Lieber Onkel,
Zunächst meinen herzlichen Dank für die Freundlichkeit, mit
der Du Dich der Unannehmlichkeit unterzogen hast, Auskunft über mich
und meine Desertion vor Gericht zu geben. Ich hätte nicht vermuthet,
daß die Unregelmäßigkeit, der ich mich ja zweifelsohne
schuldig gemacht habe, von solcher Tragweite sein würde. Wie ich Dir
im verflossenen Sommer schrieb, hat das hiesige Gouvernement vor der rapiden
Campagne in Böhmen durch den hiesigen Preußischen Consul an
die Preußischen Regierung die Bitte gerichtet, mir einen unbegrenzten
Urlaub zu ertheilen. Doch einerseits war der Brief so ungeschickt abgefaßt,
so allgemein gehalten, daß man in Berlin nicht sowohl darunter einen
Dispens von der gerade statthabenden Campagne begriff, als vielmehr eine
definitive Entlassung aus meiner Landwehrstellung und danach die Antwort
einrichtete; andererseits nahmen indessen die kriegerischen Ereignisse
einen so rapiden Verlauf, daß die entscheidende Schlacht von Sadowa
oder Königgrätz statthatte, ehe eine Antwort einlaufen konnte.
Sollte ich noch nach Thoresschluß abreisen und dort ankommen, wenn
Alles zu Ende war? Dazu konnte ich mich nicht entschließen. Die spätere
Antwort, welche dann vom Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten
von Berlin eintraf, wieß mich einfach darauf an, zu meiner definitiven
Entlassung (die, wie man zu verstehen gab, bei vorliegenden sanitätlichen
Gründen, nicht schwer halten könne) den regelmäßigen
gesetzlichen Weg zu betreten. Für immer meinen Landwehrverpflichtungen
entbunden zu werden, lag aber gar nicht in meinem Plan; auch konnte ich
hier Niemandem von meinen Collegen zumuten, mir fortbestehende Krankheit
zu bezeugen: so ließ ich die Sache gehen.
Sobald Du mir jetzt über die ersten Anfragen von Seiten meiner
Militärbehörde betreffs meines Aufenthaltes und meine Verwandten
zu berichten die Güte hattest, habe ich unter kurzer Erwähnung
der Thatsachen des letzten Sommers um Verlängerung meines Urlaubs
gebeten. Als unmittelbar darauf Dein letzter freundlicher Brief mit der
Detaillirung aller erwachsenen Unannehmlichkeiten einlief, habe ich direct
an das Militärgericht der 15 Divisionen einen längeren Bericht
über mein Verhalten gesendet mit Beifügung einer Uebersetzung
des Briefes, den die hiesige Regierung meinetwillen geschrieben hatte und
des Originalbriefes, den mir unser Premier-Minister für Herrn von
Bismark für den Fall meiner persönlichen Uebersiedlung nach Preußen
gegeben hatte und von dem ich nachher keinen Gebrauch hatte machen können.
Heute habe ich einen 2ten Brief von der Regierung hier erhalten, der sehr
klar den ganzen Verlauf auseinandersetzt, meinen Entschluß, zu gehen
und die Mühe, die man sich hier gab, mich davon abzubringen, und in
dem die tunesische Regierung die ganze Verantwortung auf sich nehmen zu
dürfen bittet und von der Courtoisie der Preußischen Regierung
Niederschlagung der Angelegenheit erwartet. Dieser Brief wird mit diesen
Zeilen hier abgehen und hoffentlich die Sache beendigen. Hauptsächlich
würde ich im entgegengesetzten Falle weiterer unangenehmer Folgen
bedauern, nicht meinen Besuch in der Heimath machen zu können. Eine
der nächsten Wochen wird mir vielleicht schon weitere Nachricht darüber
bringen. Ich sehe daraus immer mehr, daß man nie zu viel Rathschläge
von anderen annehmen soll, wenn man selbst gesunden Menschenverstand hat.
Ich war entschieden, selbst zu gehen, und es war nur der englische Consul,
der durch all’ seine Schritte bei meinen Freunden und dem Premier-Minister,
die er natürlich nur aus Freundschaft that, meinen Entschluß
vernichtete.
Im Uebrigen geht es mir ganz gut, wenn auch die Lage des Landes noch
in derselben traurigen Verfassung ist und mir unendlichen Schaden thut.
