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Anlage des weitläufigen Gartens zu einem Obstgarten mit mehreren
Tausend Mark gemacht hat trotz Zusage von Samuel nicht ersetzt. Kurzum
ein unerquicklicher Judenkram. Ich hatte damals Thuar dringend geraten,
mir über alle Abreden ect. bezüglich dieser Sache gelegentlich
eine eingehende schriftliche Darlegung zu geben. Ich wollte dann versuchen,
mit D. Samuel persönlich in Verbindung zu treten und mit ihm und eventuell
auch mit dessen Vater eine Regelung dieser Angelegenheit und vielleicht
einen längeren dauerhaften Mietvertrag womöglich mit Vorkaufsrecht
herbeizuführen.
Die Familie Gerhardt - Erdmann - Macke hat ein lebhaftes
Interesse an Thuar und den seinen. +August Macke war ein Mitschüler
und hat ihm seiner Zeit dazu geraten, das Malen zu erlernen. Thuar hatte
zu einer Zeit, als Macke noch tastete, einen schon recht reifen und in
seiner Art fertigen Stil und in diesem auch manches Bild verkauft, das
„museumsreif“ war. Seine weitere Entwicklung zeigt klar, daß dies
aber nur eine Etappe und keineswegs seine Vollendung war und zur Zeit als
Macke kurz vor dem Kriege eben seinen persönlich eigenen Stil auszureifen
begann, befand Thuar sich in einer Übergangszeit, aus der sich jetzt
neuerdings ein Neues herauszukristallisieren scheint. – Er klagte mir sehr,
daß es ihm unmöglich sei, irgendwelche brauchbaren Abbildungen
über Elefanten in Bewegung zu finden. In der Tat zeigen alle Photos
den Elefanten im Tode oder in Ruhestellung. Das Tier ist aber ungemein
beweglich und voller Ausdruck in der Beweglichkeit der riesigen Glieder,
über welche die schwere Haut dann wie ein loses Gewand spielt. –––
(Seite 76 unten)
23.1.1921. Jetzt hängt der Thorn-Prikker’sche Wandteppich
„Die 3 Eisheiligen“ schon 8 Tage im Treppenhaus, Hellmuth Macke half vorigen
Sonntag, ihn provisorisch mit einem Ring an unserer alten Saufeder aufhängen,
nachdem Helene und ich uns 2 Abende daran von Herzen ergötzt hatten,
indem wir ihn im Wohnzimmer auf dem Teppich ausbreiteten. Wir sind sehr
zufrieden mit dieser Erwerbung. Sie ist mir ein Greifbares Gegengewicht
und eine seelische Genugtuung gegen ein Gefühl inneren Unfriedens,
das mich eine Zeitlang in den dunkelsten Winterwochen überkommen hatte.
Jeden und jeden Tag frühmorgens 7 Uhr auf und meist erst gegen oder
nach 7 Uhr abends wieder heim, dabei das Mittagbrot in der widerlich warm
dunstigen Mühlengasse, das fing mir an, das Leben allgemach etwas
grau zu gestalten. Ich überlegte stark mit Helene, ob ich nicht einen
anderen oder Bonner Nebenberuf beginnen sollte. Notar zu werden ist stets
noch das Ziel. Zurück zum Richterstuhl ist wohl kaum mehr. Eröffnung
eines Steuerspezialbüros als Rechtsanwalt? Derlei und ähnliche
Pläne werden oft besprochen. Daneben habe ich mich in letzter Zeit
mehrfach in Köln einfach losgerissen, bin daheim geblieben oder zeitig
heimgefahren und habe hier nicht minder für die Firma und Familie
gearbeitet. Max und Grete sollen abgefunden und die künftige Erbteilung
bezüglich der Buchverträge auch heute schon geregelt werden.
Dazu viele und lange Besprechungen, daheim in Ruhe auch genau Erbvertrag
ausgearbeitet, der demnächst notariell beurkundet werden soll. Anstoß
dazu gab das neue Projekt einer Shed-Strumpffabrik in Deutz neben der großen
mit Meister- und Prokuristenwohnung. J. P. Manz Stuttgart machte prächtigen
Plan, der aber zu teuer wird. Wir kalkulieren schon 2 Millionen. Heute
rutscht Will auf 2 Wochen zum Feldberg, trifft morgen Werner, der von 3
Wochen Aufenthalt in Kitzbühel in Tirol zurückkommt, in Stuttgart,
wo sie Manz sprechen. März will Onkel Dietrich nach Baden-Baden. –
Helene kommt nach 14tägiger schleichender fast fieberloser Influenza
mit 8 Tagen Bettruhe wieder auf die Beine, gedenken morgen zusammen Theater
zu gehen: Schillers Turandot. Heute mittag aß Mama hier mit, wir
köpften 1 von 6 Sektflaschen, die Arthur Kayser mir kürzlich
als Honorar für Rechtsrat
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verehrte. An Sonn- und Feiertagen, auch oft noch zwischendurch arbeite
ich an Vermögens-, Rechts- und Steuersachen von Frau Wwe. Paul Thanisch,
wo hoffentlich auch noch ein guter Verdienst bei herausspringt. Körperlich
geht es mir merkwürdig gut. Die stickige Luft der Mühlengasse
in Verbindung mit meinem sonstigen sehr regelmäßigen Leben,
ausgezeichneter Verpflegung und Mangel jeder körperlichen Arbeit scheint
mir tatsächlich viel besser zu bekommen als das Landleben. Das tägliche
Rheinuferbahnfahren hat gewiß seine Unbequemlichkeiten, giebt aber
auch viel Gelegenheit zum schummrig-träumenden Halbschlaf mit
allerhand seltsamen inneren Erlebnissen.
30. Januar 1921. Groß St. Martin. Komme ich morgens
bei ergrauendem Tageslicht im hilligen Köln an, so erwache ich aus
meinem Dusel erst nachdem ich einige Schritte von der Bahn den Frankenturm
entlang getrabt bin. Dort begrüßt mich dann ein hochgemuter
stolzer alter Freund, der schon seit einer Reihe von Jahrhunderten festen
Fuß gefaßt hatte und das ganze Mittelalter über der Beherrscher
des Stadtbildes war, lange ehe in der Biedermeierzeit ihm die beiden Domköpfe
über den Helm wuchsen. Immer steht er da in alter Kraft und Herrlichkeit,
wohlgeformt und trotzig hoch aufragend, in gelassener Ruhe stets eng verwachsen
mit seinen 4 Kindern, 2 Söhnen und 2 Töchtern, deren je einer
nach Osten über den Rhein, nach Süden gen Italien, einer nach
Norden nach dem Meere zu und einer nach Westen über Frankreich schaut.
Um seinen gewaltigen Fuß mit den drei im Halbrund sich schwingenden
Vorbauten brandet ein Gewirr kleiner, krummer Gassen voller Winkel und
Höhlen, die enggepreßten Häuser recken ihre Dächer
hoch zu ihm hinauf, kommen ihm aber kaum über die Stiefelränder.
Mitunter weckt sein eherner Mund in dröhnendem Wohllaut, daß
weit über Stadt und Land, Fluß und Hafen sein Ruf dahin klingt
und sich am Himmelsgewölbe bricht. Brausen die regenschweren Wolken
an trüben Wintertagen unaufhörlich von Westen her, so steht sein
Haupt hoch im Nebel und um seine Schultern jagen die Gestalten der grauen
Jäger aus der wilden Jagd. Leuchtet die Sonne am blauen Himmel, so
strahlen seine Glieder in funkelndem Goldbraun und netzt der feuchte Regenatem
die Luft, so schimmert sein Helm in tiefleuchtendem Blau und seine großen
Formen umspielt eine durchsichtig graubläuliche Luft. Ihn selbst berührt
das alles nicht. Unerschüttert steht er da in allen Stürmen wie
im laulichsten Sonnenschein. Stets auf der Hut, ein Herrscher und Beschützer
seiner Stadt, der herrlichste aller deutschen Turmfürsten: Groß
St. Martin. – Durch ein schmales Gäßchen werfe ich allmorgendlich
einen Blick auf einen Ahornbaum, der da schlank und rank dicht an seines
Fußes Wurzel steht. Wie lange hat er bis in den Winter hinein auf
sein zuhöchst emporgereckten Finger-Astspitzen 3 goldene Blättlein
festgehalten, die im Herbst die Frühsonne stets in leuchtendem Gold
aufblitzen ließ, als ringsum noch alles in schläfrigem Schummer
lag. Selbst der Frost im November - Dezember, der den Baum durch Stein
und Bein fror, vermochte ihm nicht jene goldenen Blättchen aus den
verkrampften Spitzen zu reißen und erst das lauliche Wetter um Weihnachten
löste dem Baum die Finger und die letzten Blättchen wirbelten
weg. Jetzt steht
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der Baum mit seinen Ästen in einem schwellenden Licht, die lange
Feuchte und Wärme täuschen ihm den Frühling vor und gar
zu gern möchte er losbrechen und seine Knospen vorzeitig öffnen.
Wie ein Graspflock oder eine kleine Krautstaude steht er unten am Fuß
des Riesen, der ihn gar wohl kennt und gegen wütenden West und Süd
schützt und deckt. –
Eines morgens war ich im Winter in einer Seelenmesse in
der alten Abteikirche. Draußen dunkle Nacht, drinnen strahlendes
Licht elektrischer Lampen. Die wohlige Weite und Größe des Raumes
kam mir ganz anders als bei Tage zum Bewußtsein und mit einem Schlage
erkannte ich, daß diese altdeutschen „romanischen“ Kirchen bei Innenbeleuchtung
genommen werden müssen. Tatsächlich wurden die großen Gottesfeiern
in ihnen bei Fackel und sonstiger Kunstbeleuchtung abgehalten (wodurch
mancher Brand entstanden sein mag). Geraume Zeit später war ich mittags
im Dom, er kam mir beängstigend eng und schmalbrüstig im Inneren
vor und ich mußte soweit vorgehen, daß ich einen Blick ins
Querschiff gewann um erst recht wieder Luft schnappen zu können. Da
freilich war der hochstrebende Chor erhebend und ich konnte glauben, mit
einem Engel an der Hand wie der Baumeister auf Schwinds Märchenbild
längst den Streben durch den Raum zu schweben. – Aber die ewige Wiederholung
des Chores im Langschiff ist ermüdend; ich hätte das Langhaus
kühn als riesigen Hallenbau mit 3 oder 5 Schiffen gebaut, unbekümmert
darum, ob das Äußere denn so mathematisch korrekt sich hätte
lösen lassen. ––
Kölner Kunstverein. Seit 8 Tagen habe ich mir, um ein wenig
über die trüben Mittagsstunden besser hinwegzukommen, eine Dauerkarte
für die Ausstellungen des Kölner Kunstvereins gekauft und bin
somit Mitglied dieses alten „Kunstvereins“ geworden. Ich muß gestehen,
er giebt sich redlich Mühe, mit der Zeit zu gehen. Von Karl Hofer,
dem grüblerisch, tief und weichsinnlichen Süddeutschen sind eine
Sammlung jüngerer Werke ausgestellt, in die man sich erst hineinleben
muß, um zum Genusse ihres Inhaltes zu kommen. Ein Selbstporträt
spricht ohne weiteres an, ein Bild mit drei im Schlafe liegenden Gestalten
ist mir schon so vertraut geworden, daß ich es besitzen möchte.
Einige Holzschnitte von Hecht reizen mich zum Kaufen. Auch bei Hofer das
Ringen um den Ausdruck des neuen Kunstempfindens und Gestaltens, wie ich
es ein wenig pathetisch jetzt in Burgers Einführung in die moderne
Kunst lese. – Mit Hellmuth Macke ist so halberwegs ein Portrait für
2000 M verabredet worden. Eine Skizze hat er aber bis heute noch nicht
gemacht. ––
In Köln ist Werner zurück und Will zum Feldberg.
Ich habe einen G.m.b.H. Vertrag für „Deutzer Näherei und Strickerei
G.m.b.H.“ gemacht. Manz’ Baupläne werden wohl schließlich doch
verwirklicht werden und wenn sie auch 2 000 000 M kosten sollten. Alle
Warenpreise sinken seit Januarbeginn fortgesetzt. Allmählich spürt
man es auch an den Lebensmitteln. Trotz der Geschäftsflaue werden
wir im Januar auf 7 Millionen Umsatz kommen. Ich bekomme ab 1.1. monatlich
3000 M laufend, was reichlich benötigt wird, denn derzeit bin ich
nicht nur im Vorschuß, sondern auch in Schulden (ca 1500 M). Freilich
sind mit diesen dann auch die gewaltigen Anlagekosten für elektrische
Lichtleitung ect bezahlt. An Kleidern ect haben wir uns sehr erholt gegen
früher. – Zudem leben wir gut. ––––
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13. Januar 1922
Seltsam, es scheint, daß ich alljährlich nur Januar dazu
komme, einige Eintragungen in dieses Buch zu machen. Dabei habe ich es
im Laufe des Jahres mir oft und stets wieder herausgelegt, auch mit ins
Siegerland in die Sommerfrische genommen, aber es fehlte die Lust und die
Stimmung zur Weiterführung. Ich habe das vergangene Jahr fleißig
und mit wenig Ausnahme ununterbrochen in der Mühlengasse gearbeitet
und finde mich im Hause und unter seinen Leuten viel besser zurecht. Im
Frühjahr, das früh sehr warm und trocken war, fing ich von Onkel
Dietrich eine Art Keuchhusten. Mit Helene war ich vor Ostern einige Tage
in Wiesbaden, das ich noch gar nicht kannte. Ich hatte dort morgens mit
Onkel D. zu arbeiten, nachmittags und abends wurde ununterbrochen dem Vergnügen
gewidmet. Tante Maria und Tante Emma waren auch dort. Wir sahen Kurhaus,
wohnten Hotel Rose, sahen Parcival in guter Aufführung, das Haus dichtgedrängt
voll übelduftender Franzosen mit Damen in unglaublichen Kostümen.
Ein widerlicher Anblick. Am Tage der Abreise besahen wir uns die moderne
Gemäldegalerie, dort waren wahre Schätze zu sehen. Wir freuten
uns sehr, ein uns bisher unbekanntes gutes Gemälde von August Macke
als solches gleich zu erkennen und dort zu finden. Der Name eines Steinbruchbesitzers
Kirchhoff als modernen Kunstgönners ist mir unvergeßlich geblieben.
Einige Zeit nach Ostern war ich auf der Rückreise von Hof in Baiern
mit Herrn Carl Hill nochmals dort in Wiesbaden, wo wir im Nerotel mit DB
und H ein ernstes Gespräch hatten. Daraus entwickelte sich später
die Interessengemeinschaft der Mühlengasse mit der Minoritenstraße
(Firma Friedrich Cleff) die bald festere Formen gewann. Mit Mitte des Jahres
steht die Minoritenstraße unter unserer Aufsicht mit 50 % Gewinnbeteiligung
und Ende des Jahres, mit Waren, Geld, Erfahrung und Beistand der Mühlengasse
in jeder Beziehung unterstützt, ist gegen den Verlust von 900 000
M schon ein Reinverdienst von 1,6 Millionen da. Ich hatte mit einer Abwicklung
in Hof, einer solchen in St. Gallen, den Verhandlungen, Verträgen
u.s.w. reichlich Arbeit und werde seitdem fortlaufend in allen Rechts-
und Steuersachen von dort in Anspruch genommen. Zumal eine wochenlange
Bücherrevision in dortiger Firma gab mancherlei Arbeit. In der Mühlengasse
war 3 Tage lang solche, Ergebnis nicht unbefriedigend, Abschlußverhandlungen
hierüber Montag morgen Finanzamt Köln linksrheinisch. – Der Keuchhusten
nahm mich um Pfingsten stark mit, ich blieb eine Zeitlang daheim, und Hellmuth
Macke malte ein Kniestück mit 2 Händen, in Sessel sitzend, blauen
Rock, weiße Weste von mir. Der Gesichtsausdruck zeigt deutlich den
krankhaften Zug im Gesicht. Kurz vor Beginn der Sommerfrische, im Juni
bekam ich, nachdem der Keuchhusten nachgelassen hatte, Bluthusten und lag
14 Tage zu Bett, von Kölnern besucht und mit Akten gegen Langeweile
reichlich versorgt. Anfang August konnten wir allesamt mit Firmenauto nach
Helberhausen ins Siegerland fahren und das gleiche Auto holte uns 4 Wochen
später wieder ab. 2 schöne Fahrten, namentlich hervorragend die
letztere über den
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Westerwald. In Helberhausen hatten wir bei der biederen Familie Eduard
Menn und unserem trefflichen Fräulein Ida schöne Tage, fast ununterbrochen
schönes Wetter. Auch waren dort gegen die Dürre im Rheintal Wald
und Wiesen frisch und grün. Frau Horn in Braunschweig fiel nur dort
2 x lästig mit ihrer Firmenliquidation bzw. Verkauf. Die Sache ist
bis heute noch nicht geregelt. Inzwischen hat sich der Sohn erschossen
und die Verhältnisse sind mir nicht klar. Zum Schluß wollte
sogar Hans Brügelmann uns mit Auto dort besuchen. Firmenrevision haben
bei der Firma Carl Brügelmann auch arg störend gewirkt. Eine
Denunziation der Weber (?) von Julius hat bös gewirkt. – Seit
den Ferien hatte ich in der Mühlengasse stramm zu arbeiten das ganze
2. Halbjahr, kaum, daß ich 1 - 2 Tage daheim arbeitete. Meist recht
spät heimgekommen. Trotz reichlicher Besoldung ist der Drang nach
Mehrverdienst groß, denn von März bis Dezember hat sich die
Lebenshaltung wohl allgemein um 100 % verteuert. Ab 1.1.22 habe ich jetzt
5,5 Mille per Monat. Es langt kaum. Eine Reihe Radierungen Reifferscheidt,
Holzschnitte von Karl Ströher in Irmenach bei Traben Trarbach, den
ich im Frühjahr in Traben kennen lernte (ich war 8 Tage in Bernkastel
und 8 Tage mit Helen und Mariannchen, diese ebenfalls mit einer Art Keuchhusten
gesegnet! in Eichelhüte bei Eisenschmitt - Kloster Himmerod). Dr.
Bruhns besorgte mir wertvolle Handzeichnungen alter Meister in Frankfurt,
Holzschnitte erwarb ich von Schwarzkopf in Düsseldorf. Einen Hendrijk
van Steenwijk erwarb ich durch Dr. Cohen von belgischer Familie in Düsseldorf.
– Seit Herbst nahm ich an Körperumfang und Gewicht stark zu, leide
aber oft an stark quälenden Kopfschmerzen, anscheinend nervöser
Natur. Ich muß mich in frischer Luft bewegen, für warme Füße
sorgen und nach der Geschäftshetze mich ruhiger Beschäftigung
ohne Hirnarbeit, wie Aufkleben von Briefmarken, Ordnen der Graphik-Mappen
ect widmen. Die Anschaffung eines Otterpelzmantels, der sehr gut aussieht
und recht praktisch in der Kälte ist, hat mich in Schulden gestürzt,
von denen ich noch einen Rest bei Onkel Dietrich zu decken habe. Natürlich
hat er mich zu dieser Ausgabe verleitet. Mit der veränderten Lage
sind natürlich unsere Bedürfnisse gewachsen, die Geldentwertung
geht fort ins Bodenlose und wir haben daher öfter kein Geld als früher,
wo wir dessen viel weniger hatten, aber auch viel sparsamer wirtschafteten.
In der Firma brachte das letzte Halbjahr eine Riesenkonjunktur
mit entsprechenden Gewinnen und geradezu beängstigender Geldflüssigkeit.
Letztere vermehrt sich noch durch die großen Summen, die ich als
Entschädigung für die beschlagnahmte Deutzer Fabrik losgeeist
habe. Ich habe seit Frühjahr die Bearbeitung dieser Sache in die Hand
genommen und sie auf andere Grundlagen mit neuen Sachverständigen
aufgebaut, auch unseren Konkurrenten Franz Pirenen als Gutachter aus der
Sache herausgedreht. Heute sind statt 800 000 M ca 11 - 12 Millionen
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an Schaden für 1919 und 1920 geschätzt. Die Sache kommt im
Sommer voraussichtlich zum Reichswirtschaftsgericht und ich werde wohl
noch öfters in der Sache nach Berlin fahren, kann dann meine Ernennung
zum Bonner Notar bequem nebenbei betreiben; denn diesen Plan habe ich noch
keineswegs aufgegeben.
Schwager Willi Reitmeister ist seit November mit Familie
nach Plaue-Kirchmöser, Mark Brandenburg ab 1. August 21 etatsmäßig
als Regierungs- und Baurat bei der Eisenbahn. Papa Reitmeister hat bald
danach Zwangseinmieter bekommen, sehr ordentliche Arbeiterfamilie Weber
mit 6 wohlerzogenen Kindern, die in ausgeräumten Kontorräumen
und Verwaltungskammer hausen, während Papa mit Büro ins Wohnzimmer
zog. Er hat eine gute und energische Haushälterin in Hersel.
Manz - Stuttgart baute der Firma einen Eisenbeton Shed-
und Wohnhaus bei, der jetzt im Rohbau fertig wird. Hoffentlich kann er
im April in Benutzung genommen werden. Weder Papst noch ich ziehen in die
Wohnung trotz aller Vorzüge derselben. Im Spätherbst hat Will
endlich seinen Hausbau in Rodenkirchen begonnen. Auch in sein jetziges
Haus habe ich keinerlei Lust einzuziehen. Otto ist bis dahin gewiß
in seinen Plänen ect auch schon über jenes Haus hinaus. Papa
hat eine gute Haushälterin in Hersel und fährt jeden Tag dorthin.
Wie er die Mittel dazu aufbringt, sein Idol eines „völlig intakten
Geschäftes“ aufrecht zu erhalten, ist mir völlig unerfindlich.
Hätte er Hersel aber nicht mehr, so würde er vermutlich nicht
lange mehr leben. Helene ist sehr besorgt um ihn, er ist jetzt wieder recht
gepflegt, körperlich wohlauf (einen Fall vom hohen Kontorbockstuhl
hat er schnell überwunden), geistig wird er jedoch langsam stumpfer.
–
Heute sollen nachmittags Sieburgs mit Kindern von Siegburg
uns besuchen kommen. Das ganze vorige Jahr haben wir uns nicht gesehen.
Da giebt es viel zu erzählen und auszutauschen. Diesen Winter sind
wir auf 2 volle Plätze ersten Rang im Bonner Stadttheater abonniert.
Wir sind recht befriedigt davon, es giebt allerhand gute neue Sachen zu
sehen: Leo Weismantel, Totentanz 1921, Erdör, Johannes u.a.m. Meiner
Mutter geht es trotz allem im ganzen recht gut. Sie wird von Josef gespeist,
hat wenig Hülfe, da ihre Putzfrau meist ausbleibt, und sieht trotzdem
gut aus. Josef hat in Eremitage ebenfalls einen Hühnerhof angelegt.
Meine Bienenwirtschaft habe ich einem Schleifereibesitzer Falz in Merxheim
bei Idar gegen Edelsteine vertauscht und bin mit ihm weiterhin am handeln,
um noch eine Reihe prächtiger Amethyste gegen alte Bilder ect einzutauschen.
