur rechten
Zeit abgelöst hat). Mariannchen hat einen wackeren Bronchialkatarrh
mit Husten und schläft bei den Eltern unten im Schlafzimmer, nachdem
sie auch 2 - 3 Tage im Bett, tagsüber mit diesem im Kinderzimmer zugebracht
hat. Sie ißt dabei gehörig. Herta ist recht schwach, ißt
schlecht und hat einen bösen Husten, der erst allmählich besser
wird. – Lanzraths Brüder, die im November 19 die alte Mutter noch
zu einem notariellen Testament gegen ihn vermocht hatten, bearbeiten diesen
tagüber fleißig, die Teilung in ihrem Sinne zu genehmigen, d.
h. auf Deutsch sich gehörig übers Ohr hauen zu lassen. Er findet
nun rechtlich eine Stütze an meiner Beratung und moralisch einen Halt
an der Unterhaltung mit uns. Er zeigt mehr denn früher das Bild eines
außerordentlich begabten, scharf arbeitenden und zupackenden Menschen
mit besonderer Beobachtungsgabe, dabei aber einen seltsam zerrissenen,
unstäten und flackerigen Charakter, stets zwischen Extremen sich bewegend,
in seinen Werturteilen schroff einseitig, wenig differenzierend, oft ohne
viel Gefühl für Takt u.s.w. Sein Töchterchen, das ihm sein
Alles war, hat er sicher geistig viel zu früh gereift, wenn nicht
völlig verbrannt und daß das Geschöpf nicht über die
Schwelle des Kindesalters hinausgekommen ist, erscheint mir fast eine grausame
Notwendigkeit, wobei mir der Tod infolge Diphterieinfektion wie etwas Nebensächliches
vorkommt, nicht mehr als die Form, in der sich der letzte Akt dieser Kindertragödie
abspielen mußte, deren Schuld nicht etwa bei der Sorglosigkeit der
Landleute sondern in dem völligen Mangel der väterlichen Erziehungskunst
zu liegen scheint. Er gab dem Kinde keine Ruhe, sich selbst in Stille zu
entwickeln und sein eigenes Leben zu erleben,
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bog es vielmehr zum Hohlspiegel seines eigenen Lebens mit allen seinen
wirklichen und vermeintlichen Härten und Enttäuschungen (in deren
breiter Darstellung er sich immer wieder mit der Vorliebe eines Hjalmar
Erkdahl gefällt) ließ ihm vor allem nicht das Paradies eigenen
märchenhaft-kindlichen Lebens, sondern erschloß ihm viel zu
früh die überhellen Räume des Wissens und der Anschauung.
Augenscheinlich hatte das Kind so gut wie gar keine Spiel- und Altersgenossen,
die Schule hätte sie ihm am Ende gebracht, es hat sie aber nicht erleben
sollen. Als Dreijährige hat er sie auf Urlaub schon allein mit sich
ins bairische Gebirge genommen u.s.w. So ein Unsinn! Ob ihm hierüber
jemals der Schimmer einer Einsicht dämmern wird, erscheint mir sehr
fraglich. Helene hat mit Recht sehr viel Mitgefühl mit seiner tapferen
schlesischen Frau, die unter ihm sehr leiden muß. Das von ihm wenig
beachtete jüngere Kind Rösi scheint sich ihm gegenüber mehr
zur Wehr zu setzen. Ähnlich würde er unsere ältere Herta
wohl auch in gleicher Frist mit geistiger Hypertrophie zur Strecke gebracht
haben, während unsere Marianne ihm wohl widerstanden hätte. –
Gestern abend erzählte er sehr anschaulich und mit drastischen Geberden
in fast expressionistisch anmutendem Stile die folgende Geschichte aus
seinem Heimatdorfe, die sich zu einer Erzählung in heimatlicher Mundart
eignen würde: Der Nachtwächter erzählt: Wie ich die Nacht
2 Uhr gepfiffen und nach Hause gehe, springt der Hund Albi hoch an mir
herauf und macht ein tolles Spiel. Ich schimpfe und will ihn mit einem
Fußtritt schließlich beruhigen, läßt mir aber keine
Ruhe und springt so hoch (über Kopf) an mir hoch und rast weg, kommt
dann bald wieder und macht das gleiche Spiel u.s.w. Kurz ich folge ihm,
hinaus in den Obstgarten draußen, den die Kirche dem Bauer Pitter
verpachtet hat. Strauch: liegt ein kleines Kind und wimmert kläglich.
Sofort heim, Trina, die Frau geweckt: Draußen im Garten in der Küpp
liegt ein Kind? Was, nicht mitgebracht? Sofort geholt u.s.w. Frauen schon
warmes Wasser bereit und morgens in der Frühe poltert der Gemeindevorsteher
Schm. herein, höchst entrüstet, Nachtwächter habe anderes
zu tun als solche Bälger zu finden, nun müsse die Gemeinde eine
Last übernehmen und sollte sich um Stallvieh (?) u.s.w. kümmern.
Auf Bericht nach Stadt erscheinen Gendarmen, werden nach Loch, Buschhoven
und Odendorf auf Suche nach nichtsnutzigen Weibern geschickt. In Ramershoven
sei keine solche. Kind bleibt bei dem Nachtswächter in Pflege, 20
Pf. den Tag. Poltrige Gemeinderatssitzung. Nach Jahren: Ein Bierkutscher
aus dem Dorfe hat für den Winter in der Stadt keine Arbeit, überwintert
bei der Mutter, abends bei gewissen Leuten zum „nachbarn“ im Hinterstübchen,
um Bohnen gekartet. Heller Kopf, geht der Sache noch man auf den Grund.
Der Nachtwächter giebt genau die alte Erzählung: so auch, als
er das Kind gesehen, sei ihm gewesen, als ob eine unsichtbare Hand ihm
die Kappe in die Höhe gehoben. Stramm die alten Bekundungen. Mit einem
nur gab er sich eine Blöße: Ein Stück Land, vom Vorsteher
gekauft, wollte ersterer Termin darauf bezahlen, zu Schm: „Herein“. „Termin
ist schon bezahlt.“ Ja, denkt nur, schon bezahlt. Jener Inquisitor stellt
fest: Damals hatte Schm. eine „Germanin“ von Haushälterin. Diese ging
lange Zeit im Regenmantel morgens in die Kirche. Hinterstes Bänkchen,
wo kaum zu knien, halb sitzen und gegen die Wand lehnen. Kurz nach dem
Findlingsfund plötzlich verstorben. Der Findling, der den Namen Man.
Ramershoven erhielt, sieht „verdammt“ Schm. ähnlich. Nur hin und wieder
eine unwillige Bemerkung, daß der vermögende Mann das Kind so
bei fremden Leuten dienen lasse. Heute verheiratet, hatte schon ein Kind
vor der Ehe. –
2.2.20. Heute morgen – ich hüte einer Erkältung wegen seit
2 Tagen das Haus,
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war Lanzraths ältester Bruder (Johann von hier) bei mir und fing
von der Teilung an. Ich ließ ihn ruhig reden, besprach auch die Schwierigkeiten
in der Behandlung seines problematischen Bruders u.s.w. Merkwürdigerweise
aber sprach er selbst gar nicht von dem Testament und dem seltsamen Hauskauf
zu 3 oder 6000 M (eines Anwesens, das heute 30 - 50000 M gilt).
29.2.1920. Der Februar 1920 war für uns ein sehr bewegter Monat.
Während Herta den leichten Scharlachanfall gut überwand und Mariannchen
nichts davon abbekam, zog sich Helene eine schwere Grippe zu, an der sie
morgen 3 Wochen liegt, z. T. mit hohem Fieber bis zu 38,2°C (auch schon
39°). Heute morgen, (dem 5. Sonntag im Februar, was alle Jahrhunderte
nur 3 x vorkommt) untersuchte sie Prof. Gerhartz, den ich mir zu diesem
Zwecke gleich am Bahnhof abfing. Er stellte eine fast verheilte kleine
linksseitige Brustfellentzündung bei schwerer Bronchitis fest, meint,
sie müsse noch eine Woche im Bett bleiben. Gottlob hat sie Essenslust,
und die Hühner legen jetzt brav Eier, so daß wir ihr schon allerlei
bieten können. Frl. Ida Menn, die zum Glück für den Februar
aushülfsweise zu uns kam, hat sich als vorzüglich als die vollkomene
Stütze des Haushalts bewährt; sie sorgt für alles, Kinder
und Helene und kocht vor allem. Sie wollte schon gestern nach Hause, bleibt
aber hoffentlich wenigstens noch eine Woche. Dann will Frau Direktor Trautmann
uns mit dem Kochen ein wenig aushelfen kommen. Letzten Montag war Papa
Reitmeister hier, nachdem er vorher Helenens ernstliche Erkrankung gar
nicht hatte glauben wollen. Ich hatte ihm tags zuvor geschrieben und ihn
bestimmt gefragt, ob er bereit sei, das Bonner Haus an Helene zu einem
angemessenen Preis zu verkaufen. Wir sind es nämlich satt in unserer
engen, mißgönnten und allerseits befeindeten Anstaltswohnung
uns noch länger zusammenzupferchen und zu warten, bis die Zwangseinmietung
die leeren Bonner und Herseler Anwesen mit Fremden angefüllt hat.
Zum Ausreifen ist aber dieser bis dahin recht unbestimmte Plan durch ein
Anerbieten gekommen, das mir Onkel Dietrich Brügelmann durch Eilbrief
vom 12.2.1920 machte: nämlich als Justiziar in die Firma F. W. Brügelmann
einzutreten. Heute vor 14 Tagen hatte ich mit ihm die erste Besprechung,
am 21.2.1920 eine entscheidende Conferenz in der Mühlengasse mit allen
Brügelmännern dieser Firma und daraufhin habe ich zunächst
auf 1 Jahr probeweise abgeschlossen. 25000 Fixum und 100 - 200 % derselben
Summe als Gratifikation ect.... Die Versuche, auch durch Kauf (der Firma)
eines Hauses mir in der Nähe Kölns eine geeignete Wohnung zu
verschaffen, erscheint so gut wie aussichtslos. Es wäre der reine
Zufall, ein solches gerade bezugsfertig zu finden. Wir kamen daher ganz
natürlich auf das Bonner Haus zurück und ich bin jetzt auf dem
Wege, Papa zum Verkauf des Hauses an uns zu zwingen. Noch hat er schriftlich
keine Antwort auf meine Frage und mein Doppelangebot (40000 M und Verzicht
auf Erbschaftsansprüche oder 60000 + 20 Kölner Dampfschiffaktien)
gegeben. Willi war mit Frida, vorgeblich wegen Helenes Krankheit, nach
unserer Ansicht aber um Näheres bezüglich des Kölner Justiziarpostens
zu hören, kürzlich hier. Sie erklärten sich mit solchem
Kauf einverstanden. Rechne ich nach heutiger Währung Papas Gesamtbesitz
zu 600
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und für jedes Kind hieran eine Gesamtbeteiligung von 14 % (nämlich
½ von ½ · 9/16) so wären dies einige 80 M. Papa
will nun, vermutlich heute, mit Willi, nochmals reden. Ich habe ihm auch
Wohnrecht im Hause angeboten. Ich gedenke ihn nicht mehr aus dieser Presse
entschlüpfen zu lassen, habe auch verhüllt bereits mit Zwangsversteigerung
gedroht und mich bei dem zuständigen Bonner Collegen Daniel wegen
der erforderlichen urkundlichen Unterlagen hierzu erkundigt. In den nächsten
Tagen muß die Entscheidung fallen, ich lasse diesmal nicht locker.
Mein Gesuch um Beurlaubung auf ein Jahr ist seit dem 25.2. unterwegs. In
Cöln hätte man mich je eher je lieber, ich war schon am 27.2.
mal probeweise morgens dort mit in der Konferenz; ging dann mit Onkel Dietrich
zum Wohnungsamt, für den Fall, daß sich am Ende dort doch noch
eine Wohnung für mich finden sollte. Im übrigen sind wir entschlossen,
in Bonn zu wohnen gleichviel, ob ich weiter den Amtsrichter in Rheinbach
oder den Justitiar in Cöln spiele. Auch habe ich damit die Möglichkeit,
meine Versetzung nach Bonn wirksam zu betreiben und bin dann, wenns bei
der Firma in Cöln nicht geht, in Bonn Amtsrichter, was auch nicht
ohne ist. Kurz, auf nach Bonn! Für Papa bedeutet das trotz seiner
74 Jahre (9. März 1920) einen scharfen Knick in seiner Lebenslinie,
denn es wäre das erste mal in seinem Leben, daß er sich innerhalb
seiner Familie dem Willen eines anderen beugen sollte. Immerhin, ist er
mal erst dahinter, so soll er es gemütlich bei uns haben (seinen Haushalt
wird er ja wohl nach Hersel verlegen, um dort „sein freier Herr“ zu sein),
denn ich hoffe, daß er sich doch bei uns so einleben wird und dann
endlich einmal den seinem Alter entsprechenden Lebensabend erleben wird.
Über alles das werde ich ihm einen recht offenen Geburtstagsbrief
schreiben müssen. Er selbst kombiniert sich mit seinem scharfen Verstande
die tollsten Sachen: In Bonn und Hersel verließen seine beiden Dienstboten
mit Frl. Fabian (diese ging in ein Krankenhaus zur „Diätkur“) ihn
am selben Tage: nach seiner Meinung im Komplott, ihn auf den Pott zu setzen.
Dahinter steckte ich sicherlich nach seiner Meinung, zumal ich gleich darauf
verdächtige Reisen nach Köln machte und meiner Mutter 60000 M
auf ihr Haus Bachstraße 60 bot (Bruder Josef beeilte sich angeblich,
90000 M dafür zu bieten). Er wird nun nachts toben und stöhnen,
bis er sich zum Entschlusse durchringt. Gegenüber seiner neuen Haushälterin,
Frl. Emons aus Münstereifel, kann er sich nicht austoben, weil diese
sonst wohl kurzentschlossen ihn „auf den Pott setzen“ würde. In Hersel
hat er gleichfalls eine neue. –
Am Gericht sieht es nicht schön hier aus und es ist
mir wirklich leicht, dort sofort meinen Abschied zu nehmen. Geheimrat Hölzer
ist seit mehreren Wochen, Simons seit 8 Tagen dienstunfähig, kein
undurchlöcherter Kohleneimer mehr vorhanden, kein Besen, kein Scheuertuch,
nichts. Miserable Kohlen, die Öfen alle Augenblicke aus, fortwährend
lästiges Gequängel mit der Aufsicht, kurz höchst unerquicklich.
Eine Leuchte: Ein tüchtiger Assessor Roth von Euskirchen, der Hölzer
vertritt und überlegen arbeitet.
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Demnächst werde ich mich wohl ein wenig krank melden müssen.
–
Um Papa nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch und tatsächlich
in den Belagerungszustand zu versetzen, werden wir schließlich auch
zu meiner Mutter ziehen und uns dort so lange einquetschen, bis Papa das
Feld räumt. Heinrich Schneiders hat mir auch zu diesem Zwecke bereits
ein Zimmer zur Verfügung gestellt.
28. März 1920. Heute +20°C Wärme. Helene endlich langsam
besser, kann einige Schritte ausgehen. Papa hat uns Haus am 9. März
verkauft. Wir sind schon am Einpacken. Am Montag erlebten wir hier eine
scheußliche Sache: Meuterei im Zuchthaus. Der allgemeine Ausbruch
hing an einem Faden. Mittags 2 Uhr: Gebrüll wie wilde Tiere. Schüsse.
30 entwichen, sind bis auf 7 jetzt wieder alle drin.
Anderen Tags kam Papa mit Frida. Die Möbelberedung war auch nicht
erfreulich. Hoffentlich kommt Papa rechtzeitig nach Ostern mit seinen Möbeln
weg, damit wir Ende der auf Ostern folgenden Woche einrücken können.
Morgen soll schon unser Schlafzimmer in Bonn gemacht und die 30jährige
Tapete aus dem Wohnzimmer abgerissen werden. Natürlich ist Papa etwas
melancholisch darüber. Seit Dienstag bin ich nicht mehr auf dem Amt:
Krankmeldung zunächst auf 2 Monate. Urlaubsgesuch auf 1 Jahr
von Cöln befürwortet weiter, z. Zt. keine Verbindung mit Berlin.
Im Ruhrrevier ist Bürgerkrieg: rote Armee. Reichswehr hält Wesel,
politische Umwälzung: Spartakismus. Wir haben derart mit dem Umzug
zu tun, daß wir anderes kaum denken.
Bonn, den 18.5.1920. || Zwei Jahre nach Mamas Todestag. ||
Die Ostertage hatten uns in Rheinbach zwar ein wenig Ruhe in den Vorbereitungen
zum Umzuge und den Abbruch der ganzen Haus- und Hofwirtschaft dort gebracht,
ohne gelegentliches Weiterpacken und räumen ging es aber selbst auch
in jenen Tagen nicht her. Dann kam die Umzugswoche. Gleich Dienstags brachte
ich in der Frühe die beiden Kinder nach Bonn, Mariannchen kam zu Onkel
Josef und ihrer Kusine Anita – sobald ich den nächsten Tag Bonn verließ,
konnte sie es vor Heimweh nicht mehr aushalten, tribulierte den Großpapa
und die Großmama derart, daß diese nicht übel Lust hatten,
sie nach Rheinbach abzuschieben und quartierte sich schließlich kurzentschlossen
zu ihrer Schwester bei Freund Schneiders ein und blieb dort auch, bis wir
sie beide Samstags zu uns holten. Dienstag wurden nun Papas Möbel
und Hausrat gepackt von einem alten Packer; als ich kam, fehlten Papa natürlich
die Schlüssel und es gab allerlei Anstände, bis die Sache recht
in Schuß war. Die alte Haushälterin holte immer wieder Gegenstände
aus dem bereits Verpackten heraus, ich mußte treppauf treppab feststellen,
was nach Hersel sollte und was hier bleiben sollte. Darüber hatte
Helene in ihrer Krankheit ausführliche Liste aufgestellt, die hin
und wieder abgeändert werden mußte, kurz in manchem war es ein
rechter Wirrwarr. 3 Zimmer, die Papa bei uns im Hause behält, wurden
z. T. als Stapelplatz für die Sachen benutzt, welche im Bonner Hause
bleiben sollten; auch wurden sie mit den Möbelstücken versehen,
welche Papa entgültig darin behalten sollte. Immer wieder waren Schränke
auszuleeren, ohne daß man recht wußte, wohin mit deren Inhalt.