Man schuldet mir an Gehalt schon mehr als 1000 Thaler, weiß Gott,
ob ich es jemals ohne bedeutenden Verlust haben werde. Wenn es nicht so
traurig wäre für meine eigenen Interessen, die Beobachtung eines
Landes und einer Regierung, welche schon seit einigen Jahren jede Lebenskraft
verloren zu haben scheinen und die doch immer so kümmerlich fortvegetiren,
würde höchst merkwürdig und interessant sein. Mein Freund
Schmidt hat schon den besten Theil herausgezogen und mag das Land zugrunde
gehen oder gegen alle Erwartung sich wieder erholen: er hat für alle
Fälle seine Schäfchen im Trockenen.
Ich hatte wenigstens jetzt, besonders nach der glücklichen Genesung
des Ministers, über welche der Bey sehr erfreut war, die Hoffnung,
der Person des Bey attachirt zu werden; doch mein alter Freund und Gönner,
Baron Lumbroso, der hier Haus und Hof verkauft hat und nach Italien übersiedelte,
scheint seine Leibarztstellung nicht im Stiche lassen zu wollen und kommt
wieder. Hoffentlich sagt er nur Adieu und läßt mir seinen Platz.
Zu all’ diesen Geldverlusten kommen noch so viele andere Ansprüche.
So ist das allgemeine Elend unter den Europäern so groß, daß
die ersten Damen der Stadt ein Comité‚ zu ihrer Unterstützung
gegründet haben, zu dessen Mitgliede sie mich wählten. Natürlich
muß man um so mehr geben. Noblesse oblige. Dann giebt es einen Ball
zum Besten der „Schwestern“ und ihres kümmerlichen Hospitals, zu dessen
Comité ich gehöre und dessen Kosten die Mitglieder des letzteren
tragen werden.
So giebt es überall Noth und Unzufriedenheit. Auch Du bist mit
Deinem Geschäft nicht mehr so zufrieden, als sonst wohl, wie ich mit
Kummer höre und die so lange schlummernde Krankheit der lieben Tante
hat Euch von Neuem in Aufregung versetzt. Was Ersteres Betrifft, so kannst
Du ja im Nothfalle dem Geschäfte entsagen; ein langes, ehrenvolles
Geschäftsleben voller Anstrengung und Sorge berechtigt wohl zu einem
ruhigen Lebensabende. Der Zustand der Tante ist schon wichtiger und verdient
höchste Aufmerksamkeit. Der Vorschlag Bruch’s, nach Karlsbad zu gehen
gefällt mir sehr gut und würde sicherlich die Leber für
lange Jahre beruhigen. Karl Klockenbring scheint ja ebenfalls besser voranzugehen,
eine Nachricht, welche mir viel Freude gemacht hat. Manche Kinder entwickeln
sich in der That sehr spät und man soll über die definitive intellectuelle
Richtung nie zu früh ein Urtheil fällen. Auch Wilhelm Br. macht
Euch ja Freude, und kann er vielleicht noch dazu bestimmt sein, Dir eine
rechte Stütze im Alter zu werden. Hoffentlich wird ja Carl Br. nicht
auf Abwege gerathen; es ist vielleicht nur übler Einfluß seines
freiwilligen Jahres und etwaiger wenig wünschenswerther Bekanntschaften.
Berichte doch ja, wenn Du so gut sein willst, über den Zustand von
Herrmann Br. Augen von Zeit zu Zeit. Grüße die Mühlengasse
mit dem ganzen Inhalte und Christiane und Familie, wie auch Julius herzlich.
Umarme die Großmama auf das Respectvollste und empfange mit der verehrten
Tante die aufrichtigsten Versicherungen meiner anhänglichen Liebe.
(Ueberlegt Karlsbad noch einmal!)
Euer Gustav.
Willst Du gütigst meine Glückwünsche zu Adele Paas Verlobung
übermitteln und die arme Frau Thermar herzlich grüßen?
Vergiß auch nicht, zu Johanna Rudolf’s Verlobung zu gratuliren und
die Eltern meiner freundschaftlichsten Erinnerung zu versichern.
Dr. N.
