12. Teil:  Tunis 1867

ERLANGER & CIE   20 Februar 1867
  TUNIS   /29 März

  Lieber Onkel,
Zunächst meinen herzlichen Dank für die Freundlichkeit, mit der Du Dich der Unannehmlichkeit unterzogen hast, Auskunft über mich und meine Desertion vor Gericht zu geben. Ich hätte nicht vermuthet, daß die Unregelmäßigkeit, der ich mich ja zweifelsohne schuldig gemacht habe, von solcher Tragweite sein würde. Wie ich Dir im verflossenen Sommer schrieb, hat das hiesige Gouvernement vor der rapiden Campagne in Böhmen durch den hiesigen Preußischen Consul an die Preußischen Regierung die Bitte gerichtet, mir einen unbegrenzten Urlaub zu ertheilen. Doch einerseits war der Brief so ungeschickt abgefaßt, so allgemein gehalten, daß man in Berlin nicht sowohl darunter einen Dispens von der gerade statthabenden Campagne begriff, als vielmehr eine definitive Entlassung aus meiner Landwehrstellung und danach die Antwort einrichtete; andererseits nahmen indessen die kriegerischen Ereignisse einen so rapiden Verlauf, daß die entscheidende Schlacht von Sadowa oder Königgrätz statthatte, ehe eine Antwort einlaufen konnte. Sollte ich noch nach Thoresschluß abreisen und dort ankommen, wenn Alles zu Ende war? Dazu konnte ich mich nicht entschließen. Die spätere Antwort, welche dann vom Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten von Berlin eintraf, wieß mich einfach darauf an, zu meiner definitiven Entlassung (die, wie man zu verstehen gab, bei vorliegenden sanitätlichen Gründen, nicht schwer halten könne) den regelmäßigen gesetzlichen Weg zu betreten. Für immer meinen Landwehrverpflichtungen entbunden zu werden, lag aber gar nicht in meinem Plan; auch konnte ich hier Niemandem von meinen Collegen zumuten, mir fortbestehende Krankheit zu bezeugen: so ließ ich die Sache gehen.
Sobald Du mir jetzt über die ersten Anfragen von Seiten meiner Militärbehörde betreffs meines Aufenthaltes und meine Verwandten zu berichten die Güte hattest, habe ich unter kurzer Erwähnung der Thatsachen des letzten Sommers um Verlängerung meines Urlaubs gebeten. Als unmittelbar darauf Dein letzter freundlicher Brief mit der Detaillirung aller erwachsenen Unannehmlichkeiten einlief, habe ich direct an das Militärgericht der 15 Divisionen einen längeren Bericht über mein Verhalten gesendet mit Beifügung einer Uebersetzung des Briefes, den die hiesige Regierung meinetwillen geschrieben hatte und des Originalbriefes, den mir unser Premier-Minister für Herrn von Bismark für den Fall meiner persönlichen Uebersiedlung nach Preußen gegeben hatte und von dem ich nachher keinen Gebrauch hatte machen können. Heute habe ich einen 2ten Brief von der Regierung hier erhalten, der sehr klar den ganzen Verlauf auseinandersetzt, meinen Entschluß, zu gehen und die Mühe, die man sich hier gab, mich davon abzubringen, und in dem die tunesische Regierung die ganze Verantwortung auf sich nehmen zu dürfen bittet und von der Courtoisie der Preußischen Regierung Niederschlagung der Angelegenheit erwartet. Dieser Brief wird mit diesen Zeilen hier abgehen und hoffentlich die Sache beendigen. Hauptsächlich würde ich im entgegengesetzten Falle weiterer unangenehmer Folgen bedauern, nicht meinen Besuch in der Heimath machen zu können. Eine der nächsten Wochen wird mir vielleicht schon weitere Nachricht darüber bringen. Ich sehe daraus immer mehr, daß man nie zu viel Rathschläge von anderen annehmen soll, wenn man selbst gesunden Menschenverstand hat. Ich war entschieden, selbst zu gehen, und es war nur der englische Consul, der durch all’ seine Schritte bei meinen Freunden und dem Premier-Minister, die er natürlich nur aus Freundschaft that, meinen Entschluß vernichtete.
