Seite 37 (Die Seiten 37 - 40 vom 9.1.21 sind in das Tagebuch von 1920 an unkorrekter Stelle eingeklebt.)
Bonn 9.1.1921. Vor etlichen Sonntagen ging ich nachmittags mit Frau Erdmann - Macke nach Schwarzrheindorf. Wir fuhren mit der Elektrischen bis hinter die Brücke, bogen dann ins Feld seitlich ab, durchquerten die Senkung, in der vor Jahresfrist alles hoch voll Wasser gestanden hatte und stiegen dann die Bodenwelle an, auf deren Kamm am Schlusse die unvergleichliche alte Doppelkirche steht. Von Beuel aus zieht sich eine Straße nach ihr hin, die leider schon etwas reichlich mit halbstädtischen Häusern bestanden ist, deren Hinterseiten keinen voll befriedigenden Anblick dem Rhein zu bieten, zumal wenn die winterliche Kahlheit ihre volle Nacktheit zeigt. Oben auf der Straße etliche Schritte zurück fanden wir ein umfangreiches bäuerliches Anwesen, leidlich neu hergerichtet in seiner etwas wackligen Baufälligkeit, durchschritten Tor und Hof und traten in eine geräumige Küche ein, wo wir von Frau Thuar begrüßt wurden. Das zarte Frauchen, Mutter zweier netter blühender Mädchen, sah recht schmal und ein wenig blaß aus, sie sieht neuen Mutterfreuden entgegen, die ihr freilich in den z. Zt. bedrängten Umständen eine große Last bedeuten müssen. Durch 2 Zimmer durch fanden wir Thuar in einem schmalen, zu einem Atelier nur notdürftig hergerichteten Raum sitzen. Er begrüßte uns sehr erfreut mit kräftigem Händedruck. Dem blühenden Manne mit den dunkelrot strahlenden Backen und den forschend klugen kleinen Augen hinter einer dicken Brille unter einer niederen, vom vollen dunklen Haarwuchs überschatteten Stirn merkte man es zunächst nicht an, daß er beide Oberschenkel amputiert hat. Er trägt Prothesen, mit denen er anscheinend leidlich bequem auf dem Stuhle zu sitzen vermochte.  Ich möchte mir, von seiner Verkrüppelung abgesehen, den Komponisten Schubert ähnlich aussehend vorgestellt haben. Außer einer Grisailleskizze eines afrikanischen Hochwaldes mit etlichen Elefanten (auch Giraffen waren zu sehen) fiel mir ein Bild aus seiner älteren Periode auf, eine Straße in Endenich mit dem alten Hause an der Nervenanstalt. Durch Rollen der Leinwand war die Farbe hier und da etwas abgesprungen. Dann ein geistig durchgearbeitetes Portrait des Herrn Hoff, den ich sofort wiedererkannte, mit ruhigem, kritisch prüfendem Blick, nicht als flammender Revolutionär, wie ihn Hellmuth Macke in einem Bilde dargestellt hat. Diese ruhigere Auffasung Thuars gefiel mir ganz gut. Er erzählte mir auf Befragen sein Unglück in der Kindheit, wo er unter die Kölner Elektrische geriet und beide Beine verlor. Der Vater war Kaufmann mit großem Einkommen, der auf breitem Fuße lebte und bei seinem Tode Frau und Kinder in der Enttäuschung fast absoluter Vermögenslosigkeit zurückließ, hatte s. Zt. den Prozeß für ihn geführt, dem Grunde nach obsiegt und sich dann, anstatt ein weiteres Urteil auf Rente zu nehmen, wegen dieser Rente mit der Kölner Straßenbahn verglichen. Leider ist dieser Vergleich ein Vertrag, den nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts inzwischen veränderte Umstände nicht berühren, während ein Rentenurteil trotz Rechtskraft bei später veränderten Umständen veränderlich bleibt. Gesuche um Erhöhung seiner heutigen Rente wegen der großen Teuerung blieben bei der Kölner Stadtverwaltung erfolglos, ein Rechtsanwalt Fuchs führt nun neue Klage, hat auch in 2ter Instanz das Armenrecht für ihn erlangt. – Mit Onkel Dietrich Brügelmann, der Mitglied der Straßenbahnkommission ist, habe ich später die Sache gründlich besprochen, nachdem ich mich mit Dr. Fuchs ins Einvernehmen gesetzt hatte, was zweckmäßig zu tun sei. D. B. glaubt jetzt nichts tun zu können, solange der Prozeß schwebt, da die Sache für die Stadt von grundsätzlicher Bedeutung ist. ––
   Ich hatte Kuchen, Elisabeth Brot mitgebracht, und wir mußten Wurst probieren, die von einem selbstgeschlachteten Schwein herrührte, das etwas vorzeitig wegen Futtermangel sein Leben hatte lassen müssen. Ich besah mir noch alle anderen Bilder, die ich z. T. aus der Bonner Ausstellung kannte. Im Schlafzimmer hingen 2 Kopien größerer Bilder von ihm, die er an Museen verkauft hatte, für sich aber nochmals kopiert hatte. Alle Bilder zeigen ein ausgesprochenes Stilgefühl. Als Mensch hat Hans Thuar mir sehr gefallen und so wird er auch ein trefflicher Künstler sein und vielleicht noch ein größerer werden trotz der ungünstigen Finanzverhältnisse. Z. Zt. steckt er mal wieder tief in den Schulden, hat aber Aussicht, durch Dr. Lothar Erdmann Bilder vorteilhaft in Holland zu verkaufen (dies ist inzwischen geschehen, angeblich für 20000 M, wovon schließlich nach Zahlung aller Schulden noch 1000 M! übrig geblieben seien). ==
   Vor etlichen Tagen war ich abends mit Helene nach Tisch bei Erdmanns, wo wir Thuars Angelegenheiten auch besprachen. Eine wahre Ironie des Schicksals will es, daß er als Vater eines unehelichen Kindes auf eine Erhöhung der Monatsrente bis 185 M verklagt und verurteilt wurde, während er selbst wenig Aussicht auf Erhöhung seiner Rente hat. Er fürchtet nun die Nachstellungen jenes Vormundes, dessen neuen Ansprüchen er nicht genügen kann; dieser möchte ihm Bilder auf einer Ausstellung pfänden u.s.w. Ich habe mir seitdem die Sache durch den Kopf gehen lassen und bin zu einem Entwurf gelangt zur Gründung einer
„Hans Thuar Verwertungsgesellschaft“.
Diese soll ihm zunächst alle seine Bilder abkaufen und ihn dafür mit mäßigem Preise bar bezahlen gegen weitere Verpflichtung, Überschüsse aus Weiterverkauf zu ½ (oder ¾) an Frau Thuar in Form monatlicher Zuschüsse zu den Haushaltungskosten zu zahlen. Die Gesellschaft übernimmt ferner von Frau Thuar alle fernere Produktion, Bilder, Entwürfe ihres Mannes, den sie ihrerseits im Stundenlohn bezahlt, ihm Ölfarben, Malgerät ect. stellt und von dem sie Entgelt zu dem ehelichen Aufwand erhält. So kann man ihn freistellen und gegen Gläubiger hieb- und stichfest machen, auch ihm eine ungehinderte künstlerische Produktionsmöglichkeit schaffen. Fehlen nun noch die Kapitalisten als Gesellschafter, ich denke an Dr. Gerhardt und vielleicht Herrn Feinhals in Köln. Ohne Thuar mit Rembrandt vergleichen zu wollen, kam mir der Gedanke an dessen Spätzeit, wo er auch um seinen Gläubigern zu entgehen, für die Kunsthandlung des Sohnes Titus und der Hendrikje Stoffels malte.
   Jedenfalls besteht die Möglichkeit, dem Mann und der Familie, die nächstens das 3te Kind bekommen wird, auf solche Weise zu helfen. Natürlich sind da auch noch andere Komplikationen: Das Haus gehört einem Juden Samuel, dessen einer Sohn D. Samuel mit Thuar gut bekannt ist, Trotzdem hat er recht hohe Miete zu zahlen, soll stets nun Mitmieter bekommen, erhält die Aufwendungen, die er zur

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Anlage des weitläufigen Gartens zu einem Obstgarten mit mehreren Tausend Mark gemacht hat trotz Zusage von Samuel nicht ersetzt. Kurzum ein unerquicklicher Judenkram. Ich hatte damals Thuar dringend geraten, mir über alle Abreden ect. bezüglich dieser Sache gelegentlich eine eingehende schriftliche Darlegung zu geben. Ich wollte dann versuchen, mit D. Samuel persönlich in Verbindung zu treten und mit ihm und eventuell auch mit dessen Vater eine Regelung dieser Angelegenheit und vielleicht einen längeren dauerhaften Mietvertrag womöglich mit Vorkaufsrecht herbeizuführen.
   Die Familie Gerhardt - Erdmann - Macke hat ein lebhaftes Interesse an Thuar und den seinen. +August Macke war ein Mitschüler und hat ihm seiner Zeit dazu geraten, das Malen zu erlernen. Thuar hatte zu einer Zeit, als Macke noch tastete, einen schon recht reifen und in seiner Art fertigen Stil und in diesem auch manches Bild verkauft, das „museumsreif“ war. Seine weitere Entwicklung zeigt klar, daß dies aber nur eine Etappe und keineswegs seine Vollendung war und zur Zeit als Macke kurz vor dem Kriege eben seinen persönlich eigenen Stil auszureifen begann, befand Thuar sich in einer Übergangszeit, aus der sich jetzt neuerdings ein Neues herauszukristallisieren scheint. – Er klagte mir sehr, daß es ihm unmöglich sei, irgendwelche brauchbaren Abbildungen über Elefanten in Bewegung zu finden. In der Tat zeigen alle Photos den Elefanten im Tode oder in Ruhestellung. Das Tier ist aber ungemein beweglich und voller Ausdruck in der Beweglichkeit der riesigen Glieder, über welche die schwere Haut dann wie ein loses Gewand spielt. –––
 
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   23.1.1921. Jetzt hängt der Thorn-Prikker’sche Wandteppich „Die 3 Eisheiligen“ schon 8 Tage im Treppenhaus, Hellmuth Macke half vorigen Sonntag, ihn provisorisch mit einem Ring an unserer alten Saufeder aufhängen, nachdem Helene und ich uns 2 Abende daran von Herzen ergötzt hatten, indem wir ihn im Wohnzimmer auf dem Teppich ausbreiteten. Wir sind sehr zufrieden mit dieser Erwerbung. Sie ist mir ein Greifbares Gegengewicht und eine seelische Genugtuung gegen ein Gefühl inneren Unfriedens, das mich eine Zeitlang in den dunkelsten Winterwochen überkommen hatte. Jeden und jeden Tag frühmorgens 7 Uhr auf und meist erst gegen oder nach 7 Uhr abends wieder heim, dabei das Mittagbrot in der widerlich warm dunstigen Mühlengasse, das fing mir an, das Leben allgemach etwas grau zu gestalten. Ich überlegte stark mit Helene, ob ich nicht einen anderen oder Bonner Nebenberuf beginnen sollte. Notar zu werden ist stets noch das Ziel. Zurück zum Richterstuhl ist wohl kaum mehr. Eröffnung eines Steuerspezialbüros als Rechtsanwalt? Derlei und ähnliche Pläne werden oft besprochen. Daneben habe ich mich in letzter Zeit mehrfach in Köln einfach losgerissen, bin daheim geblieben oder zeitig heimgefahren und habe hier nicht minder für die Firma und Familie gearbeitet. Max und Grete sollen abgefunden und die künftige Erbteilung bezüglich der Buchverträge auch heute schon geregelt werden. Dazu viele und lange Besprechungen, daheim in Ruhe auch genau Erbvertrag ausgearbeitet, der demnächst notariell beurkundet werden soll. Anstoß dazu gab das neue Projekt einer Shed-Strumpffabrik in Deutz neben der großen mit Meister- und Prokuristenwohnung. J. P. Manz Stuttgart machte prächtigen Plan, der aber zu teuer wird. Wir kalkulieren schon 2 Millionen. Heute rutscht Will auf 2 Wochen zum Feldberg, trifft morgen Werner, der von 3 Wochen Aufenthalt in Kitzbühel in Tirol zurückkommt, in Stuttgart, wo sie Manz sprechen. März will Onkel Dietrich nach Baden-Baden. – Helene kommt nach 14tägiger schleichender fast fieberloser Influenza mit 8 Tagen Bettruhe wieder auf die Beine, gedenken morgen zusammen Theater zu gehen: Schillers Turandot. Heute mittag aß Mama hier mit, wir köpften 1 von 6 Sektflaschen, die Arthur Kayser mir kürzlich als Honorar für Rechtsrat

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verehrte. An Sonn- und Feiertagen, auch oft noch zwischendurch arbeite ich an Vermögens-, Rechts- und Steuersachen von Frau Wwe. Paul Thanisch, wo hoffentlich auch noch ein guter Verdienst bei herausspringt. Körperlich geht es mir merkwürdig gut. Die stickige Luft der Mühlengasse in Verbindung mit meinem sonstigen sehr regelmäßigen Leben, ausgezeichneter Verpflegung und Mangel jeder körperlichen Arbeit scheint mir tatsächlich viel besser zu bekommen als das Landleben. Das tägliche Rheinuferbahnfahren hat gewiß seine Unbequemlichkeiten, giebt aber auch viel Gelegenheit zum schummrig-träumenden Halbschlaf  mit allerhand seltsamen inneren Erlebnissen.
   30. Januar 1921. Groß St. Martin. Komme ich morgens bei ergrauendem Tageslicht im hilligen Köln an, so erwache ich aus meinem Dusel erst nachdem ich einige Schritte von der Bahn den Frankenturm entlang getrabt bin. Dort begrüßt mich dann ein hochgemuter stolzer alter Freund, der schon seit einer Reihe von Jahrhunderten festen Fuß gefaßt hatte und das ganze Mittelalter über der Beherrscher des Stadtbildes war, lange ehe in der Biedermeierzeit ihm die beiden Domköpfe über den Helm wuchsen. Immer steht er da in alter Kraft und Herrlichkeit, wohlgeformt und trotzig hoch aufragend, in gelassener Ruhe stets eng verwachsen mit seinen 4 Kindern, 2 Söhnen und 2 Töchtern, deren je einer nach Osten über den Rhein, nach Süden gen Italien, einer nach Norden nach dem Meere zu und einer nach Westen über Frankreich schaut. Um seinen gewaltigen Fuß mit den drei im Halbrund sich schwingenden Vorbauten brandet ein Gewirr kleiner, krummer Gassen voller Winkel und Höhlen, die enggepreßten Häuser recken ihre Dächer hoch zu ihm hinauf, kommen ihm aber kaum über die Stiefelränder. Mitunter weckt sein eherner Mund in dröhnendem Wohllaut, daß weit über Stadt und Land, Fluß und Hafen sein Ruf dahin klingt und sich am Himmelsgewölbe bricht. Brausen die regenschweren Wolken an trüben Wintertagen unaufhörlich von Westen her, so steht sein Haupt hoch im Nebel und um seine Schultern jagen die Gestalten der grauen Jäger aus der wilden Jagd. Leuchtet die Sonne am blauen Himmel, so strahlen seine Glieder in funkelndem Goldbraun und netzt der feuchte Regenatem die Luft, so schimmert sein Helm in tiefleuchtendem Blau und seine großen Formen umspielt eine durchsichtig graubläuliche Luft. Ihn selbst berührt das alles nicht. Unerschüttert steht er da in allen Stürmen wie im laulichsten Sonnenschein. Stets auf der Hut, ein Herrscher und Beschützer seiner Stadt, der herrlichste aller deutschen Turmfürsten: Groß St. Martin. –  Durch ein schmales Gäßchen werfe ich allmorgendlich einen Blick auf einen Ahornbaum, der da schlank und rank dicht an seines Fußes Wurzel steht. Wie lange hat er bis in den Winter hinein auf sein zuhöchst emporgereckten Finger-Astspitzen 3 goldene Blättlein festgehalten, die im Herbst die Frühsonne stets in leuchtendem Gold aufblitzen ließ, als ringsum noch alles in schläfrigem Schummer lag. Selbst der Frost im November - Dezember, der den Baum durch Stein und Bein fror, vermochte ihm nicht jene goldenen Blättchen aus den verkrampften Spitzen zu reißen und erst das lauliche Wetter um Weihnachten löste dem Baum die Finger und die letzten Blättchen wirbelten weg. Jetzt steht

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der Baum mit seinen Ästen in einem schwellenden Licht, die lange Feuchte und Wärme täuschen ihm den Frühling vor und gar zu gern möchte er losbrechen und seine Knospen vorzeitig öffnen. Wie ein Graspflock oder eine kleine Krautstaude steht er unten am Fuß des Riesen, der ihn gar wohl kennt und gegen wütenden West und Süd schützt und deckt. –
   Eines morgens war ich im Winter in einer Seelenmesse in der alten Abteikirche. Draußen dunkle Nacht, drinnen strahlendes Licht elektrischer Lampen. Die wohlige Weite und Größe des Raumes kam mir ganz anders als bei Tage zum Bewußtsein und mit einem Schlage erkannte ich, daß diese altdeutschen „romanischen“ Kirchen bei Innenbeleuchtung genommen werden müssen. Tatsächlich wurden die großen Gottesfeiern in ihnen bei Fackel und sonstiger Kunstbeleuchtung abgehalten (wodurch mancher Brand entstanden sein mag). Geraume Zeit später war ich mittags im Dom, er kam mir beängstigend eng und schmalbrüstig im Inneren vor und ich mußte soweit vorgehen, daß ich einen Blick ins Querschiff gewann um erst recht wieder Luft schnappen zu können. Da freilich war der hochstrebende Chor erhebend und ich konnte glauben, mit einem Engel an der Hand wie der Baumeister auf Schwinds Märchenbild längst den Streben durch den Raum zu schweben. – Aber die ewige Wiederholung des Chores im Langschiff ist ermüdend; ich hätte das Langhaus kühn als riesigen Hallenbau mit 3 oder 5 Schiffen gebaut, unbekümmert darum, ob das Äußere denn so mathematisch korrekt sich hätte lösen lassen. ––
  Kölner Kunstverein. Seit 8 Tagen habe ich mir, um ein wenig über die trüben Mittagsstunden besser hinwegzukommen, eine Dauerkarte für die Ausstellungen des Kölner Kunstvereins gekauft und bin somit Mitglied dieses alten „Kunstvereins“ geworden. Ich muß gestehen, er giebt sich redlich Mühe, mit der Zeit zu gehen. Von Karl Hofer, dem grüblerisch, tief und weichsinnlichen Süddeutschen sind eine Sammlung jüngerer Werke ausgestellt, in die man sich erst hineinleben muß, um zum Genusse ihres Inhaltes zu kommen. Ein Selbstporträt spricht ohne weiteres an, ein Bild mit drei im Schlafe liegenden Gestalten ist mir schon so vertraut geworden, daß ich es besitzen möchte. Einige Holzschnitte von Hecht reizen mich zum Kaufen. Auch bei Hofer das Ringen um den Ausdruck des neuen Kunstempfindens und Gestaltens, wie ich es ein wenig pathetisch jetzt in Burgers Einführung in die moderne Kunst lese. – Mit Hellmuth Macke ist so halberwegs ein Portrait für 2000 M verabredet worden. Eine Skizze hat er aber bis heute noch nicht gemacht. ––
   In Köln ist Werner zurück und Will zum Feldberg. Ich habe einen G.m.b.H. Vertrag für „Deutzer Näherei und Strickerei G.m.b.H.“ gemacht. Manz’ Baupläne werden wohl schließlich doch verwirklicht werden und wenn sie auch 2 000 000 M kosten sollten. Alle Warenpreise sinken seit Januarbeginn fortgesetzt. Allmählich spürt man es auch an den Lebensmitteln. Trotz der Geschäftsflaue werden wir im Januar auf 7 Millionen Umsatz kommen. Ich bekomme ab 1.1. monatlich 3000 M laufend, was reichlich benötigt wird, denn derzeit bin ich nicht nur im Vorschuß, sondern auch in Schulden (ca 1500 M). Freilich sind mit diesen dann auch die gewaltigen Anlagekosten für elektrische Lichtleitung ect bezahlt. An Kleidern ect haben wir uns sehr erholt gegen früher. – Zudem leben wir gut. ––––

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13. Januar 1922
Seltsam, es scheint, daß ich alljährlich nur Januar dazu komme, einige Eintragungen in dieses Buch zu machen. Dabei habe ich es im Laufe des Jahres mir oft und stets wieder herausgelegt, auch mit ins Siegerland in die Sommerfrische genommen, aber es fehlte die Lust und die Stimmung zur Weiterführung. Ich habe das vergangene Jahr fleißig und mit wenig Ausnahme ununterbrochen in der Mühlengasse gearbeitet und finde mich im Hause und unter seinen Leuten viel besser zurecht. Im Frühjahr, das früh sehr warm und trocken war, fing ich von Onkel Dietrich eine Art Keuchhusten. Mit Helene war ich vor Ostern einige Tage in Wiesbaden, das ich noch gar nicht kannte. Ich hatte dort morgens mit Onkel D. zu arbeiten, nachmittags und abends wurde ununterbrochen dem Vergnügen gewidmet. Tante Maria und Tante Emma waren auch dort. Wir sahen Kurhaus, wohnten Hotel Rose, sahen Parcival in guter Aufführung, das Haus dichtgedrängt voll übelduftender Franzosen mit Damen in unglaublichen Kostümen. Ein widerlicher Anblick. Am Tage der Abreise besahen wir uns die moderne Gemäldegalerie, dort waren wahre Schätze zu sehen. Wir freuten uns sehr, ein uns bisher unbekanntes gutes Gemälde von August Macke als solches gleich zu erkennen und dort zu finden. Der Name eines Steinbruchbesitzers Kirchhoff als modernen Kunstgönners ist mir unvergeßlich geblieben. Einige Zeit nach Ostern war ich auf der Rückreise von Hof in Baiern mit Herrn Carl Hill nochmals dort in Wiesbaden, wo wir im Nerotel mit DB und H ein ernstes Gespräch hatten. Daraus entwickelte sich später die Interessengemeinschaft der Mühlengasse mit der Minoritenstraße (Firma Friedrich Cleff) die bald festere Formen gewann. Mit Mitte des Jahres steht die Minoritenstraße unter unserer Aufsicht mit 50 % Gewinnbeteiligung und Ende des Jahres, mit Waren, Geld, Erfahrung und Beistand der Mühlengasse in jeder Beziehung unterstützt, ist gegen den Verlust von 900 000 M schon ein Reinverdienst von 1,6 Millionen da. Ich hatte mit einer Abwicklung in Hof, einer solchen in St. Gallen, den Verhandlungen, Verträgen u.s.w. reichlich Arbeit und werde seitdem fortlaufend in allen Rechts- und Steuersachen von dort in Anspruch genommen. Zumal eine wochenlange Bücherrevision in dortiger Firma gab mancherlei Arbeit. In der Mühlengasse war 3 Tage lang solche, Ergebnis nicht unbefriedigend, Abschlußverhandlungen hierüber Montag morgen Finanzamt Köln linksrheinisch. – Der Keuchhusten nahm mich um Pfingsten stark mit, ich blieb eine Zeitlang daheim, und Hellmuth Macke malte ein Kniestück mit 2 Händen, in Sessel sitzend, blauen Rock, weiße Weste von mir. Der Gesichtsausdruck zeigt deutlich den krankhaften Zug im Gesicht. Kurz vor Beginn der Sommerfrische, im Juni bekam ich, nachdem der Keuchhusten nachgelassen hatte, Bluthusten und lag 14 Tage zu Bett, von Kölnern besucht und mit Akten gegen Langeweile reichlich versorgt. Anfang August konnten wir allesamt mit Firmenauto nach Helberhausen ins Siegerland fahren und das gleiche Auto holte uns 4 Wochen später wieder ab. 2 schöne Fahrten, namentlich hervorragend die letztere über den