ERLANGER & CIE
TUNIS Am 16ten Maerz 1867
/29 März
Lieber Onkel,
Nachdem ich vor 3 und 5 Wochen meine Entschuldigungs- und Erklärungs-Berichte
an mein Landwehr-Bataillons-Commando und an den von Dir angegebenen Gerichtshof
eingeschickt habe, ist mir keine weitere Nachricht über den Verlauf
meiner unangenehmen Angelegenheit zugegangen. Auch die hiesige Regierung
hat, wie gesagt, einen sehr klaren und einfachen Brief geschrieben, in
dem sie, so viel wie möglich, die Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen
trachtet und an die freundschaftliche Gesinnung Seiner Majestät des
Königs von Preußen appellirt. Hoffentlich wird die Sache so
ohne weitere Unannehmlichkeiten verlaufen und mir meine beabsichtigte Heimathreise
nicht stören. Gieb mir nur, sobald Du irgend Etwas vom weiteren Verlaufe
hörst, sogleich Nachricht.
Ich versichere Euch, ich bin ganz Afrikamüde geworden und habe
dringend nöthig, mich gemüthlich und geistig aufzufrischen. Die
Nothwendigkeit der geistigen und speciell wissenschaftlichen Auffrischung
wird mich vermuthlich veranlassen, recht lange dort zu bleiben, wenn auch
dann mit dem Bedauern, nicht die ganze Zeit in Coeln und bei Marie zubringen
zu können. Jetzt, wo ich mir wissenschaftlich, moralisch und materiell
eine angesehene Stellung erworben habe für Tunis, muß ich die
traurige Lage, in der meine momentan adoptirte Heimath sich befindet, und
die geringe persönliche ärztliche Befriedigung, die ich aus der
Höflings-Stellung gewinnen kann, veranlassen, mein Augenmerk auf eine
Branche der Medicin zu werfen, in der ich vor der übrigen ärztlichen
Welt noch mehr excelliren kann. Dies wird natürlich die Augenheilkunde
sein, für die ich mich schon länger interessirt habe und in der
ich theoretisch hinlänglich ausgebildet bin. Es fehlt mir bei meiner
deutschen Gewissenhaftigkeit, welche ich wohl nie werde ablegen können,
nur einige operative Fertigkeit, um mich als Specialisten ausgeben zu können.
Dies würde mir um so leichter werden, als mein Ruf in dieser Beziehung
kein schlechter ist. In jedem Falle sehe ich keine Mittel, vor dem Monat
Juni zu kommen, denn sobald der Bey mit dem Hofe nach der Goulette gegangen
sein wird (Ende April), will der Dr. Schembri, Arzt der prinzlichen Familien
und aller höheren Hofbeamten, mit seiner Familie in seine Heimath
(Malta) gehen und wenigstens einen Monat fortbleiben. Ich würde sein
natürlicher und nothwendiger Vertreter sein und also seine Rückkehr
abzuwarten haben.
Der Carneval ist vorüber und mit hin ist etwas Ruhe eingetreten
für unsere Abende und Nächte, obgleich die Bälle und Tanz-Soiréen
noch nicht gänzlich aufgehört haben. In der letzten Zeit häuften
sich diese Vergnügungen in der That so sehr, daß es eben keine
Vergnügungen sondern Strapazen wurden. Es wird Euch dies von einer
barbarischen Stadt, wie Tunis, Wunder nehmen, doch kann ich Euch versichern,
daß wir fast jede Woche 2mal bis 3-4 Uhr Morgens tanzen mußten
und daß die Gesellschaft, wenn sie auch natürlich immer mehr
weniger dieselbe sein muß, doch keine so üble ist. Unser Ball
für die Armen, von dem ich geschrieben zu haben glaube, hat ca 1000
Thaler abgeworfen, und macht uns gewiß alle Ehre, wenn man
bedenkt, daß wir noch kürzlich ca 500 Pfund sehr gutes Brod
an die Armen vertheilen ließen und ich noch einen kleinen Fond für
unbemittelte Kranke und ihre Behandlung zurückbehalten habe.
Mittlerweile bessern sich die Verhältnisse des Landes trotz der
sehr mittelmäßigen Erndteaussichten etwas. Der Credit hebt sich
sichtlich, die hier am Platze circulirenden Papiere der flottirenden Schuld
steigen nicht unwesentlich und wir sind, glaube ich, am Vorabende einer
großen Anleihe, welche die früheren in sich verschmelzen wird.