Im Uebrigen geht es mir ganz gut, wenn auch die Lage des Landes noch in derselben traurigen Verfassung ist und mir unendlichen Schaden thut. Man schuldet mir an Gehalt schon mehr als 1000 Thaler, weiß Gott, ob ich es jemals ohne bedeutenden Verlust haben werde. Wenn es nicht so traurig wäre für meine eigenen Interessen, die Beobachtung eines Landes und einer Regierung, welche schon seit einigen Jahren jede Lebenskraft verloren zu haben scheinen und die doch immer so kümmerlich fortvegetiren, würde höchst merkwürdig und interessant sein. Mein Freund Schmidt hat schon den besten Theil herausgezogen und mag das Land zugrunde gehen oder gegen alle Erwartung sich wieder erholen: er hat für alle Fälle seine Schäfchen im Trockenen.
Ich hatte wenigstens jetzt, besonders nach der glücklichen Genesung des Ministers, über welche der Bey sehr erfreut war, die Hoffnung, der Person des Bey attachirt zu werden; doch mein alter Freund und Gönner, Baron Lumbroso, der hier Haus und Hof verkauft hat und nach Italien übersiedelte, scheint seine Leibarztstellung nicht im Stiche lassen zu wollen und kommt wieder. Hoffentlich sagt er nur Adieu und läßt mir seinen Platz.
Zu all’ diesen Geldverlusten kommen noch so viele andere Ansprüche. So ist das allgemeine Elend unter den Europäern so groß, daß die ersten Damen der Stadt ein Comité‚ zu ihrer Unterstützung gegründet haben, zu dessen Mitgliede sie mich wählten. Natürlich muß man um so mehr geben. Noblesse oblige. Dann giebt es einen Ball zum Besten der „Schwestern“ und ihres kümmerlichen Hospitals, zu dessen Comité ich gehöre und dessen Kosten die Mitglieder des letzteren tragen werden.
So giebt es überall Noth und Unzufriedenheit. Auch Du bist mit Deinem Geschäft nicht mehr so zufrieden, als sonst wohl, wie ich mit Kummer höre und die so lange schlummernde Krankheit der lieben Tante hat Euch von Neuem in Aufregung versetzt. Was Ersteres Betrifft, so kannst Du ja im Nothfalle dem Geschäfte entsagen; ein langes, ehrenvolles Geschäftsleben voller Anstrengung und Sorge berechtigt wohl zu einem ruhigen Lebensabende. Der Zustand der Tante ist schon wichtiger und verdient höchste Aufmerksamkeit. Der Vorschlag Bruch’s, nach Karlsbad zu gehen gefällt mir sehr gut und würde sicherlich die Leber für lange Jahre beruhigen. Karl Klockenbring scheint ja ebenfalls besser voranzugehen, eine Nachricht, welche mir viel Freude gemacht hat. Manche Kinder entwickeln sich in der That sehr spät und man soll über die definitive intellectuelle Richtung nie zu früh ein Urtheil fällen. Auch Wilhelm Br. macht Euch ja Freude, und kann er vielleicht noch dazu bestimmt sein, Dir eine rechte Stütze im Alter zu werden. Hoffentlich wird ja Carl Br. nicht auf Abwege gerathen; es ist vielleicht nur übler Einfluß seines freiwilligen Jahres und etwaiger wenig wünschenswerther Bekanntschaften. Berichte doch ja, wenn Du so gut sein willst, über den Zustand von Herrmann Br. Augen von Zeit zu Zeit. Grüße die Mühlengasse mit dem ganzen Inhalte und Christiane und Familie, wie auch Julius herzlich. Umarme die Großmama auf das Respectvollste und empfange mit der verehrten Tante die aufrichtigsten Versicherungen meiner anhänglichen Liebe. (Ueberlegt Karlsbad noch einmal!)
     Euer Gustav.