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Westerwald. In Helberhausen hatten wir bei der biederen Familie Eduard Menn und unserem trefflichen Fräulein Ida schöne Tage, fast ununterbrochen schönes Wetter. Auch waren dort gegen die Dürre im Rheintal Wald und Wiesen frisch und grün. Frau Horn in Braunschweig fiel nur dort 2 x lästig mit ihrer Firmenliquidation bzw. Verkauf. Die Sache ist bis heute noch nicht geregelt. Inzwischen hat sich der Sohn erschossen und die Verhältnisse sind mir nicht klar. Zum Schluß wollte sogar Hans Brügelmann uns mit Auto dort besuchen. Firmenrevision haben bei der Firma Carl Brügelmann auch arg störend gewirkt. Eine Denunziation der Weber (?) von Julius hat bös gewirkt.  – Seit den Ferien hatte ich in der Mühlengasse stramm zu arbeiten das ganze 2. Halbjahr, kaum, daß ich 1 - 2 Tage daheim arbeitete. Meist recht spät heimgekommen. Trotz reichlicher Besoldung ist der Drang nach Mehrverdienst groß, denn von März bis Dezember hat sich die Lebenshaltung wohl allgemein um 100 % verteuert. Ab 1.1.22 habe ich jetzt 5,5 Mille per Monat. Es langt kaum. Eine Reihe Radierungen Reifferscheidt, Holzschnitte von Karl Ströher in Irmenach bei Traben Trarbach, den ich im Frühjahr in Traben kennen lernte (ich war 8 Tage in Bernkastel und 8 Tage mit Helen und Mariannchen, diese ebenfalls mit einer Art Keuchhusten gesegnet! in Eichelhüte bei Eisenschmitt - Kloster Himmerod). Dr. Bruhns besorgte mir wertvolle Handzeichnungen alter Meister in Frankfurt, Holzschnitte erwarb ich von Schwarzkopf in Düsseldorf. Einen Hendrijk van Steenwijk erwarb ich durch Dr. Cohen von belgischer Familie in Düsseldorf. – Seit Herbst nahm ich an Körperumfang und Gewicht stark zu, leide aber oft an stark quälenden Kopfschmerzen, anscheinend nervöser Natur. Ich muß mich in frischer Luft bewegen, für warme Füße sorgen und nach der Geschäftshetze mich ruhiger Beschäftigung ohne Hirnarbeit, wie Aufkleben von Briefmarken, Ordnen der Graphik-Mappen ect widmen. Die Anschaffung eines Otterpelzmantels, der sehr gut aussieht und recht praktisch in der Kälte ist, hat mich in Schulden gestürzt, von denen ich noch einen Rest bei Onkel Dietrich zu decken habe. Natürlich hat er mich zu dieser Ausgabe verleitet. Mit der veränderten Lage sind natürlich unsere Bedürfnisse gewachsen, die Geldentwertung geht fort ins Bodenlose und wir haben daher öfter kein Geld als früher, wo wir dessen viel weniger hatten, aber auch viel sparsamer wirtschafteten.
   In der Firma brachte das letzte Halbjahr eine Riesenkonjunktur mit entsprechenden Gewinnen und geradezu beängstigender Geldflüssigkeit. Letztere vermehrt sich noch durch die großen Summen, die ich als Entschädigung für die beschlagnahmte Deutzer Fabrik losgeeist habe. Ich habe seit Frühjahr die Bearbeitung dieser Sache in die Hand genommen und sie auf andere Grundlagen mit neuen Sachverständigen aufgebaut, auch unseren Konkurrenten Franz Pirenen als Gutachter aus der Sache herausgedreht. Heute sind statt 800 000 M ca 11 - 12 Millionen

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an Schaden für 1919 und 1920 geschätzt. Die Sache kommt im Sommer voraussichtlich zum Reichswirtschaftsgericht und ich werde wohl noch öfters in der Sache nach Berlin fahren, kann dann meine Ernennung zum Bonner Notar bequem nebenbei betreiben; denn diesen Plan habe ich noch keineswegs aufgegeben.
   Schwager Willi Reitmeister ist seit November mit Familie nach Plaue-Kirchmöser, Mark Brandenburg ab 1. August 21 etatsmäßig als Regierungs- und Baurat bei der Eisenbahn. Papa Reitmeister hat bald danach Zwangseinmieter bekommen, sehr ordentliche Arbeiterfamilie Weber mit 6 wohlerzogenen Kindern, die in ausgeräumten Kontorräumen und Verwaltungskammer hausen, während Papa mit Büro ins Wohnzimmer zog. Er hat eine gute und energische Haushälterin in Hersel.
   Manz - Stuttgart baute der Firma einen Eisenbeton Shed- und Wohnhaus bei, der jetzt im Rohbau fertig wird. Hoffentlich kann er im April in Benutzung genommen werden. Weder Papst noch ich ziehen in die Wohnung trotz aller Vorzüge derselben. Im Spätherbst hat Will endlich seinen Hausbau in Rodenkirchen begonnen. Auch in sein jetziges Haus habe ich keinerlei Lust einzuziehen. Otto ist bis dahin gewiß in seinen Plänen ect auch schon über jenes Haus hinaus. Papa hat eine gute Haushälterin in Hersel und fährt jeden Tag dorthin. Wie er die Mittel dazu aufbringt, sein Idol eines „völlig intakten Geschäftes“ aufrecht zu erhalten, ist mir völlig unerfindlich. Hätte er Hersel aber nicht mehr, so würde er vermutlich nicht lange mehr leben. Helene ist sehr besorgt um ihn, er ist jetzt wieder recht gepflegt, körperlich wohlauf (einen Fall vom hohen Kontorbockstuhl hat er schnell überwunden), geistig wird er jedoch langsam stumpfer. –
   Heute sollen nachmittags Sieburgs mit Kindern von Siegburg uns besuchen kommen. Das ganze vorige Jahr haben wir uns nicht gesehen. Da giebt es viel zu erzählen und auszutauschen. Diesen Winter sind wir auf 2 volle Plätze ersten Rang im Bonner Stadttheater abonniert. Wir sind recht befriedigt davon, es giebt allerhand gute neue Sachen zu sehen: Leo Weismantel, Totentanz 1921, Erdör, Johannes u.a.m. Meiner Mutter geht es trotz allem im ganzen recht gut. Sie wird von Josef gespeist, hat wenig Hülfe, da ihre Putzfrau meist ausbleibt, und sieht trotzdem gut aus. Josef hat in Eremitage ebenfalls einen Hühnerhof angelegt. Meine Bienenwirtschaft habe ich einem Schleifereibesitzer Falz in Merxheim bei Idar gegen Edelsteine vertauscht und bin mit ihm weiterhin am handeln, um noch eine Reihe prächtiger Amethyste gegen alte Bilder ect einzutauschen. Bei dem unbestimmbaren und geringen Wert der Mark sind derartige Sachtauschgeschäfte nichts Seltenes mehr. –
   In der Firma brachte ich im Juni den Geschäftsvertrag für die nächsten 10 Jahre zustande, in dem ich selbst als Schiedsrichter figuriere. Wie mag es dort nach 10 Jahren aussehen. Otto hat mit Geschick für seinen Sohn eine Anwartschaft erkämpft und hatte die Freude, auf seinen 35. Geburtstag auch wirklich einen

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Sohn „Johann Wilhelm“ zu bekommen, über dessen Vorbenamsung in der Mühlengase es nicht ohne heftige Auseinandersetzungen herging. Denn Wills älterer Sohn „Fr. W.“ führt unvorsichtigerweise den Moderufnamen „Gert“, so daß Otto sich berechtigt fühlte, seinen wirklich Friedrich Wilhelm, genannt Fritz zu nennen. Werner bekam einen 2ten Sohn Klaus, dessen Taufe Helene und ich mitmachten, ein herrlicher Sommertag. Grete Riesen bekam ebenfalls den 2ten Jungen „Wolfgang“ (später eingefügt: fiel in Stalingrad 14.9.42). Sie wohnen jetzt bei der Großmutter in der Wörthstraße. –
   Mit unseren Olsdorfer Verwandten haben wir leider noch keine Berührung wieder gewonnen. Johannes war mit seiner Frau Leny einige Tage bei Mama zu Besuch. Trotz guter Praxis und auskömmlichen Einkommens sehnt er sich sehr hier nach Bonn zurück. An der Wohnungsfrage und den Schwierigkeiten der ersten Einführungsjahre wird aber vorläufig ein derartiger Plan scheitern müssen. Josef machte mal wieder unter den verschiedensten Vorwänden Angriffe auf Bachstraße 60, das er unbedingt kaufen zu müssen glaubt. Er macht tausend Pläne und meist zum Schluß nie besseres, als daß man ihm Bachstraße 60 halb schenken müßte.
   10.2.22. Den Eindruck eines gräßliche Ereignisses in der Firma muß ich mir von der Seele schreiben, es bedrückte uns heute morgen alle heftig, nachdem Will und Otto von ihrer 14tägigen, durch Eisenbahnstreik fast um 1 Woche verlängerten Feldbergaufenthalt frisch und froh zurückgekehrt waren. Vor 2 Tagen spitzt ein sonst dämlicher älterer Lehrling Schmitt die Ohren in seiner Speditionsabteilung und hört, wie ein Angestellter Seinsch und der Leiter dieser Abteilung Kattwinkel an einer Rechnung über 4,30 m Stoff herumdoktern, die Seinsch im Laden bei einem Angestellten Siebert für sich entnommen hatte. Um nun mit diesen 2 - 300 M nicht sein – bei jedem von Personalbürochef Faßbender bei der Monatsabrechnung streng überwachtes Ladenkonto mit dieser Rechnung zu belasten, war man auf den Gedanken (durch Siebert) gekommen, die Rechnung auf das Konto Kuth, eines ruhigen jungen Verkäufers, derzeit in der Manufakturabteilung bei Pape beschäftigt, buchen zu lassen, dessen Vater in Düren ein Geschäft betreibt, für das der Sohn häufig Waren aus dem Hause mitnimmt. Bei dieser Überlegung kommt ihnen der Gedanke, aus 4,30  3,30 m zu machen und so einen Meter zu unterschlagen. Der Lehrling meldet dies, der Speditionsleiter Offermann bekommt Wind und fragt telefonisch in der Spedition an, daraufhin wird die Rechnung auf 4,30 m ausgefertigt. Also: Versuch eines Betruges von 1 m Stoff in Idealkonkurrenz mit Urkundenfälschung. Meldung bei Papst und Werner Brügelmann, bei letzterem erregte Szene mit Kattwinkel, der ein sehr fleißiger tüchtiger Mensch, aber aufgeregt und ohne

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Formen ist. Im Verlauf der Verhandlung, bei der sich K. wohl entschuldigen wollte, wird er heftig und ausfallend, Gegenstoß: „Werfen Sie den frechen Kerl doch hinaus“. Seinsch und Kattwinkel erscheinen nicht mehr im Hause, sie kündigen der Firma, was ihnen Offermann schon nahe gelegt hatte. Papst nimmt sich Kuth vor. In der Konferenz, in der Dietrich Brügelmann sofort dessen Konto untersucht haben wollte, wird beschlossen, hiervon abzusehen, um kein Mißtrauen gegen Kuth zu bezeigen. Ich frage, ob Kuth ein Geschäft habe. Dies gestern. Heute erscheint ein Bruder des Kuth und berichtet, er habe sich diese Nacht mit Strychnin vergiftet und vor dem Tode gestanden, auf seinen Vater größere Beträge (von 20 000 M) an Waren entnommen zu haben. (Gestern hatte D. B. in Spedition erst große Sache machen wollen, auf unser aller Gegenvorstellungen lobte er schließlich nur den Schmitt und gab ihm 100 M, die dieser ablehnte.) Heute alles arg bedrückt. –
   1922. 4. Oktober. Lese ich das Vorstehende, so kann ich nicht glauben, daß es erst 8 Monate her sein soll. Es hat sich seitdem so vieles ereignet, daß es mir wie Jahre zurückzuliegen scheint. Im August – ich war mit den Meinigen im Siegerland in den Sommerferien – ereignete sich was Ähnliches: Unterschleife im Laden wurden entdeckt, die mit Hülfe von früheren Angestellten des Hauses betrieben worden waren und kaum daß die Untersuchung darüber ernstlich begonnen wurde, gingen 2 weibliche Wesen – vermutlich nicht einmal die Hauptschuldigen in dieser Sache, sondern die, welche sich von anderen dazu mißbrauchen ließen, in den Rhein und ertränkten sich. Das gramvolle Gesicht meines Vetters Will steht mir noch deutlich vor Augen, als er mir dies kurz berichtete und mit dem Fuß auf einen Bastkoffer wies, der voll von Waren war, die jenen unrechten Weg gelaufen waren. Ich war damals auf 1 ½ Tage aus dem Rothaargebirge von Helberhausen nach Köln gefahren, um einige wichtige Sachen, u. a. die Zwangsanleihe – diesmal ohne Onkel Dietrich, denn dieser saß in Friedenweiler im badischen Schwarzwald – zu erledigen. Mit 1 ½ Millionen war dies abgetan. Es waren damals zwei ungewöhnlich schwülheiße Tage in Köln in dem kühl-regnerischen August. Jener Eindruck griff einem ans Herz und brachte einem den Schweiß auf die Stirn. –
   Was sich in den 8 Monaten aber sonst nicht alles verändert: Die Mark ist ins Bodenlose gefallen, meine Prophezeiungen im Frühjahr, der $ (Dollar) würde noch auf 400 M kommen, ist grotesk überholt worden, er steht heute über 2000 M und macht Miene, noch viel weiter zu steigen. Alles steht heute unter dem Druck – Eindruck kann man nicht mehr sagen, es drückt jeden sofort und unmittelbar, denn die Preise richten sich jetzt viel schneller nach der Markentwertung wie früher – unter dem Druck dieses entsetzlichen Währungszusammenbruchs. Wohin soll das führen?
   20.XI.22. Cohens Mackebüchlein gelesen, dabei fällt mir ein: Ich saß Mai 1914 mit Macke im Freien neben dem Thuner Bahnhof, wir warteten auf Moillet, der in einer Weißblechfabrik sich ein Stück Blech holte um einen Blechaquarellmalkasten daraus fertigen zu lassen (August hatte einen solchen in Zinkblech bei einem Guntener Klempner in Arbeit gegeben). Macke erklärte mir, wie er ein Bild sehe, dabei kniff er ein Auge zu, beschrieb ein Viereck in der Luft mit der Hand: Siehst du, da nehme ich links die Lokomotive in die Ecke, rechts das Weinlaub, darunter ein Stückchen Himmel, unten die Latten u.s.w. Plötzlich sah ich deutlich ein fertig

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linear und farbig komponiertes und in sich abgewogenes Bild in erquicklich frischen Farben mir vor Augen stehen. Es war, als ob er meine Seele befruchtet und mir geistig die Augen geöffnet hätte. Aus einem Stück Alltag sah ich plötzlich ein künstlerisch geformtes Stück Welt. –
   Neujahr 1923. Diese Nacht hatte ich halb wach, halb im Traum eine lange Gewissenserforschung über alles, das was das vergangene Jahr 1922 uns gebracht hat, gipfelnd in dem Satze: Hat es dich seelisch weitergebracht? Oder welchen Gewinn kannst du für dein Inneres buchen? Die Antwort blieb aus, auch jetzt wußte ich dafür nichts vorzubringen. Von außen betrachtet, brachte uns das Jahr viel Gutes: reichlich Nahrung, Eifel-Sommerreise mit Helene, Autofahrt in Sommerfrische mit Helene, reichen Erwerb an Gemälden, Handzeichnungen, Schmuck, Pelz für Helene. Kinder: Kleider, Rollschuhe und was weiß ich alles. Innerhalb der Firma und Familie hat sich meine Stellung nicht verschlechtert. Gehaltsbezüge erhebe ich nach Bedarf und Gutdünken über Geheim Konto. Ganz äußerlich geriere ich und werde behandelt als „quasi Teilhaber“. Meine Unzufriedenheit für die Dauer mit dieser funkelnden aber schnell verblassenden Lüge führte zu einem Brief an Onkel Dietrich, worüber dieser Helene und mich zusammenzustauchen versuchte, wobei ich aber sehr erregt wurde und schließlich „der Notar“ als Lösung approbiert wurde. Nachdem erhielt Papst eine Umsatzprovision 1 o/oo, was jetzt über 1 Million per Monat ausmacht. Ich warte ab und denke an anderes. Die Dienstbotenfrage war das ganze Jahr über mangelhaft gelöst. Kinder hatten den Ziegenpeter, Mariannchen auch 2 x heftige Bronchitis, ich mal 8 Tage Grippe. Helene mitunter stark ab. Papa stets blühend. Sonst alles gut verlaufen. Hoffen wir für 1923 das Beste. Daß ich meinem Freund Bruhns mitunter ein wenig beistehen konnte, war noch meine Hauptfreude und vielleicht das einzige moralische Plus des verflossenen Jahres, das mir im Übrigen an Alter und Zunahme von körperlicher Fülle und weiterer kaufmännischer Gerissenheit keinen Abbruch tat. –

Aus den Erlebnissen eines rheinischen Richters
   Neben eigener Auffassung verdanke ich meinem praktischen Lehrer LGR. Direktor Geh. JR Schüller die Fähigkeit, mich als Richter über dem Gesetze und nicht unter demselben zu fühlen. Das Recht ist ein Roß, das der Richter reiten muß, oder ein Stab, der er schwingt und der nicht ihn schwingt. „Steht das wirklich in dem (damals) neuen BGB?“ war eine oft wiederholte erstaunte Frage jenes erprobten Praktikers, „Na, und wenns drin steht, dann ist es Unsinn. Um zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen, muß man . . . u.s.w.“ und dann kamen höchst vernünftige allgemeine menschliche Erwägungen. Ich war schon 8 Jahre Amtsrichter, als ich 1918 erstmals in Rheinbach eine Abteilung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zu bearbeiten bekam. Krieg und zahlreiche Vertretungen hatten diese Abteilung arg verwüstet, sie lag noch voller „alter Schinken“ (leider keine genießbaren), die ewig mit matten Beweisbeschlüssen und ähnlichen untauglichen Mitteln am Leben gehalten anstatt mit einem kurzen und schnellen scharfen Schnitt zur Ruhe gebracht waren. Aus dem Felde heimkehrende schon ältere und lebenserfahrene Referendare halfen mit frischem Eifer, den Stall

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auszufegen und ich lehrte sie, die Sache stets zunächst vom rein menschlichen und praktischen Standpunkt anzufassen und eine Entscheidung ohne Paragraphen kurz und knapp so zu fassen, daß ein Bauer des Kreises sie verstehen konnte. „Versteht er es nicht, so schimpft er mit Recht und der Richter ist im Unrecht“, war mein Leitmotiv. Besonders aber arbeitete ich munter auf eine vergleichsweise Erledigung alter verjährter Rechtsstreitigkeiten hin. Die Kollegen staunten, daß die Höchstzahl von 45 Vergleichen in 1 Jahr, in 10 Monaten von mir doppelt überholt wurde. Und dabei, wie einfach ist es, einen Vergleich zu schließen, wenn man den eigentlichen familiären oder sonstigen Streitpunkten auf den Kern geht, unbekümmert um die rechtliche Verbrämung, die ihnen gewisse Parteien und ihre Sachwalter geben. Die Rücksprache mit den Parteien, schonend und humorvoll in öffentlicher Verhandlung giebt da bald alle Aufschlüsse: Wird um eine Strohlieferung prozessiert, so hatte ich bald heraus, daß ein entliehener Hamen die Ursache dieser vom Zaun gerissenen Differenz war. Der nicht zurückgegebene Hamen aber stand bald im Zusammenhang mit einer frühen Freundschaft oder Liebesverhältnis der beiderseitigen Kinder der Parteien. Eine gründliche Aussprache über all diese prächtigen Sachen schafft dann stets eine Atmosphäre, in der ein richtig angebrachter Vergleichsvorschlag auf fruchtbaren Boden fällt. Nur eins ist nicht dabei zu vergessen. Den im Prozeß formell meist nicht, in der Sache aber umsomehr beteiligten Weibern muß ausgiebig Gelegenheit geboten werden, sich gegenseitig ihr Herz coram judice et publico auszuschütten, und ich war stets bestrebt, diese seelische Ausmistung möglichst gründlich besorgen zu lassen, wozu außer Zeit und Geduld auch gelegentlich ein bald geringeres bald stärkeres Anfeuern nötig ist. Plötzlich ergreife ich dann als führender Prozeßrichter wieder die Zügel und schon fährt der Karren aus der holperigen und jeden Augenblick mit Umsturz drohenden Prozeßweg in die glatte Vergleichsstraße ab.