Papa halt tapfer mit, wiewohl ihn oft die wehmütigsten Erinnerungen
dergestalt übermannten, daß er die Tränen kaum anzuhalten
vermochte. Als 75jähriger trug er sein Geschick und half mir sogar
mit, ein Sopha auf sein Wohnzimmer zu bringen, Schränke auseinanderzuschlagen,
an die seit 1890 niemand hatte rühren dürfen und hinter denen
es bös aussah u.s.w. Was das für einen bedeutete, der auch die
geringste Veränderung, ja die einfache Versetzung eines Möbelstückes
jahrzehntelang aufs ängstliche vermied und auch nicht mit den eindringlichsten
Vorstellungen dazu gebracht werden konnte, sich irgend etwas bequemer einzurichten,
verbessern oder wieder instandsetzen zu lassen u.s.w., das kann nur der
verstehen, der ihn wie ich, seit 30 Jahren kannte.
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Schon vor Ostern hat er wirklich wider Erwarten mit einem gewissen
Heroismus mitgeholfen, das Wohnzimmer auszuräumen, das dann sofort
vom bestellten Handwerker von der „unersetzlich kostbaren“ aber schlimm
verschmutzten Tapete gereinigt, in blau gestrichen und zu unserem sauberen
Schlafzimmer hergerichtet worden war, so daß es beim Auszug schon
fertig war. Mittwoch kamen dann die Packer, die mit gewohnter Rücksichtslosigkeit
aus allen Winkeln alles herausschleppten, so daß ich mich in Stücke
reißen mußte, um die schlimmsten falschen Dispositionen einigermaßen
zu verhindern. Mittags zog der Troß mit 2 Wagen nach Hersel ab. Um
das dortige Ausladen konnte ich mich nicht weiter kümmern. Im Schlafzimmer
der Eltern war der Anstreicher bereits am Arbeiten, als das letzte Bett
noch nicht heraus war. Ich hatte hierzu eine etwas gewagt bunte moderne
Tapete mit Linkrusta Sockel gewählt. Das Zimmer fiel sehr gut aus,
ich mußte dies jedoch dem Anstreicher und dem Zufall überlassen,
denn ich mußte nach Rehinbach zurück, wo anderen Tages gleich
mit einer Verbrecherkolonne zunächst das Beladen eines großen
Plateauwagens begonnen wurde. Dann kamen gleich 2 Packer, Freitag nachmittag
war alles auf 3 Möbelwagen und jenem riesigen Plateauwagen die gesamte
Fahrhabe mit Kohlen, Holz und einem schrecklichen Pröll verstaut.
Wir fuhren nach Bonn, nachdem ich am Bahnhof noch einen Erpressungsversuch
des Fuhrmanns Kopp abgeschlagen hatte, der plötzlich 350 M statt 240
M wie für die frühere (schwerere Fuhre) mit Kartoffeln, Bienenhaus
u.s.w. verlangte.Dort wurde bei meiner Mutter Notquartier bezogen und anderen
Tags begann der Einzug in aller Frühe, die Wagen waren nachts über
die Landstraße hierher gefahren. Den Gefahren der Eisenbahn und der
Raublust ihrer Leute waren sie damit nicht ausgesetzt gewesen. Leider zeigte
sich, daß das Haus für alle Fahrhabe, die in Rheinbach unter
den Augen der zahlreich dort umherwimmelnden Franzosen auch aus dem Gerichtsgewahrsam
wieder zusammengerafft worden war, fast zu eng wurde zumal bei dem Vielen,
was von Papas Sachen darin verblieben war. Alles nicht unterzubringende
wurde bei meiner Mutter aufgestapelt. Dorthin kamen auch die Hühner,
denen unser Rheinbacher Nachbar, („Justizwachtmeister“ Kornetzki) ihren
Stall im Keller wieder aufbaute, wie er ihn in Rheinbach auch gebaut hatte.
Ohm Gottfried von Heimerzheim war ebenfalls auf meine Bitte gekommen und
half uns fast eine ganze Woche lang beim Einräumen. Der Unrat, der
sich seit dem Tode von Mama im schwiegerelterlichen Hause unter den unordentlichen
Hausmädchen angesammelt hatte, schien anfangs gar nicht bewältigt
werden zu können. Alles hatte andauernd die Hände voll zu tun
und es hat Wochen gedauert, bis wir wirklich endlich alle Zimmer wohnlich
instandgesetzt hatten. Es rächt sich eben schwer, zumal in heutigen
teuren Zeiten, wenn jahrzehntelang in einem größeren Hause so
gut wie gar keine Instandsetzungs- und Erneuerungsarbeiten geschehen
sind. Bis heute haben wir noch keine Kokosläufer auf der Treppe gelegt.
Heute wieder hausen die Anstreicher im Hause. Haben das Kinderzimmer im
2ten Stock gestrichen, die große Eichenhaustüre von einer jahrealten
Schmutzkruste gereinigt und kälken den Raum unter der Veranda, um
die Bügelküche im hinteren Kellerraum aufzuhellen. Was wir am
meisten entbehren, ist das elektrische Licht. Das ewige Suchen nach Streichhölzern,
der Kampf mit dem unzuverlässigen Gas, das Irrlichterlieren mit Hand-
und Kerzenleuchten ist langweilig und ärgerlich, eine Petroleumlampe
hingegen mitunter ganz gemütlich. Ich habe nun nach fast 10jähriger
Ehe erstmals ein eigenes Zimmer für mich genommen (den früheren
Salon zu ebener Erde straßenwärts) in dem auch nun endlich mal
wieder mein großer Bücherschrank, der bisher noch bei meiner
Mutter stand, wieder in meinen Besitz gekommen ist. Eine lebensgroße
Büste Lessings und eine solche von Alexander v. Humboldt machen sich
darauf recht stattlich, nicht minder auch
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ein schwerer Barockschrank in einfachen Formen, der 1 ½ Jahr
auf dem Gerichtsspeicher gebrummt hatte.
Ich selbst begann mit der darauffolgenden Woche – am 12.
April 1920 – einen neuen Abschnitt meines Lebens: Die Kaufmannschaft in
Köln. Mit einer Monatskarte II. Klasse auf der Rheinuferbahn ausgerüstet,
welche die Kleinigkeit von 170 M den Monat kostet, pflege ich morgens 8
Uhr noch Köln zu fahren, 845 dort einzutreffen. 9 Uhr ist die obligate
Konferenz der Firmenteilhaber, der Teilhaber, der 3 Prokuristen, der Privatsekretärin
des Seniorchefs und meiner Wenigkeit. Es wird dort außer den geschäftlichen
Angelegenheiten aller Tod und Teufel besprochen, oft allzu ausgiebig, denn
irgend einen Einfluß aufs Geschäft ist ja fast alles. Die Firma
gehört zu den führenden Textilgeschäften des Westens, der
tägliche Umsatz bewegt sich zwischen 200 und 450000 M, monatlich gehts
in die Millionen. Mein Erscheinen, das schon wegen der dringend zu erledigenden
Steuererklärungen sich kaum mehr aufschieben ließ, fiel gerade
in die rechte Zeit: Das wilde Geschäft brach ab, es setzte gerade
eine Flaute ein, die zu einer riesigen Warenauffüllung im Haus
(40 - 50 Millionen lagern dort) und zu einer äußersten Geldanspannung
führten. Mit dem Steigen der Mark flieht die Kauflust der Verbraucher
und stockt der Absatz, während die Verpflichtungen weiterlaufen, und
da beginnt die Arbeit des Juristen. Haufenweise erledige ich seit Wochen
die seit fast Jahresfrist unbearbeitet liegen gebliebenen Schadensersatzanforderungen
an die Eisenbahn und Post. (Es vergeht kein Tag ohne neue Beraubungen,
die stets in die Tausende gehen). Andauernd prangen auf den Briefköpfen
oben links jetzt die Worte: „Rechtsabteilung / Dr. Rech“, vermutlich ein
wahrer Schrecken den Bahnbehörden, säumigen Zahlern, u.s.w. u.s.w.
Die ersten Wochen war ich in einem wahren Wirbel, allmählich glätten
sich dessen Wogen und von Tag zu Tag verschaffe ich mir eine schärfere
Einsicht in das vielfältige Getriebe dieses riesigen Unternehmens.
Da werden an einer Seite zu ebener Erde in weiten und tiefen Ladenräumen
von einem Schwarm weiblicher Angestellten alle Sachen vom Kragenknopf und
Seifenstück bis zum Herrentuch Arbeiteranzug u.s.w. in klein verkauft,
so täglich zu schon 5 - 8000 M, dann auf den großen Lägern
mit ihren „Chefs“ kommen die besten Kunden und Stückwaren in größeren
Posten gleich gegen Barzahlung (60, wenns gut geht an 80 - 100000 M tägliche
Einnahmen) dann um einen größeren glasgedeckten Binnenhof und
einem weiteren offenen Hof in 3 - 4 Stockwerken der Versand des Engroslagers.
Die Ware wird auf einer Rutsche von außen in Kellerräume geworfen,
jeden Morgen stehen riesige Lastautos draußen, bald kommen stahlgebänderte
Ballen aus Manchester, bald Kisten aus dem Elsaß, dann Fuhren vom
Färber, dann Transporte von süddeutschen Baumwollspinnen, denen
die Firma Baumwolle und Geld dazu liefert, um Hemdentuch und Siamosen zu
weben, ganze Fuhren versiegelter Wertpakete verschwinden in der Rutsche;
2 - 3 Etagen tief dehnt sich allerlei im Keller aus, dort lagern riesige
Mengen Wolle (für die Stadt Köln allein an 10 Millionen), die
feuchte Luft haben müssen, ganz tief im Bauche der Erde hausen elektrische
Zentrale, Maschinen, Dampf, Heißwasser und was weiß ich alles.
Im 4. Stock aber sitzt die Konfektion, da schnurren 500 mechanische Nähmaschinen,
mit Kreis- und Bandmessern werden packenweise, gleich 1 ½ - 2 Dutzend
auf einmal die Stoffe zu Schürzen, Kleidern, Hosen, Arbeiterjacken
u.s.w. zurechtgeschnitten, hunderte von Mädchen arbeiten dort im 8-Stundentag.
Natürlich giebt giebt es Arbeiter- und Angestelltenräte, desgleichen
Betriebsrat, auch Vermaklungen am Schlichtungsausschuß u.s.w.
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An der Sonnenseite längst der altehrwürdigen Mühlengasse
hausen die Götter, unten im großen Zimmer der Seniorchef der
Firma im eichengetäfelten einfachen Prunkgemach. Sämtliche Vorfahren
seit der Geschäftsgründung 1820 sehen mit ihren Frauen still
und klug von den Wänden und wenn ich dort in der Mittagsstunde auf
dem großen Ledersopha meinen Mittagsschlaf halte, so halten sie brav
Wacht über mir und lächeln mir ermunternd zu, wenn ich wieder
aufwache und ihren vielen Blicken nicht ausweichen kann. Manche sind mir
seit je vertraut, da ihre Photographien bei uns stets im Wohnzimmer hingen.
Draußen in Deutz halten die Engländer die große,
1914 vollendete hochelegante 5stöckige Fabrik („Brügelmannhaus“)
noch immer mit Truppen belegt, so daß für 1½ Million
Strumpfstrickereimaschinen noch immer feiern müssen. Aller kölscher
Klüngel, selbst hoher englischer Einfluß ist bisher noch an
der Hartnäckigkeit des britischen Majors gescheitert, der diesen Bau
behauptet, was man gut verstehen kann. Die Folge ist eine Jagd auf leere
oder verkäufliche Fabrikgebäude, welche ich mitunter im bequemen
Geschäftsauto mitmache. Es findet sich aber nichts und vorläufig
zahlt das Besatzungsamt 83000 M jährliche Entschädigung. Mir
fiel kürzlich Freund Allan Napier mit seinen vielgestopften Strümpfen
ein und eilig schreib ich ihm einen Schreibebrief, schilderte ihm die Strumpfnöte
des Volkes und die gewinnreichen Aussichten zur Verwertung englischer Wolle
(sächsische und thüringische Garnfabriken spinnen diese), ob
er nicht einen Freund im Kriegsamt in London habe, der hier helfen könne.
Leider habe ich nichts von ihm gehört. Wo mag er überhaupt stecken?
–
Ist die Konferenz beendet, so steigen die „Herren“ in
ihre einfach und hochelegant mit Eiche fast bis zur Decke getäfelten
Zimmer im ersten Stock, dort geht dann ein wilder Tanz los. Ohne eigene
Telefon-Zentrale und ein verwickeltes Meldsystem, mit dem man jedes Bein
aus dem ganzen weiten Hause binnen weniger Augenblicke antreten lassen
kann, ginge es nicht. Briefe kann man so schnell diktieren als man spricht,
kurz nachher liegen sie in sauberer Maschinenschrift vor einem. 2 Sekretäre
müssen z. T. für mich arbeiten und beraten mit mir täglich
durchschnittlich 1 Stunde. 12 ¼ ist der Rummel vorbei. 1 Uhr esse
ich in der Firma, Mittwoch fix beim Seniorchef, dem Onkel Dietrich, mit
dem ich mich vorzüglich verstehe. Er hat das Geschäft auf diese
Höhe gebracht als der Jüngste seiner Geschwister und hing an
meiner Schwiegermutter mit am meisten. Dann Schlaf bis ½ 3; bis
4, 4 ½ giebt noch allerlei in Ruhe, mitunter auch nichts, dann Heimfahrt
und Rentnerdasein in Bonn bei Weib und Kindern, Hühnern und Bienen,
Garten, spazierengehen, Besprechung mit Bruder, Mutter u.s.w. Daß
ich mittags meist nicht zu Hause bin, daran habe ich mich erst nicht ohne
starkes inneres Widerstreben gewöhnen müssen, doch half mir sehr
der Gedanke an meine verstorbene gute Schwiegermutter. Ich fühle dort
sie stets um mich. Sie verlebte ihre Jugend bis zu ihrem 24. Jahr in der
Mühlengasse, bis sie dem Manne nach Hersel folgte.
Die Gattin des Geschäftsgründers F. W. Brügelmann
ist als alte Frau mit blanken Augen gemalt, vieles in ihren Gesichtszügen
erinnert derart an meine Frau, daß ich sie im Mittagsruhen oft lang
ansehen muß. Man scheint mit meiner Tätigkeit nicht unzufrieden.
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Zur Abwicklung von 4 großen Geschäften, die fast 2 Millionen
an Werten in sich schlossen, schickte man mich jüngst mit unbeschränkter
Vollmacht nach Leipzig und ich erlebte eine Judenhatz, die z. T. recht
spaßig war. Wenn ich mir heute vorstelle, wie der Siluk Schmuilowitsch
aus Polen umherraste und den Verzweifelten spielte, bis ihm dergleiche(?)
seinem Sozius für 486000 Wechselakzepte entrissen hatte, muß
ich stets noch lachen. In einem Jakob Inhab(?) einer ersten(?). Firma Schwab
& Co lernte ich einen persönlich sympathischen feinkultivierten
Juden alter Rasse mit geradezu gefährlicher Geschäftsgewandheit
kennen, der geistige Ringkampf mit ihm, der sich von der Abnahme eines
zu ungünstiger Zeit und zu hohen Posten Siamosen im Betrage von 460000
M drücken wollte, war bei weitem das Interessanteste dort. Auch er
war schließlich gebändigt, mit ihm sollte weiter gearbeitet
werden und heute – den 19. Mai erschien er selbst in Köln, verstand
sich zu glatter Abmachung bei 120000 Nachlaß und Zukauf von 140000
M anderer Ware. Einem anderen, Tewel! Fogel, wurde kurzerhand der
Prozeß gemacht, nachdem er sich persönlicher Auseinandersetzung
durch die Flucht entzog und seinen Prokuristen „Samuel Gelbfarb“ mich beschwatzen
ließ. Dieser aber wurde schnauzig abgebellt. Er wird wohl seine 52000
bald lassen müssen. In einem Moritz Pfefferblüth lernte ich einen
angenehmen älteren patriarchalischen Juden mit deren vornehmen Familiensinn
kennen, der seinem festgefahrenen Schwager Freimannn, unserem Kunden mit
einer Bürgschaft von 150000 M aus der Patsche half. Zum erstenmal
in meinem Leben erlebte ich eine unmittelbare und persönliche Berührung
mit dem Osten und lernte Leute kennen, die mir doch in einem anderen Lichte
erschienen, als man sich gewöhnlich die polnischen und galizischen
Juden vorstellt. Da war der Mortel Landau, ein zielbewußter, willensstarker
Mann, der sich in wenigen Jahren in Leipzig aus einem zugewanderten Ostjuden
zu einem bedeutenden Großhändler ausgewachsen hat; es scheint
mir, daß man mit ihm noch gute Geschäfte nach Polen machen und
den verfl. Polen schlechtes Zeug zu hohen Preisen anhängen kann.
Die tägliche Rheinuferfahrt suche ich mir zu einem
Ruhepunkt auszugesalten, ich bringe es tatsächlich schon fertig, die
¾ Stunde nicht nur zu verduseln, sondern auch regelrecht zu verschlafen.
Dazwischen bete ich im Geiste Mörickeische Verse und schwebe in anderen
Sphären; denn fest steht mir der Entschluß, mich nicht von nackter
Materie in Köln knechten zu lassen. „Rette Deine Seele“ hab ich mir
hinter die Ohren geschrieben. Ganz möglich ist dies ohnehin schon
nicht, wenn man dort den gewaltigen Turm von Groß St. Martin vor
sich hat, in dessen Schatten meine unvergeßliche Schwiegermutter
aufwuchs, deren Nach- und Ebenbild wir jetzt in unserer Herta erleben.
