Theuerster Onkel,
Mit Dank und Freude habe ich Deinen lieben, ausführlichen Brief
vom 9ten Oktober gestern hier empfangen. Ich begreife sehr wohl, daß
die verflossene Zeit eine Periode voller Aufregung und Thätigkeit
war, wohl geeignet, Dich für kurze Zeit von ruhiger ungeschäftlicher
Correspondenz abzuziehen. Ich bin nur zufrieden, daß kein Unfall,
keine Unannehmlichkeit weder in der Familie, noch geschäftlicher Art
Schuld an dieser Verzögerung tragen. Die ganze zahlreiche Familie
Brügelmann-Nachtigal scheint sich ja doch im besten Wohlsein zu befinden,
von der Doyenne an, die noch so rüstig von Honnef nach Königswinter
wandert, bis zum kleinen Dietrich, der allerdings schon ein großer
Junge sein muß. Daß Karl Klockenbring-Nachtigal momentan von
Zeit zu Zeit von dieser allgemeinen Prosperität eine Ausnahme macht,
tut mir herzlich leid, wird jedoch hoffentlich zu ändern sein. Sobald
ich im Frühjahr komme (und dies Mal muß es feststehen, wenn
ich nicht gemüthlich zu sehr leiden soll), werden auch bei ihm, wollen
wir wünschen, die hier in Tunis so rühmlich bekannten und in
der Pharmacie stets vorräthig gehaltenen Nachtigalschen Pillen zur
Verdauung und Magenstärkung ihre Dienste nicht ganz versagen. Ich
kann Euch nicht ausdrücken, wie sehr ich die Nothwendigkeit, mich
in Europa, speciell in der Heimath wieder aufzufrischen, fühle. Wenn
Alles sich hier so gestalten wird, wie der Mensch calculiren kann, werden
wir, Herr v. Moers, der eine derartige Reise vielleicht noch nöthiger
hat, als ich, im Monat April von hier abreisen. Wir haben unsere Reiseroute
im kleinsten Detail schon tracirt und unseren ganzen Plan schon manchen
einsamen, afrikanischen Sommerabend auf der Terrasse durchsprochen. Vom
Gesundheitsstande der lieben Tante sprichst du nicht im Besonderen; doch
erlaube ich mir, daraus die erfreulichsten Schlußfolgerungen auf
ihr Befinden zu machen.– Wie kommt es, daß Carl Brügelmann,
der übrigens ein ganz stattlicher Cürassier sein muß, unter
dieser Kriegergattung seiner Militärpflicht genügt, während
doch der Dienst bei einem anderen Truppentheile ein bequemerer gewesen
wäre?
Die Familiennachrichten aus Polkvitz und Stendal waren mir bekannt,
wie auch der letzte Brief von meiner Schwester von ihrem guten Befinden
zeugt. Daß meine südlichen Mitafrikaner ihre Familie vermehrt
haben macht mir ein großes Vergnügen; ich würde sehr wünschen,
sie einmal dort zu besuchen. Von Carl Nachtigal’s (in Stendal) 2ter Frau
kann Marie nicht genug Gutes schreiben; weniger gefällt ihr Leopold,
wenn sie auch sein pedantisches Wesen etwas gemildert findet.
Ich selbst befinde mich, wie Ihr aus dem Datum erseht, in Sfax, wo
ich vor ca einer Woche angekommen bin und vielleicht noch eine Woche bleiben
werde. Ich kam mit dem Admiral hierher an Bord seiner Hoheit Fregatte El
Sedekia, um den größten Theil des Tunesischen Geschwaders zur
Ueberwinterung auf die sichere Rhede von Sfax zu führen, in Rücksicht
auf die Unsicherheit des Golfes von Tunis, in dem sich kein Hafen findet.