Bei dem unbestimmbaren und geringen Wert der Mark sind derartige Sachtauschgeschäfte
nichts Seltenes mehr. –
In der Firma brachte ich im Juni den Geschäftsvertrag
für die nächsten 10 Jahre zustande, in dem ich selbst als Schiedsrichter
figuriere. Wie mag es dort nach 10 Jahren aussehen. Otto hat mit Geschick
für seinen Sohn eine Anwartschaft erkämpft und hatte die Freude,
auf seinen 35. Geburtstag auch wirklich einen
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Sohn „Johann Wilhelm“ zu bekommen, über dessen Vorbenamsung in
der Mühlengase es nicht ohne heftige Auseinandersetzungen herging.
Denn Wills älterer Sohn „Fr. W.“ führt unvorsichtigerweise den
Moderufnamen „Gert“, so daß Otto sich berechtigt fühlte, seinen
wirklich Friedrich Wilhelm, genannt Fritz zu nennen. Werner bekam einen
2ten Sohn Klaus, dessen Taufe Helene und ich mitmachten, ein herrlicher
Sommertag. Grete Riesen bekam ebenfalls den 2ten Jungen „Wolfgang“ (später
eingefügt: fiel in Stalingrad 14.9.42). Sie wohnen jetzt bei der Großmutter
in der Wörthstraße. –
Mit unseren Olsdorfer Verwandten haben wir leider noch
keine Berührung wieder gewonnen. Johannes war mit seiner Frau Leny
einige Tage bei Mama zu Besuch. Trotz guter Praxis und auskömmlichen
Einkommens sehnt er sich sehr hier nach Bonn zurück. An der Wohnungsfrage
und den Schwierigkeiten der ersten Einführungsjahre wird aber vorläufig
ein derartiger Plan scheitern müssen. Josef machte mal wieder unter
den verschiedensten Vorwänden Angriffe auf Bachstraße 60, das
er unbedingt kaufen zu müssen glaubt. Er macht tausend Pläne
und meist zum Schluß nie besseres, als daß man ihm Bachstraße
60 halb schenken müßte.
10.2.22. Den Eindruck eines gräßliche Ereignisses
in der Firma muß ich mir von der Seele schreiben, es bedrückte
uns heute morgen alle heftig, nachdem Will und Otto von ihrer 14tägigen,
durch Eisenbahnstreik fast um 1 Woche verlängerten Feldbergaufenthalt
frisch und froh zurückgekehrt waren. Vor 2 Tagen spitzt ein sonst
dämlicher älterer Lehrling Schmitt die Ohren in seiner Speditionsabteilung
und hört, wie ein Angestellter Seinsch und der Leiter dieser Abteilung
Kattwinkel an einer Rechnung über 4,30 m Stoff herumdoktern, die Seinsch
im Laden bei einem Angestellten Siebert für sich entnommen hatte.
Um nun mit diesen 2 - 300 M nicht sein – bei jedem von Personalbürochef
Faßbender bei der Monatsabrechnung streng überwachtes Ladenkonto
mit dieser Rechnung zu belasten, war man auf den Gedanken (durch Siebert)
gekommen, die Rechnung auf das Konto Kuth, eines ruhigen jungen Verkäufers,
derzeit in der Manufakturabteilung bei Pape beschäftigt, buchen zu
lassen, dessen Vater in Düren ein Geschäft betreibt, für
das der Sohn häufig Waren aus dem Hause mitnimmt. Bei dieser Überlegung
kommt ihnen der Gedanke, aus 4,30 3,30 m zu machen und so einen Meter
zu unterschlagen. Der Lehrling meldet dies, der Speditionsleiter Offermann
bekommt Wind und fragt telefonisch in der Spedition an, daraufhin wird
die Rechnung auf 4,30 m ausgefertigt. Also: Versuch eines Betruges von
1 m Stoff in Idealkonkurrenz mit Urkundenfälschung. Meldung bei Papst
und Werner Brügelmann, bei letzterem erregte Szene mit Kattwinkel,
der ein sehr fleißiger tüchtiger Mensch, aber aufgeregt und
ohne
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Formen ist. Im Verlauf der Verhandlung, bei der sich K. wohl entschuldigen
wollte, wird er heftig und ausfallend, Gegenstoß: „Werfen Sie den
frechen Kerl doch hinaus“. Seinsch und Kattwinkel erscheinen nicht mehr
im Hause, sie kündigen der Firma, was ihnen Offermann schon nahe gelegt
hatte. Papst nimmt sich Kuth vor. In der Konferenz, in der Dietrich Brügelmann
sofort dessen Konto untersucht haben wollte, wird beschlossen, hiervon
abzusehen, um kein Mißtrauen gegen Kuth zu bezeigen. Ich frage, ob
Kuth ein Geschäft habe. Dies gestern. Heute erscheint ein Bruder des
Kuth und berichtet, er habe sich diese Nacht mit Strychnin vergiftet und
vor dem Tode gestanden, auf seinen Vater größere Beträge
(von 20 000 M) an Waren entnommen zu haben. (Gestern hatte D. B. in Spedition
erst große Sache machen wollen, auf unser aller Gegenvorstellungen
lobte er schließlich nur den Schmitt und gab ihm 100 M, die dieser
ablehnte.) Heute alles arg bedrückt. –
1922. 4. Oktober. Lese ich das Vorstehende, so kann ich
nicht glauben, daß es erst 8 Monate her sein soll. Es hat sich seitdem
so vieles ereignet, daß es mir wie Jahre zurückzuliegen scheint.
Im August – ich war mit den Meinigen im Siegerland in den Sommerferien
– ereignete sich was Ähnliches: Unterschleife im Laden wurden entdeckt,
die mit Hülfe von früheren Angestellten des Hauses betrieben
worden waren und kaum daß die Untersuchung darüber ernstlich
begonnen wurde, gingen 2 weibliche Wesen – vermutlich nicht einmal die
Hauptschuldigen in dieser Sache, sondern die, welche sich von anderen dazu
mißbrauchen ließen, in den Rhein und ertränkten sich.
Das gramvolle Gesicht meines Vetters Will steht mir noch deutlich vor Augen,
als er mir dies kurz berichtete und mit dem Fuß auf einen Bastkoffer
wies, der voll von Waren war, die jenen unrechten Weg gelaufen waren. Ich
war damals auf 1 ½ Tage aus dem Rothaargebirge von Helberhausen
nach Köln gefahren, um einige wichtige Sachen, u. a. die Zwangsanleihe
– diesmal ohne Onkel Dietrich, denn dieser saß in Friedenweiler im
badischen Schwarzwald – zu erledigen. Mit 1 ½ Millionen war dies
abgetan. Es waren damals zwei ungewöhnlich schwülheiße
Tage in Köln in dem kühl-regnerischen August. Jener Eindruck
griff einem ans Herz und brachte einem den Schweiß auf die Stirn.
–
Was sich in den 8 Monaten aber sonst nicht alles verändert:
Die Mark ist ins Bodenlose gefallen, meine Prophezeiungen im Frühjahr,
der $ (Dollar) würde noch auf 400 M kommen, ist grotesk überholt
worden, er steht heute über 2000 M und macht Miene, noch viel weiter
zu steigen. Alles steht heute unter dem Druck – Eindruck kann man nicht
mehr sagen, es drückt jeden sofort und unmittelbar, denn die Preise
richten sich jetzt viel schneller nach der Markentwertung wie früher
– unter dem Druck dieses entsetzlichen Währungszusammenbruchs. Wohin
soll das führen?
20.XI.22. Cohens Mackebüchlein gelesen, dabei fällt
mir ein: Ich saß Mai 1914 mit Macke im Freien neben dem Thuner Bahnhof,
wir warteten auf Moillet, der in einer Weißblechfabrik sich ein Stück
Blech holte um einen Blechaquarellmalkasten daraus fertigen zu lassen (August
hatte einen solchen in Zinkblech bei einem Guntener Klempner in Arbeit
gegeben). Macke erklärte mir, wie er ein Bild sehe, dabei kniff er
ein Auge zu, beschrieb ein Viereck in der Luft mit der Hand: Siehst du,
da nehme ich links die Lokomotive in die Ecke, rechts das Weinlaub, darunter
ein Stückchen Himmel, unten die Latten u.s.w. Plötzlich sah ich
deutlich ein fertig
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linear und farbig komponiertes und in sich abgewogenes Bild in erquicklich
frischen Farben mir vor Augen stehen. Es war, als ob er meine Seele befruchtet
und mir geistig die Augen geöffnet hätte. Aus einem Stück
Alltag sah ich plötzlich ein künstlerisch geformtes Stück
Welt. –
Neujahr 1923. Diese Nacht hatte ich halb wach, halb im
Traum eine lange Gewissenserforschung über alles, das was das vergangene
Jahr 1922 uns gebracht hat, gipfelnd in dem Satze: Hat es dich seelisch
weitergebracht? Oder welchen Gewinn kannst du für dein Inneres buchen?
Die Antwort blieb aus, auch jetzt wußte ich dafür nichts vorzubringen.
Von außen betrachtet, brachte uns das Jahr viel Gutes: reichlich
Nahrung, Eifel-Sommerreise mit Helene, Autofahrt in Sommerfrische mit Helene,
reichen Erwerb an Gemälden, Handzeichnungen, Schmuck, Pelz für
Helene. Kinder: Kleider, Rollschuhe und was weiß ich alles. Innerhalb
der Firma und Familie hat sich meine Stellung nicht verschlechtert. Gehaltsbezüge
erhebe ich nach Bedarf und Gutdünken über Geheim Konto. Ganz
äußerlich geriere ich und werde behandelt als „quasi Teilhaber“.
Meine Unzufriedenheit für die Dauer mit dieser funkelnden aber schnell
verblassenden Lüge führte zu einem Brief an Onkel Dietrich, worüber
dieser Helene und mich zusammenzustauchen versuchte, wobei ich aber sehr
erregt wurde und schließlich „der Notar“ als Lösung approbiert
wurde. Nachdem erhielt Papst eine Umsatzprovision 1 o/oo, was jetzt über
1 Million per Monat ausmacht. Ich warte ab und denke an anderes. Die Dienstbotenfrage
war das ganze Jahr über mangelhaft gelöst. Kinder hatten den
Ziegenpeter, Mariannchen auch 2 x heftige Bronchitis, ich mal 8 Tage Grippe.
Helene mitunter stark ab. Papa stets blühend. Sonst alles gut verlaufen.
Hoffen wir für 1923 das Beste. Daß ich meinem Freund Bruhns
mitunter ein wenig beistehen konnte, war noch meine Hauptfreude und vielleicht
das einzige moralische Plus des verflossenen Jahres, das mir im Übrigen
an Alter und Zunahme von körperlicher Fülle und weiterer kaufmännischer
Gerissenheit keinen Abbruch tat. –
Aus den Erlebnissen eines rheinischen Richters
Neben eigener Auffassung verdanke ich meinem praktischen
Lehrer LGR. Direktor Geh. JR Schüller die Fähigkeit, mich als
Richter über dem Gesetze und nicht unter demselben zu fühlen.
Das Recht ist ein Roß, das der Richter reiten muß, oder ein
Stab, der er schwingt und der nicht ihn schwingt. „Steht das wirklich in
dem (damals) neuen BGB?“ war eine oft wiederholte erstaunte Frage jenes
erprobten Praktikers, „Na, und wenns drin steht, dann ist es Unsinn. Um
zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen, muß man . . .
u.s.w.“ und dann kamen höchst vernünftige allgemeine menschliche
Erwägungen. Ich war schon 8 Jahre Amtsrichter, als ich 1918 erstmals
in Rheinbach eine Abteilung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zu bearbeiten
bekam. Krieg und zahlreiche Vertretungen hatten diese Abteilung arg verwüstet,
sie lag noch voller „alter Schinken“ (leider keine genießbaren),
die ewig mit matten Beweisbeschlüssen und ähnlichen untauglichen
Mitteln am Leben gehalten anstatt mit einem kurzen und schnellen scharfen
Schnitt zur Ruhe gebracht waren. Aus dem Felde heimkehrende schon ältere
und lebenserfahrene Referendare halfen mit frischem Eifer, den Stall
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auszufegen und ich lehrte sie, die Sache stets zunächst vom rein
menschlichen und praktischen Standpunkt anzufassen und eine Entscheidung
ohne Paragraphen kurz und knapp so zu fassen, daß ein Bauer des Kreises
sie verstehen konnte. „Versteht er es nicht, so schimpft er mit Recht und
der Richter ist im Unrecht“, war mein Leitmotiv. Besonders aber arbeitete
ich munter auf eine vergleichsweise Erledigung alter verjährter Rechtsstreitigkeiten
hin. Die Kollegen staunten, daß die Höchstzahl von 45 Vergleichen
in 1 Jahr, in 10 Monaten von mir doppelt überholt wurde. Und dabei,
wie einfach ist es, einen Vergleich zu schließen, wenn man den eigentlichen
familiären oder sonstigen Streitpunkten auf den Kern geht, unbekümmert
um die rechtliche Verbrämung, die ihnen gewisse Parteien und ihre
Sachwalter geben. Die Rücksprache mit den Parteien, schonend und humorvoll
in öffentlicher Verhandlung giebt da bald alle Aufschlüsse: Wird
um eine Strohlieferung prozessiert, so hatte ich bald heraus, daß
ein entliehener Hamen die Ursache dieser vom Zaun gerissenen Differenz
war. Der nicht zurückgegebene Hamen aber stand bald im Zusammenhang
mit einer frühen Freundschaft oder Liebesverhältnis der beiderseitigen
Kinder der Parteien. Eine gründliche Aussprache über all diese
prächtigen Sachen schafft dann stets eine Atmosphäre, in der
ein richtig angebrachter Vergleichsvorschlag auf fruchtbaren Boden fällt.
Nur eins ist nicht dabei zu vergessen. Den im Prozeß formell meist
nicht, in der Sache aber umsomehr beteiligten Weibern muß ausgiebig
Gelegenheit geboten werden, sich gegenseitig ihr Herz coram judice et publico
auszuschütten, und ich war stets bestrebt, diese seelische Ausmistung
möglichst gründlich besorgen zu lassen, wozu außer Zeit
und Geduld auch gelegentlich ein bald geringeres bald stärkeres Anfeuern
nötig ist. Plötzlich ergreife ich dann als führender Prozeßrichter
wieder die Zügel und schon fährt der Karren aus der holperigen
und jeden Augenblick mit Umsturz drohenden Prozeßweg in die glatte
Vergleichsstraße ab.
Das Bienenhaus.
Über eine an sich geringfügige Grenzüberschreitung durch
den Vorbau eines Bienenhauses waren in Dingeshoven zwei alte Bauernfamilien
sich in die Haare geraten. Der Prozeß hatte mit den Beweiserhebungen,
Beschuldigungen, Ortsterminen ect den üblichen Gang genommen, Entscheidungen
waren gefallen, angegriffen, wieder aufgehoben, kurz es war ein wirrer
Knäuel geworden und die Sache selbst war längst gegenstandslos
geworden, die Frage der Kostentragung (die Kosten hatten sich nilpferdartig
ausgewachsen) brachte allen alten Streitmist aufs neue aufs Tapet. Schon
vor Jahren war die Sache Gegenstand eines Festwagens in einem bäuerlichen
Fastnachtsumzug in dem betreffenden Dorfe gewesen, wobei es an den derbsten
Anspielungen auf die verbissene Streitwut der beiden Parteien nicht gemangelt
hatte. Ich vermaß mich, auch diese Sache im Vergleich zu erledigen.
College S. ein äußerst bedächtiger Richter, der die Sache
genau kannte, bestritt lebhaft die Möglichkeit einer solchen Lösung
und ich wettete, daß ich es in 2 Monaten schaffen würde. Ich
gewann die Wette, wenn auch nicht gerade leicht. Alle 14 Tage erschienen
die Parteien, wurden persönlich zur Verhandlung zugezogen, ich fühlte
bald heraus, daß der Streit zwischen den schon bejahrten beiden Frauen
sich abspielte und ich ließ mich keiner Mühe verdrießen,
auch diese beiden vor den Richtertisch zu ziehen, obwohl sich eine heftig
sträubte. Sie fuhren aufeinander los, wie erfahrene Kampfhähne,
es mußten Pausen eingelegt und Stühle herbeigeschafft werden,
die den Erschöpften Gelegenheit gaben, sich ein wenig zu verschnaufen.
Ich gab bald der einen, bald der anderen zu verstehen, wie doch auch noch
dies und dann noch jenes vorgekommen und wie man sich noch diese und jene
Tort angetan habe. Nach reichlich 1 ½ (-stündigem? -tägigem?)
heftigem Kampf war eine entgültige Ermattung eingetreten, ich hielt
den eher betretenen Ehemännern ihre Pflicht vor, gegenüber derartiger
unüberlegter Weiberfeindschaft die Vernünftigen
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zu spielen und sich als die Eheherrn zu zeigen. Sie waren erst noch
ängstlich und versuchten sich, hinter ihren abgekämpften Weibern
Deckung zu finden, diese waren es aber selbst satt und trieben die Männer
vor. In 20 Minuten hatte ich, den ruhigen Moment der allgemeinen Erlahmung
wahrnehmend, den die Sache entgültig und unwiderrufliche schlichtenden
Vergleich fertig und alles nahm ihn als Erlösung an. Natürlich
empfanden später diese Lösung als eine halbe Übertölpelung
durch den Richter, aber alle Beschwerden waren vergebens, die Sache war
und blieb erledigt. –
Nettchen Schnorrenberg +. Bonn, 20. Januar 1923. Das war der schwerste Tag, den ich bislang in der Mühlengasse und in Köln erlebt habe. Ich verlebte ihn halb wie im Traum, und jetzt am späten Samstagabend, wo ich gebadet und gespeist zu Hause sitze und dies schreibe, ist es mir wie Unwirklichkeit und doch habe ich noch vor 3 Stunden mit Onkel Dietrich auf der Lindenburg an Nettchen Schnorrenbergs Leiche gestanden und wir haben ihr weiße Nelken auf die Brust gelegt. Es ist furchtbar. Ich komme heute morgen nichts ahnend ins Haus, stürze mich sofort auf H. Bender, um festzustellen, ob ich einen Wagen zur Fahrt nach Deutz losmachen könnte. Es ging dies schlecht, ich eilte auf mein Zimmer, die naßkalten Füße wollten sich am elektrischen Fußwärmer eben warmtrocknen, als es zur Konferenz klingelte, ich sichtete noch einige Briefschaften, da ertönte das Telefon wieder, ich möchte sofort zu Onkel Dietrich kommen. Als ich über den Hof gehe, sehe ich das Konferenzzimmer noch dunkel und denke, du kommst doch noch zu früh oder Onkel Dietrich will dir vorher noch was Besonderes sagen, da treffe ich bereits alle in seinem Zimmer, dazwischen Herrn Moll, den ersten Reisenden. Onkel Dietrich sieht mich traurig an, alles ist still. „Es ist ein schreckliches Unglück passiert.“ „Was denn?“ „Denk dir, Nettchen Schnorrenberg ist von einem Auto überfahren worden und ist tot.“ „Tot?“ „Ja, tot.“ Ich bin ganz paff, die Beine versagen mir den Dienst und ich lehne mich an die getäfelte Wand und taste rückwärts nach einem Halt. Ich weiß dann nur noch, daß einiges geredet wurde, ich aber nicht lange mehr stehen konnte, alle standen seitlich und Onkel Dietrich saß auf seinen Schreibsessel; ich mußte mich in einen Sessel fallen lassen und war körperlich und seelisch ganz geknickt. Ich saß lange an dem Tisch mit der Glasplatte, den Kopf in die Hand gestützt und fühlte, wie mir der Kopf wackelte und schließlich beißend kitzelnde Tränen an Nase und Backen herabliefen. Von Ferne hörte ich bald diesen bald jenen reden und starrte stets auf ein Briefblatt von D. Hudig & Co in Amsterdam, was ich mit anderen Papieren in der Hand hielt. Ich glaube ich saß so noch eine Zeitlang, als sich die nur ganz kurze Konferenz, die nur von diesem Trauerfall handelte, schon verlaufen hatte. Onkel Dietrich hatte den lebhaften Wunsch, daß wir um ihn blieben. Ich überlegte mir gleich, daß ich Helene nach Bonn telefonieren müßte, ich bliebe den Samstag nachmittags in Köln. Es gab nun bei aller Trauer und dem immer noch ganz unbegreiflichen Zustand der Leere, genug zu tun und zu beraten. Die eiligen Zeitungsanzeigen wurden 2 - 3 mal neue aufgesetzt, die letzten Fassungen rührten z. T. von mir her. Ein Polizeibeamter kam und brachte Nettchens Tasche, die Onkel Dietrich auspackte, der Bruder Gustav Schnorrenberg war schon vorher da und dabei: Es fand sich darin u. a. ein Brief von Kurt aus Hamburg und eine Karte von Werner aus Oberstdorf, ein silberner Rosenkranz mit Perlmutterperlen, den Onkel Dietrich
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ihr s. Zt. aus dem Heiligen Land mitgebracht hatte. Er konnte nicht
begreifen, daß die Tote ihn um die Hände gewickelt mit ins Grab
zu bekommen hätte, Papst, Schnorrenberg und ich aber belehrten ihn
eines Besseren. Von den Schlüsseln nahm ich den von der Neugasse an
mich, ich hatte längst einen solchen haben wollen. Papst fuhr mit
Tante Marias Wagen zu den Zeitungen, um mit Aufgabe und Druck der Zeitungsanzeigen
sicher zu gehen, dann fuhr ich mit ihm nach Deutz, ich hatte Besprechung
mit Monteur der Signalbauanstalt, dem ich 3 Paar warme graue Socken als
Angebinde der Firma für treue Hülfe übergab. Der treffliche
alte Arbeitsmann freute sich sehr darüber. Mit Doll und Lauft (Unternehmer)
besprach ich mich in Beschaffung von 4 Weichenblöcken mit Laternen
u.s.w. Kies war schon auf unserem Gleise angefahren worden. Dann mit Papst
zur Mühlengasse zurück. Dort zwischendurch noch einige Schreiben,
so an holländische Versicherungsmaklerfirma und Vaterl. und Rhenania
erledigt, Onkel Dietrich beigestanden, dann 12 ¾ alle auf Speisesaal
versammelt. Onkel Dietrich nahm sich mit aller Gewalt zusammen und hielt
dort an alle Angestellten – das Haus war geschlossen – eine kurze von Herzen
kommende Ansprache, wobei er auch das Kernstück aus Nettchen eigener
Rede bei ihrem Jubiläum verlas. Kein Auge blieb trocken. Otto, der
neben mir stand, ging der Atem wie auf hoher Bergbesteigung. Tante Emma
stand neben mir, Asta und Leny waren auch da. Werner und Erna (letztere
mit steifem verstauchten Knie vom Schifahren bei vermutlich zu wenig Schnee
in Oberstdorf) werden erst für heute abend zurückerwartet. Ich
mußte nach Beendigung – ein Bild mit Frl. Schnorrenberg, das Onkel
Dietrich schon früh bekränzt und mit Flor behangen hatte, und
ihr Stuhl mit einem grünen Trauerkranz geschmückt, standen dabei.
– als die Rede zu Ende war und einzelne sich noch jene Sachen besahen,
konnte ich es nicht mehr aushalten und mußte einige Schritte im hinteren
Hofe auf und abgehen, wobei mir etliche Regentropfen auf den Kopf fielen
und ich mit einem merkwürdigen gleichgültigen Interesse mir die
Türe zu dem gemeinsamen Nachbarausgang zur Neugasse besah und dachte
dabei an die hierüber jüngst in die Hände gekommenen Prozeßakten.