Fließt mir vielleicht auch einmal Reichtum zu, so werde ich ihn schon
zu bewältigen wissen.
Gesundheitlich, und das ist ja vor allem das Hauptbedenken,
scheint mir die Sache wohl zu bekommen. Ich habe jedenfalls seit Ostern
zugenommen, sehe recht feist aus und bin wohl zuwege. Im August soll ich
3 Wochen nach Traunstein, in ein kaufmännisches Erholungsheim, in
dem die Firma für 100000 M Spende bestimmte Plätze
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hat. Das Ganze will mir zwar noch nicht so recht passen, ich möchte
lieber Frau und Kinder mit haben, andererseits dem guten Onkel nicht gern
die Freude an diesem seinem freundlichen Plan verderben. – Meine ersten
„Gewinne“ habe ich gleich ins Haus gesteckt, Anstreicher und Tapezierarbeiten.
Mit dem Urlaub, den ich für 1 Jahr beantragte, hatte
ich Pech. Er wurde mir abgelehnt. Nun ist eine Intrige im Gange, Carl Trimborn
soll mit dem Justizminister noch mal darüber reden, hat es auch schon
getan und ich soll neuen Bescheid bekommen. Vorab bin ich mal bis
Anfang Juni krank gemeldet. Im Laufe Juni muß die Frage entschieden,
evtl. auch der Abschied genommen werden. Denn zum 1. Juli 1920 feiert die
Firma ihr 100jähriges Bestehen, zu welchem Tage ich feierlich als
ihr Prokurist proklamiert werden soll. Morgens ist große Feierlichkeit
im Gürzenich, Mittags kleines Spitzenessen mit nur 26 Personen, darunter
auch ich, abends für alle Verwandten, Freunde, Bekannte u.s.w. Stadttheater
ganz gemietet, Festaufführung „Fledermaus“. Ich werde dabei der Szene
gedenken, in der ich in Berlin auf der Hofbühne als Statist im gleichen
Stück als Student aufgetreten bin.
Der Schwiegervater sitzt nun bei uns im Altenteil, er
hat auf jedem Stock ein Zimmer oder wie es mein Bruder Josef ausdrückt:
eine Station: unten das kleine Büro mit Telefon, mitte das kleine
Wohnzimmer gartenwärts über der Küche und oben das geräumige
Fremdenschlafzimmer. Daß wir für liebe Freunde solches nun abermals
entbehren müssen, ist uns heute doppelt schmerzlich, wo wir gerne
Gäste begrüßen. Doch ist drei Häuser weiter bei meiner
Mutter stets mit 3 Freibetten eine reichliche Unterbringungsmöglichkeit
gesichert.
20.5.20. Soeben habe ich eine neue Tinte fabriziert, mit
der schreibt es sich besser und die Gedanken fließen besser aus der
Feder. Durch das jetzt seit fast 6 Wochen geübte „Ansagen“ der Geschäftsbriefe
bin ich vom Schreiben ganz abgekommen und in der Firma ist die Tinte in
dem feudalen, mir zu Ehren für 300 M neubeschafften Tintentöpfchen
eingetrocknet. – Ich selbst freue mich jetzt nachmittags daheim im eigenen
Zimmer sitzen, am Tische bequem, wie jetzt schreiben zu können oder
auf dem Lotterbett mich auszustrecken und irgend etwas erbauliches lesen
zu können. In der Uferbahn ärgert es einen nur ganz scheußlich,
wenn die schöne Aussicht auf den Niederrhein, wie leider so oft und
auch heute morgen wieder, durch eine hellblaue und rothösige Uniform
überschnitten wird. Mitunter kommen mir die Wuttränen, mitunter
setzt es auch ergötzliche Szenen, zumal wenn ihre mehrere mit munterem
Lärm einfallen und dann lange und bedrückte Gesichter machen,
wenn der Schaffner ihnen pro Nase 9 M abknöpft. Denn soviel kostet
heute eine Fahrt II. Klasse von Bonn nach Köln. Da auf den Fahrzetteln
noch die alten Preise mit 4,50 M stehen, so giebts oft lange stumme Auseinandersetzungen
mit dem sprachunkundigen Schaffner, keiner der sämtlich französisch
sprechenden Fahrgäste verzieht eine Miene oder spricht einen Ton,
und die Sache endet stets mit dem vollen Siege des Schaffners. Sonntags
morgens aber pflege ich mit meinen Kindern auf den alten Zoll zu spazieren,
da wird stets der alte
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graue Arndt eingehend besehen und die schönen Worte am Denkmal
gelesen „Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“ und
„Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte“. Herta
kennt sie längst gut und bewegt sie wohl in ihrem Herzen. Mariannchen
schimpft sehr unbefangen auf die ekligen Fr..., die die Kanonen weggenommen
hätten. Tatsächlich hat man vor dem Einrücken der Fr. die
beiden französischen Geschütze weggenommen, die seit 71 dort
standen und ohne die ich mir den alten Zoll nicht recht vorstellen kann,
da wir von Jugend an darauf geritten haben. Ich erlebe auch den Tag noch,
daß sie wieder hinkommen, auch noch den Tag, da noch ganz anderes
geschieht. Auch die Arbeiter gingen wohl heute wieder nach Westen los.
Die abscheuliche Verunzierung des Kaiserdenkmals hier durch einige besessene
Unabhängige ist hierorts eine Ausnahme. –
Heute wird mir bekannt, daß in Bonn eine Notarstelle
durch den Rücktritt des alten Offergelt zu besetzen ist. Ich werde
mich heftig um diese bemühen. Büro kann mein Bruder führen
und ich hätte eine bequeme Stellung, die mich an der Justitiartätigkeit
in Köln nicht hindern würde. [nachträgliche Notiz am 28.8.20.
Die Bemühung um die Notarstelle war hinterher gar nicht so heftig.
Richter aus Bonn, der jahrelang in Dormagen saß, bekam sie mit gutem
Recht. Wäre ich kräftig nach Berlin gefahren und hätte zeitig
allen Dampf aufgesetzt, so wäre es vielleicht anders gekommen. Nun,
was heute nicht ist, kann später werden.]
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Mittwoch, 23. Juni 1920. (Vergleiche auch die Tagebuchseiten
53 bis 62.) Morgens mit Helene gepackt. 9 - ½ 10 nach Köln,
dort genug Betrieb in Mühlengasse. Mittags bei Onkel Dietrich gut
gegessen, etwas länger geschlafen (nachts nämlich infolge Helenes
Unruhe schlecht geschlafen.) Nachmittags dann nochmal Mühlengasse.
Noch allerlei Unruhe, bis endlich 6 ¼ mit Will im Auto nach Deutzer
Bahnhof. Dort in ..?.. D-Zug, leidliche Plätze, abends rheinauf Speisewagen
zu abend gegessen, gut und reichlich. In Wiesbaden leider keine Möglichkeit
für Schlafwagen, da besetzt. Ab Frankfurt auch noch alten Herrn (der
nach Italien fuhr) mit im Abteil. daher nur z. T. ausgestreckt gelegen
und geschlafen. Will schläft aus alter Übung vom Felde her auch
bequem im Sitzen.
Do., 24. Schöner Morgen: Erwachen bei Baden, am Schwarzwald
entlang. Erst leicht dunstig, dann strahlender Morgen. Bis Basel, badischer
Bahnhof, dort gleich Anschluß nach Lörrach. Hier schon in aller
Frühe. Durch Ort hin und her, da noch zu früh. Markttreiben,
Rasieren. Auch 5 fr eingewechselt, gedachten schweizerisches Paßvisum
zu nehmen, um durch schweizerischen Zipfel nach Konstanz zu fahren. 35
M kosteten die 5 fr, die wir nachher nicht benützten. Dann zu Conrad
Erben Baumwollweberei, Herr nicht da, Prokurist alsbald bereit, den Rest
des Auftrags zu streichen. Er schien einer baldigen besseren Konjunktur
recht gewiß zu sein und ich hatte das Gefühl, daß wir
vielleicht eine Dummheit machten. Im Hirschen dann Zusammentreffen (Will
hatte noch rote Taschentücher in großer Buntdruck-Weberei kaufen
wollen) dort gutes Frühstück gegen 12. Fahrt nach Fahrnau. In
Mittagshitze dort zu Kommerzienrat Horn, tüchtigen, bedeutenden und
sympathischen Kopf, der uns freundlich in seiner Villa empfing. Verhandlungen
mit ihm schwierig, wollte Auftrag nicht streichen, aber sich für anderweitigen
Verkauf bemühen, boten ihm Baumwolle an, wollte auch sehen, ob sein
Spinner kaufte.
Marsch nach Fahrnau Tunnel, anderem Bahnhof, durch Brandhitze.
Dann auf elektrisch angetriebener Eisenbahn durch kühlen Berg zum
Wutachtal nach Tiengen. Dort wieder Marsch und noch eben rechtzeitig zur
Spinnerei Lauffenmühle. Hier Rechtsstandpunkt (Rücktrittsberechtigung
scharf vertreten, alter Direktor verblüfft und traurig, kein Vorschlag,
Sache völlig in der Schwebe. Recht großer Abschluß zu
billigem Preis). Dann wieder Bahn in großer Fahrt durch südlichen
Schwarzwald nach Immendingen „strategische Umgehungsbahn“. Dort abends
spät in recht mäßigem Lokal in
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schlechtem Bett übernachtet, aber vorher gut zu abend gegessen.
Morgens recht früh, Frühstück. Fahrt nach Konstanz. Dort
wieder heißer staubiger Weg nach Strohmeyersdorf, alten Kommerzienrat
Ludwig Strohmeyer, ganz bedeutenden Mann kennen gelernt. Zäher und
riesig gewandter Geschäftsmann. In (ihm und seiner großen Anlage
zugehöriger) Dorfschenke am See gut und einfach zu Mittag gegessen.
Wieder Verhandlungen mit dem Alten. Einigermaßen Ergebnis, wenn auch
mager, ca 25000 M erreicht. Übergesetzt. Durch heiße Stadt zum
See. Dort am Ufer gesessen. Will leider voller Tatendrang, disponierte
für nächste Tage weiter, daher leider kein Ruhetag in Konstanz
am stillen leuchtenden See. 3 - 4 ½ Dampferfahrt nach Friedrichshafen.
Schnellzug Ulm. Dort waren Lebensmittelunruhen mit Schießereien gewesen,
jetzt ruhig. Gut im Hotel Russischer Hof, Gebr. Ferer aufgehoben. IV. Stock
lustig geschlafen. Plan für anderen Tag. Trennung.
26. 6. Will in aller Frühe (5 Uhr) nach Augsburg,
ich 746 nach Schelklingen. Allerliebstes kleines Städtchen auf der
schwäbischen Alb. Dort günstige Verhandlungen mit der Urspring-Weberei
(Inhaber Rall) angenehmen, zuverlässigen Mann kennengelernt. Im Ort,
prächtige alte Bauernwirtschaft zum Rößle, Glas Bier (Butterbrot
in der Tasche), dann ½ Stunde hinaus ins idyllische Tal: altes Kloster
Urspring (Besitzer Landrat Rall) junges Mädchen auf Besuch zeigte
mir Kirche ect. Dort auch allerliebste Klosterschenke, entzückende
Sommerfrische. Fläschchen Wasser. Anderen Weg zurück. In Dorfkirche
schönen Grabstein 1603 entdeckt. Gegen 2 Uhr in Ulm, Hotel gut gegessen.
Geschlafen nach Tisch. Dann Nueulm Postamt, bei Mader. Hitze. Keine Elektr.
Nachmittags Streik: Beerdigung der Tumultgefallenen. In Konditorei gegenüber
Münster gut ausgeruht und erquickt. Turmbesteigung: 6 Uhr zu spät.
Hotel. 742 Will in Schnellzug getroffen. Zusammen nach Stuttgart. Hotel
Marquart. Abends in matt erhelltem Prunkspeisesaal kaltes Abendessen mit
Wein. Gut geschlafen trotz unruhigem Zimmer mit knackenden Türen,
knarrendem Boden und reichlich elektrischem Verkehr vor der Nase.
27.6. Ausgeschlafen. Gefrühstückt, tolles Kellnergerenne
im Frühstückszimmer. Dann Briefe an Lauffenmühle entworfen.
Notizen gemacht. Darüber 12 Uhr durch. Will holte mich ab. Spaziergang
im Park bei Hitze. Hoffmann telef. angerufen. Mutter gab Bescheid. Klaus
rief nachmittags an. Gut zu Mittag im Hotel, dann gelegen. 4 Uhr auf. Reinschrift
des Briefes. Notizen. Züge festgestellt. Ich fahre morgen Ebersbach,
Will nach Reutlingen, treffen uns hier in Stuttgart, dann zusammen ab,
ich nach Frankfurt zu Freund Bruhns, dem ich schon depeschiert, er nach
Karlsruhe und morgen von dort nach Etzenrod-Neurod, dann heim nach Cöln.
Reisetage, reich an Sonne, Arbeit, Essen, Trinken.
Auf den Seiten 30 und 31 folgen stichpunktartige Bleistiftnotizen über den Festtag zum Jubiläum der Firma F. W. Brügelmann und Söhne. Da sie größtenteils nicht zu entziffern sind, füge ich den Text zum selben Thema aus den „Erinnerungen“ ein:
Das Firmenfest am 1.7.1920
Lange Monate, ja wohl über ein Jahr lang war gearbeitet
worden an den Vorbereitungen zur Feier des 100jährigen Bestehens der
Firma. Frl. Nettchen Schnorrenberg, die Vorsteherin des Privatsekretariats
von F. Brügelmann hatte mit unendlicher Sorgfalt alle Einzelheiten
vorbereitet und die Sache war auf Anfang Juli festgesetzt worden. . . .
Der Festtag
Morges erhielt ich meine Entlassung aus dem Justizdienst.
Im Gehrock und Zylinder fuhr ich bereits um halb acht Uhr nach Köln,
dort wurde bei Onkel Dietrich nochmals gefrühstückt. Dann versammelte
sich alles beim Registerrichter, wo ich die nötigen Beurkundungen
schon vorbereitet hatte. Ottos Eintritt als Gesellschafter, sowie meine
Prokura wurden angemeldet. Dann ging es in D. B. neuem Auto zur Mühlengasse.
Zu der großen Feier im Gürzenich marschierte ich von dort aus
mit Tante Maria. Es wurden viele Reden geredet und Will begann seine mit
der ewig denkwürdigen Feststellung: „Im Anfang war die Tat.“ (wir
parodierten dies später, indem wir ein Doppelaa einzogen!!) Sogar
die Konkurrenz in Gestalt des Herrn Pröhnen von der Firma Bierbaum
und Pröhnen konnte sich nicht enthalten, auch den Rednerstuhl zu besteigen
und ein Loblied auf seine Firma zu singen, die auch aus der Mühlengasse
stammte. Mein Name wurde auch kurz als der des neuen Prokuristen erwähnt
und ich dankte durch ein einfaches Aufstehen. Zum Mittagessen waren dann
nach wohlüberlegtem Plan die verschiedenen Firmen- und Familienherden
getrennt aufgetrieben worden. Ich als jüngster Prokurist nahm an dem
Spitzenessen an der Münze in Onkel Dietrichs Hause teil. Unter anderem
hielt der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer eine Rede. Helene
und Vater Reitmeister waren mit den meisten anderen Verwandten der Familie
auf einem anderen Essen, das unter dem Vorsitz von Vetter Dr. Max Brügelmann
stattfand. Sie hatten sich natürlich viel besser amüsiert, wenn
wir auch vielleicht das bessere Essen gegessen hatten. Abends fand sich
dann alles Grethi und Plethi in der Festvorstellung im Opernhaus, wo alles
bis auf den letzten Platz in monatelanger mühevoller Arbeit von Nettchen
Schnorrenberg disponiert war. Alles klappte vorzüglich. Und Martin
Remagen hielt mittendrin eine fulminante gereimte Rede von der Bühne
aus. Es war ein würdiger Abschluß des Tages und wir fuhren alle,
wenn auch sehr erschlagen, nachts wieder heim. Ein denkwürdiger Tag.
Was ich von Seite 30/31 entziffern konnte:
Festliches Gewoge in Gürzenich. Zahlr Familie aus allen Himmelsr.
jahrelang nicht gesehen, Familie, freunde bekannt, Wiedersehen, Begrüßungen,
traurige Erinn an die fehlend nächste Verwandte, die seit dem letzten.
Hunderte und aber hunderte füllten ... Eingeweihte konnten beurt.
welche wochenlange Vorb und eingeh. Arbeit, alles zu verteil, Plätze
u.s.w. Gäste, Geschäftsfreunde sämtliche Arbeiter und Angestellte,
Verwandte
Vordere Reihe Seniorchef mit Frau, Oberbürgermeister
Rednerpult Orchester Lorbeeren reichlich Grün aufgeb seitlich
ein mit ... erfülltes Gestell. Wagners Meistervorspiel gab in Feststimmung.
Der Seniorchef, vorher allenthalben begrüßt und allseitig mit
Händedruck bestieg in leuchtend weißen kurzgeschn Haupthaar,
der großen Figur, frisches rosiges Gesicht wohlwoll. Kopf den durch
helle Schnurrbart eine weit leucht. Pointe aufwies. Die Jugendfrische eines
rastlosen Mannes in . . . Gestalt des sechzigers, dem keiner seine Jahre
anzusehen vermochte. Rede, ... die Schwierigkeiten aus d. d. Firma
durch... hat. Hörte: Er, der später d. Firma. bei Tod des Vaters
erst 11 Monate u als damals die Mutter mit 7 Kindern gattenlos ... daß
... die bejahrten Schwestern und Schwäger voll alter Erinnerungen
an die alten Zeiten, die sie in der Familie kennen (?) und sich ihm ...
holte. 3 der Schwestern deckt die kühle Erde und zum Schlusse gab
D. B. bekannt: ... ... ... Herrn D Otto Br. Sohn seines ... Bruders Teilhaber
und Dr. M. R. Schwiegersohn seiner verst. Schwester Helene Reitmeister
als Justiziar und Prokurist nun auch in d Firma tätig.
