10. Teil:  Sfax 1866

Sfax am 3ten November 1866
        /14 Jan
 

 Theuerster Onkel,

Mit Dank und Freude habe ich Deinen lieben, ausführlichen Brief vom 9ten Oktober gestern hier empfangen. Ich begreife sehr wohl, daß die verflossene Zeit eine Periode voller Aufregung und Thätigkeit war, wohl geeignet, Dich für kurze Zeit von ruhiger ungeschäftlicher Correspondenz abzuziehen. Ich bin nur zufrieden, daß kein Unfall, keine Unannehmlichkeit weder in der Familie, noch geschäftlicher Art Schuld an dieser Verzögerung tragen. Die ganze zahlreiche Familie Brügelmann-Nachtigal scheint sich ja doch im besten Wohlsein zu befinden, von der Doyenne an, die noch so rüstig von Honnef nach Königswinter wandert, bis zum kleinen Dietrich, der allerdings schon ein großer Junge sein muß. Daß Karl Klockenbring-Nachtigal momentan von Zeit zu Zeit von dieser allgemeinen Prosperität eine Ausnahme macht, tut mir herzlich leid, wird jedoch hoffentlich zu ändern sein. Sobald ich im Frühjahr komme (und dies Mal muß es feststehen, wenn ich nicht gemüthlich zu sehr leiden soll), werden auch bei ihm, wollen wir wünschen, die hier in Tunis so rühmlich bekannten und in der Pharmacie stets vorräthig gehaltenen Nachtigalschen Pillen zur Verdauung und Magenstärkung ihre Dienste nicht ganz versagen. Ich kann Euch nicht ausdrücken, wie sehr ich die Nothwendigkeit, mich in Europa, speciell in der Heimath wieder aufzufrischen, fühle. Wenn Alles sich hier so gestalten wird, wie der Mensch calculiren kann, werden wir, Herr v. Moers, der eine derartige Reise vielleicht noch nöthiger hat, als ich, im Monat April von hier abreisen. Wir haben unsere Reiseroute im kleinsten Detail schon tracirt und unseren ganzen Plan schon manchen einsamen, afrikanischen Sommerabend auf der Terrasse durchsprochen. Vom Gesundheitsstande der lieben Tante sprichst du nicht im Besonderen; doch erlaube ich mir, daraus die erfreulichsten Schlußfolgerungen auf ihr Befinden zu machen.– Wie kommt es, daß Carl Brügelmann, der übrigens ein ganz stattlicher Cürassier sein muß, unter dieser Kriegergattung seiner Militärpflicht genügt, während doch der Dienst bei einem anderen Truppentheile ein bequemerer gewesen wäre?
Die Familiennachrichten aus Polkvitz und Stendal waren mir bekannt, wie auch der letzte Brief von meiner Schwester von ihrem guten Befinden zeugt. Daß meine südlichen Mitafrikaner ihre Familie vermehrt haben macht mir ein großes Vergnügen; ich würde sehr wünschen, sie einmal dort zu besuchen. Von Carl Nachtigal’s (in Stendal) 2ter Frau kann Marie nicht genug Gutes schreiben; weniger gefällt ihr Leopold, wenn sie auch sein pedantisches Wesen etwas gemildert findet.