Vermuthlich wird Freund Schmidt wohl noch einmal den Sieg davontragen und
sein ansehnliches Vermögen beträchtlich vermehren. Wenn aber
mit diesem letzten Versuche, die Angelegenheiten des Landes zu regeln,
nicht bessere administrative Ordnung eingeführt wird, so ist es um
das Land geschehen und kann wohl gleichzeitig mit der Türkei zu Grabe
getragen werden. Das einzige Land des Orients, das mir persönlich
noch einiges Vertrauen für die Zukunft einflößen kann,
ist Egypten, vorzüglich wenn der Suez-Canal einen gedeihlichen Fortgang
nimmt. Die Zerstücklung der Türkei, die denn doch wohl in naher
Zukunft nicht so ganz unmöglich sein dürfte, wird allen verrotteten
muselmännischen Staaten einen argen Stoß versetzen. Die Candioten*
haben sich doch sehr wacker gehalten, nicht wahr? Ich habe bei Ihnen nicht
selten an die Polen gedacht, die einzigen wohl, die einen gleichen Aufwand
von Energie und Patriotismus in den letzten Jahren gezeigt haben.
Die Angelegenheiten in Deutschland muß ich leider immer mit denselben
Augen ansehen. So zufrieden ich auch bin, die noch größere Einigung
Deutschlands mit Riesenschritten voranschreiten zu sehen, so wenig imponirt
mir das norddeutsche Parlament und so wenig kann ich vergessen, wieviel
Unrecht zum Ziele geführt hat und wieviel deutsches Blut dafür
vergossen werden mußte. Derselbe Simson, der seiner Zeit die deutsche
Kaiserkrone ohne einen Blutflecken dem Könige darbot, Resultat einer
feierlichen Wahl der Nation, muß jetzt die blutigen Erfolge des vergangenen
Sommers sanktioniren helfen. Wo ist die Erfüllung der Paragraphen
des Nicholsburger Friedens, der vom nördlichsten Theile Schleswigs
spricht? Nun, wenn nur Alles schließlich zum Guten führt; doch
auf die Dauer entspringt aus Unrecht so selten Heil, daß mir für
die Zukunft manchmal bangt. Und wer kann Vertrauen in die Geschicke der
Länder hegen, wenn die pure Gewalt entscheidet ohne weder das Recht
noch den Willen des Volkes zu consultiren? Doch genug, wir sind wahrscheinlich
nicht einerlei Meinung.
Gehab Dich wohl, lieber Onkel, habe herzlichen Dank für alle die
unendliche Mühe, welche Du Dir in meiner Desertirungs-Angelegenheit
gabst, und schreibe mir bald über die Gesundheit der lieben Tante
und Euren Entschluß betreffs ihrer für den Sommer. Welcher Tag
ist doch ihr Geburtstag? Ich komme doch nicht dazu, Daten zu behalten.
Gratulire und grüße und umarme sie herzlich und aufrichtig in
meinem Namen, vergiß die Kinder, die Mühlengasse, Herrmann’s
Familie, Julius und die Seinigen und vor Allem die verehrte Großmama
nicht und empfange zum Schluß die Versicherung meiner unveränderlichen
Anhänglichkeit und
Liebe
Dr. G. Nachtigal
* =Kreter
Tunis, 11.6.1867
Lieber Onkel,
Ich hätte schon lange Deinen letzten lieben Brief beantworten sollen
und wollen, wenn ich nicht zunächst von Woche zu Woche auf eine Entscheidung
meiner Militärangelegenheit gewartet hätte und später verhindert
gewesen wäre durch eine ungewöhnlich große Geschäftigkeit.
Was das Erstere anbetrifft, so ist mir heute ein Brief des Herrn v. Bismark
zugestellt worden, worin er mir nicht nur nachträglich die Erlaubniß
des Königs, in den Dienst des Bey von Tunis zu treten, übersendet,
sondern auch die Niederschlagung der Disciplinar-Untersuchung anzeigt und
endlich mittheilt, daß, um dem so dringend ausgesprochenen Wunsche
des Bey, mich in seiner Nähe zu behalten, zu willfahren, der Kriegsminister
auf seine Verwendung (des Herrn v. Bismark) sich bereit erklärt habe,
für die ganze Zeit meines Verbleibens in Tunis davon Abstand zu nehmen,
mich einzuberufen.
Du siehst, daß meine Eingabe an das Divisionsgericht und vorzüglich
der Brief des Bey und des Ministers ihre guten Früchte getragen haben.