Stiftung erregten der Entschlüsse offen, Geburtstags... 100 Jahre.
Fhd. bedürftige abwägend. Büste wohlgeformt verrät
seinen Charakter... ... ... Will ... temperamentvolle Rede ... ... ...
Dank für Stiftungen beredter Ausdruck
... ... , die Schläge deutsche Zuversicht, Schicksal ... in schlimmster
Zeit, Vertrauen auf Zukunft ... Sieg.
... ....
Originelle Art die Ansprache eines starken männl ... Kopfes der
seine eigene Firma, Konkurrenz ... Jubiläum ... in ihre örtl
Beziehungen Tripps alter Gesch frd
Elberfeld Reichtum als ...
Seite 31
... Die Familie sammelt sich Hotel D... Mittags ... Dr. Max Br.
Gustav Forstmann, dankte
... ... in der Verteilung nicht wenig Mühe und Kopfzerbrechen
gekostet hat.
Vertreter Stadt Oberb. Reg.Präs. Hand. Präs. II ... ... ...
sämtl m Frau, Sohn und Schwiegersohn alte Angestellt die
Prokuristen ... ... ... alte Garde ... ... ...
zwanglos im Garten. der Himmel strahlte ... ... Gäste sich
verlaufen ... die Familienmitgl gemütl zusammen
Verwandten sich zerstreut. Zeit verging im Flug. Schnell entflogen
die Stunden, kurze Ruhe Zu halber Tag und später Nachmstunde zum Opernhaus.
... ... jetzt besser Gelegenheit als morgens in der weiten R. sich zu treffen:
Manch einen erstmals kennen ... ... fordert die wochen ja monatelange Arbeit
der Seniorchef u sein ... ... jeder hatte seinen richtigen Platz.
Strauß Fledermaus ... Musik. Angeregte Stimmung auf Bühne
und Zuschauerraum innige Kontakte große Gesellsch., wie
anders? 15 Fl gute Sekte ... .... .... Das Fest bei den Pausen in der Oper
Gelegenheit zu fast unerschöpfl... ... Gesangsvortrag ... ... ...
Remagen launiges langes Gedicht voll behagl breite Humor in köln Mundart,
die der Dichter sich Zeit nahm ... .... .... durch ein erfrischendes Gals
Sekt... ... ... .... großer Beifall
Erst gegen Mitternacht die letzten Gäste nach Hause... ... ...
Es war ein ... Fest. Kein Mißton, irgend getrübt ... ... ...
bis zum letzten Arbeiter alle in ... Festen sich abgespielt. Jeder wird
es in ... ... ... sich als leuchtender Tag von der dunklen Farbe unseres
politisch Vaterlandes abhob. ... ... ...
(Ein Ausschnitt aus der Kölnischen Zeitung ist eingeklebt.)
Seite 32
Gasthof Menn Helberhausen bei Hilchenbach
Dienstag, den 24. August 1920. Seit 2 Wochen sind wir hier bei Frl.
Ida Menn und ihren Eltern in der Sommerfrische mit Frau und Kindern. Abgesehen
von den letzten Regentagen hatten wir herrliches Wetter hier, die Kinder
sind ganz glücklich, gehen nicht viel mit uns heraus, sondern treiben
sich noch lieber ums Haus, in der Wiesenkoppel und im benachbarten Feld
herum, machen gelegentlich Fahrten auf den Erntefuhrwerken u.s.w. Mariannchen
war ja 1918 einmal mit ihrer Frl. Ida auf etliche Wochen hier, als wir
mit Herta in Alsfeld in Oberhessen waren. Dazu haben wir in der Familie
eines jetzt in Siegen (ehedem in Metz) wohnenden Oberingenieurs Palm sehr
angenehme Mitgäste, mit deren Kindern unsere sich gut verstehen und
viel beschäftigen. Herrliche Waldungen mit reichlichen Beerenfrüchten
und Haselnüssen geben famose Spaziergänge und Wanderungen. Den
ersten Sonntag machten wir mit Familie Menn zusammen einen Ausflug „auf
den Riemen“ auf der Höhe des Rothaargebirges, wo Kaffee abgekocht
wurde. Ella Wurmbach geb. Cobet besuchte uns einmal von Siegen aus; etliche
Tage vorher hatten wir einen großen Kranz aus prächtig blühendem
Heidekraut gewunden und an das Grab ihrer Schwester Paula Pflugstadt gebracht.
Mal- und Zeichensachen, die wir vergessen hatten, ließen
wir uns von Bonn mit Postpaket nachschicken und so fertigten wir manche
Skizze von den schönen Fachwerkhäusern hier, die meist von einer
Wiesenkoppel umsäumt und von etlichen hohen Eschen beschattet sind.
So denken wir selbst in Regentagen nie daran, Langeweile zu haben. Dazu
ist das Gasthaus recht geräumig, die Kinder haben ein 4fenstriges
großes, wir haben ein einfenstriges kleineres Zimmer. Auf dem 1.
Stock steht uns ein großer luftiger Saal als Aufenthaltsort zur Verfügung,
auf dem ich eben mit Helene sitze und schreibe, während das langsam
sich aufklärende Wetter seinen hellen Tagesschein durch die großen
Fenster hineinwirft. Zur Erhöhung des Behagens habe ich vom großen
Speicher etwas Reisig und Holz geholt und damit den großen eisernen
Ofen angestocht, so daß wir eine angenehme Erwärmung verspüren.
Die Sonne ist nämlich noch ein wenig wässerig nach 3 - 4 Tagen
fast unausgesetzter Regengüsse. Unsere reichlichen häufigen und
pünktlichen Mahlzeiten nehmen wir unten in der hellen und luftigen
Wirtsstube ein, seltener dahinter in einer kleinen Wohnstube, die ein eiserner
Ofen zugleich einheizt. Die Kinder haben dort auch meist ihren vergnüglichen
Aufenthalt bei trübem Wetter. Flur unten und oben sind zudem reichlich
breit und lang, so daß sie allenthalben Raum genug haben, sich hinreichend
auszutoben. In Frl. Ida haben unsere noch ihren besonderen Anhaltspunkt,
da sie diese als ihre 2. Mutter bezeichnen. Der Aufenthalt ist uns daher
in der ländlichen Stille und Einsamkeit in allen Stücken recht
bekömmlich und angenehm und wenn wir auch das elektrische Licht sehr
vermissen und abends mit der Kerze – also genau so wie daheim in Bonn –
zu Bett gehen müssen, so ist es desto gemütlicher, alle miteinander
abends nach Tisch, wenn die Kinder zu Bett gebracht sind, um eine Petroleumlampe
herumzusitzen und wie gestern dazu, das flackernde Holzfeuer aus der offenen
Ofentüre mitzugenießen. Natürlich wurden in den letzten
Regentagen eine Menge
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alter Briefschulden abgetragen, doch kann ich mich erst langsam dazu
entschließen, diese Hauschronik ein wenig beizuschreiben, die seit
dem Frühjahr erhebliche Lücken aufweist. Lieber noch mache ich
mit Bleifeder, bunten Farbstiften und etwas Wasserfarben Skizzen von den
erfreulichen Häusergruppen, die wir aus fast allen Fenstern des Gasthauses
ringsum sehen und beobachten können. Die Bauweise ist hier noch vollkommen
ländlich und durch keinerlei schädlichen Stadteinfluß verschlechtert
oder verhäßlicht. Das sehr ornamental wirkende vielfältige
Balkenwerk an den Häusern, meist sauber gestrichen und in dunklen
Farben gegen die hellgekalkten Füllungen abgesetzt reizt besonders
meine geringe rein auf Zeichnerische angelegte Fähigkeit.
Die kurze Zeit meiner Tätigkeit in der Kölner
Firma brachte mir eine solche Fülle der Eindrücke, daß
ich diese bis heute noch nicht recht verarbeiten und verdauen, geschweige
den auf dem Papiere wiedergeben konnte. Jeder Tag bringt dort etwas Neues
und Überraschendes, so daß die hiesige Stille erst recht zu
gründlichem Faulenzen anregt. Schließlich werde ich mir aber
doch einen Packen der Kölner Eindrücke von der Seele schreiben
müssen, um wieder innerlich ganz frei zu werden.
25. August 20. Die angenehme Familie Palen brachten wir
heute nach Hilchenbach zur Bahn. Nach der Heimkehr erwartete uns dort die
Todesanzeige von Paul Thanisch. Er + 21.VIII.20 in Todtmoos im Schwarzwald
und wurde gestern schon in Bernkastel begraben. Da ich ihm einiges verdanke,
so werde ich noch einmal auf ihn mit einer gedrängten Übersicht
seines Lebens und Wesens zurückkommen müssen, zumal er ein bezeichnender
Typ und sein Tod ein Schritt weiter in dem unaufhörlichen Verfall
der männlichen Linie seiner Familie darstellt. Wir schrieben seiner
Frau und seiner Mutter einen Kondolenzbrief und erledigten noch sonst eine
Reihe Schreibwerk, wobei uns das Wetter nach Kräften begünstigte,
denn es regnete seit Mittag ununterbrochen bis in den Abend hinein, so
daß der Morgenmarsch nach Hilchenbach sich als sehr ersprießlich
erwies. Unserem guten Zugreifen bei den Mahlzeiten aber tat das Wetter
jedenfalls gar keinen Abbruch. Freund Bruhns, mit dem ich mich seit seinem
Besuche bei uns in Bonn (2. - 6. August 20) duze, erhielt Antwort auf allerlei
Rechts- Geschäfts- und Steuerfragen. Für Vetter Will schrieb
ich einen Brief an dessen Ex-Plan-Baumeister, Freund Sondag erhielt eine
ausführliche Karte u.s.f. Bis auf 2 Briefumschläge sind alle
verschrieben, sa daß ich demnächst auf Karten beschränken
muß. Eine Füllfeder, die ich mir vor der Abreise in die Sommerfrische
in Köln für den ansehnlichen Preis von 200 (von 250 auf 200 heruntergehandelt!)
kaufte, leistet jetzt ganz ausgezeichnete Dienste. Mit ihr läßt
sich geradezu im Eiltempo auf dem Papiere marschieren. Eben sitzen Helene
und ich nach dem vorzüglichen Abendbrot (die Kinder sind mit Frl.
Idas Hilfe zu Bett gebracht) um die Steinöllampe in der Wirtsstube
am eschenen Tisch mit unserem Gastwirt, der die Zeitung liest und seine
kurze Pfeife dabei schmaucht. In dem großen eisernen Ofen bullert
leise ein behagliches Feuer von Eichenknüpppelstücken aus dem
Hauberg. Nur die Uhr tickt leise und fern aus der Küche ist leises
Geräusch und einzelnes Gespräch zu hören, sonst nur das
gelegentliche Summen einer trägen Stubenfliege. Die ganze Situation
ist recht behaglich trotz des Krieges in Polen und der drohenden Haltung
unserer französischen Bedrücker in den Rheinlanden. –
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Eduard Menn, unser Gastwirt ist ein hervorragender Typ
des Siegerländer Hochlandbauern. Er versteht das Schreinerhandwerk,
betreibt seine Landwirtschaft, Gastwirtschaft und Warengeschäft. Dazu
ist er ein Hauptgenosse in der hiesigen Haubergsgenossenschaft, Herr des
größten und geräumigsten Hauses in Helberhausen und stammt
aus einem 1804 aus schwerem Eichengebälk (aus den Wäldern des
Stiftes Keppel) erbauten Vaterhause, das nach seiner Angabe wohl eines
der größten oder das größte Bauernhaus aus dem ganzen
Amt Stift Keppel ist und das will schon allerhand heißen. Seine Brüder
besitzen eine in der Familie vererbte Schwarzpulvermühle. Die Familie
ist weitverzweigt, Helberhausen und Hilchenbach sind voller Brüder,
Oheime, Vettern, Schwäger der hiesigen, da hat es Müller, Gastwirte,
Kaufleute und größere Bauern unter ihnen. Die älteste Tochter
ist die Frau eines recht klugen und sympatischen Drogenhändlers Scheib
in Hilchenbach, mit dessen beiden Kindern Werner und Ilse Mariannchen schon
von früher bekannt und befreundet ist. Der jüngste Sohn ist angehender
Landwirt, der nächste arbeitet hier beim Vater, desgleichen 2 Töchter,
ein weiterer ist Kaufmann in Hamburg u.s.w. Der Vater ist einer von jetzt
noch lebenden 6 Brüdern, deren früher 11! waren, die von einer
frommen Mutter gut erzogen worden sind und es allenthalben im Leben zu
etwas gebracht haben. – Herta und Mariannchen haben den Wunsch, stets hier
in Helberhausen zu bleiben. Wenn das Regenwetter, wie es den Anschein hat,
sich noch länger ausdehnen sollte, würde es den Eltern schwer
werden, die vorgesehenen Ferienwochen hier zu verbringen, trotz aller Annehmlichkeit.
Der Pensionspreis ist zwar für heutige Verhältnisse sehr bescheiden,
beträgt aber immerhin 20 M pro Erwachsene und 14 M pro Kind, also
68 M pro Tag. Dazu möchte man dann gerne etwas Sonne haben.
Die Seiten 37 bis 40 sind eingeklebte Blätter mit dem Datum vom
9.1.1921 und folgen in der zeitlichen Reihe.
Seite 41
Helberhausen, 26. August 1920. Seit Mitte April fahre ich nun fast
täglich nach Köln, ich habe mich schneller und besser daran gewöhnt,
als ich gedacht hätte. Freilich fahre ich stets II. Klasse und habe
den Unterschied in der Bequemlichkeit gegen III. Kl. Anfang August gründlich
kennen gelernt, wo ich 8 Tage III. fuhr, da ich der Ferien wegen keine
Monatskarte nahm, andererseits durch Mariannchens Masernerkrankung in Ungewißheit
war, ob wir rechtzeitig in die Sommerfrische würden abreisen können.
Freund Bruhns, der in jenen Tagen bei uns zu Besuch weilte – er schlief
bei mir im großen Schlafzimmer, Helene derweil bei den Kindern im
unbesetzten Bette des Fräuleins – fuhr etliche Male mit nach Köln
und machte dort kunsthistorische Studien. Er aß einmal mittags mit
mir in der Firma und lernte so auch einen Teil der Geschäftsräume
kennen. – Montag, so hat sich der Brauch herausgebildet, esse ich bei Tante
Maria mittags zu Tisch, Mittwochs bei Onkel Dietrich. Die übrigen
Tage in der Firma. Zudem wird daheim gut gekocht, das alte Frl. Emons,
die von Papa her in unserer Küche blieb, und sich dort an einer Art
Gnadenbrot kugelrund nährt, versteht es nämlich gut und fett
zu kochen. Helene muß ihr stets äußerst sparsam von den
unter Verschluß befindlichen Vorräten herausgeben, so hat sie,
wie ein kleines Kind gleich alles an den beiden nächsten Mahlzeiten
verpulvert.
Aus der Firma: Alles darin zeichnet sich durch eine außergewöhnliche
Beweglichkeit und eine hohe Fähigkeit, sich veränderten Umständen
sofort anzupassen. In dies geradezu wilde Verkaufsgeschäft,
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bei welchem die Preise stets emporgeschnellt waren, schlug etwa mitte
April der „Käuferstreik“ d.h. der große Rückschlag auf
allen wirtschaftlichen Gebieten, der sofort riesige Preisstürze von
einer früher kaum gekannten Heftigkeit mit sich brachte. „Als Pleitegeier“
trat ich daher gerade zur rechten Zeit ein und ich hatte bald damit zu
tun, völlig festgefahrene Abnehmer zu verarzten. Daneben aber liefen
damals stets noch die Pläne, die Deutzer Fabrik von den Engländern
frei zu bekommen oder ein passendes sonstiges Fabrikgebäude für
die Strumpfstrickerei zu kaufen oder zu mieten. Der letztere Plan führte
zu etlichen recht interessanten weiten Ausfahrten mit dem Auto tief ins
Bergische Land, an denen ich mit Werner und Papst teilnahm. Ich sah da
viel neues und prächtige Landschaften. Leider – vielleicht nach der
heutigen Marktlage auch gottlob – führten diese Bemühungen zu
nichts. Für einen mit mäßiger Wasserkraft arbeitenden Fabrikbau
in Bruchermühle bei Engelskirchen forderte der Besitzer Hartmann eine
runde Million (wir hatten nur 250 - 300000 M gedacht), worüber wir
noch rundere Augen machten und in strömendem Regen wieder abfuhren.
Heute wird die Meinung in der Firma eifrig verfochten, daß es besser
sei, die in Sachsen lagernden sehr wertvollen Maschinen entweder als Beteiligung
in eine Gesellschaft einzubringen oder zu verkaufen und das Geld in Reserve
zu stellen für spätere Inbetriebsetzung der Deutzer Fabrik u.s.w.
Nur besteht nach wie vor die Schwierigkeit in der Herbeischaffung genügender
Mengen fertiggestrickter Strumpf- ect. -waren, wobei man nicht völlig
den Großfabrikanten ausgeliefert sein möchte. Mit den z. Zt.
noch laufenden Lohnstrickereiabmachungen (Loope, Leer ect.) macht man nicht
eben die erfreulichsten Erfahrungen. Zudem liegt dem Hause der s. Zt. dem
Hartmann wegengagierte Strickereimeister Lingemann als fast überflüssiger
Mann auf dem Nacken, der sich auch wohl gern selbständig machen würde.
Ob aus alledem sich vielleicht die von Will jr. bereits angeschnittene
Möglichkeit ergiebt, in der Herseler Fabrik eine solche Strickerei
zu begründen und damit Willi einen Verdienst zu schaffen, steht noch
dahin. (Inzwischen haben die Söhne Stursberg aus London an Papa geschrieben,
daß sie das Geschäft von ihrem Vater übernommen hätten;
sie fragen an, ob weiterfabriziert würde und ob sie Leisten beziehen
könnten. Das wird dem Schwager Willi Wasser auf die Mühle geben,
der ja dort am liebsten Leisten auf Papas Risiko fabrizieren würde.