Willst Du gütigst meine Glückwünsche zu Adele Paas Verlobung übermitteln und die arme Frau Thermar herzlich grüßen? Vergiß auch nicht, zu Johanna Rudolf’s Verlobung zu gratuliren und die Eltern meiner freundschaftlichsten Erinnerung zu versichern.
   Dr. N.


 ERLANGER & CIE
 TUNIS   Am 16ten Maerz 1867
    /29 März

  Lieber Onkel,

Nachdem ich vor 3 und 5 Wochen meine Entschuldigungs- und Erklärungs-Berichte an mein Landwehr-Bataillons-Commando und an den von Dir angegebenen Gerichtshof eingeschickt habe, ist mir keine weitere Nachricht über den Verlauf meiner unangenehmen Angelegenheit zugegangen. Auch die hiesige Regierung hat, wie gesagt, einen sehr klaren und einfachen Brief geschrieben, in dem sie, so viel wie möglich, die Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen trachtet und an die freundschaftliche Gesinnung Seiner Majestät des Königs von Preußen appellirt. Hoffentlich wird die Sache so ohne weitere Unannehmlichkeiten verlaufen und mir meine beabsichtigte Heimathreise nicht stören. Gieb mir nur, sobald Du irgend Etwas vom weiteren Verlaufe hörst, sogleich Nachricht.
Ich versichere Euch, ich bin ganz Afrikamüde geworden und habe dringend nöthig, mich gemüthlich und geistig aufzufrischen. Die Nothwendigkeit der geistigen und speciell wissenschaftlichen Auffrischung wird mich vermuthlich veranlassen, recht lange dort zu bleiben, wenn auch dann mit dem Bedauern, nicht die ganze Zeit in Coeln und bei Marie zubringen zu können. Jetzt, wo ich mir wissenschaftlich, moralisch und materiell eine angesehene Stellung erworben habe für Tunis, muß ich die traurige Lage, in der meine momentan adoptirte Heimath sich befindet, und die geringe persönliche ärztliche Befriedigung, die ich aus der Höflings-Stellung gewinnen kann, veranlassen, mein Augenmerk auf eine Branche der Medicin zu werfen, in der ich vor der übrigen ärztlichen Welt noch mehr excelliren kann. Dies wird natürlich die Augenheilkunde sein, für die ich mich schon länger interessirt habe und in der ich theoretisch hinlänglich ausgebildet bin. Es fehlt mir bei meiner deutschen Gewissenhaftigkeit, welche ich wohl nie werde ablegen können, nur einige operative Fertigkeit, um mich als Specialisten ausgeben zu können. Dies würde mir um so leichter werden, als mein Ruf in dieser Beziehung kein schlechter ist. In jedem Falle sehe ich keine Mittel, vor dem Monat Juni zu kommen, denn sobald der Bey mit dem Hofe nach der Goulette gegangen sein wird (Ende April), will der Dr. Schembri, Arzt der prinzlichen Familien und aller höheren Hofbeamten, mit seiner Familie in seine Heimath (Malta) gehen und wenigstens einen Monat fortbleiben. Ich würde sein natürlicher und nothwendiger Vertreter sein und also seine Rückkehr abzuwarten haben.
Der Carneval ist vorüber und mit hin ist etwas Ruhe eingetreten für unsere Abende und Nächte, obgleich die Bälle und Tanz-Soiréen noch nicht gänzlich aufgehört haben. In der letzten Zeit häuften sich diese Vergnügungen in der That so sehr, daß es eben keine Vergnügungen sondern Strapazen wurden. Es wird Euch dies von einer barbarischen Stadt, wie Tunis, Wunder nehmen, doch kann ich Euch versichern, daß wir fast jede Woche 2mal bis 3-4 Uhr Morgens tanzen mußten und daß die Gesellschaft, wenn sie auch natürlich immer mehr weniger dieselbe sein muß, doch keine so üble ist. Unser Ball für die Armen, von dem ich geschrieben zu haben glaube, hat ca 1000 Thaler abgeworfen, und macht uns gewiß alle Ehre, wenn  man bedenkt, daß wir noch kürzlich ca 500 Pfund sehr gutes Brod an die Armen vertheilen ließen und ich noch einen kleinen Fond für unbemittelte Kranke und ihre Behandlung zurückbehalten habe.