Mit der Verlegung des Hofes von der Goulette nach dem Bardo sind auch wir
von ersterem Orte verschwunden. Den übrigen Theil des Winters werde
ich wahrscheinlich wieder in Tunis oder dem Bardo zubringen, attachirt
in die Familie des Premier-Ministers, wie ich bin. Doch in diesem Winter
hoffe ich eine Änderung meiner ganzen Lage zu erzielen. Entweder stellt
sich durch weise Maaßregeln der Credit und die ganze Lage des Landes
wieder günstiger und dann strebe ich eine nützlichere, aber auch
lukrativere Stellung an, die mich davon dispensirt, den unnützen Höfling
durch ca 6 Stunden täglich zu spielen, oder ich werde vielleicht,
wenn man mir meine Marine-Stellung belassen will, hierher nach Sfax übersiedeln,
dessen Europäische Einwohner mir für diesen Fall noch ca 1000
Thaler Fixum sichern würden. Das ganze Tunesische Staatsleben ist
wirklich in einer Weise faul, daß man alle möglichen Eventualitäten
envisagiren muß. Du kannst Dir, lieber Onkel, in der That gar keine
Vorstellung von den hiesigen Vorgängen und der finanziellen Verwicklung
machen. Denke Dir ein Land mit unentwickelten, aber stets abnehmenden Hülfsquellen
mit einer Schuldenlast von ca 100 Millionen Piastern, während seine
Einnahmen ca 20 Millionen betragen. Die Erndten des Oels und des Getreides
auf 1-2 Jahre voraus verpfändet, keinen Pfennig Geld, um die laufenden
Ausgaben zu bestreiten, kein regelmäßiges Budget, als Grundlage
der Calcul, kein guter Wille, europäische Ordnung einzuführen,
wohl aber viel böser Wille, unnütze Ausgaben zu machen und zu
stehlen, noch mehr Ungeschicklichkeit und Dummheit und kein Credit.
Seit der Revolution, welche die Constitution mit regelmäßigen
Steuern über den Haufen warf, herrscht wieder mehr oder weniger die
frühere Willkühr in der Besteuerung oder vielmehr in der Erpressung
von Geld bei den Einwohnern von Seiten der ausgeschickten Funktionäre.
In Anschauung der herrschenden Geldnoth in Regierungskreisen sieht sich
der Eingeborene die Früchte seiner Arbeit durchaus nicht gesichert
und zieht bei seinem geringen Anspruche daher vor, gar nicht zu cultiviren
oder, wenn er energischer ist, wandert er in die Wüste, oder nach
Tripolis oder nach Algerien. So nimmt der Ackerbau, der immer die Hauptquelle
der Prosperität in diesem Lande bleiben muß, ab, und mit ihm
Geld, Credit, Muth u.s.w.
Die Großen des Landes schwimmen im Gelde, der Eine hat 50 Millionen
der Andere 30, der Dritte 20, der 4te 10 u.s.w. u.s.w.; doch der Rest ist
Misére der traurigsten Art. Jene haben schon 2-3 mal zusammengesteuert,
wenn die Gefahr des allgemeinen Bankeruttes allzu nahe an sie herantrat;
doch was hilft es, wenn man nicht klüger, verständiger und sparsamer
durch diese Erfahrungen wird. Sobald eine neue Anleihe contrahirt worden
ist, glauben sie wieder, wie die Kinder, daß so viel Geld gar nicht
endigen könne und das alte System der Verschwendung, der Unordnung
und Unterschlagung beginnt von Neuem.
Dazu gierige Europäer, die, um hohe Interessen zu erzielen, das
Gouvernement nicht ungern in immer neue Schwierigkeiten verwickeln und
die höchstens jetzt anfangen, wo die Lage eine wirklich kritische
geworden ist, ängstlich ihren dargeliehenen Schätzen nachzustarren.
Mehre aufeinander folgende Mißernten vollenden endlich das traurige
Ensemble, von dem ich Dir ein Bild zu entwerfen versuche.
Seit dem Frühjahr ist die Regierung nun beschäftigt, ein
beträchtliches Darlehen zu suchen, zu dessen Negoziirung auch in der
That eine ansehnliche Zahl Finanzmänner und Schwindler auf der Bühne
erschienen. Letztere suchten durch vortheilhafte Propositionen die Geschäfte
der ersteren zu embroulliren und so im Trüben zu fischen, während
sie selbst natürlich nicht im Stande waren, ihre Offerten aufrecht
zu erhalten.