Es wird das noch allerlei Auseinandersetzungen im Laufe des nächsten
Monats geben.) ––
Strumpfdiebstahl. Im Kölner Geschäftshaus muß
trotz aller Kontrolle fortlaufend und nicht in geringen Mengen Ware gestohlen
werden. Verschiedene Fälle sind in letzter Zeit uns angezeigt und
dann meist von Papst alsbald entdeckt worden. Dann gab es jedesmal Arbeit
auch für mich. Der letzte Fall kurz vor den Ferien war ein besonders
toller: Die jüngsten Lehrmädchen im Laden
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entdecken die Sache, indem sie beobachten, daß eine bereits seit
10 Jahren im Ladendienst stehende Angestellte sich morgens kurz nach Geschäftsbeginn
auffallend viel Strümpfe in ihre Abteilung vom Lager schaffen läßt.
Einmal ist sie so unvorsichtig, ihnen dabei zu sagen, sie möchten
nichts davon Frl. Freundgen (eine der Ladenvorsteherinnen) sagen; hierauf
meldeten die jungen dies dem Prokuristen Papst, der sich die Verkäuferin
gegen den schützenden Protest der Frl. Schnorrenberg (im Laden) herausholt
und bald ist das Verhör im Gange, wobei dann zunächst der Seniorchef
sein Heil versucht, bald aber alles dem Justitiar, d. h. mir überlassen
wird. Das Mädchen benimmt sich seltsam, halb verstockt, halb wie irrsinnig.
Jedenfalls bekommen Papst und ich soviel aus ihr heraus, daß ihr
Bräutigam sie dazu angestiftet hat, Bestellungen von einem Kunden
in Buir zu fingieren, die Waren, von denen noch kaum 10 % bezahlt wurden,
ließ er durch einen an der Sache unbeteiligten Jungen bei der Firma
abholen. Das Weitere spielte sich ähnlich wie ein Film ab: Besprechung
mit einem zufällig im Hause anwesenden städtischen Beamten, der
mit im Auto zum Polizeipräsidium fährt und dort seinen Einfluß
dahin geltend macht, daß wir einen Kriminalbeamten (– diese sind
heute sehr gesucht und ungemein rar, die Kriminalität übersteigt
alle Begriffe –) mitbekommen, weite Fahrt nach draußen an verschiedene
Außenbahnhöfen – einer davon ganz von den Briten besetzt – bis
wir schließlich am richtigen landen und den Bräutigam dort verhaften
können, mit ihm – einem ehedem auch im Hause bediensteten Moll, leider
ein Vetter unseres besten Reisenden – zum Polizeipräsidium zurück,
er gesteht ziemlich zynisch und und ruhig das wesentliche ein. Daß
wir bereits Unterlagen dafür haben, daß die Srumpfentwendungen
auf rund 100000 M mindestens geht, weiß er vorab noch nicht. Dann
wieder mit Auto in Vorstadt zur Wohnung des Bräutigams, dort Türe
verschlossen, Mutter ein freches Kölner Weib, weigert den Eintritt
unter allerlei Vorwänden: sie sei – um 12 Uhr mittags! – am baden
u.s.w. Unsere Geduld ist bald am Ende, der „Kriminal“ drückt die Türe
ein, die leichte Schloßbüchse fliegt im Nu aus der Verbindung
und wir sind in einem wahren Hehlernest. Alle Möbel, Betten, Schränke,
Nachtskommödchen quellen über von Strümpfen. Papst schleppt
sie ballenweise zum Auto, ich lasse bald den Fahrer Christian dies besorgen
und halte selbst am Wagen Wache, nachdem wir die ganze Wohnung genau durchsucht
haben. Für ca 17 - 18000 M aus der Firma stammende Strumpfwaren werden
später in der Mühlengasse rekognosziert. Das Ladenmädchen
war mittlerweile in der Mühlengasse festgesetzt worden, da es Mittag
ist, erhält D. B. von mir kurzen Telefonbescheid, Papst und ich gehen
mit dem Kriminal ins Weinrestaurant Bleisch gut zu Mittag essen, wobei
uns eine Flasche Bacharacher mundet, der Spaß kostet insgesamt einige
70 M. (Nb. Dem Bräutigam hatten wir morgens schon 15000 M abgenommen,
eine ihm von seiner Braut geschenkte Uhr, die 1300 M gekostet hatte und
andere Sachen beschlagnahmt) Die Angestellte übereignete ihre für
den künftigen Haushalt schon angeschafften Schlafzimmer und Küchenmöbel,
die nachmittags 4 Packer mit Auto abholten. Dann Autofahrt nach Mülheim,
dort bei den Eltern des Mädchens, peinlich sauberer Haushalt in ansprechendem
Kleinbürgerhause, Schuster, sehr gute Leute. Ganz betroffen. Sachen
des Mädchens durchgemustert, wiederum Strümpfe, diesmal auch
Herrensocken, neue lederne Handschuhe u.s.w. mitgenommen. Dto. Mutter und
Schwester, um auf die Verstockte einzuwirken. Im Hause wieder große
Vernehmungen. Schließlich wird das Mädchen in Haft abgeführt
und der Laden, „der heilige Laden“, bekommt vom Seniorchef sein Teil abgekanzelt,
während jedes der jungen Lehrmädchen für ihre Tüchtigkeit
im Aufdecken je 100 M Belohnung erhalten. Ein Sparbuch des Mädchens,
zertiert (?) wird auch noch einige 1500 M bringen, alles in allem ca 8
- 10000 M Deckung gegen welchen Verlust? 100000 M mindestens! Dies alles
spielte sich an einem Tage ab. Der Kriminal (erhielt [in Stenografie codiert]
M) beteuerte, daß er weiter alles im Interesse der Firma aufklären
werde. Tags darauf hörten wir, daß das Mädchen vom Richter
haftentlassen sei. ––
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Diebstahl Süper. Einige Zeit zuvor hatten wir einen
Packer (Süper) des Diebstahls überführen können, den
dieser ausführte, um sein Verhältnis zu bezahlen, bei dem er
statt bei seiner Frau wohnte. Die von Papst und mir hierin persönlich
angestellten Nachforschungen ergaben unerfreuliche Einblicke in z. T. recht
böse städtische Verhältnisse. Es herrscht eine starke Sittenverderbnis,
Verrohung und bedenklicher Mangel an Unterscheidung von Mein und Dein.
Alle dunklen Seiten des Schiebehandels zeigen sich einem da. Das Weib,
mit dem dieser gutmütige Packer Süper zusammenwohnte, war eine
ganz schlimme Person und eine wirklich bemitleidenswerte Gymnasiallehrersfamilie
mußte über diesen Leuten wohnen, ein Beispiel der erschrecklichen
Wohnungsnot. Von dieser Lehrersfrau erhielten wir die besten Aufschlüssen,
so daß wir daheim in der Firma dem Packer seine Diebstähle auf
den Kopf zusagen konnten und er auch sofort eingestand. Er wurde von einem
„Uniformierten“ d. h. einem Polizeibeamten, in Haft geführt, schrieb
von dort aus später an den Seniorchef so jämmerliche Briefe,
daß dessen Herz gerührt wurde und ich bei der Staatsanwaltschaft
seine Freilassung befürwortete, falls den Verdunklungsversuchen jener
Witwe Rötgen (Heinrichstr, 1), so hieß die schlimme Person,
genügend vorgebeugt wäre. Wir erhielten später die Nachricht,
daß er gegen Sicherheitsleistung aus der Haft entlassen sei. –
Steuern und kein Ende. Die letzten Wochen vergeht
kaum ein Tag, daß nicht irgend eine Steuerzuschrift einläuft,
bald verlangt die Stadt Köln außer dem 5. und 6. Quartal pro
1919 noch 30 % Nachschuß, bald die Kirchengemeinde einen Vorschuß,
bald ist eine „vorläufige“ Reichseinkommensteuer zu bezahlen u.s.w.
kurz es hält sich einfach dran. Allerdings habe ich außer für
die Firma die Steuer für deren Inhaber und die sonstigen nächsten
Verwandten zu bearbeiten. Auch beginnen schon die Beanstandungen der großen
Vermögensteuererklärung; für die Vermögenszuwachserklärung
von Konrad Fulda war ich schon einmal in Arnsberg, Onkel Oskar aus Krefeld
kommt nächstens in Steuersachen nach Köln, Onkel Gustav konsultiert
mich in Bonn, eine mehrtägige Anwesenheit meines Freundes Leo Bruhns
anfang August hatte ich vornehmlich dessen Steuersorgen zu verdanken, Onkel
Dietrich wird von Leuten angegangen und weist sie an seinen Justitiarius,
Freund Sondag sandte in Schreiben aus seiner Sommerfrische in Beuron gleich
Karte mit, in der ich seiner Bonner Cusine Steuerberatungstermin mitzuteilen;
Papas Erklärungen zum Reichsnotopfer habe ich kurz vor der Abreise
nach hier erledigt, desgleichen meine eigene und die von meiner Mutter,
nicht minder Josef seine. Wie man sieht, an Steuersachen ist kein Mangel.
Der Himmel weiß, wann das einmal ein Ende nehmen wird. Gerade für
die Bearbeitung der Steuersachen hatten die Kölner Verwandten eine
auch nach der persönlichen Vertrauensseite hin unbedingt zuverlässigen
Mann tunlichst aus der Verwandtschaft nötig und deshalb wohl zuerst
die Veranlassung, sich dieserhalb an mich zu wenden. Onkel Dietrich hat
mit seinem bewundernswerten Organisations- und Ordnungssinn die Steuerakten
der sämtlichen Familienmitglieder (Dietrich - Werner - Kurt - Elli
- Frau Wilhelm sen. - Wilhelm jun. - Dr. Max - Dr. Otto - Grete) in ein
System gebracht, laufende und Vermögensabgaben getrennt. Die fälligen
Steuern werden vom Geschäft aus meist durch rote Überweisungsschecks
auf die Reichsbank bezahlt und auf dem Verzehrskonto der einzelnen Zensiten
im Geheimbuch verbucht. Die Technik dieser Zahlung und Buchung – Prokurist
Funkenhaus schreibt die Schecks aus, ohne zu wissen für wen, ist mir
allmählich aufgegangen, so daß ich es nunmehr auch selbst kann.
– Zur Zeit mache ich hier in Helberhausen an trüben Regentagen kümmerliche
Versuche, ein wenig in die Technik der doppelten Buchführung zu dringen.
––
Reisen: Während ich in den Kriegsjahren in Bernkastel
und in den Revolutionsjahren in Rheinbach kaum irgendwie nennenswert vom
Wohnort oder von Bonn weggekommen bin, brachte mich gleich der Beginn meiner
Tätigkeit in Köln auf weite Strecken ins unbesetzte deutsche
Vaterland. Der Leipziger Reise habe ich auf
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diesen Blättern schon ausführlich gedacht. Im Juni, als ich
immer noch keinen die Urlaubsablehnung abändernden Bescheid vom Justizministerium
bekam, reiste ich mit Prokurist Papst mal nach Berlin, der dort eine Reihe
Verbandsitzungen mitzumachen hatte, an denen ich ebenfalls dort teilnahm.
Die Art und der Zweck der Reise waren z. T. etwas völlig Neues für
mich: Am 15. Juli fuhr ich abends 830 mit Papst ab Köln per D-Zug
im Schlafwagen, unterhielt mich im Flur kurze Zeit mit Prof. Dr. Flechtheim,
jetzt in Berlin, im Abteil noch länger sehr angeregt mit Papst; schlief
erstmals in solchem Schlafwagen und war, wenn ich auch nicht die ganze
Nacht fest durchgeschlafen hatte, anderen Morgens recht frisch, als wir
durch die sonnige Frühmorgenlandschaft der märkischen Ebene sausten.
700 Uhr morgens waren wir schon am Zoo, die Untergrundbahn war noch wenig
besetzt, wir nahmen Zimmer im Hotel Fürstenhof, ich rief mit Fernsprecher
von dort gleich den Abgeordneten Carl Trimborn an, der mich nach dem Frühstück
zum Reichstag bestellte, wo ich ihn auch traf, als er gerade das neue Kabinett
zu bilden begann. Einen Ministerposten bot er mir aber trotz dieser schönen
Gelegenheit nicht an. Er schrieb mir schließlich eine sehr befürwortende
Karte an seinen Freund, den Justizminister Amzehnhoff, im Justizministerium
erhielt ich daraufhin den Bescheid, daß ich den Minister andern Tags
schon recht früh sprechen könne. Im Hotel Kaiserpalast machte
ich dann mit Papst eine Sitzung des Generalverbandes mit, in der viel geredet
und wenig Einigkeit bekundet wurde. Es waren da ganze markante Köpfe
aus Kaufmannskreisen zu sehen. Ich lernte Arthur König, den jüngsten
Bruder von Tante Maria, Herrn Böhmer von der Firma Braubach &
Co, einen trefflichen Herrn Cordes aus Hagen und andere mehr kennen. Bei
Mitscher aßen wir bei guter Flasche trefflich zu Mittag und ich machte
bei und trotz großer Hitze einen vergeblichen Marsch zum Museum,
die sämtlich um 3 Uhr bereits geschlossen sind, eine treffliche Beleuchtung
der Phrase „die Kunst fürs Volk“. Denn jetzt hat der Arbeiter von
4 Uhr Zeit, sich Museen zu besehen, aber sie sind geschlossen. Denn die
Museumsaufseher haben – auch 8Stundentag. Das Schloß war z. T. eingerüstet,
vermutlich um die Schäden der unsinnigen Schießerei beim letzten
Spartakisten- und Marinebrigaderummel zu flicken. Nachmittags war ich denn
mit Papst nochmals im Bristol zu einer Sitzung, fungierte später als
juristischer Berater bei einer Nebensitzung unter Müller-Crefeld,
die anscheinend den bestehenden Trikotagenverband sprengen werden. Abends
aber aßen Pabst und ich im Fürstenhotel wahrhaft „fürstlich“
zu Abend. (Nb. Die Reise, die natürlich auf Kosten der Firma ging,
kostete allerlei: allein die Reisefahrkarten I. Kl. + Schlafwagen hin und
her für 2 Personen ca 1500 M!) Vergleichsstück: der Sommerferienaufenthalt
hier in Helberhausen mit Helene und 2 Kindern kostet, abgesehen von Fahrkarten
und Nebenausgaben für 3 ½ Wochen 1700 M).
Am Donnerstag, den 17.6. hatte ich dann morgens von 8
- ca 9 ½ Uhr eine denkwürdige Unterredung mit dem derzeitigen
preußischen Justizminister, Herrn JR Amzehnhoff, einem Rechtsanwalt
aus Düsseldorf.
(Fortsetzung Helberhausen 31.8.20. bei Regen) Als ich
schon vor 8 Uhr kam, berichtete der Diener, Minister seien noch am Kaffeetrinken.
Ich bat, ihn solange in Ruhe zu lassen. Er empfing mich erst mit etwas
ärgerlichen Redensarten und versuchte auch, über einen Brief
von Julius Trimborn, der recht burschikose Ausdrücke enthielt, sich
ein wenig aufzuregen (der Brief war übrigens nur an Carl Trimborn
gerichtet) doch beruhigte er sich bald, als er sah, daß ich mich
mit jenem Briefe nicht identifizierte. Bald unterhielten wir uns aufs beste.
Um den Urlaub gingen wir beide mit äußerster Zähigkeit
herum, nach langem Hin- und Herzerren wollte er mir 3 - 4 Monate
Urlaub für den Winter in Aussicht stellen. Der ihm in seinen Ursachen
ebenfalls nicht völlig erklärliche Richtermangel ließ,
wie er mir darlegte, eine andere Möglichkeit nicht zu, zumal man bereits
einem Staatsanwalt, der in der Verwaltung bereits zum Regierungsrat ernannt
war, unter Berufung auf eine Bestimmung des Allgemeinen Preußischen
Landrechts die Entlassung versagt hatte. Er meinte übrigens ganz trocken,
ich brauche doch nur 3 - 4 Tage nach Rheinbach zu fahren, die übrigen
Tage stehe nichts im Wege, daß ich „privatim“ den Justitiar in Köln
machte. Ich war doch ordentlich überrascht und erstaunt, aus dem Munde
des höchsten
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preußischen Justizbeamten einen solchen Vorschlag zu hören,
wie ihn mir Julius Trimborn etliche Wochen zuvor in Köln halb scherzweise
mit den Worten gemacht hatte: Na, das schmeißen Sie doch mit Leichtigkeit:
3 Tage in der Woche nach Rheinbach als Amtsrichter, 3 Tage nach Köln
als Justitiar! – Ich erklärte recht deutlich und ausdrücklich,
daß mir das entschieden contre coeur ginge. Im übrigen behielt
Carl Trimborn recht, der mir vorhergesagt hatte, wenn der Minister meine
rheinische Sprechweise höre, werde er schon gemütlich mit mir
verhandeln. Dem war in der Tat so. Er erkundigte sich des genaueren nach
der Firma, deren Geschäftshaus, den Bedingungen unseres Vertrages,
gab mir eine Reihe guter Ratschläge hierzu so daß ich von seiner
wahrhaft väterlichen Fürsorge geradezu gerührt wurde und
ihm dies auch zum Schlusse dankbarlichst versicherte. Zwischendurch hatte
er, als die Sprache darauf kam, auch mit Fernsprecher festgestellt, daß
ich – wie alle Amtsrichter – Amtsgerichtsrat geworden sei. Wir kamen überein,
daß mir bereits zum 1. Juli 1920 der Abschied bewilligt werden sollte,
ich sollte eine Eingabe um nochmaligen Urlaub auf 1 Jahr (– die erste Eingabe
war mir bereits offiziell aus dem J.M. abgeschlagen worden) und falls dieser
nicht bewilligt werden könnte, um Entlassung, „wenn auch blutenden
Herzens“ einreichen. Der Minister gab mir wiederholt den Rat, ich sollte
schreiben „wenn auch blutenden Herzens“. Ich schrieb aber doch nur „wenn
auch schweren Herzens“ – das „blutende“ hätte mich zu leicht dazu
verführen können, auf den Rand ein blutendes Herze hinzumalen.