Mittlerweile bessern sich die Verhältnisse des Landes trotz der sehr mittelmäßigen Erndteaussichten etwas. Der Credit hebt sich sichtlich, die hier am Platze circulirenden Papiere der flottirenden Schuld steigen nicht unwesentlich und wir sind, glaube ich, am Vorabende einer großen Anleihe, welche die früheren in sich verschmelzen wird. Vermuthlich wird Freund Schmidt wohl noch einmal den Sieg davontragen und sein ansehnliches Vermögen beträchtlich vermehren. Wenn aber mit diesem letzten Versuche, die Angelegenheiten des Landes zu regeln, nicht bessere administrative Ordnung eingeführt wird, so ist es um das Land geschehen und kann wohl gleichzeitig mit der Türkei zu Grabe getragen werden. Das einzige Land des Orients, das mir persönlich noch einiges Vertrauen für die Zukunft einflößen kann, ist Egypten, vorzüglich wenn der Suez-Canal einen gedeihlichen Fortgang nimmt. Die Zerstücklung der Türkei, die denn doch wohl in naher Zukunft nicht so ganz unmöglich sein dürfte, wird allen verrotteten muselmännischen Staaten einen argen Stoß versetzen. Die Candioten* haben sich doch sehr wacker gehalten, nicht wahr? Ich habe bei Ihnen nicht selten an die Polen gedacht, die einzigen wohl, die einen gleichen Aufwand von Energie und Patriotismus in den letzten Jahren gezeigt haben.
Die Angelegenheiten in Deutschland muß ich leider immer mit denselben Augen ansehen. So zufrieden ich auch bin, die noch größere Einigung Deutschlands mit Riesenschritten voranschreiten zu sehen, so wenig imponirt mir das norddeutsche Parlament und so wenig kann ich vergessen, wieviel Unrecht zum Ziele geführt hat und wieviel deutsches Blut dafür vergossen werden mußte. Derselbe Simson, der seiner Zeit die deutsche Kaiserkrone ohne einen Blutflecken dem Könige darbot, Resultat einer feierlichen Wahl der Nation, muß jetzt die blutigen Erfolge des vergangenen Sommers sanktioniren helfen. Wo ist die Erfüllung der Paragraphen des Nicholsburger Friedens, der vom nördlichsten Theile Schleswigs spricht? Nun, wenn nur Alles schließlich zum Guten führt; doch auf die Dauer entspringt aus Unrecht so selten Heil, daß mir für die Zukunft manchmal bangt. Und wer kann Vertrauen in die Geschicke der Länder hegen, wenn die pure Gewalt entscheidet ohne weder das Recht noch den Willen des Volkes zu consultiren? Doch genug, wir sind wahrscheinlich nicht einerlei Meinung.
Gehab Dich wohl, lieber Onkel, habe herzlichen Dank für alle die unendliche Mühe, welche Du Dir in meiner Desertirungs-Angelegenheit gabst, und schreibe mir bald über die Gesundheit der lieben Tante und Euren Entschluß betreffs ihrer für den Sommer. Welcher Tag ist doch ihr Geburtstag? Ich komme doch nicht dazu, Daten zu behalten. Gratulire und grüße und umarme sie herzlich und aufrichtig in meinem Namen, vergiß die Kinder, die Mühlengasse, Herrmann’s Familie, Julius und die Seinigen und vor Allem die verehrte Großmama nicht und empfange zum Schluß die Versicherung meiner unveränderlichen
        Anhänglichkeit und Liebe
        Dr. G. Nachtigal