Das Bienenhaus.
Über eine an sich geringfügige Grenzüberschreitung durch den Vorbau eines Bienenhauses waren in Dingeshoven zwei alte Bauernfamilien sich in die Haare geraten. Der Prozeß hatte mit den Beweiserhebungen, Beschuldigungen, Ortsterminen ect den üblichen Gang genommen, Entscheidungen waren gefallen, angegriffen, wieder aufgehoben, kurz es war ein wirrer Knäuel geworden und die Sache selbst war längst gegenstandslos geworden, die Frage der Kostentragung (die Kosten hatten sich nilpferdartig ausgewachsen) brachte allen alten Streitmist aufs neue aufs Tapet. Schon vor Jahren war die Sache Gegenstand eines Festwagens in einem bäuerlichen Fastnachtsumzug in dem betreffenden Dorfe gewesen, wobei es an den derbsten Anspielungen auf die verbissene Streitwut der beiden Parteien nicht gemangelt hatte. Ich vermaß mich, auch diese Sache im Vergleich zu erledigen. College S. ein äußerst bedächtiger Richter, der die Sache genau kannte, bestritt lebhaft die Möglichkeit einer solchen Lösung und ich wettete, daß ich es in 2 Monaten schaffen würde. Ich gewann die Wette, wenn auch nicht gerade leicht. Alle 14 Tage erschienen die Parteien, wurden persönlich zur Verhandlung zugezogen, ich fühlte bald heraus, daß der Streit zwischen den schon bejahrten beiden Frauen sich abspielte und ich ließ mich keiner Mühe verdrießen, auch diese beiden vor den Richtertisch zu ziehen, obwohl sich eine heftig sträubte. Sie fuhren aufeinander los, wie erfahrene Kampfhähne, es mußten Pausen eingelegt und Stühle herbeigeschafft werden, die den Erschöpften Gelegenheit gaben, sich ein wenig zu verschnaufen. Ich gab bald der einen, bald der anderen zu verstehen, wie doch auch noch dies und dann noch jenes vorgekommen und wie man sich noch diese und jene Tort angetan habe. Nach reichlich 1 ½ (-stündigem? -tägigem?) heftigem Kampf war eine entgültige Ermattung eingetreten, ich hielt den eher betretenen Ehemännern ihre Pflicht vor, gegenüber derartiger unüberlegter Weiberfeindschaft die Vernünftigen

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zu spielen und sich als die Eheherrn zu zeigen. Sie waren erst noch ängstlich und versuchten sich, hinter ihren abgekämpften Weibern Deckung zu finden, diese waren es aber selbst satt und trieben die Männer vor. In 20 Minuten hatte ich, den ruhigen Moment der allgemeinen Erlahmung wahrnehmend, den die Sache entgültig und unwiderrufliche schlichtenden Vergleich fertig und alles nahm ihn als Erlösung an. Natürlich empfanden später diese Lösung als eine halbe Übertölpelung durch den Richter, aber alle Beschwerden waren vergebens, die Sache war und blieb erledigt. –

Nettchen Schnorrenberg +. Bonn, 20. Januar 1923. Das war der schwerste Tag, den ich bislang in der Mühlengasse und in Köln erlebt habe. Ich verlebte ihn halb wie im Traum, und jetzt am späten Samstagabend, wo ich gebadet und gespeist zu Hause sitze und dies schreibe, ist es mir wie Unwirklichkeit und doch habe ich noch vor 3 Stunden mit Onkel Dietrich auf der Lindenburg an Nettchen Schnorrenbergs Leiche gestanden und wir haben ihr weiße Nelken auf die Brust gelegt. Es ist furchtbar. Ich komme heute morgen nichts ahnend ins Haus, stürze mich sofort auf H. Bender, um festzustellen, ob ich einen Wagen zur Fahrt nach Deutz losmachen könnte. Es ging dies schlecht, ich eilte auf mein Zimmer, die naßkalten Füße wollten sich am elektrischen Fußwärmer eben warmtrocknen, als es zur Konferenz klingelte, ich sichtete noch einige Briefschaften, da ertönte das Telefon wieder, ich möchte sofort zu Onkel Dietrich kommen. Als ich über den Hof gehe, sehe ich das Konferenzzimmer noch dunkel und denke, du kommst doch noch zu früh oder Onkel Dietrich will dir vorher noch was Besonderes sagen, da treffe ich bereits alle in seinem Zimmer, dazwischen Herrn Moll, den ersten Reisenden. Onkel Dietrich sieht mich traurig an, alles ist still. „Es ist ein schreckliches Unglück passiert.“ „Was denn?“ „Denk dir, Nettchen Schnorrenberg ist von einem Auto überfahren worden und ist tot.“ „Tot?“ „Ja, tot.“ Ich bin ganz paff, die Beine versagen mir den Dienst und ich lehne mich an die getäfelte Wand und taste rückwärts nach einem Halt. Ich weiß dann nur noch, daß einiges geredet wurde, ich aber nicht lange mehr stehen konnte, alle standen seitlich und Onkel Dietrich saß auf seinen Schreibsessel; ich mußte mich in einen Sessel fallen lassen und war körperlich und seelisch ganz geknickt. Ich saß lange an dem Tisch mit der Glasplatte, den Kopf in die Hand gestützt und fühlte, wie mir der Kopf wackelte und schließlich beißend kitzelnde Tränen an Nase und Backen herabliefen. Von Ferne hörte ich bald diesen bald jenen reden und starrte stets auf ein Briefblatt von D. Hudig & Co in Amsterdam, was ich mit anderen Papieren in der Hand hielt. Ich glaube ich saß so noch eine Zeitlang, als sich die nur ganz kurze Konferenz, die nur von diesem Trauerfall handelte, schon verlaufen hatte. Onkel Dietrich hatte den lebhaften Wunsch, daß wir um ihn blieben. Ich überlegte mir gleich, daß ich Helene nach Bonn telefonieren müßte, ich bliebe den Samstag nachmittags in Köln. Es gab nun bei aller Trauer und dem immer noch ganz unbegreiflichen Zustand der Leere, genug zu tun und zu beraten. Die eiligen Zeitungsanzeigen wurden 2 - 3 mal neue aufgesetzt, die letzten Fassungen rührten z. T. von mir her. Ein Polizeibeamter kam und brachte Nettchens Tasche, die Onkel Dietrich auspackte, der Bruder Gustav Schnorrenberg war schon vorher da und dabei: Es fand sich darin u. a. ein Brief von Kurt aus Hamburg und eine Karte von Werner aus Oberstdorf, ein silberner Rosenkranz mit Perlmutterperlen, den Onkel Dietrich

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ihr s. Zt. aus dem Heiligen Land mitgebracht hatte. Er konnte nicht begreifen, daß die Tote ihn um die Hände gewickelt mit ins Grab zu bekommen hätte, Papst, Schnorrenberg und ich aber belehrten ihn eines Besseren. Von den Schlüsseln nahm ich den von der Neugasse an mich, ich hatte längst einen solchen haben wollen. Papst fuhr mit Tante Marias Wagen zu den Zeitungen, um mit Aufgabe und Druck der Zeitungsanzeigen sicher zu gehen, dann fuhr ich mit ihm nach Deutz, ich hatte Besprechung mit Monteur der Signalbauanstalt, dem ich 3 Paar warme graue Socken als Angebinde der Firma für treue Hülfe übergab. Der treffliche alte Arbeitsmann freute sich sehr darüber. Mit Doll und Lauft (Unternehmer) besprach ich mich in Beschaffung von 4 Weichenblöcken mit Laternen u.s.w. Kies war schon auf unserem Gleise angefahren worden. Dann mit Papst zur Mühlengasse zurück. Dort zwischendurch noch einige Schreiben, so an holländische Versicherungsmaklerfirma und Vaterl. und Rhenania erledigt, Onkel Dietrich beigestanden, dann 12 ¾ alle auf Speisesaal versammelt. Onkel Dietrich nahm sich mit aller Gewalt zusammen und hielt dort an alle Angestellten – das Haus war geschlossen – eine kurze von Herzen kommende Ansprache, wobei er auch das Kernstück aus Nettchen eigener Rede bei ihrem Jubiläum verlas. Kein Auge blieb trocken. Otto, der neben mir stand, ging der Atem wie auf hoher Bergbesteigung. Tante Emma stand neben mir, Asta und Leny waren auch da. Werner und Erna (letztere mit steifem verstauchten Knie vom Schifahren bei vermutlich zu wenig Schnee in Oberstdorf) werden erst für heute abend zurückerwartet. Ich mußte nach Beendigung – ein Bild mit Frl. Schnorrenberg, das Onkel Dietrich schon früh bekränzt und mit Flor behangen hatte, und ihr Stuhl mit einem grünen Trauerkranz geschmückt, standen dabei. – als die Rede zu Ende war und einzelne sich noch jene Sachen besahen, konnte ich es nicht mehr aushalten und mußte einige Schritte im hinteren Hofe auf und abgehen, wobei mir etliche Regentropfen auf den Kopf fielen und ich mit einem merkwürdigen gleichgültigen Interesse mir die Türe zu dem gemeinsamen Nachbarausgang zur Neugasse besah und dachte dabei an die hierüber jüngst in die Hände gekommenen Prozeßakten. Ich setzte mich dann wieder in Onkel Dietrichs Zimmer an den Glastisch und zupfte Tannennadeln aus dem Tannengrün-Strauß, der dort schon lange stand und machte einen Haufen Nadeln zurecht, was ich auch schon vorher getan hatte. Später fuhr ich mit Onkel Dietrich, Tante Emma und Maria zur Münze, hatte dort bei Tisch merkwürdigerweise einen Mordshunger, ich schämte mich fast über die 2 Teller Erbsensuppe und die große Apfelkuchenschnitte, die ich hinunterschlang. Es fiel mir ein, daß ich stets je ergreifender ein Trauerspiel auf der Bühne war, dem ich beiwohnte, desto stärkeren Hunger ich nachher bei Tisch eintwickelte. Ich habe sogar darnach den tragischen Gehalt eines ernsten Trauerspiels einzuschätzen mir angewöhnt. Ich äußerte den Wunsch, Nettchen noch einmal zu sehen; das war Onkel Dietrich aus der Seele gesprochen. Er überlegte trotz Widerspruchs von Tante Emmy sofort mit mir nachmittags dorthin zu fahren. Wir ruhten, tranken ½ 4 zusammen Kaffee, 1 Schnaps, Mutzen Mändelchen, fuhren ½ 5 zunächst zu Direktor Luhr (Firma Esch?) Kaiser Friedrich-Ufer 85 gleich um die Ecke das II Haus, wir wurden empfangen. Dieser verhältnismäßig

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etwas aufgeschwemmte dicke junge blasse Herr hatte selbst allein den schweren Wagen gefahren, der am Dom die eilig zur Bahn strebende Nettchen Schnorrenberg zur Strecke brachte. Onkel Dietrich frug genau nach Einzelheiten. Die Darstellung war nicht klar verständlich, ganz unverständlich aber bleibt, wie Luhr einen fremden, herzugekommenen Schoffeur den Wagen statt nach dem nächsten Krankenhaus zur weit draußen liegenden Lindenburg fahren läßt. Auch blut überströmt, auch auf Platz Blutlache. Wir verabschieden uns kurz und ernst von dem Unglücksmann, fuhren Ring entlang, kauften Blumen, Dietrich 4, ich 1 weiße Nelke je 500 M und dann zur Lindenburg. Dort durch endlose Korridore, ein Stück Garten schließlich zur Leichenhalle. Dort in einer kleinen mit Stoff abgesperrten Koje auf einfachem Fahrbett unter rauhem weißem Laken, den Kopf zerschunden und blutig, das linke Auge nicht ganz geschlossen, lag Nettchen, dieser selten intelligente und gute Mensch, diese kluge umsichtige charakter- und liebevolle Dame, den Kopf mit einem Tuch umhüllt, ein Anblick zum Erbarmen. Ein junger Herr Schnorrenberg war dort. Der Wärter König wollte uns noch den jedenfalls mehrfach gebrochenen Hinterschädel zeigen, ich wehrte energisch ab. Wir legte ihr die weißen Nelken auf die Brust, wo schon ein Blumenstrauß lag und gingen wieder in den dunklen nassen Garten hinaus. Ein elendes Gefühl. Gestern abend war Onkel Dietrich auch sofort im Wagen dorthin geeilt, als er erst gegen 6 Uhr abends die Hiobsbotschaft gehört hatte. Er habe sich gestern erst mit 3 Kognaks dort vorher stärken müssen. Heute war er sehr gefaßt, fühlte aber, daß mit ihr ein großes Stück seiner unermüdlichen Arbeitskraft entgültig dahin ist. Es wird noch schmerzhafte Resignation für ihn geben. Dann sprachen wir noch ausführlich einen sympathischen schmalen blonden Arzt Dr. Wachendorf, der bei Ankunft der Leiche diese aus dem blutüberströmten Auto (– ich kann bald nicht mehr schreiben!) geholt und den Tod festgestellt hatte. Er gab uns die überzeugende Versicherung, daß der Tod höchstwahrscheinlich sofort eingetreten ist, jedenfalls aber die schwere Gehirnerschütterung augenblicklich das Bewußtsein und Gefühl ganz aufgehoben hat. Seine Beschreibung, wie die Leiche vornüber zusammengefallen wie ein Knäuel im Auto gelegen hatte, war schwer anzuhören, aber seine genauen ärztlichen Darlegungen wirkten doch beruhigend. Am Ausgang trafen wir außer jenem Herrn Schnorrenberg auch den Bruder Gustav Schnorrenberg wieder und fuhren alle zusammen zur Mühlengasse. Papst der unermüdliche war dort und gab mir frischen Abdruck der Kölnischen Volkszeitung mit, deren Anzeige ich mir ausschnitt und hier einklebte. ½ 7 saß ich in der Rheinuferbahn und die Fahrt wurde mir sauer und lang, da 4 angeheiterte Herren sich laut und lärmend unterhielten. Hier wußte Helene schon alles Nähere, durch eine telefonische Unterhaltung mit Tante Emma. Papa, seit 1 ½ Wochen erstmals wieder hier, schrieb schon an Onkel Dietrich. Dieser hatte heute mittag den ersten, sehr schönen Kondolenzbrief von seinem Konkurrenten Franz Proenen.
   Jetzt ist es Mitternacht und ich beschließe diesen Tag. Was kommt nun? An der Ruhr finden die Franzosen überall hartnäckigen Widerstand.

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Ruhrbesetzung – Ausweisungen – Küchenumbau
   Bonn, 17.II.23. Es ist eine fürchterliche Zeit. Die Franzosen haben die Ruhr besetzt. Fast alle Bahnen liegen still, der Bonner Bahnhof ist seit ca 2 Wochen geschlossen, die Schranken an den Wegübergängen stehen offen, dann und wann fährt eine Lokomotive oder ein kurzer meist leerer Zug von den Franzosen gefahren mit Gepfeife vorbei. Vor etlichen Tagen wurde an unserem Bahnübergang eine junge Dame totgefahren. Allenthalben werden Beamte ausgewiesen, die den Anweisungen der deutschen Behörden folgen. Gestern stand u. a. die von französischen Kreisdelegierten in Berncastel verfügte Ausweisung von AGR Dr. Winkler und Reinecke in der Zeitung. Ich habe fast ein Gefühl einer gewissen Geborgenheit, nicht mehr in Amt und Würden zu sein. – In der Firma hatten wir bis heute vor 8 Tagen eine 1 ½ Wochen dauernde Buchnachprüfung durch 3 Herren vom Landesfinanzamt Köln. Wenig angenehm und schmerzhaft ermüdend, vormittags und nachmittags fast ununterbrochen bei ihnen zu sitzen. – Sonntag morgen besprach Helene mit mir die Umlegung des Küchenfußbodens, daraus entwickelte sich rasch das seit mehr als 30 Jahren besprochene Projekt der Klosetverlegung und Küchenerweiterung. Sonntag vormittag sprachen wir besuchsweise bei H. Böhm vor, der uns die Aufgabe der Speisekammer und Verlegung des Closets in dessen Ecke riet, nachmittags hatte ich schon den Maurermeister Renz hier und abends nach Tisch besprach ich in Endenich das Nötige mit Schreinermeister Vosen. Seit Dienstag ist Küche und Keller geräumt, Mittwoch sind die Handwerker zur Stelle; heute, Samstag steht schon halb die neue Klosettmauer da, die Kanalrohrleitung im Keller ist schon verlegt, ein aus der jetzt aufgegebenen Konfektion in der Mühlengasse abgebrochenes freistehendes Klosett harrt seiner Wiederauferstehung und im Lauf der nächsten Woche wird hoffentlich die Roharbeit fertig und der Fußboden wieder gelegt. Es kostet natürlich viele Papiermark, giebt aber eine geräumige Küche. Die Kölner sind auch dafür, das Eßzimmer zu vergrößern durch Anbau, der für den 1. Stock eine Veranda ergiebt und unten die Veranda vorzuziehen. Ich habe noch Bedenken wegen der Kostenfrage. Heute abend gehen wir auf Einladung DB in eine Aufführung der Cäcilia Wolkenburg im Stadttheater, trinken bei Tante Maria Kaffee und fahren abends wieder heim.
   4. März 1923. Vorgestern waren wir bei Heinrich Schneiders zu einem sehr guten und dabei recht gemütlichen Abendessen.
   Die Not des Vaterlandes wird stets größer. Seit langen Wochen verkehrt hier kein deutscher Zug mehr, die Schranken stehen offen. Jetzt haben die Franzosen einzelne Züge in Gang gebracht, die aber meist völlig leer fahren. Truppenzüge dagegen sind stets übervoll bei ihnen. Bisher haben Industrie, Beamtenschaft und namentlich Eisenbahn, Post und Zollämter allen Verlockungen, Versprechungen und Vergewaltigungen widerstanden. In Bernkastel sind beide Collegen Winckler und Reinecke mit Familien ausgewiesen, desgleichen Landrat v. Nasse. Man darf sich glücklich schätzen nicht mehr Beamter und damit dem unvermeidlichen Konflikt ausgesetzt zu sein, der stereotyp mit Vertreibung aus der Heimat endet. Über 600 sind bisher schon „ausgewiesen“ worden. Wie lange dieser erbitterte waffenlose Krieg noch dauern wird, ist gar nicht abzusehen.
   Am 1. März ist unsere Filiale in Dortmund eröffnet worden. Die traurigen Verkehrsverhältnisse bringen es fast mit absoluter Notwendigkeit mit sich, daß die dort aufgestapelte Ware reißend

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Absatz findet. Trotz Verkehrssperren aller Art setzten wir letzten Monat 2,6 Milliarden in der Mühlengasse um.
   Will hat endlich sein neues Haus in Rodenkirchen fertig und ist langsam im Umzug begriffen. Papst soll in sein Haus. Die hierzu nötige Wohnungstauscherei ist von den Wohnungsämtern bestätigt. Otto und nicht weniger ich haben Onkel Dietrichs dringende Frage, ob wir neben der Deutzer Fabrik in evtl Neubau ziehen würden, ablehnend beantwortet. Ich gedenke überhaupt nicht eher nach Köln zu ziehen, als bis zuvor meine Stellung und eine eventuelle Beteiligung an der Firma gesichert ist. Mein Leben lang „angestellter“ Justitiar zu bleiben, ist nicht meine Absicht. Heute abend wieder habe ich noch einen Entwurf zu einer Bewerbung um eine freiwerdende Bonner Notarstelle gefertigt, um vorkommendenfalls solchen sogleich zur Hand zu haben. Für Günter Riesen habe ich durch zähe langsam sich entwickelnde Verhandlungen jetzt eine Stelle mit Beteiligung nach 2 Jahren und späterem Firmenerwerb bei Rudolf Steiner in dessen Firma R. St. & Co Korsettfabrik Köln-Ehrenfeld erreicht. Er wird mir dankbar sein können. Heute früh besprachen Helene und ich mit Walter Wolf, Liesel Schneiders Bruder, der als Diplom-Maschineningenieur jetzt in Aachen Dr. ing. macht, die Möglichkeit einer Beschäftigung bei F.W.B.S. in Deutz. Dort ist der Eisenbahnanschluß, den wir aus Mitteln der von mir durchgekämpften Schadensersatzansprüche gegen das Reich (neben dem Strickereineubau, dem Lastwagenpark und zahlreichen Maschinenneuanschaffungen, Fabrikwiederherstellung) mit 20 - 30 Millionen erbauten – Heute dürfte er schon 100 Millionen kosten! – bahnseitig abgenommen worden.
   Papa hat jetzt eine weitere Arbeiterfamilie in den nächsten Tagen in der Herseler Wohnung. Selbst in letzter Stunde war er auch in Güte nicht dazu zu bewegen, sich durch Mietvertrag mit der Seifenpulverfirma Ed. Theobald & Co Luft zu machen. Er wird das ganze Bruchlokal noch voll solcher Zwangsmieter bekommen. Wir haben den Küchenumbau bis auf die letzte Feinarbeit und Anstrich fertig. Nächste Tage sollen die Küchenmöbel wieder hineinkommen. Es hat lang und Staub genug gekostet, dazu noch tüchtig Geld, doch wirds eine dauernde Verbesserung sein. Für Februar betrug mein Monatsbezug 1 Million M, dazu noch eine weitere als Sondergabe, die immer noch auf die Erfolge mit der Deutzer Entschädigungssache verbucht wird. Papst hingegen hat 1 0/00 vom Umsatz, also 2,6. Ich muß sehen, ihm wenigstens beizubleiben. – Onkel DB hat den Entschluß gefaßt, die Personalsaläre einschließlich Geheimsaläre an Will abzugeben, natürlich krankt er noch an sehr akuten Rückfällen in seine altgewohnte Tätigkeit und wird sich noch sehr umstellen müssen. Wie er zurückgeht, geht Otto vor und mit ihm sehe ich

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bei aller verwandtschaftlichen Freundschaft künftige Zusammenstöße voraus, gegen die ich mir Sicherheit verschaffen muß, soll meines Bleibens zeitlebens in der Mühlengasse sein. Jedenfalls behalte ich mir mit einer Notarstelle stets ein Nebengeleise offen. So sehr Onkel Dietrich dem Küchenumbau hier in Bonn zustimmte und auch sofortigen Umbau von Eßzimmer und Veranda  empfahl, so meinte er doch sogleich dabei, das dürfe mich nicht etwa von dem Gedanken abbringen nach Köln zu ziehen. – Vorab habe ich mich hier in der Lese- und Erholungsgesellschaft zur Wahl als Mitglied gestellt und hoffe im Fall positiven Ergebnisses noch mit 10 000 M Eintrittsgeld vorbeizukommen. Demnächst soll es 75 000 M betragen. Ein neuer Winterüberzieher stellte sich bei Meller (?) auf 160 000 M, was noch recht billig ist. Morgen will ich mir zur Entlüftung des verlegten Klosetts unten einen elektrischen Ventilator kaufen, der 200 000 M kosten soll, (40 M kostete er im Frieden).
   Die Franzosen haben jetzt glücklich so etwas wie Zugverkehr in Gang gebracht, auch eine neue Tür am Bahnhof hier geöffnet, etliche Zivilisten fahren hin und wieder in den gänzlich leeren Zügen.
   Am Freitag haben wir uns alle mal gründlich beim Photografen aufnehmen lassen. Anregung dazu gab die Aufforderung Ottos, für die am 1. März von ihm eröffnete erste Großhandelsfiliale Dortmund ein Bild zu stiften. Es wird dort gewiß prächtig in diesen Tagen verkauft werden. Seltsam, so schwer die Zeitläufte auch sein mögen, die Firma fällt stets auf die Füße. Wie kommt es? Glück? Ich glaube nicht! Arbeit, Arbeit, Arbeit, dazu gesunde Mischung von Wagemut und Vorsicht, verkörpert in den verschiedenen Köpfen der Firma. Onkel Dietrich ist jetzt seit 2 Wochen persönlich stark in Dampf wegen eines Autohaftpflichtprozesses Gierling gegen ihn, den er 18. Dez 21 (!sic!) leicht umfuhr und der nun auf Rente klagt, auch schon einstweilige Verfügung auf monatlich 25 Mill. Mark sich ergaunert hat. Sein Eidgehülfe, ein Schutzmann, hat beschworen, DB habe erklärt, er käme für allen Schaden auf. – (Kann er sehr leicht gesagt haben!) Dies bringt ihn auch gegenüber seiner Versorgungsgesellschaft der Vaterländischen & Rhenania, mit der ohnehin scharfe Spannung herrscht, trotz freundschaftlichen Verkehrs des Direktors Sternberg mit ihm. Ein Kuddelmuddel, der uns noch einige Zeit in Atem halten wird. – Der Bericht über die lange Steuerrevision ist immer noch nicht gelandet. Neue Steuererklärungen sind in Sicht. Ich bereite rechtzeitigen Abtransport wichtiger Geschäftspapiere für den Fall des Einmarsches der Franzosen in Köln vor.
   Mit der Eröffnung der Filiale ist für mich auch ein besonderer Arbeitsabschnitt vorläufig beendet. Denn die

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Vorbereitung und Einrichtung brachten viele Reisen nach dort mit sich, auch landete ich im Spätherbst eines frühen regnerischen Morgens mit Onkel Dietrich dort aus dem Schlafwagen von Berlin kommend und holte den soeben von der Hochzeitsreise zurückgekehrten Minstfeld (?) frühmorgens aus dem Bett, die Wohnung als erste im Hause bezogen, hatte er mit Möbel gegen die Treppe verrammelt. Gestern hat er bereits sämtliche Möbelschulden bei uns abgetragen. Ich glaube, die Sache dort kann sich zu einem großen Unternehmen auswachsen. Pfeifer & Schmidt und der uns gar nicht sonderlich freundlich gesinnte Kommerzienrat Schmidt in Braunschweig wird es alsbald am eigenen Leibe zu spüren bekommen.
   Desgleichen haben zahlreiche, fast über das ganze Jahr 1922 sich hinziehende „Papstkonklaven“ jetzt ein vorläufiges Ende damit gefunden, daß P. seit 1. Juli 1922 1 0/00 vom Umsatz und vorab leihweise das von Will formell (g. R.!) auf die Firma übereignete Haus Moltkestraße 1 Rodenkirchen beziehen wird. Er ist zwar nach wie vor Angestellter und Prokurist, aber doch nach außen hin etwas mehr geworden. Ich werde mich auf derlei Scherze nicht einlassen. Über die nach meiner Ansicht zu geringe Tantieme 1922 geriet ich mit DB in Harnisch und schrieb ihm, da er mit Karl Hill in Berlin zum Reichswirtschaftsgericht war, einen deutlichen Schreibebrief, den er mir mit Aufgebot ziemlich heftiger Beredsamkeit in der Münze bei Tante Emma und Helene, die dazu eingeladen war, zurückgab. Freilich ohne positiven Erfolg, ich gab in keinem Punkte nach und schließlich meinte er, da bleibe nur der Notar übrig. Ich blieb zunächst äußerlich ruhig, wurde dann aber so heftig erregt, daß ich hinausging und auf der Veranda fast einen Weinkrampf bekam. Nachher wies ich mit heftigster Entrüstung die Zumutung zurück, mich auch noch bei den Jungens zu bedanken. Eher würde ich mich aufhängen. Das half. Helene bekommt er zu solcher Predigt nicht mehr zu sich. Mir ist es gleich, denn ich lasse mich weder durch Regen noch Sonnenschein beirren. Es ist jetzt schon etliche Monate her. Seitdem ist die Gesamtsumme der Deutzer Entschädigung auf 67 Millionen und mein „Sonderhonorar“ dafür auf 2 ½ angewachsen. Ich werde sorgen, auch ferner nicht zu kurz zu kommen. Ein im Frühjahr in Baden Baden mit Adolf Hill ausgehecktes D-Konto hat seitdem viele Früchte getragen. Als angeblich neues Kind im Stamme DB bin ich darin auch beteiligt, wenn freilich auch nur gering. Doch immerhin. Irgendwie muß ein Anfang geschaffen werden. –
   Ottos häufig recht schroffes Auftreten, das Hervorheben des Herrenstandpunktes namentlich Papst gegenüber (mir gegenüber hat er es sich seit mehr als Jahresfrist so ziemlich abgewöhnt, indem ich ihn auf Sand laufen ließ) wirkt dabei als Keil, der vorzeitig treibt. Ihm selbst ist es nicht bewußt, wie er damit in vielem das Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigt.
   Zur Zeit ist die von mir stets festgehaltene und langsam weiter