Ich setzte mich dann wieder in Onkel Dietrichs Zimmer an den Glastisch
und zupfte Tannennadeln aus dem Tannengrün-Strauß, der dort
schon lange stand und machte einen Haufen Nadeln zurecht, was ich auch
schon vorher getan hatte. Später fuhr ich mit Onkel Dietrich, Tante
Emma und Maria zur Münze, hatte dort bei Tisch merkwürdigerweise
einen Mordshunger, ich schämte mich fast über die 2 Teller Erbsensuppe
und die große Apfelkuchenschnitte, die ich hinunterschlang. Es fiel
mir ein, daß ich stets je ergreifender ein Trauerspiel auf der Bühne
war, dem ich beiwohnte, desto stärkeren Hunger ich nachher bei Tisch
eintwickelte. Ich habe sogar darnach den tragischen Gehalt eines ernsten
Trauerspiels einzuschätzen mir angewöhnt. Ich äußerte
den Wunsch, Nettchen noch einmal zu sehen; das war Onkel Dietrich aus der
Seele gesprochen. Er überlegte trotz Widerspruchs von Tante Emmy sofort
mit mir nachmittags dorthin zu fahren. Wir ruhten, tranken ½ 4 zusammen
Kaffee, 1 Schnaps, Mutzen Mändelchen, fuhren ½ 5 zunächst
zu Direktor Luhr (Firma Esch?) Kaiser Friedrich-Ufer 85 gleich um die Ecke
das II Haus, wir wurden empfangen. Dieser verhältnismäßig
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etwas aufgeschwemmte dicke junge blasse Herr hatte selbst allein den
schweren Wagen gefahren, der am Dom die eilig zur Bahn strebende Nettchen
Schnorrenberg zur Strecke brachte. Onkel Dietrich frug genau nach Einzelheiten.
Die Darstellung war nicht klar verständlich, ganz unverständlich
aber bleibt, wie Luhr einen fremden, herzugekommenen Schoffeur den Wagen
statt nach dem nächsten Krankenhaus zur weit draußen liegenden
Lindenburg fahren läßt. Auch blut überströmt, auch
auf Platz Blutlache. Wir verabschieden uns kurz und ernst von dem Unglücksmann,
fuhren Ring entlang, kauften Blumen, Dietrich 4, ich 1 weiße Nelke
je 500 M und dann zur Lindenburg. Dort durch endlose Korridore, ein Stück
Garten schließlich zur Leichenhalle. Dort in einer kleinen mit Stoff
abgesperrten Koje auf einfachem Fahrbett unter rauhem weißem Laken,
den Kopf zerschunden und blutig, das linke Auge nicht ganz geschlossen,
lag Nettchen, dieser selten intelligente und gute Mensch, diese kluge umsichtige
charakter- und liebevolle Dame, den Kopf mit einem Tuch umhüllt, ein
Anblick zum Erbarmen. Ein junger Herr Schnorrenberg war dort. Der Wärter
König wollte uns noch den jedenfalls mehrfach gebrochenen Hinterschädel
zeigen, ich wehrte energisch ab. Wir legte ihr die weißen Nelken
auf die Brust, wo schon ein Blumenstrauß lag und gingen wieder in
den dunklen nassen Garten hinaus. Ein elendes Gefühl. Gestern abend
war Onkel Dietrich auch sofort im Wagen dorthin geeilt, als er erst gegen
6 Uhr abends die Hiobsbotschaft gehört hatte. Er habe sich gestern
erst mit 3 Kognaks dort vorher stärken müssen. Heute war er sehr
gefaßt, fühlte aber, daß mit ihr ein großes Stück
seiner unermüdlichen Arbeitskraft entgültig dahin ist. Es wird
noch schmerzhafte Resignation für ihn geben. Dann sprachen wir noch
ausführlich einen sympathischen schmalen blonden Arzt Dr. Wachendorf,
der bei Ankunft der Leiche diese aus dem blutüberströmten Auto
(– ich kann bald nicht mehr schreiben!) geholt und den Tod festgestellt
hatte. Er gab uns die überzeugende Versicherung, daß der Tod
höchstwahrscheinlich sofort eingetreten ist, jedenfalls aber die schwere
Gehirnerschütterung augenblicklich das Bewußtsein und Gefühl
ganz aufgehoben hat. Seine Beschreibung, wie die Leiche vornüber zusammengefallen
wie ein Knäuel im Auto gelegen hatte, war schwer anzuhören, aber
seine genauen ärztlichen Darlegungen wirkten doch beruhigend. Am Ausgang
trafen wir außer jenem Herrn Schnorrenberg auch den Bruder Gustav
Schnorrenberg wieder und fuhren alle zusammen zur Mühlengasse. Papst
der unermüdliche war dort und gab mir frischen Abdruck der Kölnischen
Volkszeitung mit, deren Anzeige ich mir ausschnitt und hier einklebte.
½ 7 saß ich in der Rheinuferbahn und die Fahrt wurde mir sauer
und lang, da 4 angeheiterte Herren sich laut und lärmend unterhielten.
Hier wußte Helene schon alles Nähere, durch eine telefonische
Unterhaltung mit Tante Emma. Papa, seit 1 ½ Wochen erstmals wieder
hier, schrieb schon an Onkel Dietrich. Dieser hatte heute mittag den ersten,
sehr schönen Kondolenzbrief von seinem Konkurrenten Franz Proenen.
Jetzt ist es Mitternacht und ich beschließe diesen
Tag. Was kommt nun? An der Ruhr finden die Franzosen überall hartnäckigen
Widerstand.
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Ruhrbesetzung – Ausweisungen – Küchenumbau
Bonn, 17.II.23. Es ist eine fürchterliche Zeit. Die
Franzosen haben die Ruhr besetzt. Fast alle Bahnen liegen still, der Bonner
Bahnhof ist seit ca 2 Wochen geschlossen, die Schranken an den Wegübergängen
stehen offen, dann und wann fährt eine Lokomotive oder ein kurzer
meist leerer Zug von den Franzosen gefahren mit Gepfeife vorbei. Vor etlichen
Tagen wurde an unserem Bahnübergang eine junge Dame totgefahren. Allenthalben
werden Beamte ausgewiesen, die den Anweisungen der deutschen Behörden
folgen. Gestern stand u. a. die von französischen Kreisdelegierten
in Berncastel verfügte Ausweisung von AGR Dr. Winkler und Reinecke
in der Zeitung. Ich habe fast ein Gefühl einer gewissen Geborgenheit,
nicht mehr in Amt und Würden zu sein. – In der Firma hatten wir bis
heute vor 8 Tagen eine 1 ½ Wochen dauernde Buchnachprüfung
durch 3 Herren vom Landesfinanzamt Köln. Wenig angenehm und schmerzhaft
ermüdend, vormittags und nachmittags fast ununterbrochen bei ihnen
zu sitzen. – Sonntag morgen besprach Helene mit mir die Umlegung des Küchenfußbodens,
daraus entwickelte sich rasch das seit mehr als 30 Jahren besprochene Projekt
der Klosetverlegung und Küchenerweiterung. Sonntag vormittag sprachen
wir besuchsweise bei H. Böhm vor, der uns die Aufgabe der Speisekammer
und Verlegung des Closets in dessen Ecke riet, nachmittags hatte ich schon
den Maurermeister Renz hier und abends nach Tisch besprach ich in Endenich
das Nötige mit Schreinermeister Vosen. Seit Dienstag ist Küche
und Keller geräumt, Mittwoch sind die Handwerker zur Stelle; heute,
Samstag steht schon halb die neue Klosettmauer da, die Kanalrohrleitung
im Keller ist schon verlegt, ein aus der jetzt aufgegebenen Konfektion
in der Mühlengasse abgebrochenes freistehendes Klosett harrt seiner
Wiederauferstehung und im Lauf der nächsten Woche wird hoffentlich
die Roharbeit fertig und der Fußboden wieder gelegt. Es kostet natürlich
viele Papiermark, giebt aber eine geräumige Küche. Die Kölner
sind auch dafür, das Eßzimmer zu vergrößern durch
Anbau, der für den 1. Stock eine Veranda ergiebt und unten die Veranda
vorzuziehen. Ich habe noch Bedenken wegen der Kostenfrage. Heute abend
gehen wir auf Einladung DB in eine Aufführung der Cäcilia Wolkenburg
im Stadttheater, trinken bei Tante Maria Kaffee und fahren abends wieder
heim.
4. März 1923. Vorgestern waren wir bei Heinrich Schneiders
zu einem sehr guten und dabei recht gemütlichen Abendessen.
Die Not des Vaterlandes wird stets größer.
Seit langen Wochen verkehrt hier kein deutscher Zug mehr, die Schranken
stehen offen. Jetzt haben die Franzosen einzelne Züge in Gang gebracht,
die aber meist völlig leer fahren. Truppenzüge dagegen sind stets
übervoll bei ihnen. Bisher haben Industrie, Beamtenschaft und namentlich
Eisenbahn, Post und Zollämter allen Verlockungen, Versprechungen und
Vergewaltigungen widerstanden. In Bernkastel sind beide Collegen Winckler
und Reinecke mit Familien ausgewiesen, desgleichen Landrat v. Nasse. Man
darf sich glücklich schätzen nicht mehr Beamter und damit dem
unvermeidlichen Konflikt ausgesetzt zu sein, der stereotyp mit Vertreibung
aus der Heimat endet. Über 600 sind bisher schon „ausgewiesen“ worden.
Wie lange dieser erbitterte waffenlose Krieg noch dauern wird, ist gar
nicht abzusehen.
Am 1. März ist unsere Filiale in Dortmund eröffnet
worden. Die traurigen Verkehrsverhältnisse bringen es fast mit absoluter
Notwendigkeit mit sich, daß die dort aufgestapelte Ware reißend
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Absatz findet. Trotz Verkehrssperren aller Art setzten wir letzten
Monat 2,6 Milliarden in der Mühlengasse um.
Will hat endlich sein neues Haus in Rodenkirchen fertig
und ist langsam im Umzug begriffen. Papst soll in sein Haus. Die hierzu
nötige Wohnungstauscherei ist von den Wohnungsämtern bestätigt.
Otto und nicht weniger ich haben Onkel Dietrichs dringende Frage, ob wir
neben der Deutzer Fabrik in evtl Neubau ziehen würden, ablehnend beantwortet.
Ich gedenke überhaupt nicht eher nach Köln zu ziehen, als bis
zuvor meine Stellung und eine eventuelle Beteiligung an der Firma gesichert
ist. Mein Leben lang „angestellter“ Justitiar zu bleiben, ist nicht meine
Absicht. Heute abend wieder habe ich noch einen Entwurf zu einer Bewerbung
um eine freiwerdende Bonner Notarstelle gefertigt, um vorkommendenfalls
solchen sogleich zur Hand zu haben. Für Günter Riesen habe ich
durch zähe langsam sich entwickelnde Verhandlungen jetzt eine Stelle
mit Beteiligung nach 2 Jahren und späterem Firmenerwerb bei Rudolf
Steiner in dessen Firma R. St. & Co Korsettfabrik Köln-Ehrenfeld
erreicht. Er wird mir dankbar sein können. Heute früh besprachen
Helene und ich mit Walter Wolf, Liesel Schneiders Bruder, der als Diplom-Maschineningenieur
jetzt in Aachen Dr. ing. macht, die Möglichkeit einer Beschäftigung
bei F.W.B.S. in Deutz. Dort ist der Eisenbahnanschluß, den wir aus
Mitteln der von mir durchgekämpften Schadensersatzansprüche gegen
das Reich (neben dem Strickereineubau, dem Lastwagenpark und zahlreichen
Maschinenneuanschaffungen, Fabrikwiederherstellung) mit 20 - 30 Millionen
erbauten – Heute dürfte er schon 100 Millionen kosten! – bahnseitig
abgenommen worden.
Papa hat jetzt eine weitere Arbeiterfamilie in den nächsten
Tagen in der Herseler Wohnung. Selbst in letzter Stunde war er auch in
Güte nicht dazu zu bewegen, sich durch Mietvertrag mit der Seifenpulverfirma
Ed. Theobald & Co Luft zu machen. Er wird das ganze Bruchlokal noch
voll solcher Zwangsmieter bekommen. Wir haben den Küchenumbau bis
auf die letzte Feinarbeit und Anstrich fertig. Nächste Tage sollen
die Küchenmöbel wieder hineinkommen. Es hat lang und Staub genug
gekostet, dazu noch tüchtig Geld, doch wirds eine dauernde Verbesserung
sein. Für Februar betrug mein Monatsbezug 1 Million M, dazu noch eine
weitere als Sondergabe, die immer noch auf die Erfolge mit der Deutzer
Entschädigungssache verbucht wird. Papst hingegen hat 1 0/00 vom Umsatz,
also 2,6. Ich muß sehen, ihm wenigstens beizubleiben. – Onkel DB
hat den Entschluß gefaßt, die Personalsaläre einschließlich
Geheimsaläre an Will abzugeben, natürlich krankt er noch an sehr
akuten Rückfällen in seine altgewohnte Tätigkeit und wird
sich noch sehr umstellen müssen. Wie er zurückgeht, geht Otto
vor und mit ihm sehe ich
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bei aller verwandtschaftlichen Freundschaft künftige Zusammenstöße
voraus, gegen die ich mir Sicherheit verschaffen muß, soll meines
Bleibens zeitlebens in der Mühlengasse sein. Jedenfalls behalte ich
mir mit einer Notarstelle stets ein Nebengeleise offen. So sehr Onkel Dietrich
dem Küchenumbau hier in Bonn zustimmte und auch sofortigen Umbau von
Eßzimmer und Veranda empfahl, so meinte er doch sogleich dabei,
das dürfe mich nicht etwa von dem Gedanken abbringen nach Köln
zu ziehen. – Vorab habe ich mich hier in der Lese- und Erholungsgesellschaft
zur Wahl als Mitglied gestellt und hoffe im Fall positiven Ergebnisses
noch mit 10 000 M Eintrittsgeld vorbeizukommen. Demnächst soll es
75 000 M betragen. Ein neuer Winterüberzieher stellte sich bei Meller
(?) auf 160 000 M, was noch recht billig ist. Morgen will ich mir zur Entlüftung
des verlegten Klosetts unten einen elektrischen Ventilator kaufen, der
200 000 M kosten soll, (40 M kostete er im Frieden).
Die Franzosen haben jetzt glücklich so etwas wie
Zugverkehr in Gang gebracht, auch eine neue Tür am Bahnhof hier geöffnet,
etliche Zivilisten fahren hin und wieder in den gänzlich leeren Zügen.
Am Freitag haben wir uns alle mal gründlich beim
Photografen aufnehmen lassen. Anregung dazu gab die Aufforderung Ottos,
für die am 1. März von ihm eröffnete erste Großhandelsfiliale
Dortmund ein Bild zu stiften. Es wird dort gewiß prächtig in
diesen Tagen verkauft werden. Seltsam, so schwer die Zeitläufte auch
sein mögen, die Firma fällt stets auf die Füße. Wie
kommt es? Glück? Ich glaube nicht! Arbeit, Arbeit, Arbeit, dazu gesunde
Mischung von Wagemut und Vorsicht, verkörpert in den verschiedenen
Köpfen der Firma. Onkel Dietrich ist jetzt seit 2 Wochen persönlich
stark in Dampf wegen eines Autohaftpflichtprozesses Gierling gegen ihn,
den er 18. Dez 21 (!sic!) leicht umfuhr und der nun auf Rente klagt, auch
schon einstweilige Verfügung auf monatlich 25 Mill. Mark sich ergaunert
hat. Sein Eidgehülfe, ein Schutzmann, hat beschworen, DB habe erklärt,
er käme für allen Schaden auf. – (Kann er sehr leicht gesagt
haben!) Dies bringt ihn auch gegenüber seiner Versorgungsgesellschaft
der Vaterländischen & Rhenania, mit der ohnehin scharfe Spannung
herrscht, trotz freundschaftlichen Verkehrs des Direktors Sternberg mit
ihm. Ein Kuddelmuddel, der uns noch einige Zeit in Atem halten wird. –
Der Bericht über die lange Steuerrevision ist immer noch nicht gelandet.
Neue Steuererklärungen sind in Sicht. Ich bereite rechtzeitigen Abtransport
wichtiger Geschäftspapiere für den Fall des Einmarsches der Franzosen
in Köln vor.
Mit der Eröffnung der Filiale ist für mich auch
ein besonderer Arbeitsabschnitt vorläufig beendet. Denn die
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Vorbereitung und Einrichtung brachten viele Reisen nach dort mit sich,
auch landete ich im Spätherbst eines frühen regnerischen Morgens
mit Onkel Dietrich dort aus dem Schlafwagen von Berlin kommend und holte
den soeben von der Hochzeitsreise zurückgekehrten Minstfeld (?) frühmorgens
aus dem Bett, die Wohnung als erste im Hause bezogen, hatte er mit Möbel
gegen die Treppe verrammelt. Gestern hat er bereits sämtliche Möbelschulden
bei uns abgetragen. Ich glaube, die Sache dort kann sich zu einem großen
Unternehmen auswachsen. Pfeifer & Schmidt und der uns gar nicht sonderlich
freundlich gesinnte Kommerzienrat Schmidt in Braunschweig wird es alsbald
am eigenen Leibe zu spüren bekommen.
Desgleichen haben zahlreiche, fast über das ganze
Jahr 1922 sich hinziehende „Papstkonklaven“ jetzt ein vorläufiges
Ende damit gefunden, daß P. seit 1. Juli 1922 1 0/00 vom Umsatz und
vorab leihweise das von Will formell (g. R.!) auf die Firma übereignete
Haus Moltkestraße 1 Rodenkirchen beziehen wird. Er ist zwar nach
wie vor Angestellter und Prokurist, aber doch nach außen hin etwas
mehr geworden. Ich werde mich auf derlei Scherze nicht einlassen. Über
die nach meiner Ansicht zu geringe Tantieme 1922 geriet ich mit DB in Harnisch
und schrieb ihm, da er mit Karl Hill in Berlin zum Reichswirtschaftsgericht
war, einen deutlichen Schreibebrief, den er mir mit Aufgebot ziemlich heftiger
Beredsamkeit in der Münze bei Tante Emma und Helene, die dazu eingeladen
war, zurückgab. Freilich ohne positiven Erfolg, ich gab in keinem
Punkte nach und schließlich meinte er, da bleibe nur der Notar übrig.
Ich blieb zunächst äußerlich ruhig, wurde dann aber so
heftig erregt, daß ich hinausging und auf der Veranda fast einen
Weinkrampf bekam. Nachher wies ich mit heftigster Entrüstung die Zumutung
zurück, mich auch noch bei den Jungens zu bedanken. Eher würde
ich mich aufhängen. Das half. Helene bekommt er zu solcher Predigt
nicht mehr zu sich. Mir ist es gleich, denn ich lasse mich weder durch
Regen noch Sonnenschein beirren. Es ist jetzt schon etliche Monate her.
Seitdem ist die Gesamtsumme der Deutzer Entschädigung auf 67 Millionen
und mein „Sonderhonorar“ dafür auf 2 ½ angewachsen. Ich werde
sorgen, auch ferner nicht zu kurz zu kommen. Ein im Frühjahr in Baden
Baden mit Adolf Hill ausgehecktes D-Konto hat seitdem viele Früchte
getragen. Als angeblich neues Kind im Stamme DB bin ich darin auch beteiligt,
wenn freilich auch nur gering. Doch immerhin. Irgendwie muß ein Anfang
geschaffen werden. –
Ottos häufig recht schroffes Auftreten, das Hervorheben
des Herrenstandpunktes namentlich Papst gegenüber (mir gegenüber
hat er es sich seit mehr als Jahresfrist so ziemlich abgewöhnt, indem
ich ihn auf Sand laufen ließ) wirkt dabei als Keil, der vorzeitig
treibt. Ihm selbst ist es nicht bewußt, wie er damit in vielem das
Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigt.
Zur Zeit ist die von mir stets festgehaltene und langsam
weiter
Seite 110
entwickelte Beziehung zur Korsettfirma Rudolf Steiner & Co verdichtet
sich allmählich für Günter Riesen zu einer Lebensstellung.
Freilich muß man mit Steiner langsam und vorsichtig vorgehen. Das
Tempo der Mühlengasse paßt ihm schon gar nicht und sich ver„Cleff-“en
will er erst recht nicht. Trotzdem glaube ich, daß Günter mit
ihm zurechtkommen, sein Teilhaber werden und in manchem ihn schließlich
auch beerben wird.
Den freundlichen Bemühungen meines Freundes Dr. Walter
Cohen in Düsseldorf verdanke ich eine Reihe guter Neuerwerbungen in
meiner Kunstsammlung, so die Holzschnitte von Albert Königs in Eschede,
prächtige Handzeichnungen des XVII. Jahrhunderts, ein Aquarell von
Kerschkamp, Düsseldorfer Künstler, eine Kohle- oder Kreidezeichnung
von dem Krefelder Maler . . . . u. a. mehr. Auch für Frau Horn hat
er gute Sachen erworben. Das Höhlen(?)-gemälde von Hergenröder,
das ich bei Spinrath in Düsseldorf kaufte und die kleine Landschaft
mit der Flucht nach Ägypten in der Art des vlämischen Malers
Hans Bol habe ich jetzt von einer Düsseldorfer Ausstellung rheinischer
Privatbesitzer wohlbehalten wieder zurückerhalten. Letzteres Bild
hatte mir Cohen in Hamburg nachgewiesen und ich erwarb es für 6 englische
Pfund. Cohen war neulich zum Abendessen hier und ging die Sammlung durch,
von der er vieles noch nicht kannte. Einige weniger gute Blätter sonderten
wir aus, er nahm sie mit und wird sie anderweit verkaufen, um aus dem Erlös
in Verbindung mit weiteren Mitteln einiges Gute zu kaufen. Trotz unterbrochener
Bahnverbindung (man fährt Köln - Benrath und von dort mit Elektrischen
nach Düsseldorf, ich machte es vor 3 oder 4 Wochen selbst, recht beschwerlich)
habe ich durch unseren Düsseldorfer Vertreter Peter Beys stets Beziehung
und Verbindung nach dort. Freund Bruhns, der mir früher manche gute
Stücke in Frankfurt besorgt hat, hat in letzter Zeit hierin nichts
mehr getan. Ich verkaufte ihm jüngst auf dem höchsten Punkt des
Devisenkurses 50 seiner Schweizer Franken, wofür er über 400
000 M erhielt und davon eine Zeitlang lebt.
Zwischen Seite 110 und 111 ist ein Zettel mit folgendem Text eingeklebt:
Im neuen Hause.
1. Wer sich hat gebauet 2. Es strahlet die Sonne
Ein stattliches Haus Der Frühling weht
lind
Der ladet seine Freunde Des freuen sich Großeltern,
Zu fröhlichem Schmaus. Eltern & Kind.
3. Gott gieb’ uns den Frieden
Er schütze das Haus,
Laß ein alle Freunde
Scheuch’ Sorge hinaus.
Ostermontag, den 2. April 1923
Matthias Rech
Dr. jur. utr.
zu Willi Brügelmanns Haus Neubau Rodenkirchen Uferstraße
(Seite 108 a)
Mit der Seitenzahl 108a und dem Datum 5.4.23 ist ein Umschlag mit der
Bezeichnung Nocturno eingeklebt. Er enhält ein Blatt mit folgendem,
schwer zu entzifferndem Text:
Ich sitze im Dunkeln und kann das Licht nicht sehen und
draußen scheint so schön die Sonne wie nie, und wie habe ich
mich den ganzen Winter nach der Sonne gesehnt. Zumal mittags allein in
der trüben dumpfen Gasse. Ich meinte ich sei begraben und nun bin
ich es, wo es draußen am schönsten ist und alles grünt
und blüht.