Die Sache ist in der That so glücklich beendigt, als es nur möglich
war. Meiner Heimreise würde also von dieser Seite kein Hinderniß
mehr im Wege stehen. Der hartnäckige Katarrh, den ich mir vor einigen
Monaten, während eines sehr ungünstigen Frühjahrs, zugezogen
hatte, ist ebenfalls wieder zum größten Theil verschwunden,
so daß ich keinen Augenblick meine Heimreise hinaus schieben würde,
wenn nicht andere, sehr gewichtige Gründe mich für den Augenblick
zurückhielten. Zunächst hat der 2te Arzt des Bey, der während
des Sommeraufenthaltes des letzteren in der Goulette die prinzlichen und
anderen Familien, welche in der Residenz des Bardo zurückbleiben,
zu verarzten hat, einen Urlaub nehmen müssen, um nach Malta zu gehen,
wo seine mehr denn 80jährige Mutter krank lag.
Unglücklicherweise haben die Cholera-Verhältnisse, auf die
ich sogleich eingehen werde, die Communication zwischen Tunis und Malta
mehr weniger unterbrochen, so daß ich jetzt seine Rückkehr nicht
mehr calculiren (kann), während mir doch seine Vertretung obliegt.
Endlich verbietet mir die nicht mehr zu läugnende Existenz der Cholera
zu Tunis, abzureisen, während durch mancherlei Verhältnisse (Krankheiten
und Reisen verschiedener Aerzte) Mangel an Aerzten besteht. Seit fast 3
Monaten hält sich diese Krankheit jetzt hier in einer sehr geringen
Intensität in der Stadt Tunis, in ihrer Umgebung und in anderen Städten
der Regentschaft, ohne gerade wesentlich zu- oder abzunehmen. Jetzt seit
einigen Tagen aber hat sie erheblichere Proportionen angenommen und vorzüglich
die Stadt Susa auf der Küste hat wesentlich gelitten und ist fast
von der Bevölkerung verlassen. Die Reicheren haben sich nach Italien
geflüchtet, doch die übrigen ergießen sich über Tunis
und werden nicht verfehlen, die ohnehin schon existirenden Dispositionen
wesentlich zu erhöhen. Die italienischen Schiffe verweigern schon
jeglichen Personentransport und wenn es wahr ist, daß auch die französischen
Messageries* dieselbe Maaßregel adoptiren wollen, so würde selbst
die materielle Unmöglichkeit eintreten, das Land zu verlassen. Noch
ist die Epidemie nicht in voller Blüthe, noch sind die Heilungen sehr
häufig und die Zahl der Erkrankungen verhältnißmäßig
gering; doch das furchtbare Elend, das unter den Eingeborenen Juden und
Muselmännern herrscht, der Mangel an Sanitätspolizei, die Furcht,
die Anhäufung von Menschen und andere Gründe machen eine weitere
Ausbreitung nicht unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite spricht die Existenz
von 3 Monaten in der Gegend, ohne große Verbreitung, für eine
verhältnismäßig leichtere Natur der schrecklichen Krankheit.
Glücklicherweise ist bis jetzt noch kein Fall im Bardo vorgekommen.
Ein solcher würde mich verpflichten, meinen Aufenthalt ganz dort zu
nehmen und also von jeder civilisirten Umgebung abgeschnitten zu werden.
Bis jetzt gehe ich jeden Morgen um 7 Uhr zum Bardo und bleibe dort bis
etwa Mittag, fahre zurück nach Tunis, frühstücke, mache
meine Stadtbesuche bis gegen 5 Uhr, um noch einmal in den Bardo zurückzukehren.
Da die hohen Personen in der Umgebung des Bardo ihre Villen haben, so kostet
dieses Amt ungemein viel Zeit und Geld. Doch All’ dies würde endigen
und mir noch Zeit lassen, nach der Rückkehr des oben erwähnten
Dr. Schembri, meinen Heimathbesuch zu unternehmen. Doch vor dem Ablauf
der Cholera ist es mir ganz unmöglich, mein „Feld der Ehre“ zu verlassen.
Wollte Gott, daß sie schnell zu Ende ginge! Im Uebrigen befinde ich
mich ganz wohl, und würde noch zufriedener sein, wenn die finanziellen
Verhältnisse Tunesiens sich bessern wollten, und dem Staate erlauben,
mich zu bezahlen. Die Emprunt**-Frage ist immer noch nicht zufriedenstellend
erledigt; ein erster Versuch, den die Regierung für eigene Rechnung
durch Erlanger in Paris machte, reüssirte nicht nach Wunsch; letzterer
wird hoffentlich die Vollmacht bekommen, die Sache so auszuführen,
als es ihm zweckmäßig erscheint und dann besser reüssieren.