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entwickelte Beziehung zur Korsettfirma Rudolf Steiner & Co verdichtet sich allmählich für Günter Riesen zu einer Lebensstellung. Freilich muß man mit Steiner langsam und vorsichtig vorgehen. Das Tempo der Mühlengasse paßt ihm schon gar nicht und sich ver„Cleff-“en will er erst recht nicht. Trotzdem glaube ich, daß Günter mit ihm zurechtkommen, sein Teilhaber werden und in manchem ihn schließlich auch beerben wird.
   Den freundlichen Bemühungen meines Freundes Dr. Walter Cohen in Düsseldorf verdanke ich eine Reihe guter Neuerwerbungen in meiner Kunstsammlung, so die Holzschnitte von Albert Königs in Eschede, prächtige Handzeichnungen des XVII. Jahrhunderts, ein Aquarell von Kerschkamp, Düsseldorfer Künstler, eine Kohle- oder Kreidezeichnung von dem Krefelder Maler . . . . u. a. mehr. Auch für Frau Horn hat er gute Sachen erworben. Das Höhlen(?)-gemälde von Hergenröder, das ich bei Spinrath in Düsseldorf kaufte und die kleine Landschaft mit der Flucht nach Ägypten in der Art des vlämischen Malers Hans Bol habe ich jetzt von einer Düsseldorfer Ausstellung rheinischer Privatbesitzer wohlbehalten wieder zurückerhalten. Letzteres Bild hatte mir Cohen in Hamburg nachgewiesen und ich erwarb es für 6 englische Pfund. Cohen war neulich zum Abendessen hier und ging die Sammlung durch, von der er vieles noch nicht kannte. Einige weniger gute Blätter sonderten wir aus, er nahm sie mit und wird sie anderweit verkaufen, um aus dem Erlös in Verbindung mit weiteren Mitteln einiges Gute zu kaufen. Trotz unterbrochener Bahnverbindung (man fährt Köln - Benrath und von dort mit Elektrischen nach Düsseldorf, ich machte es vor 3 oder 4 Wochen selbst, recht beschwerlich) habe ich durch unseren Düsseldorfer Vertreter Peter Beys stets Beziehung und Verbindung nach dort. Freund Bruhns, der mir früher manche gute Stücke in Frankfurt besorgt hat, hat in letzter Zeit hierin nichts mehr getan. Ich verkaufte ihm jüngst auf dem höchsten Punkt des Devisenkurses 50 seiner Schweizer Franken, wofür er über 400 000 M erhielt und davon eine Zeitlang lebt.

Zwischen Seite 110 und 111 ist ein Zettel mit folgendem Text eingeklebt:

Im neuen Hause.

1.  Wer sich hat gebauet   2. Es strahlet die Sonne
 Ein stattliches Haus    Der Frühling weht lind
 Der ladet seine Freunde   Des freuen sich Großeltern,
 Zu fröhlichem Schmaus.   Eltern & Kind.

   3. Gott gieb’ uns den Frieden
    Er schütze das Haus,
    Laß ein alle Freunde
    Scheuch’ Sorge hinaus.

                       Ostermontag, den 2. April 1923

Matthias Rech
Dr. jur. utr.

  zu Willi Brügelmanns Haus Neubau Rodenkirchen Uferstraße

(Seite 108 a)
Mit der Seitenzahl 108a und dem Datum 5.4.23 ist ein Umschlag mit der Bezeichnung Nocturno eingeklebt. Er enhält ein Blatt mit folgendem, schwer zu entzifferndem Text:
   Ich sitze im Dunkeln und kann das Licht nicht sehen und draußen scheint so schön die Sonne wie nie, und wie habe ich mich den ganzen Winter nach der Sonne gesehnt. Zumal mittags allein in der trüben dumpfen Gasse. Ich meinte ich sei begraben und nun bin ich es, wo es draußen am schönsten ist und alles grünt und blüht.
   Der Kopf ist mir hohl und wüst. Als ob ich einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen hätte und dabei immer voller wirrer Bilder. Gestern kamen immer dunkle Fledermäuse und große Motten geflattert, zu Scharen, der ganze Himmel verfinsterte sich, ich schlug um mich wie ein Verzweifelter, um durch die Masse ein Loch zu stechen, durch das ich den Himmel noch sehen könnte, es war nicht möglich. Und alles war schmutziges Papiergeld, das einen umflatterte und einen raschelte, ich fiel schweißgebadet auf die Erde und dachte, jetzt hat es endlich ein Ende und du erstickst. Dann ließ die alles los. In der linken Hand brannte es mich heiß, ich hielt sie krankhaft, es brennt immer heißer, nicht mehr zum aushalten. ...  kreist sie in Wellen, sie geht auf, ein glimmender Geld ist drin, er will sich nicht löschen lassen, ist fest ins Fleisch gewachsen und brennt wie Pech. Schnell ein Messer, schneid ihn aus dem Fleisch heraus und gieb ihm Onkel Dietrich wieder, er gab ihn mir neulich, als er mit Otto Geld zählte. Ich kann es nicht aushalten.
   Immer Trinkgelder, es ist scheußlich, große und kleine, eins so widerlich wie das andere. Wie schön war es in Bernkastel. Nie ein Trinkgeld und mit ein paar Groschen kauften wir alles und waren so glücklich. Jetzt dieses schmutzige Geld und jeder will mehr haben, immer mehr und hat dann doch nichts. Es ist zum Kotzen! Ich verstehe jetzt den armen Bildhauer, den ich immer mit Humor behandelte. Es muß furchtbar sein, zu merken, wie man langsam Verfolgungswahn bekommt. paranoiia persecutonia, paranoiia quaerulatonia, paranoiia usw. Alles zerrt an einem, die Kinder möchten dies und das haben, heute sehen sie dies und morgen jenes, man kann es ihnen gar nicht alles geben. DB will mich gegen Werner scharf machen, Werner gegen seinen Vater, Günter gegen Steiner, Grete gegen Will, Otto gegen DB, Elli gegen ihren Vater, Tante Maria. Alle wollen immer was, es wird mir ganz wirbelig, nur der gute Will läßt mich in Ruhe, der Brave, der dafür noch nicht mal für voll gehalten wird. Als ob es immer aufs Belügen, Betrügen, Begaunern, auf hin und her ziehen ankäme und dabei hat er wirklich meistens Unrecht, der gute und einen eigensinnigen Dickkopf dazu. Wie soll ich da heraus, jeder will mir was geben und ich will gar nichts geschenkt haben und immer wieder das schmutzige flattrige Papiergeld, steckts doch an, es soll brennen und wenn ich mit verbrenne, damit man es doch mal los wird. Wer ein Domestik ist freut sich, er meint er hätte was. Mir ist alles verleidet. Früher freute ich mich ein ganzes Jahr an einem mühsam gekauften Buche, jetzt macht es mir kaum eine Woche lang Spaß. Und dabei ein wunder wirrer Kopf, voller Schmerzen und die müden Glieder. Ich bin so zerschlagen, daß ich nicht mal mehr im Bett liegen kann. Die Unruhe treibt mich heraus, ich muß was tun und so schreibe ich, ich weiß nicht was und ob mans lesen kann. Die Hand will immer weiter, weiter voran, voran, voran und immer neu immer drauf wie ist er doch und immer rastlos betätigt sich der Mann, aber auch ein Mühlrad geht so und es klappert schließlich ohne Zweck, oder es läuft leer und der Mahlgang dreht sich nicht mehr. Es wird immer schlimmer, was macht man da. Nur keinen Arzt, mit so einem schafsköpfig dummen Gesicht, der gleich alles besser weiß und eine „Diagnose“ stellt, daß du die Nase ins Gesicht behältst und dabei denkt er natürlich immer, was nehme ich: Stunde 5 Mark x Index = 15000 M oder so ähnlich und dann kommen die Papierfledermäuse schon wieder angflattert und nach der Diagnose geht der Schafskopf zur „Therapeutik“ über, na tüchtig, kostet wieder so und soviel und Umsatzsteuer u.s.w.... Gieb dem Kerl einen Tritt. Ich lege mich ins Bett und gehe langsam hin.
   Am besten hat es der Phtysiker, er schwindet langsam dahin und merkt es nicht.
   Vorletzte Nacht stand ich lang am Fenster, wäre es offen gewesen, ich hätte einen Sprung hinaus gemacht und hätte so einen schnellen Schluß gemacht. Frau und Kinder müssen sich dann durchhelfen, malen, vermieten, jammern, Pension beziehen, was weiß ich. Mir ist dann der Kopf leicht und und nur das Krachen. Am besten haben es die Toten weil sie nichts mehr zu tun brauchen brauchen. Aber immer voran, lustig, lustig . . . Und dabei das unerträgliche Sonnenlicht. Wenn es doch einmal dunkel werden wollte. Gestern war der Referendar da, ich dachte er wollte mich aus dem Grabe holen, er wollte was, ich konnte mich nicht besinnen, es war wieder so was Flattriges Widerliches, ich habe es unterschrieben, was war es doch nur? – –
   Es ist alles widerlich und am widerlichsten ist das schlappe Gefühl in allen Knochen, der Federhalter fällt mir gleich aus der Hand.. ich kann ihn kaum mehr halten. Was soll ich nur anfangen? Das Kreuz so mir so nah. Ich hab ein Gefühl als sei ich dort versteinert:
Arm und Bein sind Gestein
Auch die Sprache fällt mir nicht mehr ein
Mordsgedanken werden Leichenhüllen und man wird älter
 

Waldbreitbach, 4Jahreszeiten Wwe Jakob Kröll, 24. Mai 1923. Donnerstag nach Pfingsten. Wir sind nun miteinander über eine Woche hier, ich hatte das Buch mitgenommen, um bei Regenzeit hineinzuschreiben. Seit gestern ist richtiger Regen da, der am Ausgehen hindert, bisher sind wir, anfangs in ziemlicher Kälte, täglich 2 x tüchtig marschiert und haben vorzüglich gefuttert, denn wir haben ein treffliches Futterplätzchen gefunden. Christian Assemacher brachte uns vorigen Mittwoch mit dem umgebauten Kastenwagen nach hier, zu dem wir noch einen blauen Ausweis mit französischem Stempel hatten. Freitag haben die Franzosen den Autoverkehr im Kreis Bonn, Düren, Euskirchen gesperrt, um den Engländern zu zeigen, daß sie den rheinischen Verkehr in der Hand haben. Es hat sich dann in den Pfingsttagen ein Durchgangsverkehr mit Autos auf der rechten Rheinseite entwickelt und wir haben Hoffnung, daß Christian uns dorther abholen und wenigstens bis Beuel bringen kann. Andernfalls sitzen wir mit ziemlich reichlichem Gepäck hier ein wenig fest, müssen äußerstenfalls versuchen, einen Wagen nach Neuwied zu bekommen und von dort per Schiff nach Bonn heimzugondeln. Eben habe ich Köln dringend angerufen, um mir hierüber Klarheit zu verschaffen.
 Von Onkel Dietrich, der seit dem 12. in Baden Baden sitzt, wohin er nicht ohne Schwierigkeiten hingekommen ist,

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(Er fuhr tags zuvor mit Tante Emmy im offenen Wagen los, wurde aber an der Grenze des besetzten Gebietes (Asbach?) festgehalten und mußte in Bonn bis mittags bei Franzosen und B... herumfuhrwerken, um Ausfahrtgenehmigung, Sicherheitsleistung für Rückkehr ect zu erlangen. Wir waren in Köln alle ziemlich ungehalten darüber, weil dies schon gleich Anlaß zu Redereien gab) – erhielt ich vorgestern einen Brief über Köln, den er gleich von Baden Baden losließ, noch ganz voll zitternder Erregung über die etwas starke innere Überspannung in den letzten Tagen seiner Anwesenheit in Köln: Werner, von großer dreiwöchiger Einkaufsreise in Sachsen, und Schlesien zurückgekehrt, war mit ihm aneinandergeraten und hat ihm recht klar erklärt, er gedächte in Frankfurt oder Hannover eine Zwiegniederlassung zu gründen und aus Köln und Mühlengasse herauszugehen, Otto verlangte Erlaubnis zum Ankauf eines recht teuren Baugrundstücks in Marienburg, er versuchte ihn und Asta zu stauchen, ohne jeden Erfolg; denn kaum war er weg, machte Otto einen herzhaften Überrumpelungsversuch gegen Will und Werner, wobei es zu großem inneren Palaver kam, in dem schließlich ein von mir aufgesetztes Schriftstück unterzeichnet wurde, nach dem Otto zwar gestattet wird, sich einen Bauplatz zu kaufen, er aber Bauprojekt lange vorher zur Besprechung vorlegen muß und dann davon auszugehen ist, daß der Stamm DB zuerst am Bauen sei, nachdem Will bereits gebaut hat. Dieses Bauvorrecht des Stammes DB soll aber bis zur Bilanz 1924 vorläufig befristet bleiben. Ich spielte dabei, freilich recht kühl und trocken, ein wenig den Onkel Dietrich. Dieser ist über das „Abkommen“ natürlich wütend und schreibt mir einen langen Herzenserguß, den ich aber vorläufig nicht zu beantworten gedenke.
   Werner will der immer drückender werdenden Zuchtrute seines Vaters entweichen, tatsächlich mischt sich DB oft mit sichtlichem Mißerfolg in seine Fabriksachen ein, und der unverkennbare Erfolg, den Otto mit Dortmund hat, reizt ihn natürlich; zudem hat Werner den besseren Instinkt unter den Jungen und fühlt, daß es für die Firma mit Rücksicht auf die bevorstehenden politischen ect Abschnürung des Rheinlandes gut ist, draußen im Reich, vor allem in Frankfurt (er rechnet, daß dieses mit Rücksicht auf die internationalen Beziehungen seiner Hochfinanz unbesetzt bleiben wird) und vor allem auch in Hannover eine Zweigniederlassung à la Dortmund hat, wo von den deutschen Fabrikanten die Waren hindirigiert und sei es im besetzten, sei es im unbesetzten Gebiet abgesetzt werden können. DB klagt mir dann vor über den eingerissenen Mangel an Vertrauen; ich habe stets Mißtrauen, wenn er davon anfängt, denn zu mir selbst zeigt er nicht mehr das Vertrauen, z. B. über die Verteilungen und deren Höhe läßt er mich geflissentlich im Unklaren, die Summen sind recht hoch, wie ich mir aus anderen Anzeichen, namentlich aus Äußerungen Ottos herausrechnen kann, er weiß, daß ich entsprechend keine Einkünfte habe und daran teil zu haben wünsche. Es wird jetzt zur neuen Bilanz wieder einen rechten Knies hierüber geben. Ich verfolge indessen stets meine Notariatspläne und warte ab, ob sich in Bonn eine freie Stelle zeigt. Dann werde ich mich heftig darum bemühen. Dies giebt mir einen Hebel, entweder wieder ganz frei und selbständig außerhalb der Mühlengasse zu werden oder eine Selbständigkeit mit Beteiligung innerhalb derselben zu erreichen. DB hierüber genau unterrichtet, sucht dies natürlich zu hindern und mich möglichst lang und klein zu halten. Wir wollen mal sehen, wie lang ihm dies gelingt. –
   Ich hatte kleinen Farbkasten mit Wasserfarben, Palette und Skizzenbuch mitgenommen und habe einen fast unwiderstehlichen Drang zum Skizzieren und Aquarellieren und es sind mir auch etliche Stückchen einigermaßen so gelungen, daß sie charakteristische Landschaftsbilder der hiesigen Täler und Höhen erkennbar wiedergeben. Kindern und Helene geht es gut, wir haben gute Betten, etwas dumpfe Zimmer, aber Ia Essen und Kaffee. Marianne stets lebhaft unterhält uns aufs Beste. Und so mangelt uns zur Zeit nichts als die Gewißheit, bequem wieder heim zu kommen. Wir sollen 12 000 M pro Kopf an täglicher Pension zahlen, lächerlich wenig, nachdem der $ auf 57 000 M!! geklettert ist. Post ist hier so gut wie nicht, Zeitungen lesen wir nicht und so habe ich wirklich Ruhe. Der Kopf beginnt sich zu erholen, nachdem ich zuletzt daheim vor lauter Steuererklärungen

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(Einkommensteuer 1922 und Zwangsanleihe, Vermögensteuer, jedesmal mit anderen Bilanzen) beinahe verrückt geworden bin. Die Bewertungsvorschriften sind so verwickelt, wirr und toll, daß es einem bunt davon im Kopfe wird. Ich kann mir gut vorstellen, daß wirklich einer darüber wahnsinnig wird. Dabei ist diese Entwicklung unserer überstürzten Steuergesetzgebung noch nicht abgeschlossen, es muß noch toller kommen, bis sich alle direkten Abgaben geradezu überschlagen und mehr Erhebungsarbeit verursachen, als sie einbringen. Die einzige vernünftige Steuer ist heute der Lohnabzug und die Umsatzsteuer. –
   Fast alle Bahnen sind jetzt im Rheinland außer Betrieb. Auf den Gleisen versucht die „Regie“ eine Art Eisenbahnbetrieb zu machen, der aber über einige wenige langsam fahrende Personenzüge, die ohnehin noch oft genug verunglücken, nicht hinauskommt. Seit 14 Tagen hat sich auf dem Bonner Güterbahnhof, der schlimm aussieht (überall hausen Marokkaner, Neger und andere Schutzgebietstruppler) eine Güterannahme unter einem „Inspektor Bal“ etabliert, ob mit irgendwelchem Erfolg, weiß ich nicht. Seit Monaten befördern wir alle Waren auf Lastkraftwagen. Für diese verlangen die Franzosen jetzt auch eine besondere, bei ihnen nachzusuchende und zu bezahlende Ausweise, deren Bezug deutscherseits verboten und erst ganz neuerdings für „lebenswichtige“ Waren gestattet wird. Es herrscht daher zur Zeit eine gewisse Stockung in der Abfuhr der Mühlengasse nach dem französisch besetzten Gebiet, während nach Dortmund und ins unbesetzte sich immer noch Transporte ermöglichen ließen. Wie lange diese wahnsinnigen und auf die Dauer völlig zerstörend wirkenden Wirrnisse und Bedrängnisse noch anhalten sollen, läßt sich gar nicht übersehen. Es stehen uns noch schlimmer Zeiten bevor. In Bonn, wo es lange Zeit recht ruhig war, hat man in rigoroser Weise Eisenbahn- und andere Beamte ausgewiesen, Oberbürgermeister und Beigeordnete ins Gefängnis gesetzt und verurteilt, eines Samstags 180 Beamte und andere ..?.. mit Stundenfrist aus den Wohnungen vertrieben, so daß an 800 Leute plötzlich in Schulen u.s.w. untergebracht werden mußten u.s.w. Wir sollen systematisch so mürbe gemacht werden, daß wir schließlich eine Lösung irgendeiner Art, etwa einen Rhein - Saar - (oder Ruhrstaat) als Erlösung begrüßen. Wer weiß was noch wird. Am tollsten geht es in Trier zu. In Bernkastel ist außer Landrat Nasse und Kollegen Winckler und Reinecke nun auch RA Schönberg Ende April ausgewiesen worden. In Trarbach sitzen Gescher und viele angesehene Leute wegen Teilnahme an einem Demonstrationszug im Gefängnis und so geht es fort ohne Ende. In Essen sind auf eine Schießerei der Franzosen bei Krupp, wobei viele deutsche wehrlose Arbeiter getötet wurden, die führenden Personen, darunter Krupp von Bohlen und Halbach „verurteilt“ worden wegen Gefährdung der Sicherheit der Besatzungstruppen. Krupp zu 15 Jahren! Dies wirkt sogar im Ausland. – Dieses Thema ist so fürchterlich und unerschöpflich, daß eine Reaktion in den nächsten Jahrzehnten nicht ausbleiben kann und was bis dahin und dann kommen wird, mag der Teufel wissen, der jedenfalls seine Freude daran haben wird.
   Auf einer kürzlich stattgehabten Versteigerung, die hauptsächlich für überzählig erachtete Bilder des 19. Jahrhunderts aus dem Richard Walraf Museum brachte (Dr. Secker erlöste für seine Abteilung 219 Millionen und Proenen kaufte nach allgemeinem Stadtgespräch für 120 - 150 Millionen Bilder), kaufte mir Cohen auf seinen Namen ein kleines Ölbild, Kircheninneres von Morgenstern, einem Vorfahren, ich glaube dem Urgroßvater des Dichters Christian M. Das Bildchen hatte mir neben einem Claas Heda und einer angeblichen Rubensskizze (diese zu teuer!) allein bei einer