* =Kreter


Tunis, 11.6.1867
 

  Lieber Onkel,

Ich hätte schon lange Deinen letzten lieben Brief beantworten sollen und wollen, wenn ich nicht zunächst von Woche zu Woche auf eine Entscheidung meiner Militärangelegenheit gewartet hätte und später verhindert gewesen wäre durch eine ungewöhnlich große Geschäftigkeit. Was das Erstere anbetrifft, so ist mir heute ein Brief des Herrn v. Bismark zugestellt worden, worin er mir nicht nur nachträglich die Erlaubniß des Königs, in den Dienst des Bey von Tunis zu treten, übersendet, sondern auch die Niederschlagung der Disciplinar-Untersuchung anzeigt und endlich mittheilt, daß, um dem so dringend ausgesprochenen Wunsche des Bey, mich in seiner Nähe zu behalten, zu willfahren, der Kriegsminister auf seine Verwendung (des Herrn v. Bismark) sich bereit erklärt habe, für die ganze Zeit meines Verbleibens in Tunis davon Abstand zu nehmen, mich einzuberufen.
Du siehst, daß meine Eingabe an das Divisionsgericht und vorzüglich der Brief des Bey und des Ministers ihre guten Früchte getragen haben. Die Sache ist in der That so glücklich beendigt, als es nur möglich war. Meiner Heimreise würde also von dieser Seite kein Hinderniß mehr im Wege stehen. Der hartnäckige Katarrh, den ich mir vor einigen Monaten, während eines sehr ungünstigen Frühjahrs, zugezogen hatte, ist ebenfalls wieder zum größten Theil verschwunden, so daß ich keinen Augenblick meine Heimreise hinaus schieben würde, wenn nicht andere, sehr gewichtige Gründe mich für den Augenblick zurückhielten. Zunächst hat der 2te Arzt des Bey, der während des Sommeraufenthaltes des letzteren in der Goulette die prinzlichen und anderen Familien, welche in der Residenz des Bardo zurückbleiben, zu verarzten hat, einen Urlaub nehmen müssen, um nach Malta zu gehen, wo seine mehr denn 80jährige Mutter krank lag.
Unglücklicherweise haben die Cholera-Verhältnisse, auf die ich sogleich eingehen werde, die Communication zwischen Tunis und Malta mehr weniger unterbrochen, so daß ich jetzt seine Rückkehr nicht mehr calculiren (kann), während mir doch seine Vertretung obliegt. Endlich verbietet mir die nicht mehr zu läugnende Existenz der Cholera zu Tunis, abzureisen, während durch mancherlei Verhältnisse (Krankheiten und Reisen verschiedener Aerzte) Mangel an Aerzten besteht. Seit fast 3 Monaten hält sich diese Krankheit jetzt hier in einer sehr geringen Intensität in der Stadt Tunis, in ihrer Umgebung und in anderen Städten der Regentschaft, ohne gerade wesentlich zu- oder abzunehmen. Jetzt seit einigen Tagen aber hat sie erheblichere Proportionen angenommen und vorzüglich die Stadt Susa auf der Küste hat wesentlich gelitten und ist fast von der Bevölkerung verlassen. Die Reicheren haben sich nach Italien geflüchtet, doch die übrigen ergießen sich über Tunis und werden nicht verfehlen, die ohnehin schon existirenden Dispositionen wesentlich zu erhöhen. Die italienischen Schiffe verweigern schon jeglichen Personentransport und wenn es wahr ist, daß auch die französischen Messageries* dieselbe Maaßregel adoptiren wollen, so würde selbst die materielle Unmöglichkeit eintreten, das Land zu verlassen. Noch ist die Epidemie nicht in voller Blüthe, noch sind die Heilungen sehr häufig und die Zahl der Erkrankungen verhältnißmäßig gering; doch das furchtbare Elend, das unter den Eingeborenen Juden und Muselmännern herrscht, der Mangel an Sanitätspolizei, die Furcht, die Anhäufung von Menschen und andere Gründe machen eine weitere Ausbreitung nicht unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite spricht die Existenz von 3 Monaten in der Gegend, ohne große Verbreitung, für eine verhältnismäßig leichtere Natur der schrecklichen