Der Kopf ist mir hohl und wüst. Als ob ich einen
Schlag auf den Hinterkopf bekommen hätte und dabei immer voller wirrer
Bilder. Gestern kamen immer dunkle Fledermäuse und große Motten
geflattert, zu Scharen, der ganze Himmel verfinsterte sich, ich schlug
um mich wie ein Verzweifelter, um durch die Masse ein Loch zu stechen,
durch das ich den Himmel noch sehen könnte, es war nicht möglich.
Und alles war schmutziges Papiergeld, das einen umflatterte und einen raschelte,
ich fiel schweißgebadet auf die Erde und dachte, jetzt hat es endlich
ein Ende und du erstickst. Dann ließ die alles los. In der linken
Hand brannte es mich heiß, ich hielt sie krankhaft, es brennt immer
heißer, nicht mehr zum aushalten. ... kreist sie in Wellen,
sie geht auf, ein glimmender Geld ist drin, er will sich nicht löschen
lassen, ist fest ins Fleisch gewachsen und brennt wie Pech. Schnell ein
Messer, schneid ihn aus dem Fleisch heraus und gieb ihm Onkel Dietrich
wieder, er gab ihn mir neulich, als er mit Otto Geld zählte. Ich kann
es nicht aushalten.
Immer Trinkgelder, es ist scheußlich, große
und kleine, eins so widerlich wie das andere. Wie schön war es in
Bernkastel. Nie ein Trinkgeld und mit ein paar Groschen kauften wir alles
und waren so glücklich. Jetzt dieses schmutzige Geld und jeder will
mehr haben, immer mehr und hat dann doch nichts. Es ist zum Kotzen! Ich
verstehe jetzt den armen Bildhauer, den ich immer mit Humor behandelte.
Es muß furchtbar sein, zu merken, wie man langsam Verfolgungswahn
bekommt. paranoiia persecutonia, paranoiia quaerulatonia, paranoiia usw.
Alles zerrt an einem, die Kinder möchten dies und das haben, heute
sehen sie dies und morgen jenes, man kann es ihnen gar nicht alles geben.
DB will mich gegen Werner scharf machen, Werner gegen seinen Vater, Günter
gegen Steiner, Grete gegen Will, Otto gegen DB, Elli gegen ihren Vater,
Tante Maria. Alle wollen immer was, es wird mir ganz wirbelig, nur der
gute Will läßt mich in Ruhe, der Brave, der dafür noch
nicht mal für voll gehalten wird. Als ob es immer aufs Belügen,
Betrügen, Begaunern, auf hin und her ziehen ankäme und dabei
hat er wirklich meistens Unrecht, der gute und einen eigensinnigen Dickkopf
dazu. Wie soll ich da heraus, jeder will mir was geben und ich will gar
nichts geschenkt haben und immer wieder das schmutzige flattrige Papiergeld,
steckts doch an, es soll brennen und wenn ich mit verbrenne, damit man
es doch mal los wird. Wer ein Domestik ist freut sich, er meint er hätte
was. Mir ist alles verleidet. Früher freute ich mich ein ganzes Jahr
an einem mühsam gekauften Buche, jetzt macht es mir kaum eine Woche
lang Spaß. Und dabei ein wunder wirrer Kopf, voller Schmerzen und
die müden Glieder. Ich bin so zerschlagen, daß ich nicht mal
mehr im Bett liegen kann. Die Unruhe treibt mich heraus, ich muß
was tun und so schreibe ich, ich weiß nicht was und ob mans lesen
kann. Die Hand will immer weiter, weiter voran, voran, voran und immer
neu immer drauf wie ist er doch und immer rastlos betätigt sich der
Mann, aber auch ein Mühlrad geht so und es klappert schließlich
ohne Zweck, oder es läuft leer und der Mahlgang dreht sich nicht mehr.
Es wird immer schlimmer, was macht man da. Nur keinen Arzt, mit so einem
schafsköpfig dummen Gesicht, der gleich alles besser weiß und
eine „Diagnose“ stellt, daß du die Nase ins Gesicht behältst
und dabei denkt er natürlich immer, was nehme ich: Stunde 5 Mark x
Index = 15000 M oder so ähnlich und dann kommen die Papierfledermäuse
schon wieder angflattert und nach der Diagnose geht der Schafskopf zur
„Therapeutik“ über, na tüchtig, kostet wieder so und soviel und
Umsatzsteuer u.s.w.... Gieb dem Kerl einen Tritt. Ich lege mich ins Bett
und gehe langsam hin.
Am besten hat es der Phtysiker, er schwindet langsam dahin
und merkt es nicht.
Vorletzte Nacht stand ich lang am Fenster, wäre es
offen gewesen, ich hätte einen Sprung hinaus gemacht und hätte
so einen schnellen Schluß gemacht. Frau und Kinder müssen sich
dann durchhelfen, malen, vermieten, jammern, Pension beziehen, was weiß
ich. Mir ist dann der Kopf leicht und und nur das Krachen. Am besten haben
es die Toten weil sie nichts mehr zu tun brauchen brauchen. Aber immer
voran, lustig, lustig . . . Und dabei das unerträgliche Sonnenlicht.
Wenn es doch einmal dunkel werden wollte. Gestern war der Referendar da,
ich dachte er wollte mich aus dem Grabe holen, er wollte was, ich konnte
mich nicht besinnen, es war wieder so was Flattriges Widerliches, ich habe
es unterschrieben, was war es doch nur? – –
Es ist alles widerlich und am widerlichsten ist das schlappe
Gefühl in allen Knochen, der Federhalter fällt mir gleich aus
der Hand.. ich kann ihn kaum mehr halten. Was soll ich nur anfangen? Das
Kreuz so mir so nah. Ich hab ein Gefühl als sei ich dort versteinert:
Arm und Bein sind Gestein
Auch die Sprache fällt mir nicht mehr ein
Mordsgedanken werden Leichenhüllen und man wird älter
Waldbreitbach, 4Jahreszeiten Wwe Jakob Kröll, 24. Mai 1923. Donnerstag
nach Pfingsten. Wir sind nun miteinander über eine Woche hier, ich
hatte das Buch mitgenommen, um bei Regenzeit hineinzuschreiben. Seit gestern
ist richtiger Regen da, der am Ausgehen hindert, bisher sind wir, anfangs
in ziemlicher Kälte, täglich 2 x tüchtig marschiert und
haben vorzüglich gefuttert, denn wir haben ein treffliches Futterplätzchen
gefunden. Christian Assemacher brachte uns vorigen Mittwoch mit dem umgebauten
Kastenwagen nach hier, zu dem wir noch einen blauen Ausweis mit französischem
Stempel hatten. Freitag haben die Franzosen den Autoverkehr im Kreis Bonn,
Düren, Euskirchen gesperrt, um den Engländern zu zeigen, daß
sie den rheinischen Verkehr in der Hand haben. Es hat sich dann in den
Pfingsttagen ein Durchgangsverkehr mit Autos auf der rechten Rheinseite
entwickelt und wir haben Hoffnung, daß Christian uns dorther abholen
und wenigstens bis Beuel bringen kann. Andernfalls sitzen wir mit ziemlich
reichlichem Gepäck hier ein wenig fest, müssen äußerstenfalls
versuchen, einen Wagen nach Neuwied zu bekommen und von dort per Schiff
nach Bonn heimzugondeln. Eben habe ich Köln dringend angerufen, um
mir hierüber Klarheit zu verschaffen.
Von Onkel Dietrich, der seit dem 12. in Baden Baden sitzt, wohin
er nicht ohne Schwierigkeiten hingekommen ist,
Seite 112
(Er fuhr tags zuvor mit Tante Emmy im offenen Wagen los, wurde aber
an der Grenze des besetzten Gebietes (Asbach?) festgehalten und mußte
in Bonn bis mittags bei Franzosen und B... herumfuhrwerken, um Ausfahrtgenehmigung,
Sicherheitsleistung für Rückkehr ect zu erlangen. Wir waren in
Köln alle ziemlich ungehalten darüber, weil dies schon gleich
Anlaß zu Redereien gab) – erhielt ich vorgestern einen Brief über
Köln, den er gleich von Baden Baden losließ, noch ganz voll
zitternder Erregung über die etwas starke innere Überspannung
in den letzten Tagen seiner Anwesenheit in Köln: Werner, von großer
dreiwöchiger Einkaufsreise in Sachsen, und Schlesien zurückgekehrt,
war mit ihm aneinandergeraten und hat ihm recht klar erklärt, er gedächte
in Frankfurt oder Hannover eine Zwiegniederlassung zu gründen und
aus Köln und Mühlengasse herauszugehen, Otto verlangte Erlaubnis
zum Ankauf eines recht teuren Baugrundstücks in Marienburg, er versuchte
ihn und Asta zu stauchen, ohne jeden Erfolg; denn kaum war er weg, machte
Otto einen herzhaften Überrumpelungsversuch gegen Will und Werner,
wobei es zu großem inneren Palaver kam, in dem schließlich
ein von mir aufgesetztes Schriftstück unterzeichnet wurde, nach dem
Otto zwar gestattet wird, sich einen Bauplatz zu kaufen, er aber Bauprojekt
lange vorher zur Besprechung vorlegen muß und dann davon auszugehen
ist, daß der Stamm DB zuerst am Bauen sei, nachdem Will bereits gebaut
hat. Dieses Bauvorrecht des Stammes DB soll aber bis zur Bilanz 1924 vorläufig
befristet bleiben. Ich spielte dabei, freilich recht kühl und trocken,
ein wenig den Onkel Dietrich. Dieser ist über das „Abkommen“ natürlich
wütend und schreibt mir einen langen Herzenserguß, den ich aber
vorläufig nicht zu beantworten gedenke.
Werner will der immer drückender werdenden Zuchtrute
seines Vaters entweichen, tatsächlich mischt sich DB oft mit sichtlichem
Mißerfolg in seine Fabriksachen ein, und der unverkennbare Erfolg,
den Otto mit Dortmund hat, reizt ihn natürlich; zudem hat Werner den
besseren Instinkt unter den Jungen und fühlt, daß es für
die Firma mit Rücksicht auf die bevorstehenden politischen ect Abschnürung
des Rheinlandes gut ist, draußen im Reich, vor allem in Frankfurt
(er rechnet, daß dieses mit Rücksicht auf die internationalen
Beziehungen seiner Hochfinanz unbesetzt bleiben wird) und vor allem auch
in Hannover eine Zweigniederlassung à la Dortmund hat, wo von den
deutschen Fabrikanten die Waren hindirigiert und sei es im besetzten, sei
es im unbesetzten Gebiet abgesetzt werden können. DB klagt mir dann
vor über den eingerissenen Mangel an Vertrauen; ich habe stets Mißtrauen,
wenn er davon anfängt, denn zu mir selbst zeigt er nicht mehr das
Vertrauen, z. B. über die Verteilungen und deren Höhe läßt
er mich geflissentlich im Unklaren, die Summen sind recht hoch, wie ich
mir aus anderen Anzeichen, namentlich aus Äußerungen Ottos herausrechnen
kann, er weiß, daß ich entsprechend keine Einkünfte habe
und daran teil zu haben wünsche. Es wird jetzt zur neuen Bilanz wieder
einen rechten Knies hierüber geben. Ich verfolge indessen stets meine
Notariatspläne und warte ab, ob sich in Bonn eine freie Stelle zeigt.
Dann werde ich mich heftig darum bemühen. Dies giebt mir einen Hebel,
entweder wieder ganz frei und selbständig außerhalb der Mühlengasse
zu werden oder eine Selbständigkeit mit Beteiligung innerhalb derselben
zu erreichen. DB hierüber genau unterrichtet, sucht dies natürlich
zu hindern und mich möglichst lang und klein zu halten. Wir wollen
mal sehen, wie lang ihm dies gelingt. –
Ich hatte kleinen Farbkasten mit Wasserfarben, Palette
und Skizzenbuch mitgenommen und habe einen fast unwiderstehlichen Drang
zum Skizzieren und Aquarellieren und es sind mir auch etliche Stückchen
einigermaßen so gelungen, daß sie charakteristische Landschaftsbilder
der hiesigen Täler und Höhen erkennbar wiedergeben. Kindern und
Helene geht es gut, wir haben gute Betten, etwas dumpfe Zimmer, aber Ia
Essen und Kaffee. Marianne stets lebhaft unterhält uns aufs Beste.
Und so mangelt uns zur Zeit nichts als die Gewißheit, bequem wieder
heim zu kommen. Wir sollen 12 000 M pro Kopf an täglicher Pension
zahlen, lächerlich wenig, nachdem der $ auf 57 000 M!! geklettert
ist. Post ist hier so gut wie nicht, Zeitungen lesen wir nicht und so habe
ich wirklich Ruhe. Der Kopf beginnt sich zu erholen, nachdem ich zuletzt
daheim vor lauter Steuererklärungen
Seite 114
(Einkommensteuer 1922 und Zwangsanleihe, Vermögensteuer, jedesmal
mit anderen Bilanzen) beinahe verrückt geworden bin. Die Bewertungsvorschriften
sind so verwickelt, wirr und toll, daß es einem bunt davon im Kopfe
wird. Ich kann mir gut vorstellen, daß wirklich einer darüber
wahnsinnig wird. Dabei ist diese Entwicklung unserer überstürzten
Steuergesetzgebung noch nicht abgeschlossen, es muß noch toller kommen,
bis sich alle direkten Abgaben geradezu überschlagen und mehr Erhebungsarbeit
verursachen, als sie einbringen. Die einzige vernünftige Steuer ist
heute der Lohnabzug und die Umsatzsteuer. –
Fast alle Bahnen sind jetzt im Rheinland außer Betrieb.
Auf den Gleisen versucht die „Regie“ eine Art Eisenbahnbetrieb zu machen,
der aber über einige wenige langsam fahrende Personenzüge, die
ohnehin noch oft genug verunglücken, nicht hinauskommt. Seit 14 Tagen
hat sich auf dem Bonner Güterbahnhof, der schlimm aussieht (überall
hausen Marokkaner, Neger und andere Schutzgebietstruppler) eine Güterannahme
unter einem „Inspektor Bal“ etabliert, ob mit irgendwelchem Erfolg, weiß
ich nicht. Seit Monaten befördern wir alle Waren auf Lastkraftwagen.
Für diese verlangen die Franzosen jetzt auch eine besondere, bei ihnen
nachzusuchende und zu bezahlende Ausweise, deren Bezug deutscherseits verboten
und erst ganz neuerdings für „lebenswichtige“ Waren gestattet wird.
Es herrscht daher zur Zeit eine gewisse Stockung in der Abfuhr der Mühlengasse
nach dem französisch besetzten Gebiet, während nach Dortmund
und ins unbesetzte sich immer noch Transporte ermöglichen ließen.
Wie lange diese wahnsinnigen und auf die Dauer völlig zerstörend
wirkenden Wirrnisse und Bedrängnisse noch anhalten sollen, läßt
sich gar nicht übersehen. Es stehen uns noch schlimmer Zeiten bevor.
In Bonn, wo es lange Zeit recht ruhig war, hat man in rigoroser Weise Eisenbahn-
und andere Beamte ausgewiesen, Oberbürgermeister und Beigeordnete
ins Gefängnis gesetzt und verurteilt, eines Samstags 180 Beamte und
andere ..?.. mit Stundenfrist aus den Wohnungen vertrieben, so daß
an 800 Leute plötzlich in Schulen u.s.w. untergebracht werden mußten
u.s.w. Wir sollen systematisch so mürbe gemacht werden, daß
wir schließlich eine Lösung irgendeiner Art, etwa einen Rhein
- Saar - (oder Ruhrstaat) als Erlösung begrüßen. Wer weiß
was noch wird. Am tollsten geht es in Trier zu. In Bernkastel ist außer
Landrat Nasse und Kollegen Winckler und Reinecke nun auch RA Schönberg
Ende April ausgewiesen worden. In Trarbach sitzen Gescher und viele angesehene
Leute wegen Teilnahme an einem Demonstrationszug im Gefängnis und
so geht es fort ohne Ende. In Essen sind auf eine Schießerei der
Franzosen bei Krupp, wobei viele deutsche wehrlose Arbeiter getötet
wurden, die führenden Personen, darunter Krupp von Bohlen und Halbach
„verurteilt“ worden wegen Gefährdung der Sicherheit der Besatzungstruppen.
Krupp zu 15 Jahren! Dies wirkt sogar im Ausland. – Dieses Thema ist so
fürchterlich und unerschöpflich, daß eine Reaktion in den
nächsten Jahrzehnten nicht ausbleiben kann und was bis dahin und dann
kommen wird, mag der Teufel wissen, der jedenfalls seine Freude daran haben
wird.
Auf einer kürzlich stattgehabten Versteigerung, die
hauptsächlich für überzählig erachtete Bilder des 19.
Jahrhunderts aus dem Richard Walraf Museum brachte (Dr. Secker erlöste
für seine Abteilung 219 Millionen und Proenen kaufte nach allgemeinem
Stadtgespräch für 120 - 150 Millionen Bilder), kaufte mir Cohen
auf seinen Namen ein kleines Ölbild, Kircheninneres von Morgenstern,
einem Vorfahren, ich glaube dem Urgroßvater des Dichters Christian
M. Das Bildchen hatte mir neben einem Claas Heda und einer angeblichen
Rubensskizze (diese zu teuer!) allein bei einer
Seite 116
flüchtigen Durchsicht aus dem ganzen Wust am besten gefallen,
ich hatte mir die Nummer notiert und unabhängig hiervon, aber keineswegs
zufällig machte bald darauf Cohen mich auf das gleiche Bild aufmerksam.
Er hoffte es für 1 Million zu erwerben, es kostete aber 1,8, mit Aufgeld
2,070 000 M. Er nahm es gleich mit nach Düsseldorf, wo Spinrath es
reinigt und Cohen versuchen wird, einen guten passenden Rahmen darum zu
besorgen. Es wird gut zu meinem Steenwyk und Hergenröder passen. Cohen
meinte, nun fehle nur noch ein größerer Seekatz oder ähnlicher
deutscher Meister. – Onkel DB regt sich über den Bilderankauf von
Proenen auf und bezeichnet ihn als Protz. Ich werde noch nicht ganz klug
daraus, jedenfalls ist mir Pr. zu schlau, um nicht seine öffentliche
Handlungsweise zu überdenken. Vielleicht gedenkt er an der Bilanz
noch rechte Summen zu verausgaben, vielleicht „zur Ausschmückung seiner
Beamtenwohnungen“, auf Unkosten selbstredend. ––
Sonntag, 15. Juli 1923. Nachdem wir fast 1 ½ Jahre
(muß offensichtlich Monate heißen) ununterbrochenen Regen und
einen frierend kalten Frühsommer hinter uns haben, hat sich seit 2
Wochen bei sonnigem Himmel allmählich eine Tropenhitze entwickelt,
die morgens schon mit 23°C beginnt und mittags über 32°C im
Schatten klettert. Montag vor 8 Tagen, am 2. Juli, fuhren Otto und ich
trotz bereits von den Franzosen proklamierter Sperre frühmorgens nach
Elberfeld, liefen dort herum, und saßen schließlich bei Dr.
Peters & Co und Werners Schwager Assessor Sperling auf der Kleinhandelsaußenstelle,
telefonierten nach allen Seiten, erhielten durch Sperling Lagermöglichkeit
im Zollgebäude am Bahnhof Steinbeck (ein Waggon Maschinengarn der
Thüringer Wollspinnerei war schon da) und durch Johann Ludwig Stripp
(peper pepperit pecuniam!) weitere Einlagerungsmöglichkeit bei der
Manufaktur Großhandlung Fr. Seyd & Söhne, Hofaue. Der Neubau
v. Baum hatte uns abgelehnt, ebenso allerlei andere Firmen, die zwar Raum,
aber noch mehr Angst vor F W Brügelmann Söhne hatten und in der
„Lagerung“ den Anfang eines Verkaufs und somit einer gefährlichen
Konkurrenz dieses Hauses sahen, falls es nach mehr als hundertjähriger
Abwesenheit wieder in seine Wuppertalheimat zurückkehren sollte.
Da selbigen Abends die Grenze dicht geschlossen werden
sollte zwischen be- und unbesetztem Gebiet, Otto aber unter allen Umständen
zu Frau und Kindern nach Rottach - Tegernsee wollte, so erkundigte er sich
allenthalben und entwarf Pläne zu einem (militärisch!) gesicherten
Grenzdurchbruch mit seinem Wagen. – Frau Horn aus Braunschweig, die von
Meran kam und 14 Tage bei uns zu Besuch war, hatte sich auch nicht Sonntag
1.7. zeitig zur Ausreise entschließen können, zibbelte Montag
gleichfalls noch unentschlossen herum und begann Dienstag und Mittwoch
eine Belagerung des Kölner englischen Paßamt, wo es ihr gelang,
schließlich mit Hülfe eines englischen Briefes, den sie mitführte,
den berühmten roten Querstrich über ihren Geleitschein zu bekommen,
mit dem sie Donnerstag den 5. morgens 1040 abdampfte und beide Sperren
in Vohwinkel und Elberfeld und in Hengstei hinter Hagen glücklich
passierte. Inzwischen hatte Willi bereits von Kirchmöser Heinz zu
ihr nach Braunschweig gebracht, wo er auch heute noch ist. – Otto hingegen
hatte am Dienstag durch seinen tüchtigen Wagenführer Vernhagen
per Rad die „Grenze“ im Bergischen Land abstreifen und eine Stelle feststellen
Seite 118
lassen, wo er folgenden Tags durchzubrechen gedachte. In der Nacht
vom 4. - 5. Juli fuhr er los, hatte dort einen lokalen Führer mit,
vorsichtig an der kritischen Stelle vorher rekognosziert, dann durch Hohlweg
selbst über trockenes Feld den Wagen über die bewachten Straßen
hinausgebracht und fuhr auf bequemer Straße im ersten Morgenlich
auf Marienheide Gimborn zu, als bei langsamer Fahrt plötzlich aus
dem Gebüsch eine Patrouille vorspringt, mit Gewehr im Anschlag vor
dem Wagen steht und Hände hoch und aussteigen! Der Übergang vom
Gefühl der Sicherheit und des Wohlbehagens nach all den nächtlichen
Abenteuern zu diesem gänzlich unerwarteten Reinfall am Frühmorgen
beschrieb uns Otto sehr eindringlich kürzlich in Frankfurt. Er wurde
gut behandelt, alles fuhr zusammen nach Gimborn, Otto redete ununterbrochen
französisch, er war frei, man gab ihm sogar mit roter Tinte geschriebenen
Passierschein, ins unbesetzte Gebiet über Ründeroth zu fahren,
ja man gab ihm sogar unbedachterweise einen unbewaffneten Sergeanten mit
nach Bahnhof Osberghausen, wo er sein Gepäck aufgeben konnte und wo
er, einmal im unbesetzten Gebiet, den Franzosen im Wagen beliebig hätte
mitnehmen können, er tat dies wohlweislich nicht, weil man in Gimborn
beim Brigadier seine Personalien festgestellt hat. Der Wagen aber blieb
beschlagnahmt, er fuhr darin mit Bedeckung zur Ablieferung nach Düsseldorf
und erreichte, daß man ihm über Wagen und Zubehör einen
Requisitionsschein ausstellte. Damit war der schöne Wagen futsch.
