13. Teil:  Tunis 1868 

Tunis, 30.6.68
                  /25 Juli
 

 Mein lieber Onkel und theure Tante,

Obgleich ich nur für einige Momente von meinem Landaufenthalte nach Tunis gekommen bin, so kann ich doch nicht umhin, Euch einige kurze Nachrichten von mir zu geben, wenn ich auch vorziehen würde, mich einige Stunden hindurch ganz und gar dieser Correspondenz zu widmen. Daß ich glücklich angekommen bin habe ich an Carl Brügelmann kurz und bündig geschrieben, um Euch in dieser Beziehung nicht ohne Nachrichten zu lassen; daß mein Aufenthalt hierselbst, was meine pecuniären Zwecke betrifft, von wesentlichem Erfolge gekrönt gewesen sei, kann ich nicht behaupten. Wohl hat man mir, da man Wind von meiner Absicht das Land zu verlassen bekommen zu haben scheint, glänzende Perspectiven von verdoppeltem Gehalt etc. etc. eröffnet, doch ist es mir bisher noch nicht gelungen, baares Geld oder Schuldscheine ihren leeren Händen zu entringen. Ob es mir je gelingen wird, das wissen die Götter! Momentan haben sie allerdings ganz und gar Nichts, weniger als Nichts, wenn es möglich wäre. Die letzte Expedition, ein Einvernehmen mit Erlangers oder anderen interessirten Bankiers zu erzielen, wird in dieser Woche nach Paris abgehen; doch wohl kaum mit wesentlicher Aussicht auf Erfolg. Indessen ist die diesjährige Erndte eine so glänzende gewesen, daß, obgleich fast gar nicht gesäet worden ist, das Land fast von dem gewonnenen Getreiden wird existiren können. Denkt Euch, daß viele Leute 100 Scheffel von 1 Scheffel Aussaat gewonnen haben, und ermeßt danach die Fruchtbarkeit des Landes bei hinlänglichem Winterregen. Dazu kommt, daß die Olivenerndte, die keiner Aussaat bedarf, eine so glänzende ist, daß man sich einer ähnlichen kaum entsinnt und daß eine solche gewöhnlich im folgenden Jahr von ebenfalls ergiebigem Ertrage gefolgt ist. Wenn nicht die äußeren Schulden drängten, so könnte also der Bardo mit der üblichen Gewohnheit, die Beamten nicht zu bezahlen, noch die Erndte des nächsten Jahres abwarten. Aber die Anforderungen von außen her sind zu groß und es ist kein Mittel, sie zu decken. Dabei die Arbeitskräfte des Landes so wesentlich so vermindert, daß wahrscheinlich nicht einmal hinlänglich Hände zu Olivenerndte vorhanden sein werden. Nach der Rechnung, die ich habe mit Hülfe derjenigen, die es am besten wissen müssen, habe anstellen können, hat sich seit dem letzten Spätsommer die Bevölkerung um ein Viertel vermindert. 4-500.000 sind durch Hunger oder durch den folgenden Thyphus gestorben und die Schreckbilder, welche man in unseren Zeitungen über Algerien laß, waren günstige Schilderungen im Vergleich mit den Zuständen, welche hier herrschten, besonders während des kalten Winters. Die Straßen des europäischen Quartiers waren von Hungernden, die zum Theil schon kraftlos dalagen und sich apathisch ihrem Schicksal überließen, überfluthet, und das geringste Almosen, ein Brod oder ein Stück Geld, rief einen erbitterten, verzweifelten Kampf unter den Unglücklichen hervor. Die Brodvertheilung vor unserem Hause konnte nur mit Hülfe von zahlreichem Personal und unter Austheilung von Stockschlägen vollzogen werden. Auf den Landstraßen fand man die Leichen in verschiedenem Grade der Verwesung, an denen sich die arabischen Hunde, welche selbst zum größten Theil vor Hunger starben, erlabten; ja selbst in den Straßen der Stadt begegnete man nicht selten Leichen, welche erste nach längerer Zeit weggetragen wurden. Von der Tuchfabrik, deren Direktor Herr Schmidt war, und welche in einer Entfernung von 3 Meilen von der Stadt entfernt liegt, bis nach Tunis fand eines Tages der technische Director 11 Leichen mit den üblichen arabischen Hunden, wie Geiern, um sich.