Wir schieden mit Händedruck und dem Gefühle gegenseitiger Hochachtung
voneinander, ich mußte mir gestehen, daß der etwas kurzatmige
dicke Herr mit den klugen grauen Augen (ein Junggeselle mit schmalen Händen)
schließlich doch ein ganz erträglicher Vertreter der herrschenden
Demokratie sei, jedenfalls ein Mann von Herz und Verstand. ––
Er hatte mir bereits verraten, daß die derzeit in
Bonn erledigte Notarstelle Richter in Dormagen und die Richterstelle (des
verbrauchten Geheimrat Riefenstahl) ein AGR Klostermann bekommen würde.
Ich sollte jedoch ausdrücklich erklären, daß ich später
hoffte, in die Justiz zurückkehren zu können. In der Tat erhielt
ich am 1. Juli mit dem Entlassungsschreiben ein offizielles Begleitschreiben,
in dem mir für den Fall einer späteren Bewerbung um eine Richter-
oder Notarstelle eine wohlwollende Behandlung zugesagt wurde.
Ich ging, da ich nun wußte, was ich zu tun hatte,
mit dem Bewußtsein weg, mit 40 Jahren einen völlig neuen Abschnitt
meines Lebens zu beginnen, zum Museum, wo ich richtig die wundervolle archaische
Göttin entdeckte, eine hehre Marmorbildsäule, mit der ich mich
¾ Stunde allein in aller Andacht und Liebe unterhielt. Das leise
und liebliche Lächeln auf dem reinen Antlitz ist über alle Beschreibung
erquickend. Der schwere Marmorblock, eine griechische Originalarbeit aus
der Zeit etwa des Äginetenfrieses – aber voll von süßer
junger Reife, wurde während des gewaltigen Krieges in Paris erworben
und über die Schweiz nach Berlin gebracht! – Barbaren? Huns? Wer lacht
da nicht? –
In der Handelskammer traf ich Papst und ging auf seinen
Rat zunächst zur Hartmannstraße, wo der Reichskommissar für
Ein- und Ausfuhr sitzt. Wir hatten dort einige Beschlagnahmefälle
schweben. Nachdem ich längere Zeit in einem schmalen Flur mit anderen
Leidensgenossen gewartet hatte, gelang es mir, mich einzuschmuggeln, nachdem
ich dem Diener meine Karte verzapft und denselben veranlaßt hatte,
unsere Akten herauszuholen. Es war ein unaufhörliches Türenklappen
dort, ein wahres
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Zerrbild auf die Folgen und Reste des Krieges. Überorganisation.
Es kam mir dort so recht zu Bewußtsein, daß zur Erhaltung dieser
schädlichen kostspieligen und überflüssigen Verkehrshemmungsbehörden
in 1. Linie das Interesse der dabei beschäftigten Beamten um ihr Brot
ausschlaggebend ist. Ein tolles Durcheinander von kriegsbeschädigten,
ehemaligen Offizieren, Judenbengels, Tippmamsells u.s.w. Nachdem wir dann
noch in einem düstern grau-grünen Saale der Handelskammer bis
gegen 5 Uhr uns in einer fast ergebnislosen Verbandssitzung gelangweilt
hatten, marschierten wir in geschlossener „Rheinländergruppe“ in ein
„Schlemmer“lokal Töpfer, wo wir vorzüglich aßen. Cordes
und ich waren voraufgegangen und hatten bestellt. Trotz großer Hitze
fanden wir gegen Abend noch eben Zeit eine Stunde bei Wertheim mit kaufmannskundigen
Augen uns umzusehen, wobei ich Papst auf den Teppichraum, den ihm noch
nicht bekannten vielleicht schönsten deutschen Verkaufsraum aufmerksam
machen konnte. Wir berechneten, daß allein darin aufgestapelten Waren
sich nach heutigem Preissturz eine Million Verlust ergeben müssen.
Nachdem wir unser Gepäck zum Bahnhof Zoo gebracht und uns dort auf
eine Terrasse an einem Glase Bier erquickt hatten, fuhren wir nach dem
Lunapark hinaus, einem tollen Rummelgarten. Dort trafen wir die anderen
Rheinländer, aßen gut zu Abend und feierten meinen Amtsgerichtsrat
mit einem Böwlchen in Erinnerung daran, daß ich 1906 zuletzt
in Berlin gewesen und dort den Assessor bei Kempinski mit etlichen Bekannten
im Dez. gefeiert hatte. Um 11 Uhr nachts stiegen wir in unseren Schlafwagen
am Zoo und ich schlief diesmal fest bis nach Düsseldorf und träumte
von dem Berlin, daß ich diesmal erstmals im Sommer mit wirklich blühenden
Linden „unter den Linden“ gesehen hatte. –
In Köln angekommen (wir hatten verabsäumt, rechtzeitig
Kaffee zu trinken) kamen wir sofort in größte Unruhe im Hause:
Werner und Faßbender waren wegen Schiebung von englischem Benzin
durch letzteren von den Briten verhaftet worden. Nach allerlei Hin und
Her wurden sie gegen Sicherheitsleistung von 20000 M freigegeben. (Hiervon
vielleicht später einmal); abends aber pflückte ich im Garten
meiner Mutter schwarze reife Kirschen. ––
Reise nach Baden-Württemberg. (Vergleiche auch die
Tagebuchseiten 27 bis 29.) Die Woche darauf, am 23. Juni fuhr ich mit Vetter
Will nach Süddeutschland. (Helberhausen, 2. Sept. 20) Dort galt es,
die mittlerweile verlustbringend gewordenen größeren und auf
längere Zeit laufenden Baumwollabschlüsse zu annullieren, eventuell
bereits genehmigte Preiszuschläge wieder rückgängig zu machen,
kurz irgendwie einen Ausgleich herbeizuführen. Onkel Dietrich war
anfang der Woche in Rheine bei einer großen Baumwollwebereit F. A.
Kümpers gewesen, hatte aber nicht das erreicht, was er wollte und
zum Schlusse vielleicht etwas zu sehr den Grandiosen gespielt. Später
bekamen wir doch noch 300000 M von ihm vergütet. Es handelt sich bei
ihm um recht große Aufträge. – Wir hatten eine prächtige
Fahrt im Abendrot durch das rheinische Schiefergebirge und genossen während
des Abendbrotes vom Speisewagen aus erquickliche Blicke auf den „ruhig
fließenden Rhein“. Leider war abends gegen 11 der Schlafwagen Wiesbaden
Frankfurt besetzt und so richteten wir uns im Abteil II. Klasse für
die Nachtfahrt durch Baden ein. Leider erhielten wir noch einen dritten
Fahrgast ins Abteil in Gestalt eines langbärtigen rüstigen Greises,
auf den einige Rücksicht zu nehmen war. Immerhin habe ich die meiste
Fahrt gestreckt gelegen und geduselt. Vetter Will hat im Felde eine beneidenswerte
Fähigkeit sich erworben, in jeder scheinbar noch so unbequemen Lage
zu pennen. Der Sitz
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in einem Polsterabteil II. Klasse im D-Zug erscheint ihm dabei als
ein ganz besonders ..?.. Komfort. Das erste Morgengrauen eines sommerlich
heißen Tages führte unentwegt die im ersten Frührot erglühenden
Baumspitzen prächtiger Obstbäume im südlichen Baden an meinem
Auge vorbei. Der alte Herr wurde allmählich munter und verriet, daß
er nach Italien durchfahren wollte (es kam mir fast eichendorfisch-romantisch
vor). Will packte seinen Brotknabben aus und metzelte daran mit einem Soldatenmesser
herum, ich hatte genug Butterbrote und vor allem heißen Kaffee in
einer Thermosflasche mit. Der erquickte uns. In Basel, badischer Bahnhof
hatten wir anstandslosen und baldigen Anschluß an Zug nach Lörrach
und so waren wir morgens bereits in aller Frühe in diesem noch ziemlich
verschlafenen Landstädtchen, wo wir eine Zeitlang hin und her bummelten,
uns am Anblick des mit Kirschen und Gemüse reich beschickten Frühmarktes
erquickten und schließlich beim Friseur Gelegenheit fanden, die Zeit
hinreichend totzuschlagen, bis man jemanden auf den Kaufmannsschreibstuben
antreffen konnte. Das zu erledigende Geschäft ging glatt, die Baumwollweberei,
zu der wir nicht mit hinauszupilgern brauchten, strich den fraglichen Auftrag
auf ersten Anhieb glatt, so daß ich das Gefühl hatte, „wir haben
damit am Ende eine Dummheit gemacht“. Rotgefärbten Köper, den
wir kaufen wollten, war in einer großen Buntweberei dort nicht zu
erhalten. – An diesem Tage leisteten wir noch manches. Nach gutem Imbiß
im Hirschen, fuhren wir durch den südlichen Schwarzwald nach Fahrnau,
marschierten in sommerlicher Mittagshitze hinaus zur Privatwohnung des
Kommerzienrats Horn und lernten in ihm einen famosen Mann kennen. Da wir
zur Weiterfahrt besser von einem anderen Bahnhof Fahrnau-Tunnel aus zu
fahren hatten, um gleich auf die rechte Strecke zu kommen, so gab jener
Geschäftsfreund uns seinen Sohn mit. Ich gedenke jenes Mittagssommermarsches
noch mit sonderlichem Vergnügen. Ich hatte, um Eindruck als Justitiarius
zu schinden, einen dunklen Anzug und da ich als solchen nur einen blauen,
diesen recht dicken blauen Anzug angezogen, in dem ich weidlich schwitzte,
wiewohl ich Vetter Will gegenüber mich mit Recht gerühmt hatte,
Hitze täte mir nicht viel. Ihm war es ordentlich wohl, weil er nicht,
wie im Felde, etwa noch 30 - 40 K Gepäck mitzuschleppen hatte. Richtig
erwischten wir dort den Zug (die Strecke ist auch als Staatseisenbahn für
elektrischen Betrieb eingerichtet, was ich hier zum erstenmal sah) der
auch richtig unser Gepäck enthielt, das Will als umsichtiger Reisemarschall
hier herüber dirigiert hatte. In Tiengen gabs dann noch am Spätnachmittag
einen ordentlichen Marsch die Wutach hinauf nach der in malerischem Tal
gelegenen Spinnerei Laufenmühle, wo wir mit einem behäbigen Direktor
und einem Techniker ernste und langwierige Auseinanderstezungen hatten;
die biederen Schwaben aber ließen sich keineswegs zu unserer mit
großer Überzeugungskraft vertretenen Ansicht bekehren, daß
bei dem Mangel einer Einigung über die ihnen nachträglich geforderten
Preisaufschläge wir berechtigt seien, vom ganzen Geschäft zurückzutreten.
Wir glaubten zwar, sie juristisch erschlagen zu haben, – die Folge zeigte,
daß wir uns arg geirrt hatten und den Schnabel zu weit aufgerissen
hatten – und trabten bei sinkender Sonne wohlgemut wieder dem Bahnhof zu,
von wo uns ein mit süddeutscher Gemütlichkeit hier und da ohne
ersichtlichen Grund lang haltender Bummelzug bis in die Nacht hinein durch
den Südostzipfel des Schwarzwaldes schaukelte, wobei es recht kühl
wurde. Endlich kamen wir recht spät in Immendingen an, übernachteten
dort in mäßigem Gasthof, wo wir aber ordentlich zu essen bekamen
und schliefen uns gründlich aber nicht zu lange aus, denn Vetter Will,
der allzeit überlegene Reisemarschall hatte bereits einen Frühzug
nach Konstanz ausgeknobelt,
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so daß wir nach wieder recht sonnnigem Morgenmarsch von Konstanz
nach Strohmeyersdorf dort den alten Fuchs, Kommerzienrat Strohmeyer noch
zeitig in seinem Malapartus, soll heißen, in seinen großangelegten
Werken antrafen. War das ein scharfsichtiger, beweglicher und tüchtiger
Kaufmann. Ich hatte nach kurzer Frist bei unserer Unterhaltung mit ihm
schon allerhand Achtung gewonnen. Anstatt uns aus dem Netz loszulassen
– die Firma hatte bei ihm einen wenn auch nur kleinen Posten doppeltbreiten
Nessel zu einem hohen (dem höchsten) Preise gekauft – wollte er uns
noch mehr darin verstricken, indem er uns dringend riet, den hohen Preis
durch Zukauf bei ihm zu niedrigem Preise „zu verwässern“. Wir krochen
trotz des leidlich guten und sehr billigen Mittagessens, das wir in der
zu jenem Strohmeyersdorf gehörigen Drofschenke im Garten unter schattigen
Bäumen am See verzehrten, nicht auf den Leim; wenn wir mit ihm auch
nicht erreichten, was wir wollten, so gewannen wir durch Veränderung
der Abmachung doch einige 20000 M, so daß sich der Abstecher schon
lohnte. In Konstanz am See knobelte Will unermüdlich in einem Fahrplan
studierend auch noch richtig zu seiner eigenen und meiner Betrübnis
aus, daß wir nachmittags noch eine Möglichkeit hatten, nach
Ulm zu kommen. Damit entging uns der projektierte Ruhetag in Konstanz am
Bodensee im Inselhotel, wir hatten uns in der Flucht der verschiedenen
Eindrücke im Wochentage geirrt, gemeint, es sei schon Samstag, war
aber erst Freitag und so sollte der Samstag noch zur Arbeit im Schwäbischen
verwandt werden. Mit Bedauern fuhren wir schon 3 Uhr vom schönen Konstanz
mit einem Dampfer nach Friedrichshafen, und fuhren von dort nach Ulm. Ich
erinnerte mich dabei der Fahrt mit Stoll auf der gleichen Strecke im Jahre
1908. Die Bodenseefahrt war übrigens prächtig, Meersburg sah
ich erstmals und gedachte der wackeren Droste-Hülshoff. In Ulm waren
wir im russischen Hof gut aufgehoben und trabten abends nach Tisch in angeregter
Stimmung noch eine Weile durch die ihre Sommerglut langsam aushauchenden
alten Straßen der Stadt. Dort hatte man wegen erhöher Brotpreise
vor etlichen Tagen geschossen und etliche waren tot geblieben.
Bonn, 14.9.20. Warmer Herbsttag. Früh von Köln
zurück, finde ich mal wieder Lust und Gelegenheit, die Feder ein wenig
spazieren zu führen. – Also in Ulm damals: Anderen morgens war Will
schon in aller Frühe nach Augsburg ausgeflogen, um dort nicht ohne
Erfolg mit der Augsburger Baumwollspinnerei und -weberei in Gestalt eines
ebenso würdigen wie verschlagenen weißbebarteten Kommerzienrates
Wrede zu verhandeln. Er (Will) verkaufte ihm auch die uns schmerzlich belastende
amerikanische Baumwolle zum großen Teil. Ich hatte es gemütlicher,
widmete mich einem ausführlichen Frühstück und fuhr zu ebener
Stunde nach Schelklingen in der Schwäbischen Alp, unweit von Blaubeuren.
Es war eine sehr erfreuliche Fahrt durch ein in herben Formen schön
ansprechendes Gebirgstal, in dem manche große Steinbrüche recht
malerisch in der grellen Sommersonne wirkten. Ein Herr Rall, Besitzer der
Baumwollweberei Urspring, war recht angenehm. Trotz seiner Hartnäckigkeit
gelang es mir, ihm einen 8 - 10 % Aufschlag auf den laufenden Liefervertrag
wieder abzudrücken, so daß wir damit ca 8 - 10000 M weniger
Verlust sicher hatten. Ich hatte dann ausgiebig Zeit, mich mit dem anmutigen
dörflichen Kleinstädtchen Schelklingen zu befassen, trank im
hochgiebligen gediegenen Bauernwirtshaus „Zum Rößle“ 1 Bier,
wozu ich meine Butterbrote
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verzehrte. Ich fand auf der Fensterbank dort eine alte Ausgabe des
Schaumburg-Lippischen Kommersliederbuches und darin den spaßhaften
Hymnus an Goethe, den ich mir notierte. In der Kirche fand ich in die Wand
eingelassen einen recht guten Grabstein des letzten Raiss zu Raissenstein;
flott in Bewegung und gut in Ausführung. Freund Bruhns wurde hiervon
gebührend in Kenntnis gesetzt. Mittags war ich bereits wieder in Ulm,
pilgerte nachmittags nach Neu-Ulm hinaus, um mir dort den Satz der jetzt
geltenden Bairischen Briefmarken zu kaufen und fluchte auf den überflüssigen
Streik, den die Arbeiter zur Feier des Begräbnisses der Erschossenen
veranstalteten. Alles war still und öde, die Läden geschlossen
und ich recht heiß und müde vom Rückmarsch zum Münster,
zu dessen Besteigung es leider (6 Uhr!) zu spät war, als ich mich
in einem Café gegenüber körperlich erfrischt und geistig
an dem herrlich in der Nachmittagssonne stehenden Münster erbaut hatte.
Der recht gebildet anmutende Küster warnte mich nicht ohne Humor vor
einer außerzeitlichen Abendbesteigung des Turmes, die aufgeregten
Arbeiter wären imstande, in mir dort dann einen Posten der verhaßten
Reichswehr zu sehen und ein kleines Gewehr-Sperrfeuer auf mich zu legen.
Recht bezeichnend war die Aufforderung eines Zirkusbesitzers zum Besuch
seiner Vorstellung, die „nach langwierigen ausführlichen Verhandlungen
mit den Arbeitervertretern als in Einklang mit dem Begräbnis der Gefallenen
anzusehen sei und dem Ernst und der Würde des Tages entsprechend (sic!)
ein belehrend-unterhaltendes Programm aufweise. Ich steckte mir einen solchen
Zettel als Kulturkuriosum ein, finde ich ihn wieder, so soll er hier eingeklebt
werden.