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flüchtigen Durchsicht aus dem ganzen Wust am besten gefallen, ich hatte mir die Nummer notiert und unabhängig hiervon, aber keineswegs zufällig machte bald darauf Cohen mich auf das gleiche Bild aufmerksam. Er hoffte es für 1 Million zu erwerben, es kostete aber 1,8, mit Aufgeld 2,070 000 M. Er nahm es gleich mit nach Düsseldorf, wo Spinrath es reinigt und Cohen versuchen wird, einen guten passenden Rahmen darum zu besorgen. Es wird gut zu meinem Steenwyk und Hergenröder passen. Cohen meinte, nun fehle nur noch ein größerer Seekatz oder ähnlicher deutscher Meister. – Onkel DB regt sich über den Bilderankauf von Proenen auf und bezeichnet ihn als Protz. Ich werde noch nicht ganz klug daraus, jedenfalls ist mir Pr. zu schlau, um nicht seine öffentliche Handlungsweise zu überdenken. Vielleicht gedenkt er an der Bilanz noch rechte Summen zu verausgaben, vielleicht „zur Ausschmückung seiner Beamtenwohnungen“, auf Unkosten selbstredend. ––
   Sonntag, 15. Juli 1923. Nachdem wir fast 1 ½ Jahre (muß offensichtlich Monate heißen) ununterbrochenen Regen und einen frierend kalten Frühsommer hinter uns haben, hat sich seit 2 Wochen bei sonnigem Himmel allmählich eine Tropenhitze entwickelt, die morgens schon mit 23°C beginnt und mittags über 32°C im Schatten klettert. Montag vor 8 Tagen, am 2. Juli, fuhren Otto und ich trotz bereits von den Franzosen proklamierter Sperre frühmorgens nach Elberfeld, liefen dort herum, und saßen schließlich bei Dr. Peters & Co und Werners Schwager Assessor Sperling auf der Kleinhandelsaußenstelle, telefonierten nach allen Seiten, erhielten durch Sperling Lagermöglichkeit im Zollgebäude am Bahnhof Steinbeck (ein Waggon Maschinengarn der Thüringer Wollspinnerei war schon da) und durch Johann Ludwig Stripp (peper pepperit pecuniam!) weitere Einlagerungsmöglichkeit bei der Manufaktur Großhandlung Fr. Seyd & Söhne, Hofaue. Der Neubau v. Baum hatte uns abgelehnt, ebenso allerlei andere Firmen, die zwar Raum, aber noch mehr Angst vor F W Brügelmann Söhne hatten und in der „Lagerung“ den Anfang eines Verkaufs und somit einer gefährlichen Konkurrenz dieses Hauses sahen, falls es nach mehr als hundertjähriger Abwesenheit wieder in seine Wuppertalheimat zurückkehren sollte.
   Da selbigen Abends die Grenze dicht geschlossen werden sollte zwischen be- und unbesetztem Gebiet, Otto aber unter allen Umständen zu Frau und Kindern nach Rottach - Tegernsee wollte, so erkundigte er sich allenthalben und entwarf Pläne zu einem (militärisch!) gesicherten Grenzdurchbruch mit seinem Wagen. – Frau Horn aus Braunschweig, die von Meran kam und 14 Tage bei uns zu Besuch war, hatte sich auch nicht Sonntag 1.7. zeitig zur Ausreise entschließen können, zibbelte Montag gleichfalls noch unentschlossen herum und begann Dienstag und Mittwoch eine Belagerung des Kölner englischen Paßamt, wo es ihr gelang, schließlich mit Hülfe eines englischen Briefes, den sie mitführte, den berühmten roten Querstrich über ihren Geleitschein zu bekommen, mit dem sie Donnerstag den 5. morgens 1040 abdampfte und beide Sperren in Vohwinkel und Elberfeld und in Hengstei hinter Hagen glücklich passierte. Inzwischen hatte Willi bereits von Kirchmöser Heinz zu ihr nach Braunschweig gebracht, wo er auch heute noch ist. – Otto hingegen hatte am Dienstag durch seinen tüchtigen Wagenführer Vernhagen per Rad die „Grenze“ im Bergischen Land abstreifen und eine Stelle feststellen

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lassen, wo er folgenden Tags durchzubrechen gedachte. In der Nacht vom 4. - 5. Juli fuhr er los, hatte dort einen lokalen Führer mit, vorsichtig an der kritischen Stelle vorher rekognosziert, dann durch Hohlweg selbst über trockenes Feld den Wagen über die bewachten Straßen hinausgebracht und fuhr auf bequemer Straße im ersten Morgenlich auf Marienheide Gimborn zu, als bei langsamer Fahrt plötzlich aus dem Gebüsch eine Patrouille vorspringt, mit Gewehr im Anschlag vor dem Wagen steht und Hände hoch und aussteigen! Der Übergang vom Gefühl der Sicherheit und des Wohlbehagens nach all den nächtlichen Abenteuern zu diesem gänzlich unerwarteten Reinfall am Frühmorgen beschrieb uns Otto sehr eindringlich kürzlich in Frankfurt. Er wurde gut behandelt, alles fuhr zusammen nach Gimborn, Otto redete ununterbrochen französisch, er war frei, man gab ihm sogar mit roter Tinte geschriebenen Passierschein, ins unbesetzte Gebiet über Ründeroth zu fahren, ja man gab ihm sogar unbedachterweise einen unbewaffneten Sergeanten mit nach Bahnhof Osberghausen, wo er sein Gepäck aufgeben konnte und wo er, einmal im unbesetzten Gebiet, den Franzosen im Wagen beliebig hätte mitnehmen können, er tat dies wohlweislich nicht, weil man in Gimborn beim Brigadier seine Personalien festgestellt hat. Der Wagen aber blieb beschlagnahmt, er fuhr darin mit Bedeckung zur Ablieferung nach Düsseldorf und erreichte, daß man ihm über Wagen und Zubehör einen Requisitionsschein ausstellte. Damit war der schöne Wagen futsch. Otto hatte bereits morgens früh nach Köln telefoniert, Kerschgen mit dem Rest der Papiere zur Mühlengasse geschickt und war selbst nachmittags über Ründeroth herausgefahren. Eine kurze Karte mit stichwortlichen Bitten kam an mich. Kerschgen besorgte selbigen Tages flüchtige Taxe des beschlagnahmten Wagens auf 350 000 000, neuer sollte 470 kosten. Ich verhandelte am 6. morgens bereits auf der Regierung mit einem zuvorkommenden Assessor Dr. Moelle und erreichte im Prinzip, daß 80 % des Verkaufswertes sofort ausgezahlt werden sollten. Nachmittags wurde mit Hülfe der Adler-Verkaufsstelle, G. Bleihsen Köln, das Gutachten in richtige Form gebracht. (470 alter, 520 Millionen neuer Wagen) und Samstag vormittag wurden die Verhandlungen auf der Regierung zum Abschluß gebracht. Leider erst 12 ¼, also ¼ Stunde nach Kassenschluß, so daß ich selbigen Tags die 400 ausgehandelten Millionen nicht mehr erheben konnte.  Otto teilte ich ab Köln das erfreuliche Ereignis per Draht mit und sandte ihm Samstag mittags ab Bonn längeren Brief mit Darstellung und Honorarandeutung. Samstag nachmittag waren die Kinder von Frings nach Ippendorf eingeladen und so machten Helene und ich uns einen vergnügten Nachmittag und Abend in Plittersdorf bei Dreesen, wo wir herrlich luftig im Garten am strahlenden Rhein bei Kaffee, Wein und kaltem Abendessen saßen. (Kostete mit Fahrt 113 000 Mark). Daß wir damit unseren Hochzeitstag (vor 13 Jahren) gefeiert hatten, fiel uns erst später ein.  Für die nächste Woche war nämlich schon wichtige Geschäftsreise nach Frankfurt vorgesehen, Onkel Dietrich und ich erhielten Montag hierfür die nötigen Ausreisegenehmigungen, ich blieb Montagabend der großen Hitze halber in Köln, – die Rückfahrt auf der Rheinuferbahn

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am Spätnachmittag ist nämlich eine Qual, öfter giebts 2 - 3 Ohnmächtige! – und fuhr Dienstag morgens mit DB auf meinen Vorschlag mit Christian im grauen Geschäftswagen nach Bonn (dieser hat nämlich für Bezirk Köln und Koblenz den erforderlichen Franzosenschein, während sämtliche anderen Personenwagen zur Zeit auf die blaue englisch besetzte Zone beschränkt sind und gerade noch nach Altenberg aber z. B. nicht nach Zons oder Mönchengladbach fahren können). Es war aber am dortigen französischen Zollamt für eine Auto-Ausfahrtgenehmigung nichts zu erreichen, vor dem 16. – der voraussichtlichen Aufhebung der Grenzsperre gegen das unbesetzte Gebiet giebt es keine solche Genehmigung, auch nicht gegen Sicherstellung der Exportgebühren ect. Wir fuhren bei Helene und Papa vor, dieser hatte geschwollene Füße, Helene gab mir fertig gepackt kleinen Handkoffer mit und nun fuhren wir nach Köln, besuchten aber vor der Stadt auf dem Nordfriedhof Mamas Grab, das gut in Ordnung war. Der Stein gefiel ihm (Onkel Dietrich) gut, er will sich ähnlichen machen lassen. – Wir fuhren in Köln gleich am Hauptbahnhof vor, erkundigten die Züge, nahmen 2 Fahrkarten I. (456 000 M!) bis Frankfurt zusammen und entschlossen uns 621 zu fahren. Nachts ½ 3 kamen wir endlich in Frankfurt an, stiegen Hessischer Hof ab und stiegen gleich ins Bad. Die 1. Nacht wurden wir schön gerupft: 240 000 M für jedes Zimmer je mit Bad! Wir schliefen lang, frühstückten spät und gingen 10 Uhr zur Diskontbank, wo ein Direktor Wiss, Bruder des Schwiegervaters Kayser in Griesheim, uns günstige Auskunft über Edmund Ganz, Inhaber der Firma Gebrüder Hamburg gab, 11 Uhr in dessen Geschäftshaus Neckarstraße 15, modern gebautes 4stöckiges, innen Galeriebau, reines Kurzwaren-Engrosgeschäft, im Warenbestand geradezu „ausgebrannt“. Verhandlung mit dem persönlich angenehmen, redseligen und innerlich anscheinend sehr demütigen Ganz sen. der auch mir von Berliner Verhandlungen her bekannt war. Irre ich nicht, so war er mit Papst, Böhmer, Cordes, Arth., Königs ect. 1920 im Juli mit im Lunapark, wo wir bei Bowle meinen „Amtsgerichtsrat“ feierten. Onkel Dietrich ging bei der ersten Verhandlung mit Vater und Sohn (dieser mit christlicher Remscheiderin verheiratet, hat 2 christliche Kinder, darunter einen 1 ½ jährigen Helmut) und versuchte Haus ohne Sohn zu bekommen. Dies nicht möglich. Wir besahen Haus, von oben bis unten, gut und schön, treffliche Lage, vorzüglicher Aufzug, leider enges, nicht ausdehnungsfähiges Grundstück. Vor Tisch besprachen DB und ich uns, waren uns bald klar: Sohn als Prokurist unserer neuzubgründenden Filiale, Beteiligung des Vaters und seiner Erben am Umsatz. In dieser Form mittags mit beiden Herren im Ratskeller verhandelt bei reichlichem Essen, Rotspohn und Mineralwasser. Dann zum Hotel (erst meinte Onkel Dietrich, ich könnte schon anderen morgens allein nach Köln zurück, mich mit Werner besprechen, und dann Abschluß telefonieren), dort gebadet, währenddessen traf Otto ein; ich hatte vorher schon begonnen, unseren 1. Vertragsentwurf schriftlich festzulegen. Von Otto und Freund Bruhns hatte ich morgens schon Briefe empfangen: Otto ging auf Honorarwink bereitwillig ein und bot die Annauer Gußstahl-Aktie an, die s. Zt. auf meine Veranlassung gekauft, 2,5 Millionen gekostet, jetzt aber 11 stand. Ich nahm dankbar an und verriet ihm auch, daß 2 % genügt hätten. Er meinte, ich könnte Differenz herausgeben! – – Bruhns hoffte mich morgen vormittag zu sehen. – Otto nahm gleichfalls Bad, dann

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Tee mit Gebäck auf Zimmer bestellt, 4. Stock, Ecke Kaiserstraße, luftiger Balkon mit weiter Sicht auf Bahnhofsplatz und umliegende Straßen. Saßen im Hemd, Himmel stählern heiß. Otto war 12 von München gefahren, verabredete sich zum Abendessen per Telefon mit Frankfurter Freund. Spät gingen wir beisammen nochmal durch die Neckarstraße (Otto zum erstenmal!) besahen wir Haus von außen. Am Fenster erschienen bald die Köpfe von beiden Ganz, wir hinein und abermalige Besprechung, wiewohl die nächste erst für nächsten Morgen 11 Uhr ausgemacht, beide mit Rechtsbeistand. Onkel Dietrich hatte morgens schon mit dem großziffrigen Tageszettel geriert, den er mit Bemerkungen von Werner für Otto mithatte. Otto nochmals Haus besehen, DB auch in Hausmeisterwohnung. Spät weg, Aussicht auf Vertrag ziemlich sicher. Vater Ganz verlangt außer Minimumsicherung, insbesondere noch ¼ % Umsatz für Sohn neben Prokuristengehalt. Daneben geredet. Ich aß mit Onkel Dietrich in ziemlich schwüler Bedrängnis in Kaiserhalle, ein angenehmer Kellner, der sich als geborener Berliner (in Dresden wohnhaft) entpuppte, führte recht angenehme Unterhaltung über alte militärische Verhältnisse in Köln, wo er auch gedient hatte, Krieg, Kaiser und dessen Untüchtigkeit und Fähigkeit und verhängnisvollen Einfluß auf Kriegführung der ersten Jahre ect. . . Traurige Erinnerungen, noch traurigere Auswirkung in der Gegenwart!! ––
   Der Sohn Ganz, Ernst G. hatte mir mittags, als er merkte, daß ich sein leicht hinkendes rechtes Bein bemerkte, erzählt, er habe in Mainz 1913 gedient, sei in der Marneschlacht mit Oberschenkelschuß liegen geblieben, von Franzosen bei weiterer Bewegung gleichfalls liegen gelassen, vom treuen Kameraden auf einer Maschinengewehrprotz abgeschleppt und erst 13 Tage nach der Verwundung in ärztliche Behandlung gekommen: Folge: 4 ½ cm Verkürzung des rechten Beines. Nach dem Kriege nachträglich zu Leutnant ernannt. – Onkel Dietrich rief im Keller Köln an, Werner aber war zu Walter aus. Gegen Mitternacht nach Bad zu Bett, Otto erschien bald, fands schrecklich heiß, wir bestellten noch eine Karaffe Bier und lasen Zeitungen. Schliefen fest in den Morgen hinein. Otto zeitig auf, wollte schon 7 Uhr zu Adler-Werken, sich neuen Wagen zu sichern, in denen allenthalben, namentlich aber in München und Frankfurt schreckliche Hausse herrschte. (Für einen greifbaren Wagen verlangte man ihm anderen Tags 720 Millionen ab, Mercedes kostet bis 1 - 1 ½ Milliarde!)
   DB hatte früh Anruf Werner, der mit allem einverstanden, mir Basalt zu 8,4 Million und 2 Dolerit Basalt zu 4 Millionen gekauft hatte. Je 5 Stück, da sonst nichts zu haben. (Vergleiche Seite 128!)
   Ich frühstückte später mit Onkel Dietrich im Hotel. Vorher einige Besorgungen, auch Haar- und Bartschneiden in benachbarter Straße, gegen 10 ½ erschien Bruhns, begrüßte uns herzlich, wir verabredeten uns auf alle Fälle 7 - 7 ½ im Hotel, wenn möglich käme ich nachmittags in seine Wohnung, (daraus wurde nichts!). Mit DB und Bruhns in Stadt, bald verabschiedet, dann zur Neckarstraße, wo auch Otto bald eintraf, Verhandlung mit beiden Herren Ganz und deren recht dämlichen Rechtsanwalt „Professor“ Sänger, der sich sehr theoretisch gebärdete und die Hauptfrage, als „kommerzielle“ seinem Klienten überließ. Der junge Ganz saß stumm, der alte recht zittrig dabei und dämpfte seinen eigenen Rechtsbeistand und dieser dämpfte ihn seinerseits später wieder. Es wurde bald Einigkeit erzielt, ich zog mein fertiges „Sprüchlein“ aus der inneren Rocktasche, beide Parteien verhandelten noch mal getrennt, dann vereint, ich beurkundete mit Tintenstift und Durchschlagpapier den Vertrag in 2 Stücken, gegen 2 ¼ waren wir fertig, wobei einige Zigarren,

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die mehr als hundertjährige Firma Gebr. Ganz (in dieser Form wenigstens, in Mainz existiert sie bei Verwandten nochmals) und die Nutzung des schönen Geschäftshauses auf 30 Jahre zum Opfer gefallen waren gegen ½ % für Ganz sen. und Erben, minimal garantiert mit Gehalt der Klasse XIII der Staatsbeamten. (Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident) und 1 0/00  Umsatz für Ganz jr. als Prokurist, minimal garantiert mit dem höchsten Prokuristengehalt Köln oder Frankfurt, auch für 5 Jahre nach eventuellem Austritt!! Die Gegenseite hätte mehr erzielen können und auch erzielt, wir wären äußerstenfalls auch auf 1/1 % vom Umsatz gegangen. Otto hatte wieder anderweitige Verabredung.
(Vor der Unterschrift hatten DB ihnen nochmals eindringlich zu bedenken gegeben, was sie alles aufgäben, er warnte vor der Unterschrift, falls daraus für die Zukunft mangelnde innere Befriedigung zu erwarten sei, damit war die „moralische“ Verantwortung, von der wir uns innerlich nicht ganz frei fühlten, äußerlich geschickt umgeleitet.) Im Hahn aßen Vater und Sohn Ganz mit uns auf Terrasse zu Mittag, und zwar im Restaurant Hahn in den Anlagen am Theater. Warm, doch luftig dort. Tranken erst Schnaps und eisgekühltes Bier, dann Rotwein mit Mineralwasser. Ganz sen. zählte uns seine 34 Ehrenämter auf, auch Stuhlmeister einer Loge „zur aufgehenden Morgenröte“. Wir äußerten den Wunsch, die Damen kennen zu lernen; ich schlug, um nicht den Abend mit Bruhns zu verderben, Tee vor, was auch Ganzens besser paßte, das sie abreisefertig für Sommerfrische in Rottach Tegernsee waren. Das Essen ging auf Geschäftsspesen unserer neuen Filiale. Nachdem Vater und Sohn weg waren, tranken DB und ich noch eine Tasse Kaffee auf den Erfolg. Nachmittags wieder zum Geschäftshaus Neckarstraße 15. „Hausmeister“ = Bahnangestellter, nicht Beamter, der oben prächtige Wohnung innehat, bestellt und lang und freundlich mit ihm verhandelt. Er wird wohl unser Angestellter und Kraftwagenfahrer werden. Otto kam, Personal antreten lassen: Ganz sen, DB übernahm. 7 St. alles schriftlich. Es wurde reichlich spät, wir nahmen Autodroschke zur Privatwohnung ....holweg, wo Otto als Bankgarçon gewohnt hatte. Dort Empfang durch Damen, alle von feiner jüdischer Rasse, machten vornehmen Eindruck, Tochter (in Hoffnung?) klein und energisches Persönchen, die anscheinend als einzige einige Willensstärke in der Familie verkörpert. Sohn blieb im Geschäft. Empfang Salon, Tee mit belegten Brötchen, Gebäck und Himbeertorte in geräumigem Speisezimmer, Erholung von Hitze auf Balkon. Auf mein Drängen Abmarsch nach 7 Uhr. Ich hatte schon bestellten Tisch im Hahn, da die erwarteten Hills aus New York von Baden Baden noch nicht angekommen waren, im Restaurant Hahn abbestellen müssen; sobald wir im Hessischen Hof ankamen, waren sie natürlich da, und ich lernte Fritz Hill, deutsch aussehend klein, mit blondem leichtem Vollbart, in der Stimme an Carl Hill erinnernd, zwischen Tür und Angel in Hose und Hemd erstmals kennen. Wir gingen auf Zimmer und wimmelten in Hemd und Unterhose, Bad, Otto in Badetuch herum, als Freund Bruhns kam, Otto vorgestellt und von DB sofort zum Bad eingeladen wurde, welche Einladung er annahm und sofort ausführte. Zwischenzeit mit Aufnotierung einer großen Reihe

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von Punkten ausgefüllt. Dann verschwand ich mit Freund Bruhns, wir gingen zum Theater Restaurant Faust und saßen bei gutem Essen und trefflichem wunderbarem Bier bis nach Mitternacht an kleinem Gartenbrunnen zusammen und unterhielten uns als gute Freunde aufs Beste. Währenddem feierten die anderen mit Fritz und Adele Hill bei Hahn Otto und seines Jan’s Doppelgeburtstag, auch nachträglich 38jährl. Hochzeitstag von Onkel Dietrich mit Abendessen, 2 Flaschen Wein und 2 Flaschen Sekt, was ihnen angeblich 900 000 M kostete, während unser Abendessen in allem 230 000 kostete, wobei wir wahrlich nichts sparten. Wir trennten uns spät, nachdem wir noch Bruhns Hypothekenkündigung genau besprochen hatten. Bruhns wird vermutlich Frau und Kindern nachfolgen und die Sommerfrische in Estland bei den alten Eltern verbringen. Alle unser beiderseitiges Leben berührende wichtige Fragen besprachen wir offen und eingehend und trafen auf gemeinsame Erfahrung in dem Punkte zusammen, daß man Gefahr läuft, verachtet zu werden, wenn man nicht darauf besteht, nach seiner Leistung angesehen, bezahlt und in Stellung gebracht zu werden. Er hat jetzt Lehrauftrag, trennt sich ungern von Frankfurt und hat Aussicht auf Extraordinariat in Leipzig, wo sich sein Freund Pindar um ihn bemüht.
   Als ich heimkam, war Otto mit Nachtzug nach München zurück, mit DB noch kurz unterhalten, dann erst nicht geschlafen ob all des Autolärms und des hellen Gelichters auf dem Bahnhofsplatz. Schloß daher trotz der Hitze die Balkontür und Läden, bald gut und fest geschlafen, 5 Uhr alles geöffnet, 6 Uhr mit DB aufgestanden, ½ 7 gefrühstückt. 721 auf Münchner D-Zug, alter bairischer Wagen, grünes Samtpolster. Heißer Tag. Abteil allein, über Oberhessen, Dillkreis, Siegen, Sauerland: Werdohl, Altena, Hagen zurück. Paßrevision schlank. Im Speisewagen mäßig zu Mittag gegessen. In Elberfeld stieg ich 2 ½ Uhr ca allein aus, Glühhitze dort, zum Steinbecker Bahnhof, da dort sich Patrouille gezeigt (in Barmen hatte die Besatzung einen Vorstoß hinein gemacht) so waren die Wollballen nach Fa. Seyd & Söhne abgerollt worden, wo Joachim Seyd davon noch nichts wußte, sie aber schon friedlich im Souterrain lagen. Von Steinbeck nach Fichtenstraße, von dort zum Postamt (Depesche an Hill in Dresden wegen Paßvisum) darnach Hofaue und Bahnhof in glühender Hitze machten mich kaput. Tasse Kaffee Bahnhof, vorher Schokolade für Kinder (Strohhut für 350 000 war mir zu teuer) gekauft. Bummelzug Vohwinkel, Remscheid, ab dort Eilzug. 6 ½ Mühlengasse, wo DB frisch großen Vortrag hielt, ich mit Werner im Geschäftswagen bald ab, Münze, Bad, Butterbrot zu Bett. Geruht. Zerschlagen. Abends gut mit Onkel Dietrich und Tante Emma gegessen, dann Bowle im Garten mit Tante Maria, Werner und Erna, dabei des fernen Will’s gedacht, der fern im Ötztal schwitzt und von der ganze fertigen neuen Filiale in Frankfurt noch nichts ahnt!! Feste an der köstlichen eisgekühlten sektreichen Bowle gesogen. Tante Maria heimbegleitet. 12 ½ Bad, Bett, fest geschlafen bis ½ 8. Frühstück. Firma im Wagen, luftig. Hitze. Vertrag von Langenhofer (?): Unterbrechung Kriminalfall gegen Frl. Schmitz Kleiderstofflager. Papst heraus. Papst soll Dienstag nach Frankfurt, alles Verabredete organisieren ect..... Ich 11 Uhr heraus und heim. Hier in Ruhe ausgeruht und mich müde geschrieben! – – –