Ich selbst befinde mich, wie Ihr aus dem Datum erseht, in Sfax, wo ich vor ca einer Woche angekommen bin und vielleicht noch eine Woche bleiben werde. Ich kam mit dem Admiral hierher an Bord seiner Hoheit Fregatte El Sedekia, um den größten Theil des Tunesischen Geschwaders zur Ueberwinterung auf die sichere Rhede von Sfax zu führen, in Rücksicht auf die Unsicherheit des Golfes von Tunis, in dem sich kein Hafen findet. Mit der Verlegung des Hofes von der Goulette nach dem Bardo sind auch wir von ersterem Orte verschwunden. Den übrigen Theil des Winters werde ich wahrscheinlich wieder in Tunis oder dem Bardo zubringen, attachirt in die Familie des Premier-Ministers, wie ich bin. Doch in diesem Winter hoffe ich eine Änderung meiner ganzen Lage zu erzielen. Entweder stellt sich durch weise Maaßregeln der Credit und die ganze Lage des Landes wieder günstiger und dann strebe ich eine nützlichere, aber auch lukrativere Stellung an, die mich davon dispensirt, den unnützen Höfling durch ca 6 Stunden täglich zu spielen, oder ich werde vielleicht, wenn man mir meine Marine-Stellung belassen will, hierher nach Sfax übersiedeln, dessen Europäische Einwohner mir für diesen Fall noch ca 1000 Thaler Fixum sichern würden. Das ganze Tunesische Staatsleben ist wirklich in einer Weise faul, daß man alle möglichen Eventualitäten envisagiren muß. Du kannst Dir, lieber Onkel, in der That gar keine Vorstellung von den hiesigen Vorgängen und der finanziellen Verwicklung machen. Denke Dir ein Land mit unentwickelten, aber stets abnehmenden Hülfsquellen mit einer Schuldenlast von ca 100 Millionen Piastern, während seine Einnahmen ca 20 Millionen betragen. Die Erndten des Oels und des Getreides auf 1-2 Jahre voraus verpfändet, keinen Pfennig Geld, um die laufenden Ausgaben zu bestreiten, kein regelmäßiges Budget, als Grundlage der Calcul, kein guter Wille, europäische Ordnung einzuführen, wohl aber viel böser Wille, unnütze Ausgaben zu machen und zu stehlen, noch mehr Ungeschicklichkeit und Dummheit und kein Credit.
Seit der Revolution, welche die Constitution mit regelmäßigen Steuern über den Haufen warf, herrscht wieder mehr oder weniger die frühere Willkühr in der Besteuerung oder vielmehr in der Erpressung von Geld bei den Einwohnern von Seiten der ausgeschickten Funktionäre. In Anschauung der herrschenden Geldnoth in Regierungskreisen sieht sich der Eingeborene die Früchte seiner Arbeit durchaus nicht gesichert und zieht bei seinem geringen Anspruche daher vor, gar nicht zu cultiviren oder, wenn er energischer ist, wandert er in die Wüste, oder nach Tripolis oder nach Algerien. So nimmt der Ackerbau, der immer die Hauptquelle der Prosperität in diesem Lande bleiben muß, ab, und mit ihm Geld, Credit, Muth u.s.w.
Die Großen des Landes schwimmen im Gelde, der Eine hat 50 Millionen der Andere 30, der Dritte 20, der 4te 10 u.s.w. u.s.w.; doch der Rest ist Misére der traurigsten Art. Jene haben schon 2-3 mal zusammengesteuert, wenn die Gefahr des allgemeinen Bankeruttes allzu nahe an sie herantrat; doch was hilft es, wenn man nicht klüger, verständiger und sparsamer durch diese Erfahrungen wird. Sobald eine neue Anleihe contrahirt worden ist, glauben sie wieder, wie die Kinder, daß so viel Geld gar nicht endigen könne und das alte System der Verschwendung, der Unordnung und Unterschlagung beginnt von Neuem.
Dazu gierige Europäer, die, um hohe Interessen zu erzielen, das Gouvernement nicht ungern in immer neue Schwierigkeiten verwickeln und die höchstens jetzt anfangen, wo die Lage eine wirklich kritische geworden ist, ängstlich ihren dargeliehenen Schätzen nachzustarren.
Mehre aufeinander folgende Mißernten vollenden endlich das traurige Ensemble, von dem ich Dir ein Bild zu entwerfen versuche.