Krankheit. Glücklicherweise ist bis jetzt noch kein Fall im Bardo vorgekommen. Ein solcher würde mich verpflichten, meinen Aufenthalt ganz dort zu nehmen und also von jeder civilisirten Umgebung abgeschnitten zu werden. Bis jetzt gehe ich jeden Morgen um 7 Uhr zum Bardo und bleibe dort bis etwa Mittag, fahre zurück nach Tunis, frühstücke, mache meine Stadtbesuche bis gegen 5 Uhr, um noch einmal in den Bardo zurückzukehren. Da die hohen Personen in der Umgebung des Bardo ihre Villen haben, so kostet dieses Amt ungemein viel Zeit und Geld. Doch All’ dies würde endigen und mir noch Zeit lassen, nach der Rückkehr des oben erwähnten Dr. Schembri, meinen Heimathbesuch zu unternehmen. Doch vor dem Ablauf der Cholera ist es mir ganz unmöglich, mein „Feld der Ehre“ zu verlassen. Wollte Gott, daß sie schnell zu Ende ginge! Im Uebrigen befinde ich mich ganz wohl, und würde noch zufriedener sein, wenn die finanziellen Verhältnisse Tunesiens sich bessern wollten, und dem Staate erlauben, mich zu bezahlen. Die Emprunt**-Frage ist immer noch nicht zufriedenstellend erledigt; ein erster Versuch, den die Regierung für eigene Rechnung durch Erlanger in Paris machte, reüssirte nicht nach Wunsch; letzterer wird hoffentlich die Vollmacht bekommen, die Sache so auszuführen, als es ihm zweckmäßig erscheint und dann besser reüssieren. Ich habe jetzt 8000 Piaster zu fordern (5000 Frcs).
Herr v. Moers (der Verwandte von Wendelstein) ist von Frankfurt und Rotterdam, wo er Bankdirector werden sollte, zurückgekehrt, ohne die Stelle bekommen zu haben. Ich bin sehr zufrieden damit, da uns so seine Gesellschaft bleibt. Herr Schmidt wartet nur die Regulirung der tunesischen Finanzen ab, bei der er ja die Hauptrolle spielt, um dann für längere Zeit, vielleicht für immer, nach Deutschland zu gehen. Letzteres würde das beste für ihn sein, da die ekelhafte Natur der hiesigen Geschäfte einen traurigen Einfluß auf seinen Gemüthszustand und seinen Charakter ausgeübt haben.
Sonst ist Tunis vereinsamt und verlassen. Viele befreundete Familien (der englische Consul, der Pastor Fenner etc. etc.) sind nach Paris zur Ausstellung gegangen; Andere sind von Cholerafurcht getrieben von hinnen gewichen und die Zurückgebliebenen sind langweilig und gedrückt durch Geschäftslosigkeit, den precären Zustand ihres Besitzthums hier, und die Gegenwart der Krankheit.
Das ewige Hin- und Herziehen meinerseits hat zur Folge gehabt, daß mir Dein lieber Brief nicht augenblicklich zur Hand ist (er ist in der Goulette) und ich so verhindert bin, in seine Details einzugehen. soweit sie die einzelnen Familienglieder betrifft. Wann werdet Ihr nach Thüringen gehen? Nur die Gesundheit der lieben Tante und der vortrefflichen Großmama sind mir als diejenigen Thatsachen, welche mir die größte Genugthuung gewährt haben, lebhaft in Erinnerung.
Was Politik betrifft, so bin ich von Herzen froh, daß der französisch-preußische Conflict in Bezug auf Luxemburg beendigt ist. Das Resultat des norddeutschen Parlaments in Gestalt der Reichsverfassung ist wohl das kümmerlichste, was dem constitutionellen Sinne liberaler Bewohner offerirt werden konnte. Hannover scheint sich durchaus noch nicht mit Preußen amalgamiren zu wollen?
Ich werde so bald als möglich über den weiteren Gang der Krankheit berichten und schließe für heute mit dem herzlichsten Wunsche Eures allseitigen Wohlergehens und dem Ausdrucke meines tiefsten Bedauerns über den erneuten Hinausschub meiner lang ersehnten Heimreise. Umarme die liebe Tante in meinem Namen, präsentire der Großmama meinen Respect, grüße die Kinder und die Mühlengasse- und Herrmannschen Familien aufs Herzlichste und genehmige den Ausdruck meiner dankbaren Anhänglichkeit.