Abends stieg ich in einen Zug, in den Will von Augsburg
herankutschiert kam und der uns zusammen abends in das recht unruhige Stuttgart
brachte, wo sich namentlich allerlei überflüssiger Lärm
vor dem von uns natürlich als unumgänglich bezogenen Hotel Marquardt
konzentrierte. Statt des ruhigen Sonntags im Insel-Hotel am Bodensee hatten
wir nun einen spektakelgefüllten Tag in Stuttgart. Morgens arbeitete
ich ein Rechtsgutachten für die Laufenmühlener Sache aus (aus
der nachher doch nichts anders wurde und deren Lieferung wir heute eben
ohne Verlust gebrauchen können). Will arbeitete morgens und nachmittags
mit erstaunlichem Fleiße seine Rede aus, die er zum 100jährigen
Firmenjubiläum im Gürzenich in Köln zuhalten gedachte. Nachmittags
hatte ich mich mit einem alten Aroser Bekannten, Klaus Hoffmann, damals
angehender Kunstmaler, heute ziemlich ausgebackener Architekt, Schüler
von Bonatz verabredet und wir brachten den Nachmittag recht angenehm in
einem Gartenrestaurant Künstlerklause zu. Dabei gab es natürlich
eine Menge Aroser Bekannte zu besprechen. Hoffmann hatte das „Bobberle“
jene muntere Schwedin, das haltlose Vögelchen, 1912 1913 in Paris
getroffen, sehr schlecht aussehend in dem für sie prädestinierten
Berufe u.s.w. Am Spätnachmittag zeigte Hoffmann mir den teilweise
neuen Bahnhof, ein ernstes großzügiges Bauwerk seines Lehrers
Bonatz. Dann verabschiedeten wir uns. Mit Will fuhr ich abends hinauf und
hinaus „zum Sünder“, einer anmutig am Bergrand gelegenen Bierterrasse,
von wo wir einen prächtigen Blick auf die Stadt hatten. Dort hatten
wir unter guten Bürgersleuten einen schönen Abend und kehrten
zu Fuß unter mannigfachen tiefsinnigen Gesprächen wieder heim.
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(Bonn, 20.9.20) Den folgenden Tag flogen wir wieder
nach verschiedenen Seiten aus, Will nach Reutlingen, ich nach Ebersbach,
wo ich auf einen hartgesottenen traf, der sich zu nichts verstehen wollte,
so daß dort so gut wie nichts zu erreichen war. Besagter Mann war
zugleich der erste Bauherr des jungen Architekten Hofmann und so traf ich
diesen nach Tisch am Bahnhof, als ich abfuhr und er gerade ankam. Ich habe
mich auch dort noch eine Weile mit dem sympathischen, liebenswürdigen
und so wohlerzogenen Manne unterhalten. Es interessierte ihn sehr, daß
das große Deutzer Fabrikgebäude der Firma von Manz, seinem Landsmann
gebaut war, den er sehr rühmte. Will hatte mir erzählt, mit welch
überlegener Organisation dieser große Fabrikbauer an den Bau
heranging und ihr alter Bauunternehmer Pilgram erst fast auf den Rücken
fiel, als es hieß, jeder Stock müsse in einer Woche gebaut werden.
Bei der schließlichen Ausführung, die sich bis in das erste
Kriegsjahr hinein zog, war man schließlich froh, überhaupt fertig
zu werden. In Stuttgart traf ich nachmittags Will dann wieder am Bahnhof
und wir fuhren zusammen bis Mühlacker, er wollte nach Karlsruhe, ich
nach Frankfurt, um dort Freund Bruhns zu besuchen (#), der mich richtig
abends am Bahnhof abholte und in dessen neuerworbenen Hause weit draußen
9 Anzengruberstraße ich dann auch schlief. Wir freuten uns riesig
aneinander und das Gespräch im gemeinsamen Schlafzimmer zog sich bis
tief in die Nacht hinein. Andern Tags langte meine Reisekasse noch bequem
dazu, die Familie einschließlich der kleinen Gerda in der Stadt zum
Mittagessen einzuladen, damit die dienstmagdlose Hausfrau auch mal einen
genußreichen freien Tag habe. In einem Theaterrestaurant aßen
wir recht gut und angenehm im Freien, machten später Einkäufe
für die Kinder – für Herta und Marianne kaufte ich die heißersehnten
und langentbehrten Gummibälle, 14 M das Stück, und dann verbrachten
wir den nachmittag im Zoologischen Garten, der wider mein Erwarten einen
ansehnlichen Bestand an Tieren aufwies. Dort brachten wir den recht heißen
Nachmittag in Muße und Beschaulichkeit zu und ergötzten uns
an mannigfachem Getier. Kurz ehe der D-Zug heimwärts abfuhr, kam auch
Will mit seiner riesigen dunkelgrünen Ledertasche angeschleppt, so
daß wir auch hier uns glücklich wieder trafen und die Reise
durch den gesegneten Main - Rheingau und den Rhein hinauf gemeinsam beendeten.
Abends ½ 10 holten Helene und Papa mich hier ab. Dies war die schöne,
leider etwas eilige Reise durch Süddeutschland. – Heute, am 20.9.20
– ist wieder alles umgekehrt, die Preise ziehen an, die Mark fällt
rasend und vorgestern zeigte mir Will „damit ich auch mal
_____________
(#) Auf der Fahrt durch den schönen Sommerabend hatten wir auf
dem Bahnhof eines kleinen Nestes einen Aufenthalt von 40 Minuten, den ich
zu einem ausgiebigen Vesperbrot mit Brot, Käse und Bier in einer dem
Bahnhof benachbarten Wirtschaft benützte. Ich war kaum gemütlich
im Gange, als die Bude von den übrigen Reisenden, die auf den gleichen
Gedanken gekommen waren, fast gestürmt wurde. – Unterwegs hatte ich
einen kurzen märchenhaft - zauberischen Blick auf einen Schloßgarten
mit Seitenbauten, Anlagen Park, Schloßgebäude, alles in schräger
Abendsonne.: Bruchsal, wie mir Bruhns später ausdeutete.
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eine Freude habe“ einen Brief des Fabrikanten Horn aus Fahrnau, in
dem dieser sogar um höheren Preis bittet für den Auftrag, den
er uns damals nicht streichen wollte und das heute mit der vorzüglichen
(!!) Begründung, daß er uns durch seine damalige Weigerung vor
großem Schaden bewahrt habe. Köstlich! Wir freuten uns wirklich
über diesen Brief. – So ist der Welt Lauf! – Freund Bruhns war nun
kurz vor unserer Sommerreise, die ersten Tage August über bei uns
in Bonn im Hause, sozusagen unser erster Hausgast. Es waren frohe genußreiche
Tage. Wir gingen zusammen ins Provinzialmuseum in Bonn, fuhren auch einen
Tag zusammen nach Köln, wo er mittags mit mir in der Firma aß.
Helene schlief bei den Kindern (ein Kinderfräulein haben wir derzeit
nicht) und so schlief Freund Bruhns neben mir, was zu langen, ergötzlichen
und auch recht tiefen Gesprächen abends zwischen uns führte,
wobei wir uns gegenseitig ein wenig tiefer in die Seele blicken ließen,
als es sonst auch bei guten Freunden zu sein pflegt.
11. Oktober 1920. Gestern erlebten wir einen seltsamen
Tag. Nach mancherlei Hin und Her kamen Onkel Dietrich und Tante Emma auf
unsere Einladung bei uns zum Mittagessen, ich holte sie ab und brachte
sie erst noch zum Johannishospital, wo sie eine schwerkranke Frau Lefebre
besuchten. Dann fuhren wir mit der Elektrischen zur Baumschule, ich zeigte
ihnen im Vorübergehen unser väterliches Haus und kamen zu Helene
und Papa. Sie hatten nach einem äußerlich ruhigen, innerlich
aber sichtlich gerührten Empfang keine Ruhe in meinem Zimmer, sondern
mußten sich das ganze Haus besehen. Ein Bild von Onkel Wilhelms silberner
Hochzeit in Papas Wohnzimmerchen fesselte Onkel Dietrich lange. Wir aßen
vortrefflich und tranken vorzüglichen Benkastler Steinkaul 1917er
und später köstlichen 1915er Brauneberger Juffer Auslese, das
beste Wachstum unseres alten Bernkastler Hauswirten Leistner. Dann ruhten
wir getrennt und geruhsam bis zum Kaffee, Kurt kam von Godesberg, Bruder
Josef mit Emma und meine Mutter erschienen ebenfalls zum Kaffee, es war
recht festlich in unserem Eßzimmer, die draußen in brennend
buntem Laub spielende strahlende Herbstsonne warf den schönsten Schein
ins Zimmer hinein, es schmeckte uns wieder vorzüglich und wir unterhielten
uns aufs Beste. Meine Verwandten waren den Kölnern bisher noch ganz
unbekannt und so war viel Neues zu bereden. Papa saß bei allem meist
recht gedrückt und kopfhängerisch dabei, da Onkel Dietrich bei
Tisch stets in seiner Nähe saß, so fiel ihm dies besonders auf.
6 ¼ begleitete ich sie zum Zug und fuhr noch eine kurze Strecke
mit bis zur Viktoriabrücke. – Heute gestand er mir in Köln bei
aller vorzüglichen Aufnahme durch uns und wie sehr er sich darauf
gefreut habe, mal bei uns zu sein, das ganze habe ihn stark angegriffen.
Es ist klar, daß die Erinnerung an seine liebste Schwester, unsere
unvergeßliche Mutter ihn allzu stark übermannt hat, wo ihn alles
und jedes an sie und Papas trübseliges Verhalten wohl erst recht an
die Jahre ihres Duldens erinnerte. Vermutlich wird es Papa kaum anders
ergangen haben. Er ging nach Tisch aus und kam erst zum Kaffee wieder heim.
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Natürlich hatten wir es aus naheliegenden Gründen vermieden,
irgendwie näher von Mama zu reden.
Ein seltsamer Tag, der zu mancherlei Nachdenken Anlaß
giebt.
In der Mühlengasse giebt es stets und alle Tage etwas
Neues. Heute mußte ich einer Einladung Leny’s folgen und bei Dr.
Max Brügelmann auf dem Hohenzollernring essen. Er hat sich sein Haus
recht schön und geschmackvoll eingerichtet. Am Samstag vermochte ich
Will und Ännes vereinten Ansturm kaum abzuschlagen, dort auch wöchentlich
eine „jour fix“ als ständiger Gast mittags bei Tisch zu sein. Ich
hoffe mich dem noch erwehren zu können, bei Max habe ich es ziemlich
deutlich abgelehnt. Es will mir scheinen, daß diese „Abfütterung
im Armenrecht“ wie ich es ihnen gegenüber zu ihrem Entsetzen stets
nannte, nicht ohne Zusammenhang mit der fürs nächste Jahr bevorstehenden
Änderung des Gesellschaftsvertrages steht, zumal diese einen Kampf
alle gegen alle erzeugen wird. Ich sehe dem mit großer Kühle
entgegen. ––
Zur Zeit bin ich in der Mühlengasse mit Arbeit so
gesegnet, daß ich kaum dazu kommen werde, abends einige Aufzeichnungen
in diese Blätter zu machen, in denen ich doch gar zu gern ein wenn
auch blasses Abbild meines jetzt so farbig bewegten Lebens festhalten möchte.
16.10.1920. Eine bunte Woche liegt hinter mir. Die Zeit
ist mir geradezu im Traume vergangen und tatsächlich träume ich
recht viel trotz der geistig so viel bewegten Tätigkeit. Je morgens
und nachmittags eine Stunde in der Rheinuferbahn, regelmäßig
an einem bestimmten Fensterplatz, eingekuschelt in die Polsterecke, den
Kopf in die linke Hand gestützt und den Ellbogen auf den Fensterrahmen
gelehnt, pflege ich die Fahrt in einem Art Halbschlaf abzumachen, in dem
ich mitunter seltsame Träume erlebe, in denen sich allerlei Tageseindrücke
und Gedanken mit wunderlichen Phantasiegewändern verbrämen und
es kostet mich mitunter einige Mühe, dem Schaffner meine Monatskarte
vorzuweisen, wenn er mich durch sanften Schultergriff in die Wirklichkeit
zurückzukehren einlädt. Dazwischen liegen dann die Geschäftsstunden
in der Firma, dicht angefüllt mit einem Berg von von gegenseitig sich
drängenden Tatsachen und voller treibender Gedanken, durch die ich
mir mit Gewalt einen Weg bahnen muß, um tatsächlich reinen Tisch
zu machen. Ein Spiegelbild dieses geistigen Exerzierens bildet mein großer
Schreibtisch; komme ich morgens in mein Arbeitszimmer, so liegt zunächst
noch still und unverdächtig ein kleines Häufchen Papiere auf
meiner grünen Mappe unter dem Onyxlöscher. Bald fliegt es auseinander,
von allen Seiten regnen Aktenstücke auf den Schreibtisch und bald
ist die Arbeit des Sichtens, Ordnens, Abfertigens, Briefeansagens u.s.w.
im Gange und so geht es durch, daß die Stunden im Handumdrehen um
sind. Oft genug ist die Mittagsstunde so überraschen schnell da, daß
ich nicht Zeit finde, Steuern- und sonstige Geheimakten in den besonderen
Schrank einzuschließen, den Tisch aufzuräumen und und die große
Rollade an der allgemeinen Aktenregistratur herabzuziehen. Dann wird die
Türe abgschlossen und der Schlüssel in die Tasche gesteckt, um
von jedem
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Überfall der Scheuerweiber gesichert zu sein. Mit dem Glockenschlag
des Geschäftsschlusses erscheinen diese nämlich kaum daß
das kaufmännische Personal abgerückt ist, fangen sofort an zu
räumen, Staub wischen, Boden putzen u.s.w. Ununterbrochen sind ihrer
3 - 4 im Hause beschäftigt mit genauer Stundenarbeitseinteilung. Auch
sie könnten als Symbol der nachputzenden ewigen geistigen Aufräumungsarbeit
gelten. – Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen
sich die Sachen. –
Das Geschäft arbeitet, wie Will mir neulich behauptete,
mit der Präzision eines Urwerks. Bis Beginn Oktober sind seit Mai
rund 20 Millionen liquidiert worden trotz des großen Preissturzes
und der lange anhaltenden Streckung des Absatzes. Eine ganz erstaunliche
Leistung, die ich z. Zt. weder in ihrer Ursache noch in ihrer vollen Bedeutung
zu überschauen vermag. Damit sind die Bankierverbindlichkeiten wieder
auf ein normales Maß heruntergedrückt und sogar schon bedeutende
Außenstände bei der Kundschaft vorhanden. Es ist eine allgemeine
Lohnbewegung im Gange. Daneben hat das geradezu ungeheuerlich gestiegene
Einkommen der Reisenden eine kleine Palastrevolution im Hause der Firma
ausgelöst, in dem jenen die Nägel etwas beschnitten und den führenden
Leuten im Hause etwas gespitzt werden mußten. Obwohl ich im Grundsatz
dagegen war, habe ich dann auch eine Gehaltserhöhung von 25000 auf
36000 M erfahren. Dazu giebt es jetzt schon einen Vorschuß von 3000
M auf die Jahresgratifikation. Die Folgen sind offenbar: Schon sind die
Handwerker in meinem Hause dabei, eine elektrische Lichtanlage zu schaffen,
die früher vielleicht 1200, jetzt mindestens aber 6000 M kostet. Freilich
ist sie notwendig, denn der ewige Kampf mit der Dunkelheit wurde von uns
bisher mit den Streichhölzern, kleinen Petroleumlämpchen und
einigen wenigen Gasflammen gar zu kümmerlich geführt. Leider
haben wir den rechtzeitigen Bezug von Braunkohlenbriketts versäumt
und so sind wir derart knapp mit Kohlen daran, daß wir trotz der
nicht unempfindlichen Herbstkälte keinen Ofen brennen und ein wenig
frieren, wenn die Mutter Sonne uns im Stich läßt. Dabei schwimmen
sie in Köln in Kohlen und dort könnte ich solche nach Herzenslust
holen, nach hier aber lassen sie sich leider nicht schaffen. Schade, daß
die Firma das schon gekaufte 2 t Lastauto nicht abgenommen hat. –
Nun zurück zur Wochenübersicht: Mittags diesmal
bei Tante Maria, wo ich beim Ausruhen nach Tisch regelrecht einschlief
und mich zum Kaffee schön verschlief. Ich hatte ihr Hauptmanns bukolisch
- idyllische Romandichtung „Der Ketzer von Soana“ mit bestem Dank zurückgebracht
und wir unterhielten uns eine Zeitlang über die klare schöne
Sprache, die idyllische bildhafte Landschaft in der Schilderung und die
im Grunde so einfache, antikisch - südliche Lösung des Strebens
menschlicher Sehnsucht und seiner Befriedigung in einem sehr einfachen
sinnlich lebensvollen Hirtenleben. Unter deutscher Sonne aber wachsen andere
Menschen und finden solchen Frieden in anderer Form und zumal nach ganz
anderem Ringen wie ein Faust oder ein Heiligenbauer von Hermann Stehr und
tausend andere. –
Den Abend rief ich Bruder Josef und den Inhaber der Firma
Jansen in Bonn zusammen und nach längerer Beratung wurde der Auftrag
zur Anlage der elektrischen
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Lichtleitung gegeben. Mittwoch dann den üblichen recht üppigen
Mittagtisch bei Onkel Dietrich, der mir auf dem Heimwege mittags einen
belehrenden Vortrag darüber hielt, in welcher glänzenden Stellung
ich wäre und derentsprechend ich was in mein Haus anlegen sollte.