Otto hatte bereits morgens früh nach Köln telefoniert, Kerschgen
mit dem Rest der Papiere zur Mühlengasse geschickt und war selbst
nachmittags über Ründeroth herausgefahren. Eine kurze Karte mit
stichwortlichen Bitten kam an mich. Kerschgen besorgte selbigen Tages flüchtige
Taxe des beschlagnahmten Wagens auf 350 000 000, neuer sollte 470 kosten.
Ich verhandelte am 6. morgens bereits auf der Regierung mit einem zuvorkommenden
Assessor Dr. Moelle und erreichte im Prinzip, daß 80 % des Verkaufswertes
sofort ausgezahlt werden sollten. Nachmittags wurde mit Hülfe der
Adler-Verkaufsstelle, G. Bleihsen Köln, das Gutachten in richtige
Form gebracht. (470 alter, 520 Millionen neuer Wagen) und Samstag vormittag
wurden die Verhandlungen auf der Regierung zum Abschluß gebracht.
Leider erst 12 ¼, also ¼ Stunde nach Kassenschluß,
so daß ich selbigen Tags die 400 ausgehandelten Millionen nicht mehr
erheben konnte. Otto teilte ich ab Köln das erfreuliche Ereignis
per Draht mit und sandte ihm Samstag mittags ab Bonn längeren Brief
mit Darstellung und Honorarandeutung. Samstag nachmittag waren die Kinder
von Frings nach Ippendorf eingeladen und so machten Helene und ich uns
einen vergnügten Nachmittag und Abend in Plittersdorf bei Dreesen,
wo wir herrlich luftig im Garten am strahlenden Rhein bei Kaffee, Wein
und kaltem Abendessen saßen. (Kostete mit Fahrt 113 000 Mark). Daß
wir damit unseren Hochzeitstag (vor 13 Jahren) gefeiert hatten, fiel uns
erst später ein. Für die nächste Woche war nämlich
schon wichtige Geschäftsreise nach Frankfurt vorgesehen, Onkel Dietrich
und ich erhielten Montag hierfür die nötigen Ausreisegenehmigungen,
ich blieb Montagabend der großen Hitze halber in Köln, – die
Rückfahrt auf der Rheinuferbahn
Seite 120
am Spätnachmittag ist nämlich eine Qual, öfter giebts
2 - 3 Ohnmächtige! – und fuhr Dienstag morgens mit DB auf meinen Vorschlag
mit Christian im grauen Geschäftswagen nach Bonn (dieser hat nämlich
für Bezirk Köln und Koblenz den erforderlichen Franzosenschein,
während sämtliche anderen Personenwagen zur Zeit auf die blaue
englisch besetzte Zone beschränkt sind und gerade noch nach Altenberg
aber z. B. nicht nach Zons oder Mönchengladbach fahren können).
Es war aber am dortigen französischen Zollamt für eine Auto-Ausfahrtgenehmigung
nichts zu erreichen, vor dem 16. – der voraussichtlichen Aufhebung der
Grenzsperre gegen das unbesetzte Gebiet giebt es keine solche Genehmigung,
auch nicht gegen Sicherstellung der Exportgebühren ect. Wir fuhren
bei Helene und Papa vor, dieser hatte geschwollene Füße, Helene
gab mir fertig gepackt kleinen Handkoffer mit und nun fuhren wir nach Köln,
besuchten aber vor der Stadt auf dem Nordfriedhof Mamas Grab, das gut in
Ordnung war. Der Stein gefiel ihm (Onkel Dietrich) gut, er will sich ähnlichen
machen lassen. – Wir fuhren in Köln gleich am Hauptbahnhof vor, erkundigten
die Züge, nahmen 2 Fahrkarten I. (456 000 M!) bis Frankfurt zusammen
und entschlossen uns 621 zu fahren. Nachts ½ 3 kamen wir endlich
in Frankfurt an, stiegen Hessischer Hof ab und stiegen gleich ins Bad.
Die 1. Nacht wurden wir schön gerupft: 240 000 M für jedes Zimmer
je mit Bad! Wir schliefen lang, frühstückten spät und gingen
10 Uhr zur Diskontbank, wo ein Direktor Wiss, Bruder des Schwiegervaters
Kayser in Griesheim, uns günstige Auskunft über Edmund Ganz,
Inhaber der Firma Gebrüder Hamburg gab, 11 Uhr in dessen Geschäftshaus
Neckarstraße 15, modern gebautes 4stöckiges, innen Galeriebau,
reines Kurzwaren-Engrosgeschäft, im Warenbestand geradezu „ausgebrannt“.
Verhandlung mit dem persönlich angenehmen, redseligen und innerlich
anscheinend sehr demütigen Ganz sen. der auch mir von Berliner Verhandlungen
her bekannt war. Irre ich nicht, so war er mit Papst, Böhmer, Cordes,
Arth., Königs ect. 1920 im Juli mit im Lunapark, wo wir bei Bowle
meinen „Amtsgerichtsrat“ feierten. Onkel Dietrich ging bei der ersten Verhandlung
mit Vater und Sohn (dieser mit christlicher Remscheiderin verheiratet,
hat 2 christliche Kinder, darunter einen 1 ½ jährigen Helmut)
und versuchte Haus ohne Sohn zu bekommen. Dies nicht möglich. Wir
besahen Haus, von oben bis unten, gut und schön, treffliche Lage,
vorzüglicher Aufzug, leider enges, nicht ausdehnungsfähiges Grundstück.
Vor Tisch besprachen DB und ich uns, waren uns bald klar: Sohn als Prokurist
unserer neuzubgründenden Filiale, Beteiligung des Vaters und seiner
Erben am Umsatz. In dieser Form mittags mit beiden Herren im Ratskeller
verhandelt bei reichlichem Essen, Rotspohn und Mineralwasser. Dann zum
Hotel (erst meinte Onkel Dietrich, ich könnte schon anderen morgens
allein nach Köln zurück, mich mit Werner besprechen, und dann
Abschluß telefonieren), dort gebadet, währenddessen traf Otto
ein; ich hatte vorher schon begonnen, unseren 1. Vertragsentwurf schriftlich
festzulegen. Von Otto und Freund Bruhns hatte ich morgens schon Briefe
empfangen: Otto ging auf Honorarwink bereitwillig ein und bot die Annauer
Gußstahl-Aktie an, die s. Zt. auf meine Veranlassung gekauft, 2,5
Millionen gekostet, jetzt aber 11 stand. Ich nahm dankbar an und verriet
ihm auch, daß 2 % genügt hätten. Er meinte, ich könnte
Differenz herausgeben! – – Bruhns hoffte mich morgen vormittag zu sehen.
– Otto nahm gleichfalls Bad, dann
Seite 122
Tee mit Gebäck auf Zimmer bestellt, 4. Stock, Ecke Kaiserstraße,
luftiger Balkon mit weiter Sicht auf Bahnhofsplatz und umliegende Straßen.
Saßen im Hemd, Himmel stählern heiß. Otto war 12 von München
gefahren, verabredete sich zum Abendessen per Telefon mit Frankfurter Freund.
Spät gingen wir beisammen nochmal durch die Neckarstraße (Otto
zum erstenmal!) besahen wir Haus von außen. Am Fenster erschienen
bald die Köpfe von beiden Ganz, wir hinein und abermalige Besprechung,
wiewohl die nächste erst für nächsten Morgen 11 Uhr ausgemacht,
beide mit Rechtsbeistand. Onkel Dietrich hatte morgens schon mit dem großziffrigen
Tageszettel geriert, den er mit Bemerkungen von Werner für Otto mithatte.
Otto nochmals Haus besehen, DB auch in Hausmeisterwohnung. Spät weg,
Aussicht auf Vertrag ziemlich sicher. Vater Ganz verlangt außer Minimumsicherung,
insbesondere noch ¼ % Umsatz für Sohn neben Prokuristengehalt.
Daneben geredet. Ich aß mit Onkel Dietrich in ziemlich schwüler
Bedrängnis in Kaiserhalle, ein angenehmer Kellner, der sich als geborener
Berliner (in Dresden wohnhaft) entpuppte, führte recht angenehme Unterhaltung
über alte militärische Verhältnisse in Köln, wo er
auch gedient hatte, Krieg, Kaiser und dessen Untüchtigkeit und Fähigkeit
und verhängnisvollen Einfluß auf Kriegführung der ersten
Jahre ect. . . Traurige Erinnerungen, noch traurigere Auswirkung in der
Gegenwart!! ––
Der Sohn Ganz, Ernst G. hatte mir mittags, als er merkte,
daß ich sein leicht hinkendes rechtes Bein bemerkte, erzählt,
er habe in Mainz 1913 gedient, sei in der Marneschlacht mit Oberschenkelschuß
liegen geblieben, von Franzosen bei weiterer Bewegung gleichfalls liegen
gelassen, vom treuen Kameraden auf einer Maschinengewehrprotz abgeschleppt
und erst 13 Tage nach der Verwundung in ärztliche Behandlung gekommen:
Folge: 4 ½ cm Verkürzung des rechten Beines. Nach dem Kriege
nachträglich zu Leutnant ernannt. – Onkel Dietrich rief im Keller
Köln an, Werner aber war zu Walter aus. Gegen Mitternacht nach Bad
zu Bett, Otto erschien bald, fands schrecklich heiß, wir bestellten
noch eine Karaffe Bier und lasen Zeitungen. Schliefen fest in den Morgen
hinein. Otto zeitig auf, wollte schon 7 Uhr zu Adler-Werken, sich neuen
Wagen zu sichern, in denen allenthalben, namentlich aber in München
und Frankfurt schreckliche Hausse herrschte. (Für einen greifbaren
Wagen verlangte man ihm anderen Tags 720 Millionen ab, Mercedes kostet
bis 1 - 1 ½ Milliarde!)
DB hatte früh Anruf Werner, der mit allem einverstanden,
mir Basalt zu 8,4 Million und 2 Dolerit Basalt zu 4 Millionen gekauft hatte.
Je 5 Stück, da sonst nichts zu haben. (Vergleiche Seite 128!)
Ich frühstückte später mit Onkel Dietrich
im Hotel. Vorher einige Besorgungen, auch Haar- und Bartschneiden in benachbarter
Straße, gegen 10 ½ erschien Bruhns, begrüßte uns
herzlich, wir verabredeten uns auf alle Fälle 7 - 7 ½ im Hotel,
wenn möglich käme ich nachmittags in seine Wohnung, (daraus wurde
nichts!). Mit DB und Bruhns in Stadt, bald verabschiedet, dann zur Neckarstraße,
wo auch Otto bald eintraf, Verhandlung mit beiden Herren Ganz und deren
recht dämlichen Rechtsanwalt „Professor“ Sänger, der sich sehr
theoretisch gebärdete und die Hauptfrage, als „kommerzielle“ seinem
Klienten überließ. Der junge Ganz saß stumm, der alte
recht zittrig dabei und dämpfte seinen eigenen Rechtsbeistand und
dieser dämpfte ihn seinerseits später wieder. Es wurde bald Einigkeit
erzielt, ich zog mein fertiges „Sprüchlein“ aus der inneren Rocktasche,
beide Parteien verhandelten noch mal getrennt, dann vereint, ich beurkundete
mit Tintenstift und Durchschlagpapier den Vertrag in 2 Stücken, gegen
2 ¼ waren wir fertig, wobei einige Zigarren,
Seite 124
die mehr als hundertjährige Firma Gebr. Ganz (in dieser Form wenigstens,
in Mainz existiert sie bei Verwandten nochmals) und die Nutzung des schönen
Geschäftshauses auf 30 Jahre zum Opfer gefallen waren gegen ½
% für Ganz sen. und Erben, minimal garantiert mit Gehalt der Klasse
XIII der Staatsbeamten. (Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident)
und 1 0/00 Umsatz für Ganz jr. als Prokurist, minimal garantiert
mit dem höchsten Prokuristengehalt Köln oder Frankfurt, auch
für 5 Jahre nach eventuellem Austritt!! Die Gegenseite hätte
mehr erzielen können und auch erzielt, wir wären äußerstenfalls
auch auf 1/1 % vom Umsatz gegangen. Otto hatte wieder anderweitige Verabredung.
(Vor der Unterschrift hatten DB ihnen nochmals eindringlich zu bedenken
gegeben, was sie alles aufgäben, er warnte vor der Unterschrift, falls
daraus für die Zukunft mangelnde innere Befriedigung zu erwarten sei,
damit war die „moralische“ Verantwortung, von der wir uns innerlich nicht
ganz frei fühlten, äußerlich geschickt umgeleitet.) Im
Hahn aßen Vater und Sohn Ganz mit uns auf Terrasse zu Mittag, und
zwar im Restaurant Hahn in den Anlagen am Theater. Warm, doch luftig dort.
Tranken erst Schnaps und eisgekühltes Bier, dann Rotwein mit Mineralwasser.
Ganz sen. zählte uns seine 34 Ehrenämter auf, auch Stuhlmeister
einer Loge „zur aufgehenden Morgenröte“. Wir äußerten den
Wunsch, die Damen kennen zu lernen; ich schlug, um nicht den Abend mit
Bruhns zu verderben, Tee vor, was auch Ganzens besser paßte, das
sie abreisefertig für Sommerfrische in Rottach Tegernsee waren. Das
Essen ging auf Geschäftsspesen unserer neuen Filiale. Nachdem Vater
und Sohn weg waren, tranken DB und ich noch eine Tasse Kaffee auf den Erfolg.
Nachmittags wieder zum Geschäftshaus Neckarstraße 15. „Hausmeister“
= Bahnangestellter, nicht Beamter, der oben prächtige Wohnung innehat,
bestellt und lang und freundlich mit ihm verhandelt. Er wird wohl unser
Angestellter und Kraftwagenfahrer werden. Otto kam, Personal antreten lassen:
Ganz sen, DB übernahm. 7 St. alles schriftlich. Es wurde reichlich
spät, wir nahmen Autodroschke zur Privatwohnung ....holweg, wo Otto
als Bankgarçon gewohnt hatte. Dort Empfang durch Damen, alle von
feiner jüdischer Rasse, machten vornehmen Eindruck, Tochter (in Hoffnung?)
klein und energisches Persönchen, die anscheinend als einzige einige
Willensstärke in der Familie verkörpert. Sohn blieb im Geschäft.
Empfang Salon, Tee mit belegten Brötchen, Gebäck und Himbeertorte
in geräumigem Speisezimmer, Erholung von Hitze auf Balkon. Auf mein
Drängen Abmarsch nach 7 Uhr. Ich hatte schon bestellten Tisch im Hahn,
da die erwarteten Hills aus New York von Baden Baden noch nicht angekommen
waren, im Restaurant Hahn abbestellen müssen; sobald wir im Hessischen
Hof ankamen, waren sie natürlich da, und ich lernte Fritz Hill, deutsch
aussehend klein, mit blondem leichtem Vollbart, in der Stimme an Carl Hill
erinnernd, zwischen Tür und Angel in Hose und Hemd erstmals kennen.
Wir gingen auf Zimmer und wimmelten in Hemd und Unterhose, Bad, Otto in
Badetuch herum, als Freund Bruhns kam, Otto vorgestellt und von DB sofort
zum Bad eingeladen wurde, welche Einladung er annahm und sofort ausführte.
Zwischenzeit mit Aufnotierung einer großen Reihe
Seite 126
von Punkten ausgefüllt. Dann verschwand ich mit Freund Bruhns,
wir gingen zum Theater Restaurant Faust und saßen bei gutem Essen
und trefflichem wunderbarem Bier bis nach Mitternacht an kleinem Gartenbrunnen
zusammen und unterhielten uns als gute Freunde aufs Beste. Währenddem
feierten die anderen mit Fritz und Adele Hill bei Hahn Otto und seines
Jan’s Doppelgeburtstag, auch nachträglich 38jährl. Hochzeitstag
von Onkel Dietrich mit Abendessen, 2 Flaschen Wein und 2 Flaschen Sekt,
was ihnen angeblich 900 000 M kostete, während unser Abendessen in
allem 230 000 kostete, wobei wir wahrlich nichts sparten. Wir trennten
uns spät, nachdem wir noch Bruhns Hypothekenkündigung genau besprochen
hatten. Bruhns wird vermutlich Frau und Kindern nachfolgen und die Sommerfrische
in Estland bei den alten Eltern verbringen. Alle unser beiderseitiges Leben
berührende wichtige Fragen besprachen wir offen und eingehend und
trafen auf gemeinsame Erfahrung in dem Punkte zusammen, daß man Gefahr
läuft, verachtet zu werden, wenn man nicht darauf besteht, nach seiner
Leistung angesehen, bezahlt und in Stellung gebracht zu werden. Er hat
jetzt Lehrauftrag, trennt sich ungern von Frankfurt und hat Aussicht auf
Extraordinariat in Leipzig, wo sich sein Freund Pindar um ihn bemüht.
Als ich heimkam, war Otto mit Nachtzug nach München
zurück, mit DB noch kurz unterhalten, dann erst nicht geschlafen ob
all des Autolärms und des hellen Gelichters auf dem Bahnhofsplatz.
Schloß daher trotz der Hitze die Balkontür und Läden, bald
gut und fest geschlafen, 5 Uhr alles geöffnet, 6 Uhr mit DB aufgestanden,
½ 7 gefrühstückt. 721 auf Münchner D-Zug, alter bairischer
Wagen, grünes Samtpolster. Heißer Tag. Abteil allein, über
Oberhessen, Dillkreis, Siegen, Sauerland: Werdohl, Altena, Hagen zurück.
Paßrevision schlank. Im Speisewagen mäßig zu Mittag gegessen.
In Elberfeld stieg ich 2 ½ Uhr ca allein aus, Glühhitze dort,
zum Steinbecker Bahnhof, da dort sich Patrouille gezeigt (in Barmen hatte
die Besatzung einen Vorstoß hinein gemacht) so waren die Wollballen
nach Fa. Seyd & Söhne abgerollt worden, wo Joachim Seyd davon
noch nichts wußte, sie aber schon friedlich im Souterrain lagen.
Von Steinbeck nach Fichtenstraße, von dort zum Postamt (Depesche
an Hill in Dresden wegen Paßvisum) darnach Hofaue und Bahnhof in
glühender Hitze machten mich kaput. Tasse Kaffee Bahnhof, vorher Schokolade
für Kinder (Strohhut für 350 000 war mir zu teuer) gekauft. Bummelzug
Vohwinkel, Remscheid, ab dort Eilzug. 6 ½ Mühlengasse, wo DB
frisch großen Vortrag hielt, ich mit Werner im Geschäftswagen
bald ab, Münze, Bad, Butterbrot zu Bett. Geruht. Zerschlagen. Abends
gut mit Onkel Dietrich und Tante Emma gegessen, dann Bowle im Garten mit
Tante Maria, Werner und Erna, dabei des fernen Will’s gedacht, der fern
im Ötztal schwitzt und von der ganze fertigen neuen Filiale in Frankfurt
noch nichts ahnt!! Feste an der köstlichen eisgekühlten sektreichen
Bowle gesogen. Tante Maria heimbegleitet. 12 ½ Bad, Bett, fest geschlafen
bis ½ 8. Frühstück. Firma im Wagen, luftig. Hitze. Vertrag
von Langenhofer (?): Unterbrechung Kriminalfall gegen Frl. Schmitz Kleiderstofflager.
Papst heraus. Papst soll Dienstag nach Frankfurt, alles Verabredete organisieren
ect..... Ich 11 Uhr heraus und heim. Hier in Ruhe ausgeruht und mich müde
geschrieben! – – –
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22. Juli 1923. Bekenntnisse einer schönen Seele. Vor einiger Zeit
hatte Vetter Otto, mit dem ich ein wenig näher gekommen bin, mir die
Äußerung gemacht: „Ich verstehe nicht, du bist doch sonst ein
so kluger Mensch, daß du nichts in Papieren machst und dir damit
dein Vermögen wiederbeschaffst, was du verloren hast.“ Ich hatte ihm
nämlich erzählt, daß mein ca 30 Mille in Goldmark betragendes
Barvermögen so gut wie ganz und gar verschwunden sei. Dies Wort ging
mir im Kopf herum, Dr. Conrad, Leistners Schwiegersohn, der unter Direktor
Wolf bei der Deutschen Bank arbeitet und mir schon oft vorsichtige Andeutungen
über Effektenkauf gemacht hatte, fuhr kurz darauf mit mir III in Rheinuferbahn
und verriet mir einen Tipp, der angeblich an der Börse noch
nicht bekannt sei: Annener Gußstahl solle in absehbarer Zeit junge
Aktien, sogar 4 auf 1 alte ausgeben. Er empfahl Anschaffung. Ich teilte
dies sofort Otto mit und wir kauften jeder einen, kostete je ca 2,5 Millionen,
die Summe zahlte ich ihm bald darauf aus meiner Tantiem. Inzwischen ist
die Voraussage Conrads, daß sie auf 10 Millionen steigen würde,
eingetroffen, Otto verehrte mir das II. Stück als Honorar für
seine Autoersatzbeschaffung und ich gewann Geschmack an der Sache. Conrad,
dessen Schwägerin Lorchen hier zu Besuch war und mit dem ich daher
mehrmals zusammenkam, empfahl mir weiter Grauwacke und Basalt, sog. „unnotierter
Wert“ an der Kölner Börse. 20 Millionen Kapital, Werk liege bei
Neuwied und habe durch Silverberg Auftrag zur Auffüllung des Braunkohlehafens
in Wesseling. Das Papier werde daher stark steigen, zumal Neuausgabe an
Aktien auch zu erwarten sei. Ich bestellte bei Stein 3 Stück, es wurde
von dort angeregt, 5 zu bestellen, ich tat dies aber nicht. Werner, mit
dem ich selbigen Morgens darüber sprach, animierte mich, doch gleich
5 zu kaufen, ich würde doch größeres Einkommen haben und
könne es bald decken. Ich verbesserte also die Bestellung bei J. H.
Stein auf 5 Stück Grauwacke und Basalt und bekam sie selbigen Tags
(9. Juli?). Leider habe ich die Abrechnung infolge der danach überstürzenden
Ereignisse erst am 18. Juli zu Gesicht bekommen, als die große Pressung
von Onkel Dietrich begann. Kurz vor der Abreise nach Frankfurt traf ich
Conrad wieder morgens an der Rheinuferbahn und er empfahl mir dringend,
wenigstens 1 Linzer Basalt (es sei ein reines Guldenpapier!) und etwa 2
- 3 Dolerit und Grauwacke zu kaufen. In beiden sei große Steigerung
zu erwarten. Ich gab Dienstag Werner den Auftrag, mir 1 Basalt und 2 Dolerit
zu kaufen. Wir fuhren nachmittags nach Frankfurt. Dorthin telefonierte
Werner Donnerstag morgen, daß Papiere, allerdings teuer, gekauft
seien, er habe 5 Linzer Basalt und 5 Dolerit genommen. Nachdem Otto und
DB mir über ein für J. H. Stein zu errichtendes Conto einige
Andeutungen gemacht hatte, wollte ich nach Rückkehr von Frankfurt
am Mittwoch 18. mit Werner die Papiere auseinanderrechnen. Mittlerweile
hatte sich Onkel Dietrich der Sache bemächtigt und begann eine lange
Rechnung mit vielen Ermahnungen und Pressungen u.s.w. Ich hörte alles
geduldig, ohne ein Wort der Erwiderung an, es waren insgesamt 40 Millionen,
bestand aber darauf, die für mich gekauften Papiere für mich
zu behalten. Ich hatte gerade zuvor nochmals 70 Millionen für Ottos
Auto geholt, schrieb ihm dieserhalb und bat ihn, da Onkel Dietrich so drücke,
später meine Interessen wahrzunehmen und mit dem Verkauf der beiden
Annener vorsichtig zu sein, an die ich als Deckung gedacht hatte. Beim
Mittagstisch an der Münze ging alles gut, nachmittags aber fing Onkel
Dietrich nochmals davon in der Mühlengasse an und rief auch Werner
dazu. Ich spielte abermals den hartnäckig Stummen, gab aber nichts
nach, daß ich etwa die Papiere verkaufen ect. wollte. Papst sollte
1 der zuviel gekauften Linzer zu 8,6 Millionen bekommen, die er bar bezahlte.