So traten Erlanger’s von Paris, die doch einmal allein und einmal mit
dem Comtoir d’Escompte ein tunesisches Anleihen gemacht hatten, mit ihren
ernstlich gemeinten, aber den schwierigen Verhältnissen des Landes
entsprechend theuren Bedingungen zurück.– Dann verminderten die Kriege
in Europa Geld und Credit auf den großen Geldmärkten und Tunis
fand nirgends das geringste Gehör. Schon Monate lang leben Abgesandte
auf Kosten unseres mageren Staates in den ersten Hotels von Paris und London
und noch immer hat sich kein Pfennig gefunden. Ich glaube, sie werden noch
einmal auf Erlanger’s verfallen und hoffe es, sei es für meine Freunde
hier, sei es für mich selbst. Dies würde aber wohl das letzte
Mal sein; eine 2te Crisis der Art kann ein Land, wie Tunis nicht überstehen.
In der Beziehung geht es allerdings in Preußen doch besser her.
Einen derartigen Krieg aus vorhandenen Mitteln zu führen ist fast
ebenso bewunderungswürdig, als so glänzend und in so kurzer Zeit
überall Sieger zu sein, wenn mir auch ein Staatsschatz, dessen Verwendung
dem Könige zusteht, wenig mit constitutionellen Maximen zu harmonieren
scheint.
Ich bin stolz, wie Du es nur sein kannst, auf die Waffenthaten meiner
Landsmänner; doch über den Anfang und das Ende des Krieges denke
ich nach den Principien allgemeiner Gerechtigkeit und nicht als specifischer
Preuße. Als der Krieg begonnen werden sollte, war ganz Preußen
gegen den Krieg, weil Niemand ernstlich glaubte, daß das decrepite
Oesterreich daran denken könne, Preußen vernichten zu wollen.
Ich finde ebensowenig in der That in allen Thatsachen, welche dem Ausbruche
des Krieges vorhergingen, ernstlichen Grund zu solcher Annahme. Trotzdem
wurde der Krieg unternommen, weil man es wollte, nicht weil man es mußte.
Oesterreich hat man wahrhaftig nicht zu fürchten, es trug und es trägt
noch durch seine unzeitgemäße Zusammenwürflung verschiedener
Nationalitäten den Keim des Zerfalls in sich. Warum es mit solcher
Rapidität vernichten, und warum einem solchen Ziele so viele, viele
Menschenleben opfern?
Der Krieg wurde gloriös geführt und hat Preußen einen
unauslöschlichen Ehrennamen in der Geschichte verschafft; Leute, die
sonst keine Ahnung von der Existenz eines solchen Landes hatten, sind jetzt
voller Bewunderung, ich mache die Erfahrung in der Ferne alle Tage. Man
bewundert die Kühnheit des Planes, die Feinheit und Präcision
der Ausführung, die militärische Administration, die Bravour,
die Strategik, die Aufführung unserer Soldaten in Feindes- und Freundesland:
und ich bin stolz darauf, einem Volke anzugehören, welches dieses
Lob verdient.– Was die unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Krieges
betrifft, so bekommen wir aus französischen*), englischen und italienischen
Zeitungen der verschiedensten Färbungen mit einigem natürlichem
Verstande gewiß ein ganz richtiges Bild. Da sind Depeschen, da sind
Correspondenzen, eigene und Zeitungen anderer Länder entnommene, das
sind preußische Kammerverhandlungen: genug, wenn man zu sichten versteht.
Thatsache ist, daß man Länder, die nach ihrem besten Wissen
und Willen gehandelt hatten und sich Bundesglieder glaubten und als solche
handelten (wessen Schuld war es, daß der Bund eine so stumpfsinnige
Einrichtung war?) Preußen einverleibte, nicht auf Grund des allgemeinen
Volkswunsches, sondern auf der Basis des mittelalterlichen Rechts der Eroberung,
mit einer leisen Anspielung, daß es zum Heile Deutschlands sein werde.