Seit dem Frühjahr ist die Regierung nun beschäftigt, ein beträchtliches Darlehen zu suchen, zu dessen Negoziirung auch in der That eine ansehnliche Zahl Finanzmänner und Schwindler auf der Bühne erschienen. Letztere suchten durch vortheilhafte Propositionen die Geschäfte der ersteren zu embroulliren und so im Trüben zu fischen, während sie selbst natürlich nicht im Stande waren, ihre Offerten aufrecht zu erhalten.
So traten Erlanger’s von Paris, die doch einmal allein und einmal mit dem Comtoir d’Escompte ein tunesisches Anleihen gemacht hatten, mit ihren ernstlich gemeinten, aber den schwierigen Verhältnissen des Landes entsprechend theuren Bedingungen zurück.– Dann verminderten die Kriege in Europa Geld und Credit auf den großen Geldmärkten und Tunis fand nirgends das geringste Gehör. Schon Monate lang leben Abgesandte auf Kosten unseres mageren Staates in den ersten Hotels von Paris und London und noch immer hat sich kein Pfennig gefunden. Ich glaube, sie werden noch einmal auf Erlanger’s verfallen und hoffe es, sei es für meine Freunde hier, sei es für mich selbst. Dies würde aber wohl das letzte Mal sein; eine 2te Crisis der Art kann ein Land, wie Tunis nicht überstehen.
In der Beziehung geht es allerdings in Preußen doch besser her. Einen derartigen Krieg aus vorhandenen Mitteln zu führen ist fast ebenso bewunderungswürdig, als so glänzend und in so kurzer Zeit überall Sieger zu sein, wenn mir auch ein Staatsschatz, dessen Verwendung dem Könige zusteht, wenig mit constitutionellen Maximen zu harmonieren scheint.
Ich bin stolz, wie Du es nur sein kannst, auf die Waffenthaten meiner Landsmänner; doch über den Anfang und das Ende des Krieges denke ich nach den Principien allgemeiner Gerechtigkeit und nicht als specifischer Preuße. Als der Krieg begonnen werden sollte, war ganz Preußen gegen den Krieg, weil Niemand ernstlich glaubte, daß das decrepite Oesterreich daran denken könne, Preußen vernichten zu wollen. Ich finde ebensowenig in der That in allen Thatsachen, welche dem Ausbruche des Krieges vorhergingen, ernstlichen Grund zu solcher Annahme. Trotzdem wurde der Krieg unternommen, weil man es wollte, nicht weil man es mußte. Oesterreich hat man wahrhaftig nicht zu fürchten, es trug und es trägt noch durch seine unzeitgemäße Zusammenwürflung verschiedener Nationalitäten den Keim des Zerfalls in sich. Warum es mit solcher Rapidität vernichten, und warum einem solchen Ziele so viele, viele Menschenleben opfern?
Der Krieg wurde gloriös geführt und hat Preußen einen unauslöschlichen Ehrennamen in der Geschichte verschafft; Leute, die sonst keine Ahnung von der Existenz eines solchen Landes hatten, sind jetzt voller Bewunderung, ich mache die Erfahrung in der Ferne alle Tage. Man bewundert die Kühnheit des Planes, die Feinheit und Präcision der Ausführung, die militärische Administration, die Bravour, die Strategik, die Aufführung unserer Soldaten in Feindes- und Freundesland: und ich bin stolz darauf, einem Volke anzugehören, welches dieses Lob verdient.– Was die unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Krieges betrifft, so bekommen wir aus französischen*), englischen und italienischen Zeitungen der verschiedensten Färbungen mit einigem natürlichem Verstande gewiß ein ganz richtiges Bild. Da sind Depeschen, da sind Correspondenzen, eigene und Zeitungen anderer Länder entnommene, das sind preußische Kammerverhandlungen: genug, wenn man zu sichten versteht.