Folgenden Morgens, Donnerstag 19., fing Onkel Dietrich die Pressung nochmals
im großen an, spielte den Zornwütigen bei der Berechnung, holte
die Briefe und fackelte mit seiner neuen, auf den 1. Juli (statt 10. Juni)
verlegten Bilanz herum und machte mir klar, daß ich im Juni meine
Bezüge um 4,4 Millionen überzogen habe, die er jetzt schon durch
den neuen Bilanzabschluß abgebucht habe, für die ihm aber Deckung
fehle u.s.w. Schließlich wollte er von mir die Summe in bar haben,
auf Unkosten verbuchen und ins schwarze Pöttchen legen. Mir wurde
das ganze Gerede zu dumm, ich zog mir auf Juli, auf den ich erst 4 Millionen
entnommen (und der mir mindesten 15 bringen mußte) 8 Millionen heraus,
legte 4,4 Millionen in Umschlag als „Regulierung Juni“ und weitere 5,0
in anderen Umschlag als „Abzahlung auf Papiere“. Ich hatte nämlich
noch 3 Millionen aus Tantiem liegen. So habe ich 2 - 2 ½ über
für den Monatsrest - Unterhalt. Hiermit nicht genug, fängt selbigen
Nachmittag Onkel Dietrich die Sache
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nochmal an, ich könnte es so nicht machen, habe nichts für
Monatsende zu leben, müsse an Revision im August denken u.s.w. Ich
wurde siedendheiß, die Wut kochte in mir auf, wäre Tante Maria
nicht dazwischen gekommen, ich hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen.
Ich nahm mir vor, keinen Pfennig zurückzunehmen und fuhr 5 Uhr nach
Hause. Helene war mit Obsteinmachen (solches war in Menge auf Roisdorfer
Wolfsburg geholt worden) überbeschäftigt, ich war fast übel,
vor Aufregung, schlief nachts nicht, bekam Erbrechungsanfälle und
blieb folgenden Tages zu Bett liegen mit rasenden Kopfschmerzen. Helene
besprach sich morgens mit Werner, und erinnerte auch an 25 Pfd. Zucker,
wo er unsicher wurde. – Man hatte mir nämlich aus einer Zuckerverteilung
ein ½ Zentner zugesprochen, ich hatte Donnerstag 25 Pfd. davon mitgenommen
und jetzt suchte man mir die restlichen 25 Pfd. abzuknappsen. Helene schrieb
Dankbrief und bedauerte, den Rest von 25 Pfd. noch nicht zu haben, mit
dem sie gerechnet habe. Ich stand erst Abends ein wenig auf und aß
wenig Tee und geröstetes Brot, den ganzen Tag hatte ich gefastet.
Samstag morgen war Wäschekorb mit nach Köln zu nehmen und ich
machte mich auf und fuhr ½ 9 dorthin. Machte meine Sachen und Werner
und Onkel Dietrich waren erstaunt, mich schon anzutreffen. Ich krümmte
mich vor Kolikanfällen und konnte nicht nach unten kommen. Zur Aussprache
kam es nicht, ich bot auch keine Hand dazu.
Helene erzählte die Sache Papa, der sagt: „Lehr mich
nicht den Dietrich kennen!“ Er ist bereit mit Mitteln einzuspringen, auch
seinen Bankkredit dafür anzuspannen; mir ist es angenehm zu wissen,
ich gedenke jetzt anders vorzugehen.
Und die Moral von der Geschichte:
Ich hatte bei der Bilanz 1922 Auseinandersetzungen mit
DB über Tantiem, die damit endeten, daß ich Konto H. und N.Y.
mit einigen 600 Dollar beteiligt wurde und 200 000 M annahm, von denen
mir Onkel Dietrich sofort 100 000 M wieder „als Kapitalanlage“ abnahm.
Diese Einlage stellte damals nur 333 Dollar dar, heute dagegen 1/3 Dollar.
Nach heutigem Dollarkurs würde diese Summe rund 100 Millionen in heutiger
Papiermark darstellen. Ich habe bei Bekanntgabe der diesjährigen Tantiem
mit 20 M alsbald DB und OB erklärt, bei derselben fortschreitenden
Progession würde ich im nächsten Jahr ca 120 m Nessel herauszugeben
haben, denn 1921 konnte ich 6 000 m Nessel, 1922 4000, und jetzt noch keine
2000 m Nessel für mein Tantiem kaufen. Auch habe ich das Einlagekapital
mit 333 Dollar völlig verloren. OB hatte sogar den traurigen Mut,
mir von Substanzverlust der Firma vorreden zu wollen. Selbstredend geht
mein Sinnen und Trachten dahin, diesen Verlust wieder hereinzuholen und
ich halte mich rechtlich und moralisch für durchaus berechtigt, hierzu
die Firma in Anspruch zu nehmen. Rechtlich ist das Problem der Aufwertung
früherer Forderungen durchaus im Flusse, so daß ernstlich erwogen
werden kann, ob ein Rechtsstreit hierüber nicht vollen Erfolg hätte,
zumal DB mir stets von Quasie-Teilhaberschaft vorgeredet hat und ich selbst
meine volle Kraft nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Vermehrung
der Firmensubstanz eingesetzt habe und keineswegs ohne Erfolg. Moralisch
besteht der Anspruch erst recht: Denn bei jener Erhaltung und Vergrößerung
habe ich keinen Auggenblick je gezögert, mich jedweder Mittel, auch
solcher zu bedienen, die mir selbst keineswegs stets angenehm erschienen,
moralische Bedenken habe ich, soweit es die Firma und deren Vorteil anging,
ohne viel Federlesens bei Seite gesetzt. Es ist daher nicht mehr als recht
und billig, daß die Firma auch mir Gelegenheit giebt, mir meinen
Verlust, der ausschließlich ihr zu gut gekommen ist, wieder heraus
zu holen. Dazu dient der Vorschuß zum Ankauf von Wertpapieren, die
mit der naturnotwendigen Aufwertung Gelegenheit geben, später durch
Verkauf des einen oder anderen Stückes die Schuld abzudecken. Wenn
nun schon die Firma Mechaniker Mähler, einem in seinem Fach recht
tüchtigen Manne, zur Beschaffung eines Wohn-Eß-Herrenzimmers
mit Schreibtisch (Ich selbst besitze bis heute noch keinen Schreibtisch,
ohne mich darob besonders zu grämen) anstandslos ein Vorschuß
von 22 Millionen gegeben wird, so sollte billigerweise über einen
solchen von 40 Mill. an mich kein Wort zu verlieren sein, mag auch dessen
Anschaffung als eine notwendige, meine mir als eine nützliche erscheinen.
Jedenfalls hat M. an der Firma keine solchen Verluste erlitten wie ich.
Demgemäß wäre es ein Gebot der Kulanz seitens der Firma
gewesen, mir nicht nur ohne mit der Wimper zu zucken, die 40 Mill. zur
vorläufigen Deckung der gekauften Papiere darlehensweise
Seite 132
zur Verfügung zu stellen, sondern es hätte der Firma wohl
angestanden, auch die zufällig zu viel hier erworbenen Papiere mir
zum Anschaffungswert bis Ende des Jahres reserviert zu halten, um mir Gelegenheit
zu geben, jenen Verlust an Kapital einigermaßen wieder wett zu machen.
Statt dessen nun die fortgesetzten Preßversuche von DB mit dem klaren
Ziel, mich zu einem Verzicht auf die Papiere zu bewegen. Geradezu ruppig
kommt mir dabei der Umstand vor, mir 4,4 Mill. in bar per Juni abzuzwacken,
die ohne die Bilanzschiebung ohne weiteres in den Verzehr des gesamten
Geschäftsjahres 1923/24 gefallen wären. Durchsichtig natürlich:
mit der Abknöpfung dieser Summe sollte ich zunächst einmal blank
gestellt und in die Unmöglichkeit versetzt werden, in absehbarer Zeit
eine Abschlagszahlung auf die Papierschuld machen zu können. Nun geschah
das doch und da wird mir bedeutet, ich könne per Juli nichts mehr
entnehmen und müsse doch noch meine Familie ernähren ect. Ist
das vornehm und kulant? Nein, ruppig, kleinlich und häßlich.
Ich werde Vorschlag machen, die Sache in die innere Konferenz zu bringen,
entscheidet sie gegen mich, so nehme ich dies als eine besondere Unfreundlichkeit
hin und werde, zumal wenn man mich mit der Festsetzung bestimmter Monatsbezüge
wieder auf das Niveau eines Angestellten herabdrücken will, zur Justiz
zurückkehren und mein Heil außerhalb der Mühlengasse suchen.
– – –
(Die nächsten beiden Zeilen sind mit Bleistift fast unleserlich
geschrieben) Weitere Entwicklg. E.?... Di, neuer K.?..versuch DB u Werner.
Merk (?) alle was. Halb Versöhng .?.. .?.. Mi Do Waffenstillst. Freitg
neuer Vorschlag zur . . . Samstg mein Vorschlg.
Es gab noch allerlei Unfreundlichkeiten, ich wurde nicht minder deutlich.
Die Papiere behielt sich auf die (wertvollste) Basaltaktie wurde das Kapitalkonto
Nov. 1922 100 000 M verrechnet, der Rest im August stillschweigend als
Bagatelle verrechnet. DB behielt persönlich – Stamm WB entsprechend
geschädigt, da nur Papiermark dagegen entnommen – die anderen Papiere,
er hatte sie alle haben wollen, nicht weniger Werner. Ich vergesse diese
Sache nicht und werde sie bei geeigneter Zeit sofort aufs Tapet bringen.
28. Oktober 1923. Heftige Erschütterungen: das Rheinland löst
sich unter dem wahnsinnigen Druck der brutalen Eroberer aus dem Reichsverband.
In allen Städten versuchen Horden bewaffneten Gesindels unter offensichtlichem
Schutz der französichen und belgischen Besatzungstruppen die „rheinische
Republik“ zu erklären. Rathäuser besetzt und wieder gestürmt;
die Volkswut gegen die Sonderbündler ist groß. Manche Bürger,
die als solche gelten, werden zu Tode mißhandelt. So auch hier in
Bonn. Seit gestern Zahlungsmittelkrisis, da bei der rasenden Geldentwertung
entsprechendes neues Papiergeld für den Augenblick nicht vorhanden
ist. In Barmen sah ich Mittwoch drohende Massen Arbeitsloser abends am
Rathaus stehen, grüne Polizei mit gezücktem Gewehr dagegen. Ich
mußte von innen von der Feststellungsbehörde kommend (wo ich
mit dem von Prüm vertriebenen Landrat Burggraef Schadensfälle
aus Anlaß des Ruhreinbruchs für die Firma abgewickelt und 3
2/3 Billionen Papiermark aus 2 Fällen erzielt hatte) durchs Hauptportal
heraus, wo die ganze Plebs sich angesammelt hatte. Abends ist es auch noch
zu Schießereien dort gekommen, dort und namentlich auch in Elberfeld
zu schweren Plünderungen, ein trostloser Anblick anderen Morgens,
als ich zwischen Sonderkasse und Reichsbank hetzte, die zerbrochenen Spiegelscheiben
an leeren Schaufenstern. Die letzte Zeit komme ich infolge der überhasteten
Abwicklung jener Schadenssachen nicht mehr recht zu Atem. Überhaupt
ist es eine solche Zeit, daß niemand Ruhe hat. Letzten Freitag war
ich mit Helene am Spätnachmittag hier einmal in der Stadt, alle Straßen
dicht voll Menschen, dazwischen französische Militärposten mit
Gewehr, die Ansammlungen verhindern, Markt abgesperrt, auf dem Friedrichsplatz
eine fliegende Sanitätskolonne stationiert, glücklicherweise
Seite 134
wurden wir nicht Zeuge einer der furchtbaren Mißhandlungsszenen,
die sich sogleich entwickeln, wenn ein einzelner Sonderbündler sich
zeigt oder jemand als solcher verdächtigt wird. Denen geht es schlimm,
bestenfalls gelangen sie mit gebrochenen Gliedern ins Krankenhaus. Manche
büßten ihr Leben ein. Auf dem Rathaus weht noch die grünweißrote
Fahne der rheinischen Republik. Wären keine Franzosen hier, alle Sonderbündler
wären trotz ihrer Bewaffnung in Stücke gerissen. Papa bat gestern
telefonisch um Geld, wir hatten keins. Vorgestern brachte ich Helene 250
Milliarden von Köln mit, um der mit jeder Stunde drohenden gänzlichen
Entwertung vorzubeugen, kaufte sie sofort Fleischwaren u.s.w. dafür,
so daß gestern nichts mehr da war. Mama konnten wir noch um 10 Milliarden
anpumpen. Den vorgehabten Ausflug ins Siebengebirge mußten wir aufgeben
– es ist ein wundermilder farbiger prächtiger Herbst – und machten
statt dessen einen Spaziergang nach Rheindorf, Hochwasser, große
Fläche mit rasend dahinschießendem Strom, prächtiger Ausblick
in das goldgelb gefärbte Waldgebiet der Siegniederung gegenüber.
Kaffee gabs nicht. Mit dem Rest der gepumpten Barschaft konnten Helene
und ich je 1 Glas (gutes) Bier trinken, das je 1 ½ Milliarden kostete.
Die Kinder aßen Birnen und Butterbrote, die wir mitgebracht hatten.
An der Burg vorbei heim.
Heute war kein Geld da, daß Helene mit nach Hersel
fahren und Papa besuchen können. Papa war leidlich wohlauf, Anne besser,
ging auch mittags mit zur Bahn, mich begleiten. Hatte Barmer Bankaktien
gut verkauft zu 1,7 Billionen pro 1000 M, kauft jetzt zu 0,7 zurück
und hält viel übrig. Theobald kommt Rolfs auf die Sprünge.
Es fehlten ca 15 000 Pakete Seifenpulver. Kriminalbeamte heute mit in Hersel.
Beim Fuhrmann bereits Feststellungen gemacht. Mittwoch soll Auseinandersetzung
sein, zu der ich die Schriftstücke schon fertig habe.
– Büroneubau große Neugasse. DBs Zurückweichen,
G’schäftelhuberei und Hang zum Geschäftchenmachen. Verzweifelter
Endkampf gegen Goldlöhne. bei Geldverkauf. Letzte Zuckungen der Papiermark.
Die Umbildung der Rheinlande. –
Auf eingeklebten Blättern, Seiten 135 - 137: Unterhaltung mit Onkel Dietrich am 19.XI.1923. Onkel Dietrich hat die Wäscherechnung: 2 Körbe = 53 GM. Wie sollen die gezahlt werden? „Da mußt du mal von Deinen Devisen verkaufen, wie ich es auch tue!“ - Ich habe keine Devisen, jedes Kind hat 1 Pfund, das du ihnen geschenkt hast.“ – „Du hast mehr Devisen wie ich!!“ – !? – Ich lache herzlich: Wir wollen tauschen! – – – Otto hat dir ja neulich auch wieder Devisen verkauft.“ – Ja, ganze 3,70 fr fr, um für Papa eine Reise III. Kl. nach – Cuchenheim zu finanzieren.“ „Ach so!“ – „Wir müssen überhaupt über deine Bezüge reden!“ „Aber sicher, denn ich bin sehr zurück. Aber nicht vor Freitag, erst dann bekomme ich vom Rechnungsamt des O.L.Gerichts die Aufstellung, ich war heute deswegen dort. Übrigens, soll ich unter den Pape kommen?“ – „Nein, selbstredend nicht.“ – „Wieviel hatte Pape im September?“ – „Ich weiß es nicht, muß mal nachsehen. Er hat uns gedrückt und wenn er für kurze Zeit darüber gerutscht ist, so muß das berichtigt werden.“ – „Ja, natürlich, ich aber auch!“ – „Du hast ja Fkhs (Funkenhaus) als Maximum im Vertrag.“ – „Was! Das ist ja ganz was Neues! Nein, die Tantieme ist mindestens die von Fkhs. Übrigens kannte ich bei Vertragsabschluß Fkhs Stellung nicht. Das müßte sehr berichtigt werden. Ich trat ein mit dem 4fachen des Amtsrichters, bin dann stets gesunken gemessen an Devisen, Warenwerten, Index, Beamtenbezüge u.s.w. Bald bin ich auf dem Gefrierpunkt. Das muß geändert werden.“ Onkel Dietrich geht seufzend weg.
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20.XI.1923. Onkel Dietrich kommt mit Aufzeichnung Anfangs- und Endgehalt
Beamtenklasse XI, Städt. Krankenkasse Köln. Rechnet Beträge
mit Kindern ohne Besatzungszulage „für Konrad“ aus. Ppst, herbeigerufen,
erläutert die in den Vorauszahlungen liegenden großen Vorteile
bei der rapiden Geldentwertung. Ppst ab. Onkel Dietrich: Ich habe darüber
nachgedacht, was du mir gestern gesagt hast über Fks in deinem Vertrag,
du hast den Vertrag selbst ganz gemacht! – Bitte, ich hatte Herrn Ppst
drin gesagt nur bzgl der Jahrestantieme. Dies hast du geändert, ich
besitze diesen Entwurf noch. – Doch mit deinem Einverständnis! – Nein,
gegen meinen Widerspruch, zudem kannte ich Fkhs Stellung damals gar nicht,
sonst hätte ich nicht unterschrieben. – Du bist nicht gerecht, du
hast doch große Vorteile gehabt, Kunstwerke gekauft, Anschaffungen
auch für Helene gemacht, Devisen bekommen. – Ich habe 24 hfl und 3,70
frfr bekommen, weiter nichts. Ich werde dir mal eine Aufstellung machen,
was ich mir an Wertpapieren und Devisen hätte kaufen können,
wenn ich die Vorauszahlungen eines Beamten gehabt hätte, übrigens
weiß ich bis heute nicht, was Pape im September - Oktober gehabt
hat. – Du kannst die Aufstellung gleich sehen, komm mit.
DB und DR gehen nach unten, DB holt Aufstellung der Sondergehälter,
Rubrik Pape für September - Oktober frei! – – Du sollst dir stets
die nötigen Vorschüsse nehmen. – Ich habe gestern irrig 105 Milliarden,
statt 5,4 Billionen für Wäsche gezahlt. Hier die Differenz. –
Schluß –
Nutzanwendung: Matthias ist ungerecht und er betont, daß
er seit 1920/21 in seinen Bezügen ständig und sehr erheblich
zurückgegangen ist, während sich die Firmensubstanz nicht nur
erhalten, sondern nicht unwesentlich vermehrt hat. – – –
6.XI.1923. Köln 1 Pfund eingewechselt zu 54 Billionen
Köln Spielwarengeschäft
2 Farbkasten 2,3 Billionen
2 Spiele 5,2
2 Handarbeitskästen 7,5
Bücherstube Iusti Velasques 2 Bde 7,5
Balzac 2,2
Stifter 1 Bd. 9,7
Justi Italienbriefe 208
10,–
10 Billionen
Mühlengasse 2,2 Billionen = 16,50 GM
Bonn Fahrradgeschäft geschlossen
Lederkoffer 26 Billionen Schokolade 4 Tafeln 0,465 Bill
Lederetui 3 Billionen Wolljacken
10,000
Schuhleder 1,864 Billionen
Seite 138
Weihnacht 1923. Goldmarklöhne da, aber nicht publiziert, mir verschämt
500 angedeutet. Warenbon. Was macht man damit? Aufwertung Teilhaber - Familie
(Säulisessen (?)) Angestelltenersparnisse –
Auf den Seiten 138 bis 152 folgen noch Eintragungen vom Ende des Jahres
1925. Sie erscheinen in der zeitlich richtigen Reihenfolge.
Tagebuch für Amtsgerichtsrat a. D. Dr. iur. Matthias Rech
August 1923 -
(Das Tagebuch beginnt im Januar 1924)
16. Januar 1924. Dem Handel ist die größte Beweglichkeit
eigen: Onkel Dietrich hat das schöne geräumige Privatkontor,
das erst 1919 in Eichentäfelung an der Mühlengasse eingerichtet
worden war, gegen ein viel größeres im früheren Strickereiraum
an der Großen Neugasse vertauscht. Seine Privatsekretärin hat
dort eigenes Büro, ich deren 3 für Rechtsabteilung erhalten und
schließlich ein großer langer Sitzungssaal, für den ein
Riesentisch mit 16 Stühlen angeschafft wurde. Ich habe jetzt eine
neue Privatsekretärin, Frl. Maria Ruitter, die Oberlyceum mit Erfolg
absolvierte und Seminar durchgemacht, auch 2 Jahre bei der Verwaltung der
Städtischen Straßenbahn gearbeitet hat. Sie sitzt im ersten
meiner Räume, der mittlere enthält den alten ursprünglichen
Konferenztisch, der aus der Deutzer Strickerei zurückgeholt wurde
und mein Chaiselongue, das der Polsterer neu aufgemacht hat, das letzte
ist mein, hoch mit grüngefärbtem Nessel ausgeschlagenes Kabinett,
das nur Doppelpult und 2 Sessel enthält, die Hinterwand mit drei Schränken,
darunter der eiserne im hölzernen Geschränk. (Eine Grundrißzeichnung
ist eingefügt.) Als ich kürzlich Änne die neuen Räume
zeigte und dabei launigerweise bemerkte (als Onkel Dietrich auf die leere
Wand wies,
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wo noch viele sterben und als Ahnenbilder aufgehängt werden könnten)
„wer weiß, ob wir nicht nur wenige Jahre hier bleiben und dann vielleicht
ein Flickschuster an dieser Stelle sitzt und hämmert“, da lächelte
Onkel Dietrich verständnisinnig und freute sich. Änne wunderte
sich höchlich und ich setzte ihr des längeren auseinander, wie
leicht es geschehen könnte, daß wir Schuhwaren dazunähmen,
daß dann ein Flickschuster notwendig werde und daß dann andere
Umstände dazu führten, die ganze Leitung einschließlich
Einkauf oben hoch aufs Dach zu setzen u.s.w.