  Dein
   treuer
             Gustav

2 schöne Outards (Trappen, glaube ich) sind von Sfax für mich (resp. den zoologischen Garten von Cöln) unterwegs; doch bei den Choleraverhältnissen werde ich sie nicht expediren können und bei der delicaten Natur der Thiere fürchte ich, sie in ungünstiger Jahreszeit zu verlieren. Habe die Güte, es jedenfalls dem Dr. Bodinus mitzutheilen. Die gewünschte Antilopenvarietät habe ich noch nicht erhalten, hoffe aber immer.
 

* Transporte
** Anleihe


 ERLANGER & CIE
 TUNIS              12 October 1867
 

 Theurer Onkel,

Die jährliche Wiederkehr
Deines Geburtstages muß schon wieder vor einigen Wochen stattgefunden haben. Du wirst an meine Gratulationen post festum, nach Thoresschluß endlich hinlänglich gewöhnt sein, um mich aller Entschuldigungen enthalten zu können. Meine aufrichtigen Wünsche übrigens für Dein Wohlergehen, Deine physische und materielle Prosperität und das Wohl und das Glück Deiner nächsten Lieben werden stets um so rechtzeitiger kommen, als sie fern von dem gewöhnlichen, oft gedankenlosen, Gebrauche des Gratulirens, der größten Aufrichtigkeit und Wärme ihren Ursprung verdanken. Dein letzter lieber Brief läßt mich glücklicherweise hoffen, daß Ihr diesen Allen so ersehnten Tag in Gesundheit und Fröhlichkeit verbracht haben werdet. Der einzige dunkle Punkt an Eurem nächsten Familienhimmel bleibt Albert, der den zu seinem Unheil von der Natur empfangenen Charakter nicht scheint überwinden zu können. Wie schwer ist es doch, die menschliche Natur zu ändern, selbst wenn man die Arbeit in allerfrühster Jugend beginnt! Dagegen der brave Carl geht rüstig seines Weges weiter und wird sich gewiß auch weiter entwickeln, als Ihr es in Eurer zu großen Sorge um sein körperliches und geistiges Wohl hoffen zu können glaubtet. Verzweifelt auch nur noch nicht an Albert; er ist noch jung, und derartige ersehnte Charakterumschwünge haben oft statt zur Zeit des Uebergangs vom Knaben zum Jünglinge.
Ich habe diesen Sommer weiterer tunesischer Calamität ja auch glücklich durchgemacht. Die Cholera ist bis auf die letzten Spuren verschwunden; meine Reise nach Sfax ist glücklich beendet; der Hof hat seine Winterresidenz Bardo wieder bezogen, und ich bin folglich in Tunis installirt und dem gewöhnlichen zeitraubenden Antichambriren anheimgegeben. Der Bey und seine Minister haben sich diesmal beträchtlich früher zurückgezogen als in anderen Jahren, und dies hatte seinen Grund in ernsten Vorgängen, welche in diesem dem Untergange geweihten Lande nicht aufhören zu sollen scheinen. Als ich Mitte September von Sfax zurückkehrte und in Susa angekommen war, etwa auf der Mitte des Weges, hörte ich, daß ein Bruder des regierenden Bey heimlich seine Wohnung verlassen habe und nicht wiedergekehrt sei. Man vermuthete, daß er sich zu den revoltirten Bergvölkern des Nord-Westens der Regentschaft, von denen ich Dir geschrieben zu haben glaube, begeben habe und seine miserable Lage (die Prinzen sind, seit sie beträchtliche Schulden gemacht und politische Fragen mit Europa hervorgerufen hatten, in der gedrücktesten, miserabelsten Stellung der Welt) durch die Chancen der Revolution zu bessern suche. Es war der jüngste Bruder des Bey, Sidi Adel, dumm, wie alle, doch von gewisse physischer Rührigkeit und Energie. Ich vermuthete sofort, daß dieser Plan nicht allein in seinem Gehirn entsprungen sei und richtete meine Augen auf 2 nach der ersten Revolution in Ungnade gefallene Minister, von denen einer Schwager des Bey. Indessen der Prinz war mit seinen Dienern und nur 2 Personen von einiger Bedeutung, einem früheren Gouverneur einer Stadt auf der Küste und einem Secretär, verschwunden. Bald lief die Nachricht ein, daß er wirklich in den Bergen sei. Er überschwemmte das Land mit Proclamationen, gewann eine ziemliche Anzahl von Anhängern in den Bergen und die allgemeine Unzufriedenheit, das grenzenlose Elend ließen eine allgemeine Umwälzung fürchten. Der Bey selbst und sein Premier-Minister, der eigentliche Regent des Landes, hatten zu dieser Zeit eine solche Furcht, daß sie sofort die Sommerresidenz verließen, den Bardo mit Kanonen garniren ließen und hier Aufenthalt nahmen. Indessen Dank der apathischen Natur der Einwohner Tunesiens, Dank dem Mangel an Talent Sidi Adel’s, Dank