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22. Juli 1923. Bekenntnisse einer schönen Seele. Vor einiger Zeit hatte Vetter Otto, mit dem ich ein wenig näher gekommen bin, mir die Äußerung gemacht: „Ich verstehe nicht, du bist doch sonst ein so kluger Mensch, daß du nichts in Papieren machst und dir damit dein Vermögen wiederbeschaffst, was du verloren hast.“ Ich hatte ihm nämlich erzählt, daß mein ca 30 Mille in Goldmark betragendes Barvermögen so gut wie ganz und gar verschwunden sei. Dies Wort ging mir im Kopf herum, Dr. Conrad, Leistners Schwiegersohn, der unter Direktor Wolf bei der Deutschen Bank arbeitet und mir schon oft vorsichtige Andeutungen über Effektenkauf gemacht hatte, fuhr kurz darauf mit mir III in Rheinuferbahn und verriet  mir einen Tipp, der angeblich an der Börse noch nicht bekannt sei: Annener Gußstahl solle in absehbarer Zeit junge Aktien, sogar 4 auf 1 alte ausgeben. Er empfahl Anschaffung. Ich teilte dies sofort Otto mit und wir kauften jeder einen, kostete je ca 2,5 Millionen, die Summe zahlte ich ihm bald darauf aus meiner Tantiem. Inzwischen ist die Voraussage Conrads, daß sie auf 10 Millionen steigen würde, eingetroffen, Otto verehrte mir das II. Stück als Honorar für seine Autoersatzbeschaffung und ich gewann Geschmack an der Sache. Conrad, dessen Schwägerin Lorchen hier zu Besuch war und mit dem ich daher mehrmals zusammenkam, empfahl mir weiter Grauwacke und Basalt, sog. „unnotierter Wert“ an der Kölner Börse. 20 Millionen Kapital, Werk liege bei Neuwied und habe durch Silverberg Auftrag zur Auffüllung des Braunkohlehafens in Wesseling. Das Papier werde daher stark steigen, zumal Neuausgabe an Aktien auch zu erwarten sei. Ich bestellte bei Stein 3 Stück, es wurde von dort angeregt, 5 zu bestellen, ich tat dies aber nicht. Werner, mit dem ich selbigen Morgens darüber sprach, animierte mich, doch gleich 5 zu kaufen, ich würde doch größeres Einkommen haben und könne es bald decken. Ich verbesserte also die Bestellung bei J. H. Stein auf 5 Stück Grauwacke und Basalt und bekam sie selbigen Tags (9. Juli?). Leider habe ich die Abrechnung infolge der danach überstürzenden Ereignisse erst am 18. Juli zu Gesicht bekommen, als die große Pressung von Onkel Dietrich begann. Kurz vor der Abreise nach Frankfurt traf ich Conrad wieder morgens an der Rheinuferbahn und er empfahl mir dringend, wenigstens 1 Linzer Basalt (es sei ein reines Guldenpapier!) und etwa 2 - 3 Dolerit und Grauwacke zu kaufen. In beiden sei große Steigerung zu erwarten. Ich gab Dienstag Werner den Auftrag, mir 1 Basalt und 2 Dolerit zu kaufen. Wir fuhren nachmittags nach Frankfurt. Dorthin telefonierte Werner Donnerstag morgen, daß Papiere, allerdings teuer, gekauft seien, er habe 5 Linzer Basalt und 5 Dolerit genommen. Nachdem Otto und DB mir über ein für J. H. Stein zu errichtendes Conto einige Andeutungen gemacht hatte, wollte ich nach Rückkehr von Frankfurt am Mittwoch 18. mit Werner die Papiere auseinanderrechnen. Mittlerweile hatte sich Onkel Dietrich der Sache bemächtigt und begann eine lange Rechnung mit vielen Ermahnungen und Pressungen u.s.w. Ich hörte alles geduldig, ohne ein Wort der Erwiderung an, es waren insgesamt 40 Millionen, bestand aber darauf, die für mich gekauften Papiere für mich zu behalten. Ich hatte gerade zuvor nochmals 70 Millionen für Ottos Auto geholt, schrieb ihm dieserhalb und bat ihn, da Onkel Dietrich so drücke, später meine Interessen wahrzunehmen und mit dem Verkauf der beiden Annener vorsichtig zu sein, an die ich als Deckung gedacht hatte. Beim Mittagstisch an der Münze ging alles gut, nachmittags aber fing Onkel Dietrich nochmals davon in der Mühlengasse an und rief auch Werner dazu. Ich spielte abermals den hartnäckig Stummen, gab aber nichts nach, daß ich etwa die Papiere verkaufen ect. wollte. Papst sollte 1 der zuviel gekauften Linzer zu 8,6 Millionen bekommen, die er bar bezahlte. Folgenden Morgens, Donnerstag 19., fing Onkel Dietrich die Pressung nochmals im großen an, spielte den Zornwütigen bei der Berechnung, holte die Briefe und fackelte mit seiner neuen, auf den 1. Juli (statt 10. Juni) verlegten Bilanz herum und machte mir klar, daß ich im Juni meine Bezüge um 4,4 Millionen überzogen habe, die er jetzt schon durch den neuen Bilanzabschluß abgebucht habe, für die ihm aber Deckung fehle u.s.w. Schließlich wollte er von mir die Summe in bar haben, auf Unkosten verbuchen und ins schwarze Pöttchen legen. Mir wurde das ganze Gerede zu dumm, ich zog mir auf Juli, auf den ich erst 4 Millionen entnommen (und der mir mindesten 15 bringen mußte) 8 Millionen heraus, legte 4,4 Millionen in Umschlag als „Regulierung Juni“ und weitere 5,0 in anderen Umschlag als „Abzahlung auf Papiere“. Ich hatte nämlich noch 3 Millionen aus Tantiem liegen. So habe ich 2 - 2 ½ über für den Monatsrest - Unterhalt. Hiermit nicht genug, fängt selbigen Nachmittag Onkel Dietrich die Sache

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nochmal an, ich könnte es so nicht machen, habe nichts für Monatsende zu leben, müsse an Revision im August denken u.s.w. Ich wurde siedendheiß, die Wut kochte in mir auf, wäre Tante Maria nicht dazwischen gekommen, ich hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ich nahm mir vor, keinen Pfennig zurückzunehmen und fuhr 5 Uhr nach Hause. Helene war mit Obsteinmachen (solches war in Menge auf Roisdorfer Wolfsburg geholt worden) überbeschäftigt, ich war fast übel, vor Aufregung, schlief nachts nicht, bekam Erbrechungsanfälle und blieb folgenden Tages zu Bett liegen mit rasenden Kopfschmerzen. Helene besprach sich morgens mit Werner, und erinnerte auch an 25 Pfd. Zucker, wo er unsicher wurde. – Man hatte mir nämlich aus einer Zuckerverteilung ein ½ Zentner zugesprochen, ich hatte Donnerstag 25 Pfd. davon mitgenommen und jetzt suchte man mir die restlichen 25 Pfd. abzuknappsen. Helene schrieb Dankbrief und bedauerte, den Rest von 25 Pfd. noch nicht zu haben, mit dem sie gerechnet habe. Ich stand erst Abends ein wenig auf und aß wenig Tee und geröstetes Brot, den ganzen Tag hatte ich gefastet. Samstag morgen war Wäschekorb mit nach Köln zu nehmen und ich machte mich auf und fuhr ½ 9 dorthin. Machte meine Sachen und Werner und Onkel Dietrich waren erstaunt, mich schon anzutreffen. Ich krümmte mich vor Kolikanfällen und konnte nicht nach unten kommen. Zur Aussprache kam es nicht, ich bot auch keine Hand dazu.
   Helene erzählte die Sache Papa, der sagt: „Lehr mich nicht den Dietrich kennen!“ Er ist bereit mit Mitteln einzuspringen, auch seinen Bankkredit dafür anzuspannen; mir ist es angenehm zu wissen, ich gedenke jetzt anders vorzugehen.
   Und die Moral von der Geschichte:
   Ich hatte bei der Bilanz 1922 Auseinandersetzungen mit DB über Tantiem, die damit endeten, daß ich Konto H. und N.Y. mit einigen 600 Dollar beteiligt wurde und 200 000 M annahm, von denen mir Onkel Dietrich sofort 100 000 M wieder „als Kapitalanlage“ abnahm. Diese Einlage stellte damals nur 333 Dollar dar, heute dagegen 1/3 Dollar. Nach heutigem Dollarkurs würde diese Summe rund 100 Millionen in heutiger Papiermark darstellen. Ich habe bei Bekanntgabe der diesjährigen Tantiem mit 20 M alsbald DB und OB erklärt, bei derselben fortschreitenden Progession würde ich im nächsten Jahr ca 120 m Nessel herauszugeben haben, denn 1921 konnte ich 6 000 m Nessel, 1922 4000, und jetzt noch keine 2000 m Nessel für mein Tantiem kaufen. Auch habe ich das Einlagekapital mit 333 Dollar völlig verloren. OB hatte sogar den traurigen Mut, mir von Substanzverlust der Firma vorreden zu wollen. Selbstredend geht mein Sinnen und Trachten dahin, diesen Verlust wieder hereinzuholen und ich halte mich rechtlich und moralisch für durchaus berechtigt, hierzu die Firma in Anspruch zu nehmen. Rechtlich ist das Problem der Aufwertung früherer Forderungen durchaus im Flusse, so daß ernstlich erwogen werden kann, ob ein Rechtsstreit hierüber nicht vollen Erfolg hätte, zumal DB mir stets von Quasie-Teilhaberschaft vorgeredet hat und ich selbst meine volle Kraft nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Vermehrung der Firmensubstanz eingesetzt habe und keineswegs ohne Erfolg. Moralisch besteht der Anspruch erst recht: Denn bei jener Erhaltung und Vergrößerung habe ich keinen Auggenblick je gezögert, mich jedweder Mittel, auch solcher zu bedienen, die mir selbst keineswegs stets angenehm erschienen, moralische Bedenken habe ich, soweit es die Firma und deren Vorteil anging, ohne viel Federlesens bei Seite gesetzt. Es ist daher nicht mehr als recht und billig, daß die Firma auch mir Gelegenheit giebt, mir meinen Verlust, der ausschließlich ihr zu gut gekommen ist, wieder heraus zu holen. Dazu dient der Vorschuß zum Ankauf von Wertpapieren, die mit der naturnotwendigen Aufwertung Gelegenheit geben, später durch Verkauf des einen oder anderen Stückes die Schuld abzudecken. Wenn nun schon die Firma Mechaniker Mähler, einem in seinem Fach recht tüchtigen Manne, zur Beschaffung eines Wohn-Eß-Herrenzimmers mit Schreibtisch (Ich selbst besitze bis heute noch keinen Schreibtisch, ohne mich darob besonders zu grämen) anstandslos ein Vorschuß von 22 Millionen gegeben wird, so sollte billigerweise über einen solchen von 40 Mill. an mich kein Wort zu verlieren sein, mag auch dessen Anschaffung als eine notwendige, meine mir als eine nützliche erscheinen. Jedenfalls hat M. an der Firma keine solchen Verluste erlitten wie ich. Demgemäß wäre es ein Gebot der Kulanz seitens der Firma gewesen, mir nicht nur ohne mit der Wimper zu zucken, die 40 Mill. zur vorläufigen Deckung der gekauften Papiere darlehensweise

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zur Verfügung zu stellen, sondern es hätte der Firma wohl angestanden, auch die zufällig zu viel hier erworbenen Papiere mir zum Anschaffungswert bis Ende des Jahres reserviert zu halten, um mir Gelegenheit zu geben, jenen Verlust an Kapital einigermaßen wieder wett zu machen. Statt dessen nun die fortgesetzten Preßversuche von DB mit dem klaren Ziel, mich zu einem Verzicht auf die Papiere zu bewegen. Geradezu ruppig kommt mir dabei der Umstand vor, mir 4,4 Mill. in bar per Juni abzuzwacken, die ohne die Bilanzschiebung ohne weiteres in den Verzehr des gesamten Geschäftsjahres 1923/24 gefallen wären. Durchsichtig natürlich: mit der Abknöpfung dieser Summe sollte ich zunächst einmal blank gestellt und in die Unmöglichkeit versetzt werden, in absehbarer Zeit eine Abschlagszahlung auf die Papierschuld machen zu können. Nun geschah das doch und da wird mir bedeutet, ich könne per Juli nichts mehr entnehmen und müsse doch noch meine Familie ernähren ect. Ist das vornehm und kulant? Nein, ruppig, kleinlich und häßlich. Ich werde Vorschlag machen, die Sache in die innere Konferenz zu bringen, entscheidet sie gegen mich, so nehme ich dies als eine besondere Unfreundlichkeit hin und werde, zumal wenn man mich mit der Festsetzung bestimmter Monatsbezüge wieder auf das Niveau eines Angestellten herabdrücken will, zur Justiz zurückkehren und mein Heil außerhalb der Mühlengasse suchen. – – –
(Die nächsten beiden Zeilen sind mit Bleistift fast unleserlich geschrieben) Weitere Entwicklg. E.?... Di, neuer K.?..versuch DB u Werner. Merk (?) alle was. Halb Versöhng .?.. .?.. Mi Do Waffenstillst. Freitg neuer Vorschlag zur . . . Samstg mein Vorschlg.
Es gab noch allerlei Unfreundlichkeiten, ich wurde nicht minder deutlich. Die Papiere behielt sich auf die (wertvollste) Basaltaktie wurde das Kapitalkonto Nov. 1922 100 000 M verrechnet, der Rest im August stillschweigend als Bagatelle verrechnet. DB behielt persönlich – Stamm WB entsprechend geschädigt, da nur Papiermark dagegen entnommen – die anderen Papiere, er hatte sie alle haben wollen, nicht weniger Werner. Ich vergesse diese Sache nicht und werde sie bei geeigneter Zeit sofort aufs Tapet bringen.
28. Oktober 1923. Heftige Erschütterungen: das Rheinland löst sich unter dem wahnsinnigen Druck der brutalen Eroberer aus dem Reichsverband. In allen Städten versuchen Horden bewaffneten Gesindels unter offensichtlichem Schutz der französichen und belgischen Besatzungstruppen die „rheinische Republik“ zu erklären. Rathäuser besetzt und wieder gestürmt; die Volkswut gegen die Sonderbündler ist groß. Manche Bürger, die als solche gelten, werden zu Tode mißhandelt. So auch hier in Bonn. Seit gestern Zahlungsmittelkrisis, da bei der rasenden Geldentwertung entsprechendes neues Papiergeld für den Augenblick nicht vorhanden ist. In Barmen sah ich Mittwoch drohende Massen Arbeitsloser abends am Rathaus stehen, grüne Polizei mit gezücktem Gewehr dagegen. Ich mußte von innen von der Feststellungsbehörde kommend (wo ich mit dem von Prüm vertriebenen Landrat Burggraef Schadensfälle aus Anlaß des Ruhreinbruchs für die Firma abgewickelt und 3 2/3 Billionen Papiermark aus 2 Fällen erzielt hatte) durchs Hauptportal heraus, wo die ganze Plebs sich angesammelt hatte. Abends ist es auch noch zu Schießereien dort gekommen, dort und namentlich auch in Elberfeld zu schweren Plünderungen, ein trostloser Anblick anderen Morgens, als ich zwischen Sonderkasse und Reichsbank hetzte, die zerbrochenen Spiegelscheiben an leeren Schaufenstern. Die letzte Zeit komme ich infolge der überhasteten Abwicklung jener Schadenssachen nicht mehr recht zu Atem. Überhaupt ist es eine solche Zeit, daß niemand Ruhe hat. Letzten Freitag war ich mit Helene am Spätnachmittag hier einmal in der Stadt, alle Straßen dicht voll Menschen, dazwischen französische Militärposten mit Gewehr, die Ansammlungen verhindern, Markt abgesperrt, auf dem Friedrichsplatz eine fliegende Sanitätskolonne stationiert, glücklicherweise

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wurden wir nicht Zeuge einer der furchtbaren Mißhandlungsszenen, die sich sogleich entwickeln, wenn ein einzelner Sonderbündler sich zeigt oder jemand als solcher verdächtigt wird. Denen geht es schlimm, bestenfalls gelangen sie mit gebrochenen Gliedern ins Krankenhaus. Manche büßten ihr Leben ein. Auf dem Rathaus weht noch die grünweißrote Fahne der rheinischen Republik. Wären keine Franzosen hier, alle Sonderbündler wären trotz ihrer Bewaffnung in Stücke gerissen. Papa bat gestern telefonisch um Geld, wir hatten keins. Vorgestern brachte ich Helene 250 Milliarden von Köln mit, um der mit jeder Stunde drohenden gänzlichen Entwertung vorzubeugen, kaufte sie sofort Fleischwaren u.s.w. dafür, so daß gestern nichts mehr da war. Mama konnten wir noch um 10 Milliarden anpumpen. Den vorgehabten Ausflug ins Siebengebirge mußten wir aufgeben – es ist ein wundermilder farbiger prächtiger Herbst – und machten statt dessen einen Spaziergang nach Rheindorf, Hochwasser, große Fläche mit rasend dahinschießendem Strom, prächtiger Ausblick in das goldgelb gefärbte Waldgebiet der Siegniederung gegenüber. Kaffee gabs nicht. Mit dem Rest der gepumpten Barschaft konnten Helene und ich je 1 Glas (gutes) Bier trinken, das je 1 ½ Milliarden kostete. Die Kinder aßen Birnen und Butterbrote, die wir mitgebracht hatten. An der Burg vorbei heim.
   Heute war kein Geld da, daß Helene mit nach Hersel fahren und Papa besuchen können. Papa war leidlich wohlauf, Anne besser, ging auch mittags mit zur Bahn, mich begleiten. Hatte Barmer Bankaktien gut verkauft zu 1,7 Billionen pro 1000 M, kauft jetzt zu 0,7 zurück und hält viel übrig. Theobald kommt Rolfs auf die Sprünge. Es fehlten ca 15 000 Pakete Seifenpulver. Kriminalbeamte heute mit in Hersel. Beim Fuhrmann bereits Feststellungen gemacht. Mittwoch soll Auseinandersetzung sein, zu der ich die Schriftstücke schon fertig habe.
   – Büroneubau große Neugasse. DBs Zurückweichen, G’schäftelhuberei und Hang zum Geschäftchenmachen. Verzweifelter Endkampf gegen Goldlöhne. bei Geldverkauf. Letzte Zuckungen der Papiermark. Die Umbildung der Rheinlande. –

   Auf eingeklebten Blättern, Seiten 135 - 137: Unterhaltung mit Onkel Dietrich am 19.XI.1923. Onkel Dietrich hat die Wäscherechnung: 2 Körbe = 53 GM. Wie sollen die gezahlt werden? „Da mußt du mal von Deinen Devisen verkaufen, wie ich es auch tue!“ - Ich habe keine Devisen, jedes Kind hat 1 Pfund, das du ihnen geschenkt hast.“ – „Du hast mehr Devisen wie ich!!“ – !? – Ich lache herzlich: Wir wollen tauschen! – – – Otto hat dir ja neulich auch wieder Devisen verkauft.“ – Ja, ganze 3,70 fr fr, um für Papa eine Reise III. Kl. nach – Cuchenheim zu finanzieren.“ „Ach so!“ – „Wir müssen überhaupt über deine Bezüge reden!“ „Aber sicher, denn ich bin sehr zurück. Aber nicht vor Freitag, erst dann bekomme ich vom Rechnungsamt des O.L.Gerichts die Aufstellung, ich war heute deswegen dort. Übrigens, soll ich unter den Pape kommen?“ – „Nein, selbstredend nicht.“ – „Wieviel hatte Pape im September?“ – „Ich weiß es nicht, muß mal nachsehen. Er hat uns gedrückt und wenn er für kurze Zeit darüber gerutscht ist, so muß das berichtigt werden.“ – „Ja, natürlich, ich aber auch!“ – „Du hast ja Fkhs (Funkenhaus) als Maximum im Vertrag.“ – „Was! Das ist ja ganz was Neues! Nein, die Tantieme ist mindestens die von Fkhs. Übrigens kannte ich bei Vertragsabschluß Fkhs Stellung nicht. Das müßte sehr berichtigt werden. Ich trat ein mit dem 4fachen des Amtsrichters, bin dann stets gesunken gemessen an Devisen, Warenwerten, Index, Beamtenbezüge u.s.w. Bald bin ich auf dem Gefrierpunkt. Das muß geändert werden.“ Onkel Dietrich geht seufzend weg.

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20.XI.1923. Onkel Dietrich kommt mit Aufzeichnung Anfangs- und Endgehalt Beamtenklasse XI, Städt. Krankenkasse Köln. Rechnet Beträge mit Kindern ohne Besatzungszulage „für Konrad“ aus. Ppst, herbeigerufen, erläutert die in den Vorauszahlungen liegenden großen Vorteile bei der rapiden Geldentwertung. Ppst ab. Onkel Dietrich: Ich habe darüber nachgedacht, was du mir gestern gesagt hast über Fks in deinem Vertrag, du hast den Vertrag selbst ganz gemacht! – Bitte, ich hatte Herrn Ppst drin gesagt nur bzgl der Jahrestantieme. Dies hast du geändert, ich besitze diesen Entwurf noch. – Doch mit deinem Einverständnis! – Nein, gegen meinen Widerspruch, zudem kannte ich Fkhs Stellung damals gar nicht, sonst hätte ich nicht unterschrieben. – Du bist nicht gerecht, du hast doch große Vorteile gehabt, Kunstwerke gekauft, Anschaffungen auch für Helene gemacht, Devisen bekommen. – Ich habe 24 hfl und 3,70 frfr bekommen, weiter nichts. Ich werde dir mal eine Aufstellung machen, was ich mir an Wertpapieren und Devisen hätte kaufen können, wenn ich die Vorauszahlungen eines Beamten gehabt hätte, übrigens weiß ich bis heute nicht, was Pape im September - Oktober gehabt hat. – Du kannst die Aufstellung gleich sehen, komm mit.
   DB und DR gehen nach unten, DB holt Aufstellung der Sondergehälter, Rubrik Pape für September - Oktober frei! – – Du sollst dir stets die nötigen Vorschüsse nehmen. – Ich habe gestern irrig 105 Milliarden, statt 5,4 Billionen für Wäsche gezahlt. Hier die Differenz. –  Schluß –
   Nutzanwendung: Matthias ist ungerecht und er betont, daß er seit 1920/21 in seinen Bezügen ständig und sehr erheblich zurückgegangen ist, während sich die Firmensubstanz nicht nur erhalten, sondern nicht unwesentlich vermehrt hat. – – –
 
   6.XI.1923. Köln 1 Pfund eingewechselt zu 54 Billionen
   Köln Spielwarengeschäft
   2 Farbkasten 2,3 Billionen
   2 Spiele 5,2
   2 Handarbeitskästen 7,5

   Bücherstube Iusti Velasques 2 Bde 7,5
        Balzac  2,2
        Stifter 1 Bd. 9,7
 Justi Italienbriefe    208
              10,–
      10 Billionen

Mühlengasse 2,2 Billionen = 16,50 GM
 

Bonn Fahrradgeschäft geschlossen
Lederkoffer 26 Billionen Schokolade 4 Tafeln 0,465 Bill
Lederetui       3 Billionen Wolljacken              10,000
Schuhleder 1,864 Billionen

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Weihnacht 1923. Goldmarklöhne da, aber nicht publiziert, mir verschämt 500 angedeutet. Warenbon. Was macht man damit? Aufwertung Teilhaber - Familie (Säulisessen (?)) Angestelltenersparnisse –

Auf den Seiten 138 bis 152 folgen noch Eintragungen vom Ende des Jahres 1925. Sie erscheinen in der zeitlich richtigen Reihenfolge.
 