Er verhehlte mir nicht, daß der verwahrloste Zustand des Hauses (Schweinestall
wie er sich derb ausdrückte) in den nicht wieder aufgefrischten Zimmer
ihn bei dem Besuche am Sonntag sehr niedergedrückt habe. Er könne
es nicht verwinden, daß seine so reinliche und empfindliche Schwester
in solchem Schweinestall habe vertrauern müssen. Er hat nicht ganz
unrecht. Jetzt hat Papa mitunter das heulende Elend, daß er Mama
nicht diese notwendigen Anlagen ins Haus gemacht habe, früher aber
war sein Starrsinn in derlei Fragen unüberwindlich. Was hat es für
Mühe gekostet, daß Mama einen Gasherd bekam und sie bekam ihn
erst, nachdem alle Kinder ihn längst hatten. –
Willi hat ein richtiges Verfahren: er und Frida knatschen Papa
jetzt in Hersel derart die Ohren voll, daß er Butter, Lebensmittel
ja sogar schon Kartoffel von hier ihnen dorthin schleppt. Ein Eifer, der
sich natürlich bald legen wird. –
Donnerstag vollführten Pabst und ich dann endlich
die schon so lange geplante (Geschäfts-) „Vergnügungsautotour“
durchs Bergische. Onkel Dietrich, seit Mittwoch abend bis nächsten
Dienstag in Berlin, telefonierte voller Befriedigung, daß wir sie
machten, abends vor seiner Reise seinen Prokuristen P. darüber mit
jovialen Worten an: „Na, ihr Hallunken, macht ja morgen eine Autotour,
natürlich zum Vergnügen u.s.w. Leider benahm uns vormittags ein
dicker filziger feuchter Nebel ganz und gar alles Vergnügen und als
wir – ich war in Bonn an der Rheinbrücke gegen 8 Uhr eingestiegen
– in Eitorf bei der Kammgarnspinnerei landeten, hatte Pabst einen völlig
erweichten Kragen. Dort lernte ich einen sehr netten bedächtigen älteren
Direktor Loose oder ähnlich kennen, einen Mann, der die Wolle mit
ganz besonderer Liebe pflegt und studiert. Ein gewaltiger Knäuel frisch
gekämmter Rohwolle war mein Entzücken: Die Weichheit, Reinheit
und Elfenbeinfarbe sind entzückend schön. – In Much konnten wir
einer tüchtigen Geschäftsfrau, die dort den bedeutenden Konsumverein
leitet, den Seelenfrieden wiederbringen durch eine recht humane Abmachung,
mit der wir sie aus der Gesamthaftung für einige 25000 M Schaden befreiten.
Diese Ersatzforderung steht der Firma aus einem großen Strumpfdiebstahl
in unserer Lohnstrickerei in Loope bei Ehardshoven zu, an welcher jene
wackere Frau insofern mitbeteiligt war, als sie von den Dieben „billige
Strümpfe“ gekauft hatte. Sie wurde mit 5000 M losgelassen, und soll
auch diese in Form einer 2 % Vergütung auf ihre Warenbezüge nach
und nach abtragen. Darauf aßen wir in einem Hotel Honnef dort ein
geradezu feudales Mittagessen mit Schweinekotelett und vorzüglicher
Flasche Burgunder-Rotwein, 3 Mann für zusammen 80 M, was man als billig
empfand. Endlich hatte die Sonne mittags ein Einsehen, verscheuchte die
nassen muffigen Nebel und ließ „herbstkräftig die gedämpfte
Welt in warmem Golde fließen“. Es war ein sonderer Genuß, durch
die farbigen Wälder zu schnurren, den blauen Himmel unverstellt über
sich, das Laub in allen Farben rot, braun und gelb schimmernd. Zusammen
gabs sicher einen vorzüglichen „Changierton“ wie wir solchen
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für einen projektierten Handels- und Strickgarnfaden großen
Stils in Eitorf besprochen hatten. In Loope hatte Papst mit dem dortigen
Stricker Halbe eine scharfe Abrechnung zu halten, ich machte mich währenddem
mit dem Auto und der Füllfeder auf die Jagd nach weiteren Hehlern
und brachte etliches Verbrieftes mit. Gehts gut, so wird der Schaden so
ziemlich hereingeholt. Ein milder Abend, durch den wir das herrliche Aggertal
(nach einem vorzüglichen üppigen Kaffee mit Umständen und
Apfelkuchen bei Halbe, der auch Gastwirt) und dann rheinab nach Köln
zurückeilten, belohnte das für den naßkalten Morgen, in
Köln erwischte ich gerade noch einen Schnellzug der Rheinuferbahn
und war so bequem zum Abendbrot wieder daheim. Nachts aber um drei rauschte
ein steifer Regen herunter und es freute mich diebisch, daß wir diese
Autotour um keinen Tag verschoben hatten. Anderen Tags war dann doppelt
reichlicher Segen auf dem Schreibtisch in der Mühlengasse, es macht
sich mein seit Monaten ununterbrochen schießender bürokratischer
Apparat bezüglich der Schadensfälle bei der Eisenbahn jetzt bezahlt:
es regnet förmlich Schadensersatzsummen täglich von der Eisenbahn
herein. Mit dem Erfolg kann ich wohl zufrieden sein. Mittags mußte
ich dann, obschon ich mir schon aus der Küche das Essen auf 1 ¼
bestellt hatte, mit Will nach Rodenkirchen. Änne, die wohl einen Vielfraß
I. Ranges in mir befürchtet haben mußte, hatte 2 gewaltige Schellfische
sieden lassen und ich füllte mir damit den Pansen ordentlich an. Die
Rückfahrt mit dem Auto zur Mühlengasse gegen 3 ¼ nach
einer behaglichen Ruhe und einem kleinen Kaffee (wobei mir Will, ähnlich
seinen Vater versicherte, die eindringliche Beschäftigung mit einer
Gespinstfaser wie Wolle oder Baumwolle sei eine ganz große Sache)
ging durch einen noch recht handfesten Regen und hellaufspritzende Pfützen
aus einem kleinen Wolkenbrüchlein, das mit Donnerschlag und Blitz
derweil heruntergegangen war. Gustav Brügelmann ist tatsächlich
in Rodenkirchen am – bauen! – Was das heißt, ermißt man, wenn
man sich klar macht, daß es mindestens das 8fache wie im Frieden
kostet! –
Freitag abend traf mich Helene, gleichfalls wieder im
Regen, abends an der Uferbahn und wir machten einige Einkäufe. Samstag
morgen zog ich als Zeuge in Köln sofort zum Apellhof, dort kam die
Strafsache Vey und Gen. bald dran, ich als letzten Zeugen mit wenigen Fragen
schonend behandelt verdarb dem Anwalt der Mutter des Hehlers und Anstifters
Moll arg das Konzept, indem ich von einem typischen schmutzigen Hehler-
und Diebesnest berichtete, das von Strümpfen überquoll und in
dem 2 Packen noch gebündelte Strümpfe im Bett der Mutter versteckt
waren. Dafür fiel der Advocat Bour über den Zeugen „Rech“ in
seinem Plaidoyer her mit dem Erfolge, daß die alte Mojar 2 Monate
wegen Hehlerei bekam, Moll selbst 9 Monate und das 10 Jahre im Dienst der
Firma gestandene Frl. Adele Vey 6 Monate Gefängnis. Die letztere Strafe
fand ich hart. Dann wieder kurzer Kampf am Schreibtisch, alsdann zum Finanzamt
Goebenstraße, dort allerlei mit Erfolg erledigt, wieder wichtige
Konferenzen Mühlengasse: Pabst berichtete über sehr angreifende
Verhandlungen von einer städtischen Kommission, die die Rieseneinkäufe
der Stadt Köln nachkontrolliert (bei der die Stadt reichliche Millionen
zusetzt) und bei der man mit sonderlicher Vorliebe jetzt auf die Firma
F.W.Br.S. loshackt, während der Stadtverordnete Dietrich Brügelmann
gemeint ist. Rache mißempfohlener städtischer Angstellter und
politische Mache mit Rücksicht auf demnächstige Stadtratswahlen.
Der Kampf aber wird namens der Firma aufgenommen, mit Schärfe und
mit allen Mitteln unbedenklich geführt und ich bin gewiß, daß
Papst darin Oberwasser behalten wird. Das nächste Mal aber gehe ich
mit und „mache mir Notizen!“. Da ich nun Samstag endlich auch einmal in
der Firma mittags aß, so hatte ich Zeit, alles bald zu erledigen.
Ich war morgens mit heftigem Kopfweh aufgestanden (Helene ebenso) und so
standen mit mittags die Augen fast vor dem Kopfe. 4 Uhr heim und abends
mal lang und ausführlich mit meiner hierfür sehr dankbaren Mutter
geplaudert, die Bruder Josef vermißte, der mit seinem Klienten und
Oberschieber Schrauth nach – Berlin verreist ist, vermutlich um dort vergeblich
Zucker- (?) einfuhrgenehmigung sich zu erschleichen. – Heute Sonntag endlich
mal Ruhe, die zu gründlicher Entleerung auf diesen Blättern morgens
benutzt wird, um das seelische Gleichgewicht wieder herzustellen. Frau
Emmy Thanisch soll gleich kommen, vor Tisch noch Besuche bei K... Gentrup,
Franz Schneiders gemacht werden. Der Zilinderhut wartet schon auf dem Aktenständer
– nachmittags dann mit den Kindern nach Siegburg zu Sieburgs, wo auch Frau
Knoll aus Bernkastel zu Besuch ist. Morgen abend dann Theater und Dienstag
Kartoffel- und Weizenanfuhr – jetzt Schluß, denn ich bin schon mitten
in der neuen Woche! ––
1. November 1920. Wir sind bereits mitten in einem kalten
Winter mit mehreren Frostgraden und einem eisigkalten Ostwind bei hellem
Sonnenschein und trockenstaubigen Straßen. Leider haben wir in Bonn
sehr unter dem Kohlenmangel zu leiden, vorgestern abend holte ich sogar
2 Expreßgutpakete ab, mit denen mir in Säcken aus der Mühlengasse
Briketts zugeschickt worden waren. Man muß sich tüchtig bewegen,
um das Gefühl zu haben, daß man warm wird. Letzten Freitag war
ich mittags bei Will in Rodenkirchen zum Essen, er gab mir 3 schmale Bücher
von Wilhelm Vershofen mit, recht interessant zu lesen. Den „Feuriswolf“
verschlang ich förmlich, wie ich es seit Jahren nicht mehr mit einem
Buche getan hatte. Es scheint mir eine gute Leistung aus einem Guß
und in der Form etwas Neues, wenigstens in der modernen Litteratur. Die
Romantiker haben längst eine ähnliche Form des Briefwechsels
gebraucht. Seltsamerweise aber wollte mir eine doch wohl gleichwertige
Leistung desselben Schriftstellers „Das Weltreich und sein Kanzler“ nicht
recht munden, wiewohl der Stoff noch mal weitgespannter und grandioser
ist. Ich muß versuchen, diesem Buche etwas mehr gerecht zu werden,
indem ich es nach einiger Zeit noch einmal lese. Dazwischen las ich eine
Reihe sehr erfrischender Bauernnovellen des mir recht sympathischen Alfred
Huggenberger, sie munden wie gesundes vollkräftiges Schwarzbrot, zumal
neben der etwas arggewürzten und auf die Dauer schlecht verträglichen
Kost, wie sie mir die flüchtige Lektüre eines Buches von Bruno
Frank, „Die Fürstin“ bot. –
Mit den Kindern müssen wir uns jetzt in das Wohnzimmer
teilen, auch wird dort gefrühstückt und gegessen, alles zur Kohlenersparnis.
Zum besinnlichen Schreiben ist freilich solche Bedrängnis nicht
sonderlich günstig. Dazwischen verlangt die Mutter Ruhe, weil sie
ihr Haushaltungsbuch für den verflossenen Monat aufrechnen muß.
Der Großvater, stets schon in aller Frühe wach und sich dann
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kalt und verfroren durch das Haus schlängelnd weiß sich
nicht zu beschäftigen und klingelt vor 9 Uhr schon die Herseler an,
die den 2. Feiertag zu einem ausgiebigen Morgenschlaf benützen und
sich darin auch nicht durch Telefongeklingel stören lassen. Nach dem
Frühstück hält er es nicht mehr aus und geht heraus, „um
warm zu werden“. Gestern abend hingegen war es recht gemütlich, Freund
Sondag war da von 7 - 10 Uhr, die Kinder aßen abends mit am Tisch
und hatten große Freude. Sondag sieht gut aus, ist Personaldezernent
und Adjudant des Vizepräsidenten des rheinischen Provinzialschulkollegiums.
Er hat anscheinend noch eine gute Karriere vor sich: Gymnasialdirektor
am großem Gymnasium in den nächsten Jahren; später dann
Schulrat in Coblenz. Wir schilderten ihm die Vorzüge der für
ihn vorgesehenen Frau und er gab sich damit wohl zufrieden. Im Frühjahr
soll die Bekanntschaft erfolgen. Ich habe das Gefühl, daß ich
darüber innerlich viel lachen muß und doch vielleicht damit
ein gutes Werk tue. –
Im Hause ist immer noch eine ziemliche Zerstörung,
der Elektromonteur arbeitet sorgfältig, aber langsam und so zieht
es sich ordentlich in die Länge, bis wir elektrisches Licht bekommen.
Dazwischen ist dann der Schlosser beschäftigt, der Anstreicher soll
bestellt und an den Klosetts eine Entlüftungsanlage angebracht werden.
Weihnachten 1920. Gestern morgen geriet mir im Gewühl
des abgekürzten Geschäftstages noch eben die Reinschrift eines
Berichts über das Fest am 1. Juli 1920, mit dem ich Onkel Dietrich
zu Weihnachten eine kleine Freude machen wollte. Dies bringt mich wieder
ein wenig ans Tagebuch schreiben, zu dem ich nun seit 2 Monaten nicht mehr
gekommen bin. Seitdem hat sich wieder allerhand ereignet: Das Haus ist
vorläufig in Ordnung, elektrisches Licht strahlt allenthalben, des
Hauses stille Klause ist völlig modernisiert, die ewigen Handwerker
sind aus dem Hause, ein neues gutes Frl. Herta aus Herbeck bei Hagen ist
ist zur Stelle und für Helene eine gute Unterstützung. Papa ist
viel ruhiger und mit seinem Schicksal ausgesöhnt, ißt sehr gut
und vergißt schnell alles unangenehme, Willi arbeitet in Hersel alten
Mist auf und entwickelt sich dort anscheinend zu einem Goldleistenfabrikanten.
Heute nachmittag soll die ganze Familie nach hier kommen. In Köln
war die letzten Monate auch für mich reichlich Arbeit und oft genug
kam ich erst spät am Abend heim. Trotz leichter Erkältungen habe
ich körperlich zugenommen. Das Geschäft hat sich aller Ungunst
zum Trotz bedeutend entwickelt, die Tage vor Weihnachten brachten einen
wahren Kaufsturm zumal im Laden und es wurden die größten Tagesumsätze
seit Bestehen der Firma im Ladengschäft gemacht. Kommt nichts allzu
Ungünstiges mehr, so steuern wir einer Bilanz mit einem Reingewinn
von Millionen entgegen, welche geschickt zu versteuern und dem Steuerzugriff
zu entziehen sehr schwer halten wird. Zunächst ist seit einigen Tagen
der Neubau einer Strickerei-Fabrik beschlossen worden, voraussichtlich
in Form einer GmbH., welche nur die junge Generation gründet; die
Maschinen werden von der O.H.G. übernommen, den an der Firma später
nicht beteiligten Kindern soll eine „Geldprämie“ für die billige
Überlassung der Maschinen gezahlt werden, vielleicht in Form einer
Rente.
Mit unseren größeren Einnahmen sind selbstredend
die Bedürfnisse entsprechend gewachsen, dergestalt daß ich jetzt
meist dauernd mit dem Gehalt in Vorschuß bin. Freilich sind wir immer
noch am Auffüllen alter Sparlücken: Wieder ein Mantel (diesmal
ein altes Erbstück von Ohm in dunkelblauem Tüffel) gewendet,
neuer Anzug, den ersten in reiner Papiermark angeschafft mit ca 1100 M
bezahlt, was noch recht billig ist, alle Handwerkerrechnungen bezahlt,
Lichtanlage zur Hälfte noch schuldig. Dabei in Unterhandlung wegen
Kaufes eines Thorn-Prikkerschen Wandteppichs für 5000 M (im Crefelder
Museum: die drei Eisheiligen), Absicht, mich von Hellmuth Macke oder Hans
Thuar malen zu lassen. Letzteren lernte ich heute vor 8 Tagen bei einem
mit Elisabeth Erdmann Macke eigens nach dort unternommenen Besuchsausflug
in der Bauernwohnung in Schwarz Rheindorf kennen. Allerhand Pläne:
Gedenke erspartes als Kapital in nur guten Kunstwerken anzulegen, deren
Wert sich später schlimmstenfalls ohne Zinsen stets wieder liquidieren
läßt. – Für Dezember erhielt ich von der Firma das Monatsgehalt
doppelt (= + 2500 M), das Geld verschwand spurlos in Weihnachtsgaben, Bezahlungen
von Anschaffungen und Haushalt und wir machen uns keinerlei Sorge darum.
Letzten Montag sahen wir Egmont, Goethes unverwüstliches Schauspiel,
das ich heute nochmals mit Genuß nachlese. Wir waren sehr erschüttert
und erbaut davon, angesichts des heute doppelt hier empfundenen Schlusses
muß es zumal einem Rheinländer unfaßbar sein, wie man
Goethe als einen nicht national empfindenen Menschen bezeichnen kann. Zugleich
gedenke ich Schillers Abfall der Niederlande nächstens nochmals zu
lesen. Freund Bruhns sandte mir höchst aufmerksamer Weise einen sehr
guten Roman „Heim und Welt“ eines Inders Tagore. Dieses Volk steckt voller
tiefer menschlicher Weisheit. Mit Tante Maria führe ich montags beim
Mittagbrot meist sehr angeregte literarische Unterhaltung. Zwischen Dietrich
Brügelmann und seinem mitunter stark ungehobelten Sohn Werner spielen
sich in letzter Zeit in den Konferenzen wieder höchst unerquickliche
Lärmszenen ab.