Die Hoffnung und die colossalen Erfolge der Erndte haben die Gemüther in Etwas wieder aufgerichtet, so daß die Preise der Lebensmittel wieder sanken und nicht alle Welt mehr verzweifelt die Hände in den Schooß legt. Der Typhus selbst ist an seinem Ende angekommen und die Frau unseres Koches ist die einzige, die ich augenblicklich noch krank weiß und auch sie trat seit heute Morgen in die Besserung ein. Aber wie viele Opfer hat die Krankheit gefordert! Wenige sind der europäischen Familien, in denen nicht eins oder das andere Glied fehlt, oder doch wenigstens erkrankte. Im englischen Consulat habe ich noch ein Dutzend arabischer, verhungernder Kinder gefunden, deren einige sich auch jetzt nicht wieder erholen, d. h. keine anständige Nahrung mehr vertragen können. Ja, man hat zweifellos nicht allein Kinder gegessen, sondern man scheint sogar menschliches Fleisch eingepökelt zu haben. Genug von dem scheußlichen Bild, das sich zeitweise wiederholen wird, so lange die unthätigen Anhänger des Islam arabischen Ursprungs hier herrschen werden.
Mit um so größerem Vergnügen wende ich mich zu dem jüngst gesehenen Vaterlande zurück und versetze mich im Geiste in Eure Mitte und die Mitte derer in ganz Deutschland, deren freundschaftlicher und liebevoller Empfang mir so angenehme Tage bereitet hat. Alles Interesse für fremde Länder und fremde Völker muß verschwinden vor dem Glück, das die Liebe von Verwandten und Freunden bietet. Ich habe es, offen gesagt, nie so empfunden, als dies mal, und ich glaube, daß gewiß eine lange Abwesenheit das Gute an sich hat, einmal so recht die innige Zuneigung, welche die Gemüther verbindet, zum Ausbruche und zum Bewußtsein kommen zu lassen. Nachdem ich, mein Herz schwer und voll und betrübt Cöln verlassen und Stuttgart erreicht hatte, wurde ich aufs Neue beglückt, durch den rührenden Empfang, den mir mein Freund, der Dr. Berlin, und mein einstiger Lehrer, der Prof. Niemeyer, der nach Stuttgart gekommen war, zu Theil werden ließen. Ich schied nach wenigen Tagen mit noch schwererem Herzen, blieb 2 Tage in Paris und ging über Marseille und Bône nach Tunis.
Nehmt, meine Lieben, noch einmal alle meine Dankbarkeit, deren mein Herz noch jetzt voll ist, in Empfang und theilt meine Gefühle allen Verwandten, die so viel dazu beigetragen haben, mir meinen Aufenthalt in Cöln angenehm und werth zu machen, so beredt als möglich mit, denn mit aller Beredsamkeit würdet Ihr kaum die Wahrheit und Herzlichkeit meiner Gefühle genügsam und würdig wiedergeben können. Vergeßt Niemand von der werthen Großmama bis zu Dietrich herab und grüßt besonders herzlich die jungen Damen der Familie von mir. Der kleine Carl muß bald sein Zeugnis erhalten haben? Nun lebt für heute recht wohl, grüßt noch einmal Verwandte und Freunde so herzlich, warm und innig, als es nur möglich erscheint, sagt Allen, daß ich binnen Kurzem wieder in Eurer Mitte zu erscheinen vorhabe und nehmt die Versicherung meiner dankbarsten Liebe für Euren Empfang.
   Euer treuer Gustav.


FORTSETZUNG IM 14. TEIL