In mein Büro war ich kaum eingezogen, als alles wieder
heute herausgeholt und nebenan gestellt wurde, so daß ich heute morgen
in einem überfüllten Möbelmagazin hauste: Der Boden mußte
neu bearbeitet werden. Als ich abends mit Helene, die mit in Köln
war, von der Münze zurückkam, war schon wieder alles eingeräumt
und in Ordnung. Helene staunte. Will kam und erfreute mich mit einem Briefe,
in dem die Angestelltenversicherungsanstalt Berlin sich mit der Aufwertung
unserer letzten – noch nicht erledigten! – Hypothek von 95 000 M auf dem
Geschäftshause Düsseldorf Ackerstraße 2 in Höhe von
25 % des Goldwertes für einverstanden erklärte und sich an diese
Erklärung bis zum 1. Januar 1924 gebunden hält. Ich denke, wir
nehmen dies an. Werner und Kurt (dieser gestern 22 Jahre alt geworden)
sind nach Bielefeld um einige 50 Anker Nähmaschinen zu kaufen. Auch
schwebt ein Ankauf über über eine größere Zahl Singermaschinen,
die mit einer starken Preiserniedrigung neuerdings angeboten werden. Große
Baupläne sind im Gange: Werner, Papst und ich waren Montag auf dem
Deutzer Fabrikgelände, besahen uns das Terrain für neugeplante
6 Sheds, die anscheinend im Schnellzugtempo gebaut werden; schon bietet
sich heute ein Bauunternehmer zum Bauen an! Anschaffung weiterer Strickmaschinen
ist geplant. Meine – die Rechtsabteilung – ist in ihrer Arbeitsanspannung
gottlob zurückgegangen, so daß ich Amtsrichter Hunsänger
in Daun einstweilen abwinken mußte, der demnächst gern wieder
mit halben Tagen gearbeitet hätte. Otto ist mit Asta nach Arosa und
St. Moritz. –
24.4.24. Wir verlebten recht angenehme Ostern in Ruhe und Stille zu Hause. Die Woche vorher war Bruder Johannes von Halle hier und wir hatten nur angenehme Tage mit ihm. Dienstags hatte ich bei Forstmanns in Godesberg vorzusprechen, Helene ging mit. Mit Johannes marschierten wir bei lindem Wetter nach Mehlem, aßen Mittags sehr gemütlich und schön bei Bellinghausen. Abends war ich mit Johannes im Theater, wo Lenz’ Woyzek
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in geradezu klassischer Weise mit wundervoller künstlerischer
Bühnenszenerie gut gespielt wurde. Johannes war über die Qualität
unseres Stadttheaters sehr erstaunt.
Sonntags und Montags zuvor hatten wir die 25jährige
Wiederkehr unseres Abiturientenexamens gefeiert. Sonntagabend sah ich im
Hähnchen seit 25 Jahren mal wieder Lackmann, Furth und einige andere.
Montag hatten wir zu 10 in der Bürgergesellschaft ein gemütliches
Mittagessen, ließen uns typen und tranken im Königshof Kaffee,
nachdem wir zuvor im Gymnasium Besuch gemacht und unsere alten Klassenzimmer,
Aula, Turnhalle, Physiksaal besehen hatten. Bilder alter Lehrer. Unsere
sind fast alle tot. Von den einigen 50 Konabiturienten sind schon 14 tot.
Wir konnten alle bis auf einen Mitschüler unseres Zotus (v. Makow)
feststellen. Ich stellte ein Verzeichnis auf.
Dieses Jahr will der Winter anscheinend gar nicht weichen.
Kaum daß bis jetzt einige Aprikosenbäume blühen und die
Kastanien eben ausgelaufen sind. Immer wieder ist es kalt und unfreundlich
und ewig ist alle Welt erkältet. Ich leide viel an bohrenden Kopfschmerzen.
Herta und Marianne brachten zu Ostern ganz hervorragende
Zeugnisse heim. Herta das beste, Marianne das II.beste der Klasse. Herta
war fast 10 Tage in Arnsberg bei Fulda’s zu Besuch. Ich brachte sie in
Köln auf den D-Zug, und so machte sie mit 12 Jahren erstmals ihre
eigene längere Reise. Jetzt haben wir Ingeborg Fulda auf einige Tage
hier zu Besuch. Mariannchen möchte nun auch mal gern auf Reisen gehen.
Mama hat eine böse Herzkrise anscheinend ziemlich
wieder überwunden. Ostermontag war sie nach langer Zeit wieder erstmals
bei uns und trank abends fidel ein kleines erstes Maiböwlchen mit.
Zu Ostersonntag hatten Otto und Asta uns zum „Empfang“ nach erfolgreichem
Einzug in ihr neues Haus (Burgers) Oberländer Ufer 132 eingeladen.
Wir hatten aber Rolfes mit Frau Trapp und einem jungen Mädchen eingeladen
und gingen nicht hin.
28.4.24. Marianne wird vermöge ihres Mutterwitzes
stets schlagfertiger. Einige Bon-mots von ihr: Charfreitag spazieren wir
gegen abend in Königswinter auf der Rheinpromenade und treffen Hans
Br. mit Frau Martha, letztere im vorletzten Moment der Schwangerschaft,
bunte gestrickte Zipfelmützel, graulackiertes Spazierstöckchen,
riesiger Pelzmantel, hohe graue Stöckelschuhe. Marianne hatte sie
genau gemustert und in der Elektrischen: Der Onkel Hans ist aber zu bedauern,
daß er mit so einer Frau abends spazieren gehen muß.
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Vor einiger Zeit zeigte die Mutter ihr die Mühlengasse
in Köln, wo die Großmutter gespielt habe. Mariannchen: „Recht
angenehm, in der Stinkgaß.“ Fräulein Luise Schlauters Bruder
ist gestern zur Kommunion gegangen, es wird davon gesprochen, das sei der
schönste Tag seines Lebens. Marianne: „Schönster Tag des Lebens
ist, wenn man verheiratet ist und hat ein Kindchen.“
18.5.24. Nach langer Kälte und Hochwasser im Mai
jetzt endlich Wärme, daß man im Freien ist. War das ein abscheulich
ewig langer Winter. Ganz melancholisch wurde man. – Nun aber sind die schönsten
Tage und ehe sie verfließen, wir wollen sie genießen. Gestern
waren wir mit den Kindern in Heisterbach, von Oberkassel durch den Wald
dort unter blühenden Kastanien herrlich gesessen. – Onkel Dietrich
ist seit 8 Tagen in Baden Baden. Er brachte es fertig, Kimmlers Konto mit
angeblich 100 % auf 2000 M aufzuwerten und dabei zu vergessen, daß
darin Tante Henriettes Erbschaft Mühlengasse ect mitenthalten war,
also allein 35000 GoldM. Karl Kimmler schrieb darüber recht verdrossen
und es wird noch eine prächtige Rechnerei setzen. Uns gehts gut. Frl.
Emons versorgt noch die Küche, Frl. Schlauter ist auch wieder arbeitsfähig
und Helene hat gute Tage. Wir werden leider fast allzu dick. Freund Bruhns
dagegen geht es nicht besonders in Frankfurt, Frau und Kinder kommen aus
Estland zurück und das Gehalt ist minimal. Wir freuen uns, ihnen helfen
zu können und haben ihnen monatlich 100 M zugesagt. Die letzten Tage
habe ich manches zu tun durch einen Gesellschaftsvertrag zwischen Michel
Du Mont, Inhaber der Tabakfirma Heinr. Jos. Du Mont (von dessen Großvater
Papa s. Zt. Hersel gekauft hat) und dessen Sohn Ferdinand Du Mont; schwierige
Sache, dadurch daß die erste Frau und Kinder Kommanditisten sind,
die man in Ruhe lassen will. Eine von Rolfs vermittelte lokale „Vermögensverwaltung“
eines großen Villenanwesens Reiners-Dusenschön in Honnef hat
sich z. T. zerschlagen, wenigstens die alsbaldige Vermietung des großen
Besitztums. Immerhin bekam ich kleines Honorar heute überwiesen. Der
Rest (auf) Helenes Perlenkette kann ich mit ihm und dem von Du Mont abzuknöpfenden
decken. Kommt es zum Kachelofenbau im Juni, was Helene sehr wünscht,
doch fehlen leider noch die befriedigenden Kacheln – so muß dies
auf Tantieme gepumpt werden. Zu Pfingsten wollen wir 14 Tage auf Hunsrück
und Bernkastel. August vielleicht in Schwarzwald. Hoffentlich deckt die
Tantieme diese Ausgaben. 4000 GM stehen mir auf Grund des Vertrages, wie
ich ihn auslege, noch pro II. Semester 1923 zu, wo ich ganz abscheulich
wenig bekommen habe, ca 3000 M!
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Das giebt noch Krach! Jetzt soll ich nur 1000 M pro Monat haben, brauche
aber immerhin stets ca 1500 M. –
19.6.24 Pfingsten (schon Donnerstag vor) waren wir zusammen
an 11 Tagen in Irmenach auf dem Hunsrück. Schade, Herta lag mit Fieber
an Grippe krank, sonst aber munter. Helene ist heute noch mit ihr oben,
kommen aber leider die nächsten Tage nach hier zurück. Carl Ströher,
den reifen Menschen und Künstler, Maler, Bildhauer und Holzschneider
haben wir näher kennen und hoch schätzen gelernt. Seltsam, nach
den keineswegs stillen, sondern ziemlich bewegten Tagen in jener stillen,
windbewegten, großlinien Landschaft droben kommt mir die teuflische
Hast in Köln doppelt hohl vor. Das schlimmste Gefühl der Hohlheit
hatte ich gestern, als ich mit Grete Riesen durch die gut ausgestellte
Heimatschau der 3. L .?.. u. ..?.. ging, um Ströhers prächtige
Aquarelle ziemlich im letzten Raum z. T. totgehängt zu finden. Alles
Hasten, Treiben, leicht gekräuselte Oberfläche ohne jede Tiefe,
alles seicht, flach. Der Kopf tut einem weh davon. Heute konnte ich mich
erst mal wieder in Ruhe sammeln. Las Dickens 1 Kapitel.
Hersel, den 7. August 1925. Anläßlich des Briefes
von Dr. Prietze und der von Onkel Dietrich mitgegebenen Gustav-Nachtigall-Briefe
erzählt mein Schwiegervater Peter Reitmeister: „Ich erinnere mich,
daß der Afrikareisende Gustav Nachtigal auf meiner Hochzeit war.
Er bemerkte dabei, seine Anwesenheit bedeute insofern eine besondere Ehre,
als er zu gleicher Zeit auch zu einer Hochzeit des jungen Krupp, Sohn von
Alfred Krupp in Essen eingeladen sei und diese Einladung ausgeschlagen
habe, eben um auf die Hochzeit Peter Reitmeister - Helene Brügelmann
zu kommen. Die Schwiegermutter, Witwe Gustav Wilhelm Brügelmann, Helene
geb. van Hees, wird in den Briefen Gustav Nachtigals „Lenchen“ genannt.
Der Onkel des Forschers, Dietrich Nachtigal, kam als junger
Kaufmann nach Köln und „konditionierte“ hier bei einer ersten Ölfirma,
deren Name mir nicht mehr erinnerlich ist. Als kaufmännischer Angestellter
heiratete er Henriette Brügelmann.
Seite 10
Er pflegte mit seinem unverheirateten Chef nachmittags gemeinsam Kaffee
zu trinken. Eines Tages hob der Chef diesen Brauch auf, was Dietrich Nachtigal
verdroß und seine Frau bewog, ihn darin zu bestärken, sich selbständig
zu machen. Mit Hülfe seiner Schwiegermutter Ww. Friedrich Wilhelm
Brügelmann geb. Braselmann und seiner Schwäger (Gustav Wilhelm
und Hermann) gründete er ein eigenes Geschäft, das durch seinen
Fleiß, seine peinliche kaufmännische Art und günstiger
Umstände emporblühte. Im gleichen Maße wie es emporstieg,
ging die Firma seines früheren Chefs zurück. Als Beispiel für
die einfache Art, wie es anfangs in der Ehe zuging, wird erzählt,
daß die Frau selbst mit an der Waschbütte gestanden habe und
daß der Mann ihr zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest ein Paar Zugstiefelchen
schenkte. Bei seinem Tode hinterließ er außer einem gediegenen
Hausrat, einer guten Gemäldesammlung ect. ein Vermögen von 1
Million Mark. Als sorgfältiger und absolut zuverlässiger Kaufmann
war er allgemein bekannt und hochgeachtet. Er führte später ein
großes Haus. Der heute noch lebende Geheime Kommerzienrat Schmalbein
erzählte gelegentlich, daß er als Lehrling dort im Hause gewohnt
und bei größeren Festlichkeiten mit habe servieren dürfen.
Der Tod ereilte ihn am Pult seiner Arbeitsstätte. Seine Frau überlebte
ihn um einige Jahre, wohnte zumeist in einem kleinen Besitztum in Honnef,
auf dem ehedem die Schwiegermutter Brügelmann gehaust hatte.
Während dieser Zeit besuchte Gustav Nachtigal sie
auf längere Zeit und lebte bei ihr in Honnef. Hierbei traf ihn meine
Schwiegermutter des öfteren.
Nach meinem Urteil muß Dietrich Nachtigal persönlich
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in Kunstdingen einen guten und sicheren Geschmack besessen haben. Er
brachte eine ansehnliche und recht gute Sammlung zeitgenössischer
Ölgemälde zusammen. Alle guten alten Bilder, die man heute in
der Verwandtschaft sieht – die meisten besitzt Onkel Dietrich Brügelmann,
– rühren aus seinem Nachlaß her. So auch ein zaghaft betendes
Bauernmädchen im Besitz meines Schwiegervaters. Vetter Hans Brügelmann,
Teilhaber der Firma Carl Brügelmann, besitzt die Originale von den
beiden ausgezeichneten Portraits des Ehepaars Dietrich Nachtigal.
Nach Angabe meines Schwiegervaters ist die Firma Dietrich
Nachtigal auf seine ausdrückliche Anordnung nach seinem Tode gelöscht
worden. Der Neffe Carl Brügelmann führte das Geschäft unter
der Firma Carl Brügelmann fort.
Helene erzählt: Gustav Nachtigal hielt auf der Hochzeit
meiner Eltern eine Rede, in der er betonte, daß er sich gleichsam
wie einen Vater betrachte, zumal er sie durch eine Operation einer Drüsenentzündung
am Arm aus ernster Gefahr gerettet habe.
Abschriften von Bruchstücken aus Briefen von Gustav Nachtigal an seinen Onkel Dietrich Nachtigal und dessen Ehefrau Henriette geb. Brügelmann in Köln. Gustav Nachtigal lebte aus Gesundheitsrücksichten in Tunis und war dort als Arzt tätig. Er hing sehr an den Kölner Verwandten und den Verwandten seiner Tante. Großmutter ist die Schwiegermutter seines Onkels, die Ww. Friedrich Wilhelm Brügelmann geb. Braselmann, Lenchen die Schwägerin seiner Tante, Witwe Gustav Wilhelm Brügelmann geb. van Hees.
Es folgt die Abschrift eines Briefes von Gustav Nachtigal aus Tunis vom 10. November 1861 (muß heißen: 1862) in der Handschrift von Helene Rech mit Randnotizen.
Seite 20
28.9.25. Onkel Albert Brügelmann berichtet mir heute, Großmutter
Brügelmann (geb. Braselmann) war als Witwe eine für die damalige
Zeit reiche Frau. Besaß Altenbergerstraße 2 Häuser: Eckhaus
Johannisstraße, in dem sie selbst wohnte und das Nebenhaus mit Toreinfahrt
und 5-Fensterfront. In diesem wohnte Hermann Brügelmann (Alberts Vater)
dann kamen 3 kleinere Häuser: Bechem, Dr Thome, Tosetti, dann das
große Anwesen Johann Dietrich Nachtigal. Als die Großmutter
starb, habe Carl Brügelmann (sein Vetter) mit stiller Hilfe von Nachtigal
seinem Vater das Haus abgeboten (Versteigerung) und dieser habe ausziehen
müssen. Sei in die Jakordenstraße gezogen.
Sein Vater Hermann, der mit dem jungen Bruder Wilhelm
die Firma Mühlengasse hatte, sei ein stiller und zurückhaltender
Mann gewesen, während Wilhelm ein geschäftlicher Draufgänger
gewesen sei; das Verhältnis sei ähnlich wie zwischen Wilhelm
und Dietrich in der nächsten Generation. Als Wilhelm jung verstorben
war, hat Hermann das Geschäft geführt, ist dann erblindet und
langsam und sicher von seiner Schwägerin, Witwe Wilhelm Brügelmann
„Tante Lenchen“ (Großmutter Brügelmann) aus dem Geschäft
gedrängt worden, darüber auch viel Zwist und Intrigen auch bei
Nachtigals, bei denen Tante Lenchen mit ihrem einnehmenden Wesen und ihren
gewandten Töchtern Sophie und Maria stets gegen seinen Vater Hermann
und seine sehr offene und derbe Mutter geb. Heyland aus Werther sehr im
Nachteil gewesen sei. Zwischen „Tante Lenchen“ und seiner Mutter habe stets
eine starke Rivalität bestanden. Tante Lenchen war vermögenslos
gewesen, seine Mutter ziemlich vermögend und noch viel höher
geschätzt. Der Abgang seines erblindeten Vaters aus der Mühlengasse
sei für diese damals ein große Fehler gewesen, denn er habe
alle Aktien mitgenommen. Von seinem Ausscheiden bis zum Tode der Schwägerin
soll sich das Vermögen in der Mühlengasse von seinem Bestande
in Reichsthalern auf solchen in Mark vermindert haben.
Der Mord Altenbergerstraße sei 1868/69, als er ca
6 Jahre alt, geschehen. Er, Onkel Albert solle Zeitung dort holen, tat
es aber nicht. Bei Mittagstisch erschien Klockenbring, sollten alle hinkommen
Gericke habe Blutsturz bekommen. Große Szene: Eltern Gericke
und Eltern Brebak dort, Kriminale, Soldaten, Absperrung. Brebak im Tresor.
Später im Gefängnis erhängt. Onkel Nachtigal viel Verdruß,
Eidesleistung, Vernehmung u.s.w. (In den Briefen Gustav Nachtigals wird
zu diesem Ereignis ebenfalls Stellung genommen.)
Seite 22
20.X.1925. Melodramatische Szene. Aus dem Leben der ehrsamen (Groß)-Kaufleute.
Die Vereinigung der Banken hat stramme Syndikatsbedingungen erlassen und
nutzt die Knappheit des Kapitalmarkts durch wucherische Zinsen aus. Dem
suchen die großen Kaufleute zu begegnen, indem sie mit der Reichsbank
unmittelbar verkehren, kräftig Wechsel querschreiben und eine ausgedehnte
Zettelwirtschaft betreiben. Mittlerweile kracht es allenthalben und die
große Dämmerung auch aller der Schieber beginnt, die sich nach
der Wiederherstellung der Währung noch bisher über Wasser gehalten
wurden. Dabei fallen auch alte angesehene Häuser, die es nicht verstanden
haben, rechtzeitig knapp und im Bereiche ihrer flüssigen Mittel geschäftlich
zu verfügen. Andere, die noch großen Kredit genießen,
erregen den Neid der Mißgünstigen, ganz und halb Gestürzten
und zumal der innerlich bereits schon lange wackelnden und bebenden „Pinscher“.
Man rächt sich durch ein nicht faßbares aber desto eifriger
umgetragenes „Geraune“ über Geschäftsaufsicht und dergleichen
angenehme Dinge. Das, denkt der Bankier, ist ein Wink, das entsprungene
Schäfchen wieder von der Reichsbankweide an und in die Bankhürde
hineinzutreiben. Sein Prokurist ruft eines morgens freundschaftlichst an
und teilt vertraulich mit, daß gestern ein sonst gut unterrichteter
Herr ihn gefragt habe, ob er wisse, daß F.W.B.S. (die Großhandelsfirma)
unter Geschäftsaufsicht stehe. Er, der Prokurist habe ihn natürlich
sofort berichtigt u.s.w. Den Gewährsmann könne er nicht nennen,
da er ihm Verschwiegenheit habe zusichern müssen. Erst gedenkt das
Handelshaus über diese Lappalie stillschweigend hinwegzugehen, wird
dann aber stutzig (sein erster Prokurist, der eine sehr feine Nase hat
vermutet gleich eine Finte hinter jener „freundschaftlich-vertraulichen“
Mitteilung) und drängt energisch auf Darlegung des Ursprungs des Geredes,
das angeblich eine eigene Kontorangestellte aufgebracht haben soll. Der
Bankprokurist verspricht, an den Gewährsmann zu schreiben, der natürlich
nicht antwortet. Mittlerweile spricht der Seniorchef des Handelshauses
den Bankchef, der angeblich
Seite 24
von der ganzen Sache nichts abweiß, dem Handelsherrn aber empfiehlt,
die Wechselwirtschaft dranzugeben und bei ihm Bankkredit zu nehmen. Der
Handelsherr verlangt für den großen Umsatz bessere Bedingungen.
Bankchef: Das kann meine Firma unmöglich machen, denn darin ist sie
gebunden durch die Bedingungen der Bankvereinigung. –
„Alle soche Bedingungen von Syndikaten sind dazu da, um
im einzelnen Ausnahmefall umgangen zu werden.“ – „Also, Herr Br., wie können
Sie so etwas sagen“, entrüstet sich der biedere Bankchef mit gut gespielter
sittlicher Erhabenheit. – „Ich sage die Wahrheit“, lügt diesmal nicht
der Handelsherr, sondern wie gelegentlich auch mal Bismarck durch brutale
Offenheit und rücksichtslose Wahrheit. – „Ja, ich bedaure, daran vorläufig
nichts ändern zu können“, lenkt der B. (Bankbylonier) wieder
ein. Wenige Tage darauf erfährt der Handelsherr (er ist wie der Bankgewaltige
Vertreter der Bürgerschaft innerhalb der großstädtischen
Verwaltung) in einer städtischen Finanzkommission folgendes: Jenes
Bankhaus (Geschäfte zwischen der Stadt und Firmen der Stadtverordneten
sollen nicht sein) hat von der Stadt einen großen Teil einer ausländischen
Anleihesumme als Darlehen gegen gute Verzinsung auf feste Termine erhalten,
welche Summe die Stadt eben nicht laufend bemühte. Inzwischen weist
der städtische Etat infolge der allen anderen von der Stadt sattsam
gepredigten Sparsamkeit ein Loch von 10 Millionen auf und jene, dem Bankhaus
gepumpten 10 Millionen wären der Stadt jetzt sehr erwünscht.
Die Bank aber besteht auf den ausgemachten Terminen und es heißt
alsdann, die Bank könne nicht zahlen. Bei den oppositionellen Fraktionsführern
beginnt die Volksseele zu kochen und man denkt schon daran, durch eine
Anfrage an den Oberbürgermeister diese Sache in das so oft unbequem
grelle Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Jetzt hat der Handelsherr
Wasser auf seine Mühle.
Seite 26
„Haust du meinen Juden, hau ich deinen!“
Flugs marschiert er zum Bankchef: „Sie waren neulich so
freundlich oder besser gesagt Ihr Herr P. war so freundlich, uns eine freundschaftliche
Mitteilung über eine Frage nach der Geschäftsaufsicht bei uns
mitzuteilen. Heute sehe ich mich verpflichtet, etwas ähnliches Ihnen
mitzuteilen. In der Stadtverwaltung spricht man davon, daß Ihrer
Bank aus der Auslandsanleihe eine größere Summe gepumpt worden
sei und nun habe die Stadt Geld nötig und könne es nicht von
Ihnen bekommen.“ Der Bankchef versteht es gut, sein inneres Erschrecken
hinter einem geschickt gespielten Erstaunen zu verbergen. Dann: „Das stimmt,
aber der läuft auf eine bestimmte Frist und Geschäft ist Geschäft.