einer Krankheit, die derselbe im ungewohnten, rauhen Bergleben sich zuzog und Dank der rastlosen Thätigkeit des Ministers, der alter Taktik zufolge Unfrieden unter die Insurgenten streute und durch Bestechung den Verrath bei ihnen zu erzeugen strebte, die Sache amortirte, der Prinz und sein Anhang wurden gefangen, die Revolution beendigt und der Staat gerettet. Sobald der Kriegsminister, Sidi Achmed Zaruk, der mit der Colonne, zu der ich mich im Sommer zur Cholerazeit begab, wie ich geschrieben habe, um den Krankheitsstand dort zu controliren, in den Bergen war, nach dem Gefecht mit den Insurgenten einige Gegenstände erbeutete, die er als dem Prinzen, seinem Schwager, zugehörig erkannte, weigerte sich, gegen ein Mitglied der regierenden Familie zu Felde zu ziehen und zog sich zurück. Ein älterer Bruder des empörten Prinzen, der künftige Thronfolger selbst, begab sich an die Spitze der Colonne und es gelang ihm bald durch Verrath in den Reihen der Insurgenten, den Prinzen und seine ganze Suite zu ergreifen. Dies ereignete sich vor ungefähr 14 Tagen und die Nachricht von diesem neuen Triumph des Ministers lief hier ein vor 12 Tagen. Aus dem Verhör des eingefangenen Prinzen im Lager seines Bruders erhellte die Mitschuld der beiden oben von mir erwähnten in Ungnade gefallenen früheren Minister. Sie schienen sogar die Anstifter der ganzen Geschichte auf Grund einer seit fast einem Jahr gesponnenen Verschwörung zu sein und den Prinzen zu dem unbesonnenen Schritte überredet zu haben. Diese Nachricht erhielt der Bey am Freitag vor 8 Tagen von seinem Bruder, dem Befehlshaber des Lagers und zögerte leider keine Minute sich zu rächen oder die Verschwörer zu strafen. Ich befand mich gerade im Bardo, als er den Brief erhielt und sogleich ausschickte diese beiden geachteten Leute zu verhaften. Von diesen war einer sein Schwager, Si Ismael-es-Sanni und der andere, Si Rechid, früherer Marine-Minister, ein in Constantinopel wohl bekannter Mann. Eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft im Bardo hatten sie aufgehört zu leben; man erdrosselte sie nach alt hergebrachter Weise, ohne ihnen selbst eine Art Gerichtsspruch zu accordiren, ohne sie zu hören, ohne die Aussagen des gefangenen Prinzen und seiner Anhänger weiter zu prüfen. Noch hatten sich die Consuln, die am folgenden Tage ihren Protest gegen eine solche barbarische Procedur formulirten, nicht beruhigt, als die Nachricht einlief, daß man die Häupter derjenigen, welche dem Prinzen gefolgt waren, im Lager enthauptet habe. Der Prinz selbst ist krank, moralisch und physisch, und wartet eine mäßige Besserung ab, um nach Tunis transportirt werden zu können. Seine untergeordneten Anhänger sind in Ketten im Bardo und warten noch ihrer Strafe. Die aufrührerischen Bergvölker sind zur Ordnung und zum Gehorsam zurückgekehrt. Die Städtebewohner sind wie gelähmt, unfähig zu denken und zu handeln.
So endete diese neue, traurige Catastrophe, deren mehre das unglückliche Land kaum würde ertragen können. Der Geldmangel, die Noth, der Hunger, die Unordnung, das Mißtrauen haben einen bisher ungeahnten Grad erreicht und wenn nicht in Europa durch einen preußisch-französischen Krieg die öffentliche Aufmerksamkeit beschäftigt sein wird, so kann ich nicht denken, daß die interessirten europäischen Staaten eine so abnorme Verwaltung ferner dulden werden. Und mit Ordnung und Hebung des Ackerbaus, wie viele Schätze könnte man aus diesem herrlichen Lande ans Licht fördern!
Entschuldige die ausgedehnte Erzählung einer so traurigen Episode; doch erstens stehe ich noch immer unter dem Eindrucke des schrecklichen Tages und zweitens passirt hier so wenig, daß ich um den Briefstoff stets etwas verlegen bin. Eine Auflösung oder wenigstens durchgreifende Krisis könnte wohl leicht noch in diesem Winter statthaben. Hoffen wir, daß wenigstens der Friede in Europa erhalten bleibe, was leider die politische Welt nicht hoffen zu können meint. Welch’ Unglück, ja welches Verbrechen würde es sein, 2 große Völker mit Krieg zu überziehen, nur um zu sehen, welches von beiden das stärkere sei.
Meine liebevollsten Grüße für die Tante, die Großmama, die Mühlengasse, für Herrmann und die Kinder.
   Dein
         Dich treu liebender Neffe
   Dr. Nachtigal
 


 FORTSETZUNG IM 13. TEIL