Ich habe jetzt 8000 Piaster zu fordern (5000 Frcs).
Herr v. Moers (der Verwandte von Wendelstein) ist von Frankfurt und
Rotterdam, wo er Bankdirector werden sollte, zurückgekehrt, ohne die
Stelle bekommen zu haben. Ich bin sehr zufrieden damit, da uns so seine
Gesellschaft bleibt. Herr Schmidt wartet nur die Regulirung der tunesischen
Finanzen ab, bei der er ja die Hauptrolle spielt, um dann für längere
Zeit, vielleicht für immer, nach Deutschland zu gehen. Letzteres würde
das beste für ihn sein, da die ekelhafte Natur der hiesigen Geschäfte
einen traurigen Einfluß auf seinen Gemüthszustand und seinen
Charakter ausgeübt haben.
Sonst ist Tunis vereinsamt und verlassen. Viele befreundete Familien
(der englische Consul, der Pastor Fenner etc. etc.) sind nach Paris zur
Ausstellung gegangen; Andere sind von Cholerafurcht getrieben von hinnen
gewichen und die Zurückgebliebenen sind langweilig und gedrückt
durch Geschäftslosigkeit, den precären Zustand ihres Besitzthums
hier, und die Gegenwart der Krankheit.
Das ewige Hin- und Herziehen meinerseits hat zur Folge gehabt, daß
mir Dein lieber Brief nicht augenblicklich zur Hand ist (er ist in der
Goulette) und ich so verhindert bin, in seine Details einzugehen. soweit
sie die einzelnen Familienglieder betrifft. Wann werdet Ihr nach Thüringen
gehen? Nur die Gesundheit der lieben Tante und der vortrefflichen Großmama
sind mir als diejenigen Thatsachen, welche mir die größte Genugthuung
gewährt haben, lebhaft in Erinnerung.
Was Politik betrifft, so bin ich von Herzen froh, daß der französisch-preußische
Conflict in Bezug auf Luxemburg beendigt ist. Das Resultat des norddeutschen
Parlaments in Gestalt der Reichsverfassung ist wohl das kümmerlichste,
was dem constitutionellen Sinne liberaler Bewohner offerirt werden konnte.
Hannover scheint sich durchaus noch nicht mit Preußen amalgamiren
zu wollen?
Ich werde so bald als möglich über den weiteren Gang der
Krankheit berichten und schließe für heute mit dem herzlichsten
Wunsche Eures allseitigen Wohlergehens und dem Ausdrucke meines tiefsten
Bedauerns über den erneuten Hinausschub meiner lang ersehnten Heimreise.
Umarme die liebe Tante in meinem Namen, präsentire der Großmama
meinen Respect, grüße die Kinder und die Mühlengasse- und
Herrmannschen Familien aufs Herzlichste und genehmige den Ausdruck meiner
dankbaren Anhänglichkeit.
Dein
treuer
Gustav
2 schöne Outards (Trappen, glaube ich) sind von Sfax für mich
(resp. den zoologischen Garten von Cöln) unterwegs; doch bei den Choleraverhältnissen
werde ich sie nicht expediren können und bei der delicaten Natur der
Thiere fürchte ich, sie in ungünstiger Jahreszeit zu verlieren.
Habe die Güte, es jedenfalls dem Dr. Bodinus mitzutheilen. Die gewünschte
Antilopenvarietät habe ich noch nicht erhalten, hoffe aber immer.