Tagebuch für Amtsgerichtsrat a. D. Dr. iur. Matthias Rech
August 1923 -

(Das Tagebuch beginnt im Januar 1924)
16. Januar 1924. Dem Handel ist die größte Beweglichkeit eigen: Onkel Dietrich hat das schöne geräumige Privatkontor, das erst 1919 in Eichentäfelung an der Mühlengasse eingerichtet worden war, gegen ein viel größeres im früheren Strickereiraum an der Großen Neugasse vertauscht. Seine Privatsekretärin hat dort eigenes Büro, ich deren 3 für Rechtsabteilung erhalten und schließlich ein großer langer Sitzungssaal, für den ein Riesentisch mit 16 Stühlen angeschafft wurde. Ich habe jetzt eine neue Privatsekretärin, Frl. Maria Ruitter, die Oberlyceum mit Erfolg absolvierte und Seminar durchgemacht, auch 2 Jahre bei der Verwaltung der Städtischen Straßenbahn gearbeitet hat. Sie sitzt im ersten meiner Räume, der mittlere enthält den alten ursprünglichen Konferenztisch, der aus der Deutzer Strickerei zurückgeholt wurde und mein Chaiselongue, das der Polsterer neu aufgemacht hat, das letzte ist mein, hoch mit grüngefärbtem Nessel ausgeschlagenes Kabinett, das nur Doppelpult und 2 Sessel enthält, die Hinterwand mit drei Schränken, darunter der eiserne im hölzernen Geschränk. (Eine Grundrißzeichnung ist eingefügt.) Als ich kürzlich Änne die neuen Räume zeigte und dabei launigerweise bemerkte (als Onkel Dietrich auf die leere Wand wies,

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wo noch viele sterben und als Ahnenbilder aufgehängt werden könnten) „wer weiß, ob wir nicht nur wenige Jahre hier bleiben und dann vielleicht ein Flickschuster an dieser Stelle sitzt und hämmert“, da lächelte Onkel Dietrich verständnisinnig und freute sich. Änne wunderte sich höchlich und ich setzte ihr des längeren auseinander, wie leicht es geschehen könnte, daß wir Schuhwaren dazunähmen, daß dann ein Flickschuster notwendig werde und daß dann andere Umstände dazu führten, die ganze Leitung einschließlich Einkauf oben hoch aufs Dach zu setzen u.s.w.
   In mein Büro war ich kaum eingezogen, als alles wieder heute herausgeholt und nebenan gestellt wurde, so daß ich heute morgen in einem überfüllten Möbelmagazin hauste: Der Boden mußte neu bearbeitet werden. Als ich abends mit Helene, die mit in Köln war, von der Münze zurückkam, war schon wieder alles eingeräumt und in Ordnung. Helene staunte. Will kam und erfreute mich mit einem Briefe, in dem die Angestelltenversicherungsanstalt Berlin sich mit der Aufwertung unserer letzten – noch nicht erledigten! – Hypothek von 95 000 M auf dem Geschäftshause Düsseldorf Ackerstraße 2 in Höhe von 25 % des Goldwertes für einverstanden erklärte und sich an diese Erklärung bis zum 1. Januar 1924 gebunden hält. Ich denke, wir nehmen dies an. Werner und Kurt (dieser gestern 22 Jahre alt geworden) sind nach Bielefeld um einige 50 Anker Nähmaschinen zu kaufen. Auch schwebt ein Ankauf über über eine größere Zahl Singermaschinen, die mit einer starken Preiserniedrigung neuerdings angeboten werden. Große Baupläne sind im Gange: Werner, Papst und ich waren Montag auf dem Deutzer Fabrikgelände, besahen uns das Terrain für neugeplante 6 Sheds, die anscheinend im Schnellzugtempo gebaut werden; schon bietet sich heute ein Bauunternehmer zum Bauen an! Anschaffung weiterer Strickmaschinen ist geplant. Meine – die Rechtsabteilung – ist in ihrer Arbeitsanspannung gottlob zurückgegangen, so daß ich Amtsrichter Hunsänger in Daun einstweilen abwinken mußte, der demnächst gern wieder mit halben Tagen gearbeitet hätte. Otto ist mit Asta nach Arosa und St. Moritz. –

   24.4.24. Wir verlebten recht angenehme Ostern in Ruhe und Stille zu Hause. Die Woche vorher war Bruder Johannes von Halle hier und wir hatten nur angenehme Tage mit ihm. Dienstags hatte ich bei Forstmanns in Godesberg vorzusprechen, Helene ging mit. Mit Johannes marschierten wir bei lindem Wetter nach Mehlem, aßen Mittags sehr gemütlich und schön bei Bellinghausen. Abends war ich mit Johannes im Theater, wo Lenz’ Woyzek

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in geradezu klassischer Weise mit wundervoller künstlerischer Bühnenszenerie gut gespielt wurde. Johannes war über die Qualität unseres Stadttheaters sehr erstaunt.
   Sonntags und Montags zuvor hatten wir die 25jährige Wiederkehr unseres Abiturientenexamens gefeiert. Sonntagabend sah ich im Hähnchen seit 25 Jahren mal wieder Lackmann, Furth und einige andere. Montag hatten wir zu 10 in der Bürgergesellschaft ein gemütliches Mittagessen, ließen uns typen und tranken im Königshof Kaffee, nachdem wir zuvor im Gymnasium Besuch gemacht und unsere alten Klassenzimmer, Aula, Turnhalle, Physiksaal besehen hatten. Bilder alter Lehrer. Unsere sind fast alle tot. Von den einigen 50 Konabiturienten sind schon 14 tot. Wir konnten alle bis auf einen Mitschüler unseres Zotus (v. Makow) feststellen. Ich stellte ein Verzeichnis auf.
   Dieses Jahr will der Winter anscheinend gar nicht weichen. Kaum daß bis jetzt einige Aprikosenbäume blühen und die Kastanien eben ausgelaufen sind. Immer wieder ist es kalt und unfreundlich und ewig ist alle Welt erkältet. Ich leide viel an bohrenden Kopfschmerzen.
   Herta und Marianne brachten zu Ostern ganz hervorragende Zeugnisse heim. Herta das beste, Marianne das II.beste der Klasse. Herta war fast 10 Tage in Arnsberg bei Fulda’s zu Besuch. Ich brachte sie in Köln auf den D-Zug, und so machte sie mit 12 Jahren erstmals ihre eigene längere Reise. Jetzt haben wir Ingeborg Fulda auf einige Tage hier zu Besuch. Mariannchen möchte nun auch mal gern auf Reisen gehen.
   Mama hat eine böse Herzkrise anscheinend ziemlich wieder überwunden. Ostermontag war sie nach langer Zeit wieder erstmals bei uns und trank abends fidel ein kleines erstes Maiböwlchen mit. Zu Ostersonntag hatten Otto und Asta uns zum „Empfang“ nach erfolgreichem Einzug in ihr neues Haus (Burgers) Oberländer Ufer 132 eingeladen. Wir hatten aber Rolfes mit Frau Trapp und einem jungen Mädchen eingeladen und gingen nicht hin.
   28.4.24. Marianne wird vermöge ihres Mutterwitzes stets schlagfertiger. Einige Bon-mots von ihr: Charfreitag spazieren wir gegen abend in Königswinter auf der Rheinpromenade und treffen Hans Br. mit Frau Martha, letztere im vorletzten Moment der Schwangerschaft, bunte gestrickte Zipfelmützel, graulackiertes Spazierstöckchen, riesiger Pelzmantel, hohe graue Stöckelschuhe. Marianne hatte sie genau gemustert und in der Elektrischen: Der Onkel Hans ist aber zu bedauern, daß er mit so einer Frau abends spazieren gehen muß.

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    Vor einiger Zeit zeigte die Mutter ihr die Mühlengasse in Köln, wo die Großmutter gespielt habe. Mariannchen: „Recht angenehm, in der Stinkgaß.“ Fräulein Luise Schlauters Bruder ist gestern zur Kommunion gegangen, es wird davon gesprochen, das sei der schönste Tag seines Lebens. Marianne: „Schönster Tag des Lebens ist, wenn man verheiratet ist und hat ein Kindchen.“
   18.5.24. Nach langer Kälte und Hochwasser im Mai jetzt endlich Wärme, daß man im Freien ist. War das ein abscheulich ewig langer Winter. Ganz melancholisch wurde man. – Nun aber sind die schönsten Tage und ehe sie verfließen, wir wollen sie genießen. Gestern waren wir mit den Kindern in Heisterbach, von Oberkassel durch den Wald dort unter blühenden Kastanien herrlich gesessen. – Onkel Dietrich ist seit 8 Tagen in Baden Baden. Er brachte es fertig, Kimmlers Konto mit angeblich 100 % auf 2000 M aufzuwerten und dabei zu vergessen, daß darin Tante Henriettes Erbschaft Mühlengasse ect mitenthalten war, also allein 35000 GoldM. Karl Kimmler schrieb darüber recht verdrossen und es wird noch eine prächtige Rechnerei setzen. Uns gehts gut. Frl. Emons versorgt noch die Küche, Frl. Schlauter ist auch wieder arbeitsfähig und Helene hat gute Tage. Wir werden leider fast allzu dick. Freund Bruhns dagegen geht es nicht besonders in Frankfurt, Frau und Kinder kommen aus Estland zurück und das Gehalt ist minimal. Wir freuen uns, ihnen helfen zu können und haben ihnen monatlich 100 M zugesagt. Die letzten Tage habe ich manches zu tun durch einen Gesellschaftsvertrag zwischen Michel Du Mont, Inhaber der Tabakfirma Heinr. Jos. Du Mont (von dessen Großvater Papa s. Zt. Hersel gekauft hat) und dessen Sohn Ferdinand Du Mont; schwierige Sache, dadurch daß die erste Frau und Kinder Kommanditisten sind, die man in Ruhe lassen will. Eine von Rolfs vermittelte lokale „Vermögensverwaltung“ eines großen Villenanwesens Reiners-Dusenschön in Honnef hat sich z. T. zerschlagen, wenigstens die alsbaldige Vermietung des großen Besitztums. Immerhin bekam ich kleines Honorar heute überwiesen. Der Rest (auf) Helenes Perlenkette kann ich mit ihm und dem von Du Mont abzuknöpfenden decken. Kommt es zum Kachelofenbau im Juni, was Helene sehr wünscht, doch fehlen leider noch die befriedigenden Kacheln – so muß dies auf Tantieme gepumpt werden. Zu Pfingsten wollen wir 14 Tage auf Hunsrück und Bernkastel. August vielleicht in Schwarzwald. Hoffentlich deckt die Tantieme diese Ausgaben. 4000 GM stehen mir auf Grund des Vertrages, wie ich ihn auslege, noch pro II. Semester 1923 zu, wo ich ganz abscheulich wenig bekommen habe, ca 3000 M!

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Das giebt noch Krach! Jetzt soll ich nur 1000 M pro Monat haben, brauche aber immerhin stets ca 1500 M. –
   19.6.24 Pfingsten (schon Donnerstag vor) waren wir zusammen an 11 Tagen in Irmenach auf dem Hunsrück. Schade, Herta lag mit Fieber an Grippe krank, sonst aber munter. Helene ist heute noch mit ihr oben, kommen aber leider die nächsten Tage nach hier zurück. Carl Ströher, den reifen Menschen und Künstler, Maler, Bildhauer und Holzschneider haben wir näher kennen und hoch schätzen gelernt. Seltsam, nach den keineswegs stillen, sondern ziemlich bewegten Tagen in jener stillen, windbewegten, großlinien Landschaft droben kommt mir die teuflische Hast in Köln doppelt hohl vor. Das schlimmste Gefühl der Hohlheit hatte ich gestern, als ich mit Grete Riesen durch die gut ausgestellte Heimatschau der 3. L .?..  u. ..?.. ging, um Ströhers prächtige Aquarelle ziemlich im letzten Raum z. T. totgehängt zu finden. Alles Hasten, Treiben, leicht gekräuselte Oberfläche ohne jede Tiefe, alles seicht, flach. Der Kopf tut einem weh davon. Heute konnte ich mich erst mal wieder in Ruhe sammeln. Las Dickens 1 Kapitel.
   Hersel, den 7. August 1925. Anläßlich des Briefes von Dr. Prietze und der von Onkel Dietrich mitgegebenen Gustav-Nachtigall-Briefe erzählt mein Schwiegervater Peter Reitmeister: „Ich erinnere mich, daß der Afrikareisende Gustav Nachtigal auf meiner Hochzeit war. Er bemerkte dabei, seine Anwesenheit bedeute insofern eine besondere Ehre, als er zu gleicher Zeit auch zu einer Hochzeit des jungen Krupp, Sohn von Alfred Krupp in Essen eingeladen sei und diese Einladung ausgeschlagen habe, eben um auf die Hochzeit Peter Reitmeister - Helene Brügelmann zu kommen. Die Schwiegermutter, Witwe Gustav Wilhelm Brügelmann, Helene geb. van Hees, wird in den Briefen Gustav Nachtigals „Lenchen“ genannt.
   Der Onkel des Forschers, Dietrich Nachtigal, kam als junger Kaufmann nach Köln und „konditionierte“ hier bei einer ersten Ölfirma, deren Name mir nicht mehr erinnerlich ist. Als kaufmännischer Angestellter heiratete er Henriette Brügelmann.

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Er pflegte mit seinem unverheirateten Chef nachmittags gemeinsam Kaffee zu trinken. Eines Tages hob der Chef diesen Brauch auf, was Dietrich Nachtigal verdroß und seine Frau bewog, ihn darin zu bestärken, sich selbständig zu machen. Mit Hülfe seiner Schwiegermutter Ww. Friedrich Wilhelm Brügelmann geb. Braselmann und seiner Schwäger (Gustav Wilhelm und Hermann) gründete er ein eigenes Geschäft, das durch seinen Fleiß, seine peinliche kaufmännische Art und günstiger Umstände emporblühte. Im gleichen Maße wie es emporstieg, ging die Firma seines früheren Chefs zurück. Als Beispiel für die einfache Art, wie es anfangs in der Ehe zuging, wird erzählt, daß die Frau selbst mit an der Waschbütte gestanden habe und daß der Mann ihr zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest ein Paar Zugstiefelchen schenkte. Bei seinem Tode hinterließ er außer einem gediegenen Hausrat, einer guten Gemäldesammlung ect. ein Vermögen von 1 Million Mark. Als sorgfältiger und absolut zuverlässiger Kaufmann war er allgemein bekannt und hochgeachtet. Er führte später ein großes Haus. Der heute noch lebende Geheime Kommerzienrat Schmalbein erzählte gelegentlich, daß er als Lehrling dort im Hause gewohnt und bei größeren Festlichkeiten mit habe servieren dürfen. Der Tod ereilte ihn am Pult seiner Arbeitsstätte. Seine Frau überlebte ihn um einige Jahre, wohnte zumeist in einem kleinen Besitztum in Honnef, auf dem ehedem die Schwiegermutter Brügelmann gehaust hatte.
   Während dieser Zeit besuchte Gustav Nachtigal sie auf längere Zeit und lebte bei ihr in Honnef. Hierbei traf ihn meine Schwiegermutter des öfteren.
   Nach meinem Urteil muß Dietrich Nachtigal persönlich

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in Kunstdingen einen guten und sicheren Geschmack besessen haben. Er brachte eine ansehnliche und recht gute Sammlung zeitgenössischer Ölgemälde zusammen. Alle guten alten Bilder, die man heute in der Verwandtschaft sieht – die meisten besitzt Onkel Dietrich Brügelmann, – rühren aus seinem Nachlaß her. So auch ein zaghaft betendes Bauernmädchen im Besitz meines Schwiegervaters. Vetter Hans Brügelmann, Teilhaber der Firma Carl Brügelmann, besitzt die Originale von den beiden ausgezeichneten Portraits des Ehepaars Dietrich Nachtigal.
   Nach Angabe meines Schwiegervaters ist die Firma Dietrich Nachtigal auf seine ausdrückliche Anordnung nach seinem Tode gelöscht worden. Der Neffe Carl Brügelmann führte das Geschäft unter der Firma Carl Brügelmann fort.
   Helene erzählt: Gustav Nachtigal hielt auf der Hochzeit meiner Eltern eine Rede, in der er betonte, daß er sich gleichsam wie einen Vater betrachte, zumal er sie durch eine Operation einer Drüsenentzündung am Arm aus ernster Gefahr gerettet habe.

   Abschriften von Bruchstücken aus Briefen von Gustav Nachtigal an seinen Onkel Dietrich Nachtigal und dessen Ehefrau Henriette geb. Brügelmann in Köln. Gustav Nachtigal lebte aus Gesundheitsrücksichten in Tunis und war dort als Arzt tätig. Er hing sehr an den Kölner Verwandten und den Verwandten seiner Tante. Großmutter ist die Schwiegermutter seines Onkels, die Ww. Friedrich Wilhelm Brügelmann geb. Braselmann, Lenchen die Schwägerin seiner Tante, Witwe Gustav Wilhelm Brügelmann geb. van Hees.

Es folgt die Abschrift eines Briefes von Gustav Nachtigal aus Tunis vom 10. November 1861 (muß heißen: 1862) in der Handschrift von Helene Rech mit Randnotizen.

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28.9.25. Onkel Albert Brügelmann berichtet mir heute, Großmutter Brügelmann (geb. Braselmann) war als Witwe eine für die damalige Zeit reiche Frau. Besaß Altenbergerstraße 2 Häuser: Eckhaus Johannisstraße, in dem sie selbst wohnte und das Nebenhaus mit Toreinfahrt und 5-Fensterfront. In diesem wohnte Hermann Brügelmann (Alberts Vater) dann kamen 3 kleinere Häuser: Bechem, Dr Thome, Tosetti, dann das große Anwesen Johann Dietrich Nachtigal. Als die Großmutter starb, habe Carl Brügelmann (sein Vetter) mit stiller Hilfe von Nachtigal seinem Vater das Haus abgeboten (Versteigerung) und dieser habe ausziehen müssen. Sei in die Jakordenstraße gezogen.
   Sein Vater Hermann, der mit dem jungen Bruder Wilhelm die Firma Mühlengasse hatte, sei ein stiller und zurückhaltender Mann gewesen, während Wilhelm ein geschäftlicher Draufgänger gewesen sei; das Verhältnis sei ähnlich wie zwischen Wilhelm und Dietrich in der nächsten Generation. Als Wilhelm jung verstorben war, hat Hermann das Geschäft geführt, ist dann erblindet und langsam und sicher von seiner Schwägerin, Witwe Wilhelm Brügelmann „Tante Lenchen“ (Großmutter Brügelmann) aus dem Geschäft gedrängt worden, darüber auch viel Zwist und Intrigen auch bei Nachtigals, bei denen Tante Lenchen mit ihrem einnehmenden Wesen und ihren gewandten Töchtern Sophie und Maria stets gegen seinen Vater Hermann und seine sehr offene und derbe Mutter geb. Heyland aus Werther sehr im Nachteil gewesen sei. Zwischen „Tante Lenchen“ und seiner Mutter habe stets eine starke Rivalität bestanden. Tante Lenchen war vermögenslos gewesen, seine Mutter ziemlich vermögend und noch viel höher geschätzt. Der Abgang seines erblindeten Vaters aus der Mühlengasse sei für diese damals ein große Fehler gewesen, denn er habe alle Aktien mitgenommen. Von seinem Ausscheiden bis zum Tode der Schwägerin soll sich das Vermögen in der Mühlengasse von seinem Bestande in Reichsthalern auf solchen in Mark vermindert haben.
   Der Mord Altenbergerstraße sei 1868/69, als er ca 6 Jahre alt, geschehen. Er, Onkel Albert solle Zeitung dort holen, tat es aber nicht. Bei Mittagstisch erschien Klockenbring, sollten alle hinkommen Gericke habe Blutsturz bekommen. Große Szene: Eltern  Gericke und Eltern Brebak dort, Kriminale, Soldaten, Absperrung. Brebak im Tresor. Später im Gefängnis erhängt. Onkel Nachtigal viel Verdruß, Eidesleistung, Vernehmung u.s.w. (In den Briefen Gustav Nachtigals wird zu diesem Ereignis ebenfalls Stellung genommen.)

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20.X.1925. Melodramatische Szene. Aus dem Leben der ehrsamen (Groß)-Kaufleute. Die Vereinigung der Banken hat stramme Syndikatsbedingungen erlassen und nutzt die Knappheit des Kapitalmarkts durch wucherische Zinsen aus. Dem suchen die großen Kaufleute zu begegnen, indem sie mit der Reichsbank unmittelbar verkehren, kräftig Wechsel querschreiben und eine ausgedehnte Zettelwirtschaft betreiben. Mittlerweile kracht es allenthalben und die große Dämmerung auch aller der Schieber beginnt, die sich nach der Wiederherstellung der Währung noch bisher über Wasser gehalten wurden. Dabei fallen auch alte angesehene Häuser, die es nicht verstanden haben, rechtzeitig knapp und im Bereiche ihrer flüssigen Mittel geschäftlich zu verfügen. Andere, die noch großen Kredit genießen, erregen den Neid der Mißgünstigen, ganz und halb Gestürzten und zumal der innerlich bereits schon lange wackelnden und bebenden „Pinscher“. Man rächt sich durch ein nicht faßbares aber desto eifriger umgetragenes „Geraune“ über Geschäftsaufsicht und dergleichen angenehme Dinge. Das, denkt der Bankier, ist ein Wink, das entsprungene Schäfchen wieder von der Reichsbankweide an und in die Bankhürde hineinzutreiben. Sein Prokurist ruft eines morgens freundschaftlichst an und teilt vertraulich mit, daß gestern ein sonst gut unterrichteter Herr ihn gefragt habe, ob er wisse, daß F.W.B.S. (die Großhandelsfirma) unter Geschäftsaufsicht stehe. Er, der Prokurist habe ihn natürlich sofort berichtigt u.s.w. Den Gewährsmann könne er nicht nennen, da er ihm Verschwiegenheit habe zusichern müssen. Erst gedenkt das Handelshaus über diese Lappalie stillschweigend hinwegzugehen, wird dann aber stutzig (sein erster Prokurist, der eine sehr feine Nase hat vermutet gleich eine Finte hinter jener „freundschaftlich-vertraulichen“ Mitteilung) und drängt energisch auf Darlegung des Ursprungs des Geredes, das angeblich eine eigene Kontorangestellte aufgebracht haben soll. Der Bankprokurist verspricht, an den Gewährsmann zu schreiben, der natürlich nicht antwortet. Mittlerweile spricht der Seniorchef des Handelshauses den Bankchef, der angeblich

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von der ganzen Sache nichts abweiß, dem Handelsherrn aber empfiehlt, die Wechselwirtschaft dranzugeben und bei ihm Bankkredit zu nehmen. Der Handelsherr verlangt für den großen Umsatz bessere Bedingungen. Bankchef: Das kann meine Firma unmöglich machen, denn darin ist sie gebunden durch die Bedingungen der Bankvereinigung. –
   „Alle soche Bedingungen von Syndikaten sind dazu da, um im einzelnen Ausnahmefall umgangen zu werden.“ – „Also, Herr Br., wie können Sie so etwas sagen“, entrüstet sich der biedere Bankchef mit gut gespielter sittlicher Erhabenheit. – „Ich sage die Wahrheit“, lügt diesmal nicht der Handelsherr, sondern wie gelegentlich auch mal Bismarck durch brutale Offenheit und rücksichtslose Wahrheit. – „Ja, ich bedaure, daran vorläufig nichts ändern zu können“, lenkt der B. (Bankbylonier) wieder ein. Wenige Tage darauf erfährt der Handelsherr (er ist wie der Bankgewaltige Vertreter der Bürgerschaft innerhalb der großstädtischen Verwaltung) in einer städtischen Finanzkommission folgendes: Jenes Bankhaus (Geschäfte zwischen der Stadt und Firmen der Stadtverordneten sollen nicht sein) hat von der Stadt einen großen Teil einer ausländischen Anleihesumme als Darlehen gegen gute Verzinsung auf feste Termine erhalten, welche Summe die Stadt eben nicht laufend bemühte. Inzwischen weist der städtische Etat infolge der allen anderen von der Stadt sattsam gepredigten Sparsamkeit ein Loch von 10 Millionen auf und jene, dem Bankhaus gepumpten 10 Millionen wären der Stadt jetzt sehr erwünscht. Die Bank aber besteht auf den ausgemachten Terminen und es heißt alsdann, die Bank könne nicht zahlen. Bei den oppositionellen Fraktionsführern beginnt die Volksseele zu kochen und man denkt schon daran, durch eine Anfrage an den Oberbürgermeister diese Sache in das so oft unbequem grelle Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Jetzt hat der Handelsherr Wasser auf seine Mühle.