Thatsache ist, daß man Länder, die nach ihrem besten Wissen und Willen gehandelt hatten und sich Bundesglieder glaubten und als solche handelten (wessen Schuld war es, daß der Bund eine so stumpfsinnige Einrichtung war?) Preußen einverleibte, nicht auf Grund des allgemeinen Volkswunsches, sondern auf der Basis des mittelalterlichen Rechts der Eroberung, mit einer leisen Anspielung, daß es zum Heile Deutschlands sein werde. Wenn die „eroberten“ Völker glaubten, die letzte Gewißheit haben zu können, daß diese Einigung zu einem Deutschland ihrer Idee führen würde, sie würden sich mit Vergnügen in die Arme des feindlichen Bruders werfen. Aber wo haben sie die Garantie einer solchen Zukunft? Erinnere Dich, wie Ihr Alle früher Herrn v. Bismark beurtheilt habt, ihn und seine Regierungsmaaßnahmen. Hat er sich geändert, sich und seine Principien, oder waren seine früheren Handlungen politische Scherze? Ich habe eine viel zu hohe Ansicht von der Intelligenz, der Charakterfestigkeit, der Principientreue unseres ersten Staatsmannes, um das Eine oder Andere glauben zu können. Wo liegt der Beweis und die Garantie, daß dieser, seine Ziele einmal erreicht, nicht geradeso im Nothfalle gegen die Rechte der 2ten Kammer verfahren werde, als er es während so langer Zeit that? Ich kann nicht leugnen, daß ich der wie es scheint, den meisten Menschen sonderbar erscheinenden Ansicht und Ueberzeugung huldige, daß Moral und Gerechtigkeit sich in alle Lebensverhältnisse, also auch in die politischen und diplomatischen, übertragen lasse, und daß man sich durch keinen falschverstandenen Patriotismus und durch keine Nützlichkeitsrücksicht für sein Land verleiten lassen solle, diesen Rechtsprincipien zu entsagen.
Mit ernster Freude nehme ich die vollendete Thatsache größerer deutscher Einigung an, doch ist diese Freude keine reine, denn weder scheint mir der Weg, der zu derselben führte, der ganz richtige gewesen zu sein, noch bietet sie selbst mir die Garantie der weiteren zeitgemäßen Entwicklung.
Das sind eben Ansichten. Ich weiß nur das Eine: ich will das Recht und verabscheue folglich den Krieg im Allgemeinen und noch mehr den Krieg zwischen Landsleuten.
Möge die Zukunft die Geschichte der deutschen Lande zum Besten lenken, das ist mein aufrichtiger Wunsch, wie es der Deine und aller Patrioten ist. Oh, was es mich verlangt, das Alles einmal wieder in der Heimath besprechen zu hören.
Von Wilhelm Brügelmann, Albert und den übrigen Kindern der Familie sprichst Du nicht besonders; ebenso wenig erwähnst Du die Familie Herrmanns und seine Augen. Soll ich daraus schließen, daß letztere in ihrer so schön gelungenen Besserung verharrten?
Ich suche augenblicklich wieder Errungenschaften für den zoologischen Garten zu machen. Doch die so sehr gewünschte Antilope des Dr. Bodinus kann ich kaum hoffen zu attrappiren. Ich habe einen Brief von ihm wegen der Eidechse gehabt. Sie ist von ansehnlicher Größe, nicht wahr? In der Wüste ist sie sehr geschätzt, da die Sage geht, daß sie es sei, die Nachts um die Reisenden einen magischen Kreis beschreibe, den weder Scorpione noch Vipern überschreiten können.
Lebewohl für heute, lieber Onkel! Grüße die Tante auf das Liebevollste von mir, umarme alle Kinder der Familie für mich, bezeige der Großmama meinen Respect, vergiß Lenchen, Christiane und Familien nicht, schüttle Freunden und Bekannten für mich die Hand und genehmige selbst den Ausdruck höchster Achtung und anhänglichster, dankbarlichster Liebe.
  Dein
    Gustav
 

*) Eine Menge der liberalen französischen Zeitungen größerer Verbreitung waren für Preußen und seine Art zu handeln: So Les Debates, le Ciecle, l’Opinion National etc.


FORTSETZUNG IM 11. TEIL