Ich muß mich an die Fristen halten. Das schließt ja nicht aus,
daß die Stadt inzwischen über den Bestand meiner Kasse verfügt,
soweit er vorhanden ist. Kein Bankier wird heute in der Lage sein, der
Stadt soviel vorstrecken zu können, als ich es heute kann.“ – „Ja,
sehen Sie mal, bei der Sparkasse kann ich größere Summe auf
festen Termin zu höherem Zinssatz legen, verlange ich sie dann vorzeitig
zurück, so bekomme ich doch in jedem Fall die Summe, nur die Zinsen
werden entsprechend verringert.“ – „Das können Sie mit meinem Fall
nicht vergleichen, aber wer hat davon gesprochen? Das müssen Sie mir
unbedingt verraten.“ – „Ich bedaure sehr, das kann ich ebensowenig, wie
Ihr Herr P. uns seinen Gewährsmann nennen kann. Ich habe in diesem
Punkte auch Verschwiegenheit geloben müssen.“ – „Nun, ich bin Ihnen,
Herr B., natürlich sehr dankbar, daß Sie mir es mitteilen. Man
kann ja nie wissen, wie es einem schaden kann und man kann dem begegnen,
wenn mans weiß.“ – „Dann noch eins, Herr Geheimrat, es soll in M.
diese Sache zum Gegenstand einer öffentlichen Anfrage an den Oberbürgermeister
Seite 28
gemacht werde. Ich möchte Ihnen das nicht verhehlen.“ – Große
runde Augen, das innerliche Erschrecken wird gleich durch zornige Erregung
verdeckt: Meinetwegen, ich stehe korrekt da, Geschäft ist Geschäft,
ich kann auf meinen vertraglichen Termin bestehen, mich trifft keine Verantwortung,
da könnte man eher Herrn S. (der betreffende städtische Dezernent)
einen Vorwurf machen, daß er seine Gelder nicht flüssiger anlegt.
. .“ Der Handelsherr bemerkt mit innerem Behagen, daß dieser wohlgezielte
Hieb gut gesessen hat. Er ist daher die Liebenswürdigkeit selber;
der andere bald gefaßt nicht minder und beide verabschieden sich
mit wiederholtem Händedruck und gegenseitiger Hochachtung.
Nachspiel: Der Großkaufmann wird als Retter der
Stadt gepriesen: Nämlich, die Stadt war in der Klemme, jener Bankmann
aber, (dessen Büste vom Oberbürgermeister der Handelskammer geschenkt
wurde) wurde plötzlich generös und großzügig und stellte
der Stadt etliche Millionen zu 8 ½ % (waih geschriehe!) zur Verfügung,
begnügte sich also mit der äußerst bescheidenen, aber diesmal
wirklich bescheidenen Spanne von ½ %. „Das war mal ein gewagtes
Spiel“, meinte der Beigeordnete des Baudezernats, der die Stadt mit seinen
zahlreichen Neubauten festgefahren hatte, zu dem Großkaufmann: „So
einfach zu . . . hinzugehen und ihm das zu sagen, das konnte aber leicht
auch anders auslaufen, denken Sie mal, wenn –“ – „Nun seien Sie nur ganz
beruhigt, ich wußte schon, was ich tat“, meinte großartig der
Großkaufmann, verschwieg es aber klüglich, daß er den
schönen Gegenchok hatte auspielen können. – Okt. 25.
Nov. 25. Hätte der Ober es sich träumen lassen,
daß es nur seines Besuches bei jener Einladung zur 40j. Hochzeit
in Kgw. bedurft hätte, um den Sturm gegen die Gewerbesteuererhöhung
zu verwirken, so wäre er gewiß hingezogen und hätte er
noch solches Zahnweh gehabt. Nun aber ist der Stein im Rollen und droht
ihn fast zu zermalmen. Jetzt will alles Rechenschaft, sogar vor 24 und
früher abgelegt haben und der Ober ist arg in der Klemme.
Ende der Aufzeichnungen im Heft 1924/25
Fortsetzung der Aufzeichnungen aus dem Band 1920/21-25
Seite 138
1925 Ende November
Am Donnerstag, den 18. Nov. 25, überfällt mich am Eingang
der Mühlengasse der junge Bäcker auf der Straße: Ob ich
schon das Unglück gehört habe, Ihr Herr Werner Brügelmann
ist diese Nacht gestorben! Ich schreie nein, da taucht die lange Gestalt
des Kerschkamp auf und bestätigt die Trauerbotschaft. Die kleinen
Geschäfte in der Mühlengasse begannen schon nach Ansage der Trauerbotschaft,
ihre Schaufenster zu verhängen. Nach einem heißen Bad, so heißt
es, habe er einen Herzschlag bekommen. Ich stürze zu Will hinauf,
der bleich dasitzt und mir berichtet, daß er mit Otto schon an der
Amsterdamerstraße gewesen sei. Onkel Dietrich sei eben noch dort
und habe schon nach mir gefragt. Ich sollte seinen Anruf noch abwarten.
Ich erledigte die allerdringendsten Sachen und entwarf dann die 4 Anzeigen,
mit vielen Entwürfen, die in die Zeitungen sollen. Bis die Reinschriften
der entgültigen Fassungen fertig sind, ist es fast ½ 12 geworden.
Ich fahre allein zur Amsterdamer Straße (Papst und Rüttgers
wollen mit). Dort kommt Onkel Dietrich mit Ernst Ludwig die Treppe herunter.
Es ist scheußlich. Endlich fassen wir uns soweit, daß wir die
Anzeigen durchgehen können. Erna ist halb von Sinnen vor Schmerz und
Leid, ob, nicht sichtbar. Ihr Vater bringt ihr den Entwurf der Familienanzeige,
den sie verbessert in „heißgeliebten“ Mann u.s.w. Dann führt
DB mich herauf, den Toten zu sehen; auf dem Flur treffe ich die Mutter,
Tante Emma und Frau Lukas. Ich kann ihnen nur wortlos die Hand drücken.
Tante Emma hat ein verschwollenes Gesicht und einen seltsam ins Ferne gehenden
Blick. Der Tote liegt im Nachthemd im Bett, bleich, sonst friedlichen Antlitzes,
verklärt und vollkommen unverändert. Ich besehe ihn mir lang
und gründlich zum letztenmal. Dann rege ich an, eine Totenmaske gießen
zu lassen, ich telefoniere deshalb an Firma, endlich kommt Otto, er wird
sich mit Museum in Verbindung setzen. Daraufhin hat ein Bildhauer Papst
nachmittags einen Abguß gemacht. – Ich bin heute, Montag, noch so
verboselt (verbeselt?), daß mir jetzt erst zum Bewußtsein kommt,
ich habe diese Aufzeichnungen schon einmal gemacht. Richtig, in der „Familienchronik“.
Das kommt davon. Also dort Fortsetzung.
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15.XII.1925. Seit etlichen Tagen daheim in Bonn. Krieg mit Köln.
Heute ruft Frau Gerhartz an, hat Depesche bekommen. Ströher gestern
abend gestorben. Schrieb gleich Eilbrief an Witwe und legte 50 M bei auf
spätere Verrechnung.
16.XII.1925. Gestern abend war Gerhartz bei uns mit 2 selbstgemalten
Bildern, eine Frühlingslandschaft mit blühenden Obstbäumen,
ganz entzückend. Sprachen über Ströher. Er regte an, ich
sollte etwas über ihn veröffentlichen. Seltsam, vorgestern war
Cohen ganz flüchtig hier, besah sich Bilder und sprach sich sehr anerkennend
über Ströhers Krippenfiguren aus, auch über die in Photos
ihm gezeigten Holzplastiken. Einige Tage zuvor hatte sich Dr. Kutter, Godesberg,
ein trefflicher Kunstkenner, mit Interesse Ströhers Holzschnitte und
Zeichnungen mit mir durchgesehen, manche als gut und stark gelobt. Auch
gemeint, man sollte etwas schreiben. Wenn der Verkauf Haus Elise Honnef
zustande kommt und ich meine Provision habe, wollte ich eine Holzplastik
von ihm kaufen und schrieb dies an ihn. Am Tage seines Todes erhielt ich
die erfreute Antwort seiner Frau. Am Morgen, als uns die Todesnachricht
erreichte, hat Manderfeld, Papas Pfleger gerade ein Kistchen mit 2 Flaschen
alten Wein an die Post befördert. Ich bin ergriffen von dem Gedanken,
wie der Mann nun stumm und still in seinem einsamen, fast selbst erbauten
Häuschen mit dem großen Atelier am Waldrand liegt. Alles ist
ringsum dick beschneit und es schneit noch immer allzu. Der kleine Sohn
Peter begreift seinen Verlust nicht, ist bei Förster Stoll nebenan.
Gottlob hat die energische junge Frau eine angenehme Tante aus der Heimat
bei sich. Gern würde ich mit Gerhartz dorthin zum Begräbnis gehen.
Der war vor 14 Tagen mit seiner Frau im kleinen Opelwagen durch Eis und
Schnee dorthin gefahren und hatte ihn mit Digitalis von noch früherem
Tode an Herzschwäche gerettet.
Erinnerungen an Ströher
11. Mai 1921 in Traben Trarbach kennen gelernt.
5. - 15. Juni 1924 Pfingsten in Irmenach
Arbeit an Gerhartz Landhaus Rheinbach
Es war prächtiger Sommertag, an dem ich Ströher in Traben
Trarbach auf einer MoHoHu (Mosel- Hochwald- und Hunsrückvereins-)
Ausstellung kennen lernte. Ich hielt mich etliche Tage in Bernkastel auf
und war auf Veranlassung von RA Schönberg mit Frl. Ida Leistner dort
hingefahren. Die Holzschnitte, farbige und schwarze, die linker Hand eine
ganze Fensternische einnahmen, hatten es mir angetan, und Schönberg
machte mich bald mit dem Künstler bekannt. Sein brauner runder Kopf
mit den dunklen Augen und dem schwarzen Haar blieb mir scharf eingeprägt.
Aus der anfänglichen Bestellung einer Reihe von Holzschnitten entwickelte
sich bald eine Bestellung auf sein gesamtes graphischen Werk, das ich heute
wohl fast ausnahmslos besitze. In seinen Briefen teilte er mir allerlei
Wichtiges aus seinem Leben mit, allmählich faßte er Vertrauen
zu mir und ließ mich nach und nach einen tieferen Blick in das Innere
seiner Seele tun. Im Laufe 23 teilte ich ihm meinen Wunsch mit, holzgeschnitzte
Krippenfiguren von seiner Hand zu besitzen. Er griff dies begierig auf,
hatte erst vor, ziemlich realistische Figuren zu
Seite 142
machen, nahm aber bald davon Abstand und schnitzte nur unter Zuhülfenahme
von kleinen Bewegungsskizzen in Ton die Figuren aus freier Hand. Ich sehe
noch die Szene vor mir, als wir die Figuren kurz vor Weihnachten 1923 aus
einem umfangreichen Postpaket auspacken und von einem Erstaunen ins andere
fielen. Welcher Reichtum an Formen, wie groß und plastisch alles
gedacht und geformt, wie schön die Bemalung, wie belebt die großformigen
Flächen durch die letzten Schnitte des Messers. Erste eine Mittelgruppe:
Josef und Maria mit dem Kind, dann 3 Könige, einer stolz und ragend
schreitend, einer, der Mohrenfürst, kniend und still in sich versunken
betend, der dritte ein Greis, ebenfalls kniend mit leidenschaftlicher Gebärde
der Darbietung. Ferner ein stehender Hirte in dickem Mantel, eine rechte
Volksfigur, groß und voll einfacher, fast blöder Andacht, die
mir liebste der Figuren, und ein lang dahingestreckt kniender Hirte. Die
Figuren lassen sich in verschiedener Art wirkungsvoll zusammenstellen,
die Mittelgruppe etwas erhöht. Wir hatten unsere hellste Freude daran.
Die Formen wirkten unter dem mit unruhigen Formen ganz überladenen
Weihnachtsbaum doppelt ruhig und verhalten.
Im Frühjahr 1924 kam Ströher dann auf einige
10 - 14 Tage nach Rheinbach, wo er für unseren Freund Professor Gerhartz
in dessen Landhäuschen ein Zimmer mit Wänden, Türen und
Decke ausmalte. Wir luden ihn zu Tisch ein, ich besuchte ihn auch dort.
Helene lernte ihn diesmal kennen. Er hatte inzwischen eine Berlinerin geheiratet
und war Vater eines prächtigen Jungen geworden. Diese bewunderten
wir, als wir Pfingsten 1924 auf einige 10 Tage nach Irmenach ins Gasthof
Fuchs zur Erholung gingen. Es waren schöne Tage, für uns nur
getrübt durch eine heftige Erkältung, die Herta vom ersten Tag
an ans Bett fesselte, ein wenig erfreulicher Zustand in dem etwas primitiven
Gasthof mit der allzu lärmenden nächtlichen Fröhlichkeit
der Besitzerin, während deren Mann, Herr Dr. Heiliger ein guter Arzt
war. Es waren herrliche Sommertage. Ich marschierte mit Ströher, der
gut beiwege war, auf die Dörfer, wo sich seine Werke befanden; Büchenbeuren
2 Schulbilder, Hirschfeld Denkmal an der alten schönen Simultankirche,
Kirchhof Irmenach-Beuren, zu Lehrer Eichler in Raversbeuren, lernte dort
Albert Bauer, den Landmann und Dichter kennen, mußte sein unvollendetes
Drama Judas Ischariot mitnehmen und lesen.
Im Hotel hatten wir treffliche Verpflegung, nur nachts
mitunter lebhafte Unruhe und dann die Sorge mit Herta, die sehr ergeben
im Bett lag. Sobald ich mit Marianne nach Hause mußte, wurde es ihr
besser, stand auf und kam mit Helene später nach. War gewachsen und
ist seitdem ein besonders kräftig entwickeltes Jungfräulein geworden.
Ströhers Frau benebst der bei ihnen zu Besuch weilenden Tante haben
sich ihrer in nettester Form sehr angenommen. Ich saß oft mit Marianne
bei Ströher, sei es im Atelier, auf dem Holzplatz vor seinem Hause
oder am benachbarten Wald, wo er seine Ziegen weiden ließ. Schöne
Spaziergänge in den schattigen Wald. Lange ernste, mitunter auch spaßhafte
Unterhaltungen mit Ströher. Waren wir irgendwohin unterwegs, so redete
der sonst stille und wortkarge Mann viel, manches kaum verständlich,
da er fast mit sich selbst und in sich selbst hinein sprach. Er erzählte
vor allem wie er in Spanien, zumal in Granada gelebt, wie oberhalb der
Burg die Zigeuner den Berg hinaus in Felsenwohnungen wohnen, von ihren
Sitten und Gebräuchen und Anschauungen. Er hatte ein junges Paar gemalt,
das ihm in
Seite 140
flimmernder Sonne Modell gestanden. Das Bild hing in seinem geräumigen
Atelier. Zwischendurch machte er Studienwanderungen, so nach Enkirch, von
der er aber jedesmal sehr ermattet zurückkam. Dort hatte er an der
Mosel sitzend ein Aquarell gefertigt, das ich ihm abkaufte und das heute
die Innenseite eines Bücherschrankflügels ziert. Wir sahen seine
recht ungeordnet durcheinanderliegenden Zeichnungen an, ich half ihm ordnen,
räumte auch wohl mal aus Zeitvertreib seine alte Hobelbank auf. Regnete
es mal ausnahmsweise, so hatten wir in dem luftigen Atelier einen schönen
Aufenthalt mit riesiger Fernsicht, über das Dorf weg zu den fernen
Eifelhöhen, die sich in großem Rund am hohen Horizont aufbauen.
Auch seine Holzschnitte besahen wir, sprachen über die Bildhauertechnik
u.s.w. Er war voller Entwürfe. Leider war es sehr schwer für
ihn, einen Auftrag auf die ihm so gut liegenden platischen Denkmäler
zur Erinnerung an die Kriegsgefallenen zu bekommen, obwohl er sie billiger
lieferte als ein Handwerker. Steinmetzarbeit ect machte er alles selber.
Ich suchte ihm nach Kräften behülflich zu sein. Auch für
die großen Schulbilder hatte er z. T. nichts, z. T. nur ganz kümmerliches
Entgelt, etliche Säcke Korn oder die Arbeitslosenunterstützung
bekommen u.s.w., alles Dinge, die ihn stark niederdrückten. Zumal
er sich seiner Qualität als Bildhauer durchaus bewußt war und
in Berlin zumeist nur an Künstler und Kunstkenner seine Sachen verkauft
hatte. Nur hier und da verkaufte er einen farbigen oder schwarzen Holzschnitt.
Er lebte mit Frau und Kind denkbar einfach, hielt zwei Ziegen u.s.w. Leider
glaubte er sich durch den Mangel an Einkommen auch verpflichtet, schwere
körperliche Arbeit zu leisten, denen sein schwächlicher Körper
nicht gewachsen war, zumal sein Herz nicht. So z. B. erhielt er wie jeder
Irmenacher von der Gemeinde aus dem Wald jährlich eine recht ansehnliche
Menge an Brennholz in Form von großen Buchenabschnitten geliefert.
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Die meisten ließen diese durch eine Lokomobile mechanisch schneiden.
Ströher schnitt sie mit eigener Hand und darauf ist wohl auch die
Herzschwäche zurückzuführen, an der er im Dezember 1925
verstarb.
Schon das Bauen des Hauses, wobei ihm der alte Vater –
er lebt heute mit 92 Jahren noch und möchte selbst so gerne sterben
– und seine Verwandten und Bekannten halfen, muß ihn körperlich
über die Maßen angestrengt haben. Jetzt, als er starb, hatte
er Balken und Bohlen zurechtliegen, um die mit Ziegeln belegte Küchen
zu dielen.
Nach und nach zeigte er mir eine ganze Reihe von Mappen
mit Zeichnungen. Aus diesen konnte ich unschwer erkennen, welchen künstlerischen
Entwicklungsgang er durchgemacht hatte. Erst alles peinlich bis ins kleinste
gezeichnet, ornamental stilisiert. Dann in Paris sehr eingehende detaillierte
Tierstudien im Zoologischen Garten. Dann feiner stilisierte, immer noch
streng nach liniearen Gesichtspunkten komponierte Landschaften, riesige
Aktbilder in flotter breiter Pinselmalerei, aus Spanien Ölbilder in
breiter punktierter Manier, die Luft trefflich wiedergebend. Schließlich
seine Holzschnitte, von impressionistisch aufgefaßten Landschaften
voll flimmernden Sonnenlichts und leuchtender Schneefrische zu immer größerer
Vereinfachung der Linien und gleichzeitig farbig gedruckt mit wenigen Platten.
Dann seine Holzplastiken: In Berlin stand irgendwo in der Kunstakademie
oder wo ein Abessynier. Gipsmodell dazu stand in seinem Atelier in Irmenach.
Unser Mohrenkönig bei den Krippenfiguren zeigt eine gewisse Ähnlichkeit
mit ihm. Die Büste seines Vaters in Holz und eine reizende kleine
Holzbüste eines langhalsigen Mädchens waren mir schon bei jener
ersten MoHoHu-Ausstellung als besonders wertvoll aufgefallen. Mein Auftrag
auf Krippenfiguren, an denen er 1923 und 1924 arbeitete, gaben ihm anscheinend
Anregung, das Motiv Mutter mit Kind immer wieder von neuem in Holz zu schnitzen.
Es sind 3 - 4 treffliche Ausführungen davon vorhanden. Handzeichnungen
in Kohle, auch treffliche Pinseltuschzeichnungen waren in reicher Fülle
vorhanden. Ich hatte schon früher einige davon erworben, nahm auch
von Irmenach eine Reihe mit nach Bonn in einer Mappe, um sie hier für
Ströher an Dritte zu verkaufen. Ich hatte aber durchweg wenig Glück
damit. Nur Professor Gerhartz in Bonn kaufte sich nach und nach etliche
davon. Auch meine wohlgemeinten Bemühungen, ihm beim Kauf von größeren
Aquarellen behülflich zu sein, schlugen fehl. Auf einer rheinischen
Buch- und Kulturwoche waren sie in dem Kölner Messegebäude ausgestellt.
Lieblos aufgehängt, seitab entlegen und so voller Reflexe auf den
Gläsern, daß fast nichts davon zu sehen war. Freund Cohen fand
sie „nicht ohne Wert, hätten aber keine Qualität.“ In der Tat
waren sie eher grob in der Mache und Bretz hatte wohl nicht ganz Unrecht,
als er meinte, sie wären fast anstreichermäßig hingesetzt.
Die gleichen waren dann anläßlich der rheinischen Jahrtausendfeier
in Bonn in einem gutgelegenen
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Eckfenster der Buchhandlung Röhrscheidt ausgestellt, zusammen
mit einer gut ausgewählten Zahl an schwarzen und farbigen Holzschnitten,
Handzeichnugen und den Krippenfiguren. Kein Käufer für irgend
etwas, weder hier noch in Köln. Dabei hatten, wie ich nachher feststellen
konnte, eine ganze Reihe von einsichtigen Leuten sie sich nachhaltig angesehen
und Genuß davon gehabt. So auch Dr. Kutter, Godesberg, der namentlich
von den Krippenfiguren und manchen Zeichnungen von ihm sehr angetan war,
die ich ihm zeigte. Er machte dabei die scherzhafte Bemerkung, mit mancher
der Zeichnungen brauche man nur zum alten Liebermann in Berlin hinzugehen,
um zu suggerieren, sie seien von früher her von ihm und ihn zu veranlassen,
sie mit seiner Signatur zu versehen, um sofort recht marktfähige und
wertvolle Sachen zu haben.
Gleich im Anfang unserer Bekanntschaft hatte ich ihn um
Angabe einiger näherer Einzelheiten aus seinem reich bewegten Leben
gebeten. Er schrieb mir erst kurz in einen Brief eine ganze Menge, später
gelegntlich immer wieder allerlei recht Interessantes. Bei unserem längeren
Zusammensein riet ich ihm sehr zu, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. Er
hat auch wie er in richtiger Vorahnung stets sagte, „für seinen Sohn
Peter“ Lebenserinnerungen zu schreiben begonnen; die Tanten seiner Frau
schrieben eine Reinschrift und noch in einem sehr letzten Briefe versprach
er mir, daß ich diese Aufzeichnungen auch zu lesen bekommen sollte.
Nun wird, wie seine Witwe mir zutreffend kürzlich schrieb, sein Sohn
ihn nur hieraus und aus den Schilderungen seiner Mutter kennen lernen.
Ströher war ein ungemein gutherziger und hilfsbereiter
Mensch. Seine Hilfsbereitschaft ging häufig über das Maß
hinaus, was sein kluger und entwickelter Verstand ihm selbst als richtig
vorhielt, er ließ sich aber trotz mannigfacher bitterer Erfahrungen
immer wieder von seinem guten Herzen leiten. Dadurch, daß seine uneigennützigen
Bemühungen ihm oft mit schnödem Undank belohnt war, wurde er
in manchem mißtrauisch und zurückhaltend. Zeigte aber jemand
sich ihm gegenüber für seine Art verständnisvoll, so war
er zutraulich und offen. Er hat mir oft in langen Briefen sein ganzes Leid
ausgeschüttet und ich habe ihn immer wieder ermahnt, sich auf diese
Weise alles von der Seele zu schaffen.
Nun brachte die Kölnische Volkszeitung eine Notiz
von seinem Tode, die ich einsandte, ebenso die Kölnische Zeitung,
nachdem sie mir einen längeren Nachruf zurückgesandt hatte. Diesen
hat nun der der Kölner Stadtanzeiger angenommen, an den mir F. M.
Jansen zu senden riet.
Lanschaftfotograf Gross, in derlei Dingen erfahren, hat
in den Weihnachtsfeiertagen Aufnahmen von den Krippenfiguren gemacht und
so kann ich seiner Witwe nächstens hoffentlich gute Abzüge schicken.
Cohen will auch einen Nekrolog schreiben. Ich schickte ihm etliches Material.
Bonn, 30.12.25.