1. Teil:   Marseille 1862 

Marseille, den 31. Oktober 1862

 Meine Theuersten !
Nachdem ich mich gestern ausgeruht und Marseille etwas angesehen habe, beeile ich mich vor meiner kleinen Seereise, Euch die Nachricht von meinem Wohlsein und meiner glücklichen Ankunft hierselbst zu geben. Die Züge verhielten sich noch ganz, wie ich sie aus Coursbuch und Telegraph ausgezogen hatte: überhaupt ging die ganze Fahrt so von Statten, wie wir es vorher überlegt und ausgerechnet hatten. Das Schönste war wohl Genf, und wenn ich auf der Rückreise denselben Weg nehme, und nur etwas mehr Zeit und Geld habe, so verweile ich dort jedenfalls einige Tage. Um seine reizende Lage und die nächsten Umgebungen so im Fluge würdigen zu können, dazu war mir allerdings das herrlich klare Wetter ausnehmend günstig. Im Hotel Bergner war es allerdings sehr schön, aber auch entsprechend theuer. Das Aergerlichste war mir aber stets die große Summe für das Gepäck, die übrigens ihre größte Höhe auf der Strecke von Frankfurt nach Basel und von Basel nach Genf erreichte. Die Fleischnahrung wird offenbar, je weiter man nach Süden kommt, desto theurer, und die anderen Speisen kennt man noch nicht genug, um sich von ihnen zu nähren. Marseille verdient im Ganzen den Namen einer schönen Stadt, obgleich ganze Partieen wahrhaft abscheulich eng und schmutzig sind. Doch besitzt es auch sehr schöne, breite, regelmäßige, durch reiche Läden glänzende Straßen in großer Menge. Schöne, prächtige Gebäude sind selten. Auch eine Menge niedlicher freier Plätze dienen der Stadt zur großen Zierde. Das offenbar Großartigste sind die großen Häfen, sowohl durch ihre Geräumigkeit und ihren Reichthum an Schiffen, als auch durch das interessante Leben, das auf ihren Quais herrscht. Die verschiedenartigsten Physionomien, Trachten und Sprachen liefern ein überwältigend lebhaftes und reiches Bild. Neger, Türken, Griechen, Zuaven, blonde Nordländer und lebhafte blonde Kinder des Südens tummeln sich bunt durcheinander; die Anzüge der Einzelnen oft aus Elementen der verschiedensten Nationen zusammengesetzt. Das Leben wird überhaupt schon mehr öffentlich; auf der Straße, in oder vor den Magazinen und Caffeehäusern. Letztere sind von wahrhaft verschwenderischer Pracht in ihrer Ausstattung. Um so auffallender dann das Leben in diesen prächtigen Räumen. Der schmierige Bewohner des Hafens auf den rothen Plüschsophas, seinen Tabaksaft ausspeichelnd neben dem Dandy, der seinen Mokka schlürft. Eine längere Wanderung durch diese Kaffees kann schon sehr gut einige Tage unterhalten. Doch es ist nicht mein Zweck, jetzt zu beschreiben und zu schildern, sondern Euch vielmehr nun von meiner glücklichen Ankunft und sofortigen Abreise zu benachrichtigen. Um 11 Uhr muß ich an Bord, die Sachen schon um 9 oder 10.
Was den zoologischen Garten anbetrifft, fällt mir noch ein, so ist der hiesige in keiner Weise im Stande, einen Vergleich mit dem zu Coeln auszuhalten. Das Nähere ein ander Mal.
Für jetzt also Adieu: Nehmt nochmals meinen einfachen, doch innigsten Dank für Eure unermüdliche Liebe und Sorge für mich und hofft mit mir, daß wir uns gesund und heiter wiedersehen. O, ich wollte, ich hätte Euch und Coeln nie verlassen: vielleicht stünde es um Gesundheit und Zukunft besser!
Zu bemerken habe ich noch, daß ich vergessen habe, das Geld für Traudchen (Wäsche = 21 sgr) zurückzulassen, da ich die Überbringerin nicht gesehen habe. Darf ich bitten, das zu berichtigen? Das Zängelchen für die Wimperhaare der Augen kann wohl Carl vom Bandagisten Hanne abholen.
Nochmals Adieu, lieber Onkel, beste Tante! Bleibt gesund, wie ich Euch verlassen habe und grüßt Großmama, Lenchen und die Kinder, eure Kinder selbst und Carls Vater. Alsbald nach meiner Ankunft in Bône schreibe ich wieder.
In dankbarer Liebe
Euer Gustav. 


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