Wenn die „eroberten“ Völker glaubten, die letzte Gewißheit haben
zu können, daß diese Einigung zu einem Deutschland ihrer Idee
führen würde, sie würden sich mit Vergnügen in die
Arme des feindlichen Bruders werfen. Aber wo haben sie die Garantie einer
solchen Zukunft? Erinnere Dich, wie Ihr Alle früher Herrn v. Bismark
beurtheilt habt, ihn und seine Regierungsmaaßnahmen. Hat er sich
geändert, sich und seine Principien, oder waren seine früheren
Handlungen politische Scherze? Ich habe eine viel zu hohe Ansicht von der
Intelligenz, der Charakterfestigkeit, der Principientreue unseres ersten
Staatsmannes, um das Eine oder Andere glauben zu können. Wo liegt
der Beweis und die Garantie, daß dieser, seine Ziele einmal erreicht,
nicht geradeso im Nothfalle gegen die Rechte der 2ten Kammer verfahren
werde, als er es während so langer Zeit that? Ich kann nicht leugnen,
daß ich der wie es scheint, den meisten Menschen sonderbar erscheinenden
Ansicht und Ueberzeugung huldige, daß Moral und Gerechtigkeit sich
in alle Lebensverhältnisse, also auch in die politischen und diplomatischen,
übertragen lasse, und daß man sich durch keinen falschverstandenen
Patriotismus und durch keine Nützlichkeitsrücksicht für
sein Land verleiten lassen solle, diesen Rechtsprincipien zu entsagen.
Mit ernster Freude nehme ich die vollendete Thatsache größerer
deutscher Einigung an, doch ist diese Freude keine reine, denn weder scheint
mir der Weg, der zu derselben führte, der ganz richtige gewesen zu
sein, noch bietet sie selbst mir die Garantie der weiteren zeitgemäßen
Entwicklung.
Das sind eben Ansichten. Ich weiß nur das Eine: ich will das
Recht und verabscheue folglich den Krieg im Allgemeinen und noch mehr den
Krieg zwischen Landsleuten.
Möge die Zukunft die Geschichte der deutschen Lande zum Besten
lenken, das ist mein aufrichtiger Wunsch, wie es der Deine und aller Patrioten
ist. Oh, was es mich verlangt, das Alles einmal wieder in der Heimath besprechen
zu hören.
Von Wilhelm Brügelmann, Albert und den übrigen Kindern der
Familie sprichst Du nicht besonders; ebenso wenig erwähnst Du die
Familie Herrmanns und seine Augen. Soll ich daraus schließen, daß
letztere in ihrer so schön gelungenen Besserung verharrten?
Ich suche augenblicklich wieder Errungenschaften für den zoologischen
Garten zu machen. Doch die so sehr gewünschte Antilope des Dr. Bodinus
kann ich kaum hoffen zu attrappiren. Ich habe einen Brief von ihm wegen
der Eidechse gehabt. Sie ist von ansehnlicher Größe, nicht wahr?
In der Wüste ist sie sehr geschätzt, da die Sage geht, daß
sie es sei, die Nachts um die Reisenden einen magischen Kreis beschreibe,
den weder Scorpione noch Vipern überschreiten können.
Lebewohl für heute, lieber Onkel! Grüße die Tante auf
das Liebevollste von mir, umarme alle Kinder der Familie für mich,
bezeige der Großmama meinen Respect, vergiß Lenchen, Christiane
und Familien nicht, schüttle Freunden und Bekannten für mich
die Hand und genehmige selbst den Ausdruck höchster Achtung und anhänglichster,
dankbarlichster Liebe.
Dein
Gustav
*) Eine Menge der liberalen französischen Zeitungen größerer
Verbreitung waren für Preußen und seine Art zu handeln: So Les
Debates, le Ciecle, l’Opinion National etc.