* Transporte
** Anleihe
ERLANGER & CIE
TUNIS
12 October 1867
Theurer Onkel,
Die jährliche Wiederkehr
Deines Geburtstages muß schon wieder vor einigen Wochen stattgefunden
haben. Du wirst an meine Gratulationen post festum, nach Thoresschluß
endlich hinlänglich gewöhnt sein, um mich aller Entschuldigungen
enthalten zu können. Meine aufrichtigen Wünsche übrigens
für Dein Wohlergehen, Deine physische und materielle Prosperität
und das Wohl und das Glück Deiner nächsten Lieben werden stets
um so rechtzeitiger kommen, als sie fern von dem gewöhnlichen, oft
gedankenlosen, Gebrauche des Gratulirens, der größten Aufrichtigkeit
und Wärme ihren Ursprung verdanken. Dein letzter lieber Brief läßt
mich glücklicherweise hoffen, daß Ihr diesen Allen so ersehnten
Tag in Gesundheit und Fröhlichkeit verbracht haben werdet. Der einzige
dunkle Punkt an Eurem nächsten Familienhimmel bleibt Albert, der den
zu seinem Unheil von der Natur empfangenen Charakter nicht scheint überwinden
zu können. Wie schwer ist es doch, die menschliche Natur zu ändern,
selbst wenn man die Arbeit in allerfrühster Jugend beginnt! Dagegen
der brave Carl geht rüstig seines Weges weiter und wird sich gewiß
auch weiter entwickeln, als Ihr es in Eurer zu großen Sorge um sein
körperliches und geistiges Wohl hoffen zu können glaubtet. Verzweifelt
auch nur noch nicht an Albert; er ist noch jung, und derartige ersehnte
Charakterumschwünge haben oft statt zur Zeit des Uebergangs vom Knaben
zum Jünglinge.
Ich habe diesen Sommer weiterer tunesischer Calamität ja auch
glücklich durchgemacht. Die Cholera ist bis auf die letzten Spuren
verschwunden; meine Reise nach Sfax ist glücklich beendet; der Hof
hat seine Winterresidenz Bardo wieder bezogen, und ich bin folglich in
Tunis installirt und dem gewöhnlichen zeitraubenden Antichambriren
anheimgegeben. Der Bey und seine Minister haben sich diesmal beträchtlich
früher zurückgezogen als in anderen Jahren, und dies hatte seinen
Grund in ernsten Vorgängen, welche in diesem dem Untergange geweihten
Lande nicht aufhören zu sollen scheinen. Als ich Mitte September von
Sfax zurückkehrte und in Susa angekommen war, etwa auf der Mitte des
Weges, hörte ich, daß ein Bruder des regierenden Bey heimlich
seine Wohnung verlassen habe und nicht wiedergekehrt sei. Man vermuthete,
daß er sich zu den revoltirten Bergvölkern des Nord-Westens
der Regentschaft, von denen ich Dir geschrieben zu haben glaube, begeben
habe und seine miserable Lage (die Prinzen sind, seit sie beträchtliche
Schulden gemacht und politische Fragen mit Europa hervorgerufen hatten,
in der gedrücktesten, miserabelsten Stellung der Welt) durch die Chancen
der Revolution zu bessern suche. Es war der jüngste Bruder des Bey,
Sidi Adel, dumm, wie alle, doch von gewisse physischer Rührigkeit
und Energie. Ich vermuthete sofort, daß dieser Plan nicht allein
in seinem Gehirn entsprungen sei und richtete meine Augen auf 2 nach der
ersten Revolution in Ungnade gefallene Minister, von denen einer Schwager
des Bey. Indessen der Prinz war mit seinen Dienern und nur 2 Personen von
einiger Bedeutung, einem früheren Gouverneur einer Stadt auf der Küste
und einem Secretär, verschwunden. Bald lief die Nachricht ein, daß
er wirklich in den Bergen sei. Er überschwemmte das Land mit Proclamationen,
gewann eine ziemliche Anzahl von Anhängern in den Bergen und die allgemeine
Unzufriedenheit, das grenzenlose Elend ließen eine allgemeine Umwälzung
fürchten. Der Bey selbst und sein Premier-Minister, der eigentliche
Regent des Landes, hatten zu dieser Zeit eine solche Furcht, daß
sie sofort die Sommerresidenz verließen, den Bardo mit Kanonen garniren
ließen und hier Aufenthalt nahmen. Indessen Dank der apathischen
Natur der Einwohner Tunesiens, Dank dem Mangel an Talent Sidi Adel’s, Dank
einer Krankheit, die derselbe im ungewohnten, rauhen Bergleben sich zuzog
und Dank der rastlosen Thätigkeit des Ministers, der alter Taktik
zufolge Unfrieden unter die Insurgenten streute und durch Bestechung den
Verrath bei ihnen zu erzeugen strebte, die Sache amortirte, der Prinz und
sein Anhang wurden gefangen, die Revolution beendigt und der Staat gerettet.