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   „Haust du meinen Juden, hau ich deinen!“
   Flugs marschiert er zum Bankchef: „Sie waren neulich so freundlich oder besser gesagt Ihr Herr P. war so freundlich, uns eine freundschaftliche Mitteilung über eine Frage nach der Geschäftsaufsicht bei uns mitzuteilen. Heute sehe ich mich verpflichtet, etwas ähnliches Ihnen mitzuteilen. In der Stadtverwaltung spricht man davon, daß Ihrer Bank aus der Auslandsanleihe eine größere Summe gepumpt worden sei und nun habe die Stadt Geld nötig und könne es nicht von Ihnen bekommen.“ Der Bankchef versteht es gut, sein inneres Erschrecken hinter einem geschickt gespielten Erstaunen zu verbergen. Dann: „Das stimmt, aber der läuft auf eine bestimmte Frist und Geschäft ist Geschäft. Ich muß mich an die Fristen halten. Das schließt ja nicht aus, daß die Stadt inzwischen über den Bestand meiner Kasse verfügt, soweit er vorhanden ist. Kein Bankier wird heute in der Lage sein, der Stadt soviel vorstrecken zu können, als ich es heute kann.“ – „Ja, sehen Sie mal, bei der Sparkasse kann ich größere Summe auf festen Termin zu höherem Zinssatz legen, verlange ich sie dann vorzeitig zurück, so bekomme ich doch in jedem Fall die Summe, nur die Zinsen werden entsprechend verringert.“ – „Das können Sie mit meinem Fall nicht vergleichen, aber wer hat davon gesprochen? Das müssen Sie mir unbedingt verraten.“ – „Ich bedaure sehr, das kann ich ebensowenig, wie Ihr Herr P. uns seinen Gewährsmann nennen kann. Ich habe in diesem Punkte auch Verschwiegenheit geloben müssen.“ – „Nun, ich bin Ihnen, Herr B., natürlich sehr dankbar, daß Sie mir es mitteilen. Man kann ja nie wissen, wie es einem schaden kann und man kann dem begegnen, wenn mans weiß.“ – „Dann noch eins, Herr Geheimrat, es soll in M. diese Sache zum Gegenstand einer öffentlichen Anfrage an den Oberbürgermeister

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gemacht werde. Ich möchte Ihnen das nicht verhehlen.“ – Große runde Augen, das innerliche Erschrecken wird gleich durch zornige Erregung verdeckt: Meinetwegen, ich stehe korrekt da, Geschäft ist Geschäft, ich kann auf meinen vertraglichen Termin bestehen, mich trifft keine Verantwortung, da könnte man eher Herrn S. (der betreffende städtische Dezernent) einen Vorwurf machen, daß er seine Gelder nicht flüssiger anlegt. . .“ Der Handelsherr bemerkt mit innerem Behagen, daß dieser wohlgezielte Hieb gut gesessen hat. Er ist daher die Liebenswürdigkeit selber; der andere bald gefaßt nicht minder und beide verabschieden sich mit wiederholtem Händedruck und gegenseitiger Hochachtung.
   Nachspiel: Der Großkaufmann wird als Retter der Stadt gepriesen: Nämlich, die Stadt war in der Klemme, jener Bankmann aber, (dessen Büste vom Oberbürgermeister der Handelskammer geschenkt wurde) wurde plötzlich generös und großzügig und stellte der Stadt etliche Millionen zu 8 ½ % (waih geschriehe!) zur Verfügung, begnügte sich also mit der äußerst bescheidenen, aber diesmal wirklich bescheidenen Spanne von ½ %. „Das war mal ein gewagtes Spiel“, meinte der Beigeordnete des Baudezernats, der die Stadt mit seinen zahlreichen Neubauten festgefahren hatte, zu dem Großkaufmann: „So einfach zu . . . hinzugehen und ihm das zu sagen, das konnte aber leicht auch anders auslaufen, denken Sie mal, wenn –“ – „Nun seien Sie nur ganz beruhigt, ich wußte schon, was ich tat“, meinte großartig der Großkaufmann, verschwieg es aber klüglich, daß er den schönen Gegenchok hatte auspielen können. – Okt. 25.
   Nov. 25. Hätte der Ober es sich träumen lassen, daß es nur seines Besuches bei jener Einladung zur 40j. Hochzeit in Kgw. bedurft hätte, um den Sturm gegen die Gewerbesteuererhöhung zu verwirken, so wäre er gewiß hingezogen und hätte er noch solches Zahnweh gehabt. Nun aber ist der Stein im Rollen und droht ihn fast zu zermalmen. Jetzt will alles Rechenschaft, sogar vor 24 und früher abgelegt haben und der Ober ist arg in der Klemme.

Ende der Aufzeichnungen im Heft 1924/25

Fortsetzung der Aufzeichnungen aus dem Band 1920/21-25

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1925 Ende November
Am Donnerstag, den 18. Nov. 25, überfällt mich am Eingang der Mühlengasse der junge Bäcker auf der Straße: Ob ich schon das Unglück gehört habe, Ihr Herr Werner Brügelmann ist diese Nacht gestorben! Ich schreie nein, da taucht die lange Gestalt des Kerschkamp auf und bestätigt die Trauerbotschaft. Die kleinen Geschäfte in der Mühlengasse begannen schon nach Ansage der Trauerbotschaft, ihre Schaufenster zu verhängen. Nach einem heißen Bad, so heißt es, habe er einen Herzschlag bekommen. Ich stürze zu Will hinauf, der bleich dasitzt und mir berichtet, daß er mit Otto schon an der Amsterdamerstraße gewesen sei. Onkel Dietrich sei eben noch dort und habe schon nach mir gefragt. Ich sollte seinen Anruf noch abwarten. Ich erledigte die allerdringendsten Sachen und entwarf dann die 4 Anzeigen, mit vielen Entwürfen, die in die Zeitungen sollen. Bis die Reinschriften der entgültigen Fassungen fertig sind, ist es fast ½ 12 geworden. Ich fahre allein zur Amsterdamer Straße (Papst und Rüttgers wollen mit). Dort kommt Onkel Dietrich mit Ernst Ludwig die Treppe herunter. Es ist scheußlich. Endlich fassen wir uns soweit, daß wir die Anzeigen durchgehen können. Erna ist halb von Sinnen vor Schmerz und Leid, ob, nicht sichtbar. Ihr Vater bringt ihr den Entwurf der Familienanzeige, den sie verbessert in „heißgeliebten“ Mann u.s.w. Dann führt DB mich herauf, den Toten zu sehen; auf dem Flur treffe ich die Mutter, Tante Emma und Frau Lukas. Ich kann ihnen nur wortlos die Hand drücken. Tante Emma hat ein verschwollenes Gesicht und einen seltsam ins Ferne gehenden Blick. Der Tote liegt im Nachthemd im Bett, bleich, sonst friedlichen Antlitzes, verklärt und vollkommen unverändert. Ich besehe ihn mir lang und gründlich zum letztenmal. Dann rege ich an, eine Totenmaske gießen zu lassen, ich telefoniere deshalb an Firma, endlich kommt Otto, er wird sich mit Museum in Verbindung setzen. Daraufhin hat ein Bildhauer Papst nachmittags einen Abguß gemacht. – Ich bin heute, Montag, noch so verboselt (verbeselt?), daß mir jetzt erst zum Bewußtsein kommt, ich habe diese Aufzeichnungen schon einmal gemacht. Richtig, in der „Familienchronik“. Das kommt davon. Also dort Fortsetzung.

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15.XII.1925. Seit etlichen Tagen daheim in Bonn. Krieg mit Köln. Heute ruft Frau Gerhartz an, hat Depesche bekommen. Ströher gestern abend gestorben. Schrieb gleich Eilbrief an Witwe und legte 50 M bei auf spätere Verrechnung.
16.XII.1925. Gestern abend war Gerhartz bei uns mit 2 selbstgemalten Bildern, eine Frühlingslandschaft mit blühenden Obstbäumen, ganz entzückend. Sprachen über Ströher. Er regte an, ich sollte etwas über ihn veröffentlichen. Seltsam, vorgestern war Cohen ganz flüchtig hier, besah sich Bilder und sprach sich sehr anerkennend über Ströhers Krippenfiguren aus, auch über die in Photos ihm gezeigten Holzplastiken. Einige Tage zuvor hatte sich Dr. Kutter, Godesberg, ein trefflicher Kunstkenner, mit Interesse Ströhers Holzschnitte und Zeichnungen mit mir durchgesehen, manche als gut und stark gelobt. Auch gemeint, man sollte etwas schreiben. Wenn der Verkauf Haus Elise Honnef zustande kommt und ich meine Provision habe, wollte ich eine Holzplastik von ihm kaufen und schrieb dies an ihn. Am Tage seines Todes erhielt ich die erfreute Antwort seiner Frau. Am Morgen, als uns die Todesnachricht erreichte, hat Manderfeld, Papas Pfleger gerade ein Kistchen mit 2 Flaschen alten Wein an die Post befördert. Ich bin ergriffen von dem Gedanken, wie der Mann nun stumm und still in seinem einsamen, fast selbst erbauten Häuschen mit dem großen Atelier am Waldrand liegt. Alles ist ringsum dick beschneit und es schneit noch immer allzu. Der kleine Sohn Peter begreift seinen Verlust nicht, ist bei Förster Stoll nebenan. Gottlob hat die energische junge Frau eine angenehme Tante aus der Heimat bei sich. Gern würde ich mit Gerhartz dorthin zum Begräbnis gehen. Der war vor 14 Tagen mit seiner Frau im kleinen Opelwagen durch Eis und Schnee dorthin gefahren und hatte ihn mit Digitalis von noch früherem Tode an Herzschwäche gerettet.

   Erinnerungen an Ströher
   11. Mai 1921 in Traben Trarbach kennen gelernt.
   5. - 15. Juni 1924 Pfingsten in Irmenach
              Arbeit an Gerhartz Landhaus Rheinbach
Es war prächtiger Sommertag, an dem ich Ströher in Traben Trarbach auf einer MoHoHu (Mosel- Hochwald- und Hunsrückvereins-) Ausstellung kennen lernte. Ich hielt mich etliche Tage in Bernkastel auf und war auf Veranlassung von RA Schönberg mit Frl. Ida Leistner dort hingefahren. Die Holzschnitte, farbige und schwarze, die linker Hand eine ganze Fensternische einnahmen, hatten es mir angetan, und Schönberg machte mich bald mit dem Künstler bekannt. Sein brauner runder Kopf mit den dunklen Augen und dem schwarzen Haar blieb mir scharf eingeprägt. Aus der anfänglichen Bestellung einer Reihe von Holzschnitten entwickelte sich bald eine Bestellung auf sein gesamtes graphischen Werk, das ich heute wohl fast ausnahmslos besitze. In seinen Briefen teilte er mir allerlei Wichtiges aus seinem Leben mit, allmählich faßte er Vertrauen zu mir und ließ mich nach und nach einen tieferen Blick in das Innere seiner Seele tun. Im Laufe 23 teilte ich ihm meinen Wunsch mit, holzgeschnitzte Krippenfiguren von seiner Hand zu besitzen. Er griff dies begierig auf, hatte erst vor, ziemlich realistische Figuren zu

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machen, nahm aber bald davon Abstand und schnitzte nur unter Zuhülfenahme von kleinen Bewegungsskizzen in Ton die Figuren aus freier Hand. Ich sehe noch die Szene vor mir, als wir die Figuren kurz vor Weihnachten 1923 aus einem umfangreichen Postpaket auspacken und von einem Erstaunen ins andere fielen. Welcher Reichtum an Formen, wie groß und plastisch alles gedacht und geformt, wie schön die Bemalung, wie belebt die großformigen Flächen durch die letzten Schnitte des Messers. Erste eine Mittelgruppe: Josef und Maria mit dem Kind, dann 3 Könige, einer stolz und ragend schreitend, einer, der Mohrenfürst, kniend und still in sich versunken betend, der dritte ein Greis, ebenfalls kniend mit leidenschaftlicher Gebärde der Darbietung. Ferner ein stehender Hirte in dickem Mantel, eine rechte Volksfigur, groß und voll einfacher, fast blöder Andacht, die mir liebste der Figuren, und ein lang dahingestreckt kniender Hirte. Die Figuren lassen sich in verschiedener Art wirkungsvoll zusammenstellen, die Mittelgruppe etwas erhöht. Wir hatten unsere hellste Freude daran. Die Formen wirkten unter dem mit unruhigen Formen ganz überladenen Weihnachtsbaum doppelt ruhig und verhalten.
   Im Frühjahr 1924 kam Ströher dann auf einige 10 - 14 Tage nach Rheinbach, wo er für unseren Freund Professor Gerhartz in dessen Landhäuschen ein Zimmer mit Wänden, Türen und Decke ausmalte. Wir luden ihn zu Tisch ein, ich besuchte ihn auch dort. Helene lernte ihn diesmal kennen. Er hatte inzwischen eine Berlinerin geheiratet und war Vater eines prächtigen Jungen geworden. Diese bewunderten wir, als wir Pfingsten 1924 auf einige 10 Tage nach Irmenach ins Gasthof Fuchs zur Erholung gingen. Es waren schöne Tage, für uns nur getrübt durch eine heftige Erkältung, die Herta vom ersten Tag an ans Bett fesselte, ein wenig erfreulicher Zustand in dem etwas primitiven Gasthof mit der allzu lärmenden nächtlichen Fröhlichkeit der Besitzerin, während deren Mann, Herr Dr. Heiliger ein guter Arzt war. Es waren herrliche Sommertage. Ich marschierte mit Ströher, der gut beiwege war, auf die Dörfer, wo sich seine Werke befanden; Büchenbeuren 2 Schulbilder, Hirschfeld Denkmal an der alten schönen Simultankirche, Kirchhof Irmenach-Beuren, zu Lehrer Eichler in Raversbeuren, lernte dort Albert Bauer, den Landmann und Dichter kennen, mußte sein unvollendetes Drama Judas Ischariot mitnehmen und lesen.
   Im Hotel hatten wir treffliche Verpflegung, nur nachts mitunter lebhafte Unruhe und dann die Sorge mit Herta, die sehr ergeben im Bett lag. Sobald ich mit Marianne nach Hause mußte, wurde es ihr besser, stand auf und kam mit Helene später nach. War gewachsen und ist seitdem ein besonders kräftig entwickeltes Jungfräulein geworden. Ströhers Frau benebst der bei ihnen zu Besuch weilenden Tante haben sich ihrer in nettester Form sehr angenommen. Ich saß oft mit Marianne bei Ströher, sei es im Atelier, auf dem Holzplatz vor seinem Hause oder am benachbarten Wald, wo er seine Ziegen weiden ließ. Schöne Spaziergänge in den schattigen Wald. Lange ernste, mitunter auch spaßhafte Unterhaltungen mit Ströher. Waren wir irgendwohin unterwegs, so redete der sonst stille und wortkarge Mann viel, manches kaum verständlich, da er fast mit sich selbst und in sich selbst hinein sprach. Er erzählte vor allem wie er in Spanien, zumal in Granada gelebt, wie oberhalb der Burg die Zigeuner den Berg hinaus in Felsenwohnungen wohnen, von ihren Sitten und Gebräuchen und Anschauungen. Er hatte ein junges Paar gemalt, das ihm in

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flimmernder Sonne Modell gestanden. Das Bild hing in seinem geräumigen Atelier. Zwischendurch machte er Studienwanderungen, so nach Enkirch, von der er aber jedesmal sehr ermattet zurückkam. Dort hatte er an der Mosel sitzend ein Aquarell gefertigt, das ich ihm abkaufte und das heute die Innenseite eines Bücherschrankflügels ziert. Wir sahen seine recht ungeordnet durcheinanderliegenden Zeichnungen an, ich half ihm ordnen, räumte auch wohl mal aus Zeitvertreib seine alte Hobelbank auf. Regnete es mal ausnahmsweise, so hatten wir in dem luftigen Atelier einen schönen Aufenthalt mit riesiger Fernsicht, über das Dorf weg zu den fernen Eifelhöhen, die sich in großem Rund am hohen Horizont aufbauen. Auch seine Holzschnitte besahen wir, sprachen über die Bildhauertechnik u.s.w. Er war voller Entwürfe. Leider war es sehr schwer für ihn, einen Auftrag auf die ihm so gut liegenden platischen Denkmäler zur Erinnerung an die Kriegsgefallenen zu bekommen, obwohl er sie billiger lieferte als ein Handwerker. Steinmetzarbeit ect machte er alles selber. Ich suchte ihm nach Kräften behülflich zu sein. Auch für die großen Schulbilder hatte er z. T. nichts, z. T. nur ganz kümmerliches Entgelt, etliche Säcke Korn oder die Arbeitslosenunterstützung bekommen u.s.w., alles Dinge, die ihn stark niederdrückten. Zumal er sich seiner Qualität als Bildhauer durchaus bewußt war und in Berlin zumeist nur an Künstler und Kunstkenner seine Sachen verkauft hatte. Nur hier und da verkaufte er einen farbigen oder schwarzen Holzschnitt. Er lebte mit Frau und Kind denkbar einfach, hielt zwei Ziegen u.s.w. Leider glaubte er sich durch den Mangel an Einkommen auch verpflichtet, schwere körperliche Arbeit zu leisten, denen sein schwächlicher Körper nicht gewachsen war, zumal sein Herz nicht. So z. B. erhielt er wie jeder Irmenacher von der Gemeinde aus dem Wald jährlich eine recht ansehnliche Menge an Brennholz in Form von großen Buchenabschnitten geliefert.

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Die meisten ließen diese durch eine Lokomobile mechanisch schneiden. Ströher schnitt sie mit eigener Hand und darauf ist wohl auch die Herzschwäche zurückzuführen, an der er im Dezember 1925 verstarb.
   Schon das Bauen des Hauses, wobei ihm der alte Vater – er lebt heute mit 92 Jahren noch und möchte selbst so gerne sterben – und seine Verwandten und Bekannten halfen, muß ihn körperlich über die Maßen angestrengt haben. Jetzt, als er starb, hatte er Balken und Bohlen zurechtliegen, um die mit Ziegeln belegte Küchen zu dielen.
   Nach und nach zeigte er mir eine ganze Reihe von Mappen mit Zeichnungen. Aus diesen konnte ich unschwer erkennen, welchen künstlerischen Entwicklungsgang er durchgemacht hatte. Erst alles peinlich bis ins kleinste gezeichnet, ornamental stilisiert. Dann in Paris sehr eingehende detaillierte Tierstudien im Zoologischen Garten. Dann feiner stilisierte, immer noch streng nach liniearen Gesichtspunkten komponierte Landschaften, riesige Aktbilder in flotter breiter Pinselmalerei, aus Spanien Ölbilder in breiter punktierter Manier, die Luft trefflich wiedergebend. Schließlich seine Holzschnitte, von impressionistisch aufgefaßten Landschaften voll flimmernden Sonnenlichts und leuchtender Schneefrische zu immer größerer Vereinfachung der Linien und gleichzeitig farbig gedruckt mit wenigen Platten. Dann seine Holzplastiken: In Berlin stand irgendwo in der Kunstakademie oder wo ein Abessynier. Gipsmodell dazu stand in seinem Atelier in Irmenach. Unser Mohrenkönig bei den Krippenfiguren zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm. Die Büste seines Vaters in Holz und eine reizende kleine Holzbüste eines langhalsigen Mädchens waren mir schon bei jener ersten MoHoHu-Ausstellung als besonders wertvoll aufgefallen. Mein Auftrag auf Krippenfiguren, an denen er 1923 und 1924 arbeitete, gaben ihm anscheinend Anregung, das Motiv Mutter mit Kind immer wieder von neuem in Holz zu schnitzen. Es sind 3 - 4 treffliche Ausführungen davon vorhanden. Handzeichnungen in Kohle, auch treffliche Pinseltuschzeichnungen waren in reicher Fülle vorhanden. Ich hatte schon früher einige davon erworben, nahm auch von Irmenach eine Reihe mit nach Bonn in einer Mappe, um sie hier für Ströher an Dritte zu verkaufen. Ich hatte aber durchweg wenig Glück damit. Nur Professor Gerhartz in Bonn kaufte sich nach und nach etliche davon. Auch meine wohlgemeinten Bemühungen, ihm beim Kauf von größeren Aquarellen behülflich zu sein, schlugen fehl. Auf einer rheinischen Buch- und Kulturwoche waren sie in dem Kölner Messegebäude ausgestellt. Lieblos aufgehängt, seitab entlegen und so voller Reflexe auf den Gläsern, daß fast nichts davon zu sehen war. Freund Cohen fand sie „nicht ohne Wert, hätten aber keine Qualität.“ In der Tat waren sie eher grob in der Mache und Bretz hatte wohl nicht ganz Unrecht, als er meinte, sie wären fast anstreichermäßig hingesetzt. Die gleichen waren dann anläßlich der rheinischen Jahrtausendfeier in Bonn in einem gutgelegenen

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Eckfenster der Buchhandlung Röhrscheidt ausgestellt, zusammen mit einer gut ausgewählten Zahl an schwarzen und farbigen Holzschnitten, Handzeichnugen und den Krippenfiguren. Kein Käufer für irgend etwas, weder hier noch in Köln. Dabei hatten, wie ich nachher feststellen konnte, eine ganze Reihe von einsichtigen Leuten sie sich nachhaltig angesehen und Genuß davon gehabt. So auch Dr. Kutter, Godesberg, der namentlich von den Krippenfiguren und manchen Zeichnungen von ihm sehr angetan war, die ich ihm zeigte. Er machte dabei die scherzhafte Bemerkung, mit mancher der Zeichnungen brauche man nur zum alten Liebermann in Berlin hinzugehen, um zu suggerieren, sie seien von früher her von ihm und ihn zu veranlassen, sie mit seiner Signatur zu versehen, um sofort recht marktfähige und wertvolle Sachen zu haben.
   Gleich im Anfang unserer Bekanntschaft hatte ich ihn um Angabe einiger näherer Einzelheiten aus seinem reich bewegten Leben gebeten. Er schrieb mir erst kurz in einen Brief eine ganze Menge, später gelegntlich immer wieder allerlei recht Interessantes. Bei unserem längeren Zusammensein riet ich ihm sehr zu, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. Er hat auch wie er in richtiger Vorahnung stets sagte, „für seinen Sohn Peter“ Lebenserinnerungen zu schreiben begonnen; die Tanten seiner Frau schrieben eine Reinschrift und noch in einem sehr letzten Briefe versprach er mir, daß ich diese Aufzeichnungen auch zu lesen bekommen sollte. Nun wird, wie seine Witwe mir zutreffend kürzlich schrieb, sein Sohn ihn nur hieraus und aus den Schilderungen seiner Mutter kennen lernen.
   Ströher war ein ungemein gutherziger und hilfsbereiter Mensch. Seine Hilfsbereitschaft ging häufig über das Maß hinaus, was sein kluger und entwickelter Verstand ihm selbst als richtig vorhielt, er ließ sich aber trotz mannigfacher bitterer Erfahrungen immer wieder von seinem guten Herzen leiten. Dadurch, daß seine uneigennützigen Bemühungen ihm oft mit schnödem Undank belohnt war, wurde er in manchem mißtrauisch und zurückhaltend. Zeigte aber jemand sich ihm gegenüber für seine Art verständnisvoll, so war er zutraulich und offen. Er hat mir oft in langen Briefen sein ganzes Leid ausgeschüttet und ich habe ihn immer wieder ermahnt, sich auf diese Weise alles von der Seele zu schaffen.
   Nun brachte die Kölnische Volkszeitung eine Notiz von seinem Tode, die ich einsandte, ebenso die Kölnische Zeitung, nachdem sie mir einen längeren Nachruf zurückgesandt hatte. Diesen hat nun der der Kölner Stadtanzeiger angenommen, an den mir F. M. Jansen zu senden riet.
   Lanschaftfotograf Gross, in derlei Dingen erfahren, hat in den Weihnachtsfeiertagen Aufnahmen von den Krippenfiguren gemacht und so kann ich seiner Witwe nächstens hoffentlich gute Abzüge schicken. Cohen will auch einen Nekrolog schreiben. Ich schickte ihm etliches Material.
   Bonn, 30.12.25.