Sobald der Kriegsminister, Sidi Achmed Zaruk, der mit der Colonne, zu der
ich mich im Sommer zur Cholerazeit begab, wie ich geschrieben habe, um
den Krankheitsstand dort zu controliren, in den Bergen war, nach dem Gefecht
mit den Insurgenten einige Gegenstände erbeutete, die er als dem Prinzen,
seinem Schwager, zugehörig erkannte, weigerte sich, gegen ein Mitglied
der regierenden Familie zu Felde zu ziehen und zog sich zurück. Ein
älterer Bruder des empörten Prinzen, der künftige Thronfolger
selbst, begab sich an die Spitze der Colonne und es gelang ihm bald durch
Verrath in den Reihen der Insurgenten, den Prinzen und seine ganze Suite
zu ergreifen. Dies ereignete sich vor ungefähr 14 Tagen und die Nachricht
von diesem neuen Triumph des Ministers lief hier ein vor 12 Tagen. Aus
dem Verhör des eingefangenen Prinzen im Lager seines Bruders erhellte
die Mitschuld der beiden oben von mir erwähnten in Ungnade gefallenen
früheren Minister. Sie schienen sogar die Anstifter der ganzen Geschichte
auf Grund einer seit fast einem Jahr gesponnenen Verschwörung zu sein
und den Prinzen zu dem unbesonnenen Schritte überredet zu haben. Diese
Nachricht erhielt der Bey am Freitag vor 8 Tagen von seinem Bruder, dem
Befehlshaber des Lagers und zögerte leider keine Minute sich zu rächen
oder die Verschwörer zu strafen. Ich befand mich gerade im Bardo,
als er den Brief erhielt und sogleich ausschickte diese beiden geachteten
Leute zu verhaften. Von diesen war einer sein Schwager, Si Ismael-es-Sanni
und der andere, Si Rechid, früherer Marine-Minister, ein in Constantinopel
wohl bekannter Mann. Eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft im Bardo hatten
sie aufgehört zu leben; man erdrosselte sie nach alt hergebrachter
Weise, ohne ihnen selbst eine Art Gerichtsspruch zu accordiren, ohne sie
zu hören, ohne die Aussagen des gefangenen Prinzen und seiner Anhänger
weiter zu prüfen. Noch hatten sich die Consuln, die am folgenden Tage
ihren Protest gegen eine solche barbarische Procedur formulirten, nicht
beruhigt, als die Nachricht einlief, daß man die Häupter derjenigen,
welche dem Prinzen gefolgt waren, im Lager enthauptet habe. Der Prinz selbst
ist krank, moralisch und physisch, und wartet eine mäßige Besserung
ab, um nach Tunis transportirt werden zu können. Seine untergeordneten
Anhänger sind in Ketten im Bardo und warten noch ihrer Strafe. Die
aufrührerischen Bergvölker sind zur Ordnung und zum Gehorsam
zurückgekehrt. Die Städtebewohner sind wie gelähmt, unfähig
zu denken und zu handeln.
So endete diese neue, traurige Catastrophe, deren mehre das unglückliche
Land kaum würde ertragen können. Der Geldmangel, die Noth, der
Hunger, die Unordnung, das Mißtrauen haben einen bisher ungeahnten
Grad erreicht und wenn nicht in Europa durch einen preußisch-französischen
Krieg die öffentliche Aufmerksamkeit beschäftigt sein wird, so
kann ich nicht denken, daß die interessirten europäischen Staaten
eine so abnorme Verwaltung ferner dulden werden. Und mit Ordnung und Hebung
des Ackerbaus, wie viele Schätze könnte man aus diesem herrlichen
Lande ans Licht fördern!
Entschuldige die ausgedehnte Erzählung einer so traurigen Episode;
doch erstens stehe ich noch immer unter dem Eindrucke des schrecklichen
Tages und zweitens passirt hier so wenig, daß ich um den Briefstoff
stets etwas verlegen bin. Eine Auflösung oder wenigstens durchgreifende
Krisis könnte wohl leicht noch in diesem Winter statthaben. Hoffen
wir, daß wenigstens der Friede in Europa erhalten bleibe, was leider
die politische Welt nicht hoffen zu können meint. Welch’ Unglück,
ja welches Verbrechen würde es sein, 2 große Völker mit
Krieg zu überziehen, nur um zu sehen, welches von beiden das stärkere
sei.
Meine liebevollsten Grüße für die Tante, die Großmama,
die Mühlengasse, für Herrmann und die Kinder.
Dein
Dich treu liebender
Neffe
Dr. Nachtigal