Mein lieber Onkel und theure Tante,
Obgleich ich nur für einige Momente von meinem Landaufenthalte
nach Tunis gekommen bin, so kann ich doch nicht umhin, Euch einige kurze
Nachrichten von mir zu geben, wenn ich auch vorziehen würde, mich
einige Stunden hindurch ganz und gar dieser Correspondenz zu widmen. Daß
ich glücklich angekommen bin habe ich an Carl Brügelmann kurz
und bündig geschrieben, um Euch in dieser Beziehung nicht ohne Nachrichten
zu lassen; daß mein Aufenthalt hierselbst, was meine pecuniären
Zwecke betrifft, von wesentlichem Erfolge gekrönt gewesen sei, kann
ich nicht behaupten. Wohl hat man mir, da man Wind von meiner Absicht das
Land zu verlassen bekommen zu haben scheint, glänzende Perspectiven
von verdoppeltem Gehalt etc. etc. eröffnet, doch ist es mir bisher
noch nicht gelungen, baares Geld oder Schuldscheine ihren leeren Händen
zu entringen. Ob es mir je gelingen wird, das wissen die Götter! Momentan
haben sie allerdings ganz und gar Nichts, weniger als Nichts, wenn es möglich
wäre. Die letzte Expedition, ein Einvernehmen mit Erlangers oder anderen
interessirten Bankiers zu erzielen, wird in dieser Woche nach Paris abgehen;
doch wohl kaum mit wesentlicher Aussicht auf Erfolg. Indessen ist die diesjährige
Erndte eine so glänzende gewesen, daß, obgleich fast gar nicht
gesäet worden ist, das Land fast von dem gewonnenen Getreiden wird
existiren können. Denkt Euch, daß viele Leute 100 Scheffel von
1 Scheffel Aussaat gewonnen haben, und ermeßt danach die Fruchtbarkeit
des Landes bei hinlänglichem Winterregen. Dazu kommt, daß die
Olivenerndte, die keiner Aussaat bedarf, eine so glänzende ist, daß
man sich einer ähnlichen kaum entsinnt und daß eine solche gewöhnlich
im folgenden Jahr von ebenfalls ergiebigem Ertrage gefolgt ist. Wenn nicht
die äußeren Schulden drängten, so könnte also der
Bardo mit der üblichen Gewohnheit, die Beamten nicht zu bezahlen,
noch die Erndte des nächsten Jahres abwarten. Aber die Anforderungen
von außen her sind zu groß und es ist kein Mittel, sie zu decken.
Dabei die Arbeitskräfte des Landes so wesentlich so vermindert, daß
wahrscheinlich nicht einmal hinlänglich Hände zu Olivenerndte
vorhanden sein werden. Nach der Rechnung, die ich habe mit Hülfe derjenigen,
die es am besten wissen müssen, habe anstellen können, hat sich
seit dem letzten Spätsommer die Bevölkerung um ein Viertel vermindert.
4-500.000 sind durch Hunger oder durch den folgenden Thyphus gestorben
und die Schreckbilder, welche man in unseren Zeitungen über Algerien
laß, waren günstige Schilderungen im Vergleich mit den Zuständen,
welche hier herrschten, besonders während des kalten Winters. Die
Straßen des europäischen Quartiers waren von Hungernden, die
zum Theil schon kraftlos dalagen und sich apathisch ihrem Schicksal überließen,
überfluthet, und das geringste Almosen, ein Brod oder ein Stück
Geld, rief einen erbitterten, verzweifelten Kampf unter den Unglücklichen
hervor. Die Brodvertheilung vor unserem Hause konnte nur mit Hülfe
von zahlreichem Personal und unter Austheilung von Stockschlägen vollzogen
werden. Auf den Landstraßen fand man die Leichen in verschiedenem
Grade der Verwesung, an denen sich die arabischen Hunde, welche selbst
zum größten Theil vor Hunger starben, erlabten; ja selbst in
den Straßen der Stadt begegnete man nicht selten Leichen, welche
erste nach längerer Zeit weggetragen wurden. Von der Tuchfabrik, deren
Direktor Herr Schmidt war, und welche in einer Entfernung von 3 Meilen
von der Stadt entfernt liegt, bis nach Tunis fand eines Tages der technische
Director 11 Leichen mit den üblichen arabischen Hunden, wie Geiern,
um sich.
Die Hoffnung und die colossalen Erfolge der Erndte haben die Gemüther
in Etwas wieder aufgerichtet, so daß die Preise der Lebensmittel
wieder sanken und nicht alle Welt mehr verzweifelt die Hände in den
Schooß legt. Der Typhus selbst ist an seinem Ende angekommen und
die Frau unseres Koches ist die einzige, die ich augenblicklich noch krank
weiß und auch sie trat seit heute Morgen in die Besserung ein. Aber
wie viele Opfer hat die Krankheit gefordert! Wenige sind der europäischen
Familien, in denen nicht eins oder das andere Glied fehlt, oder doch wenigstens
erkrankte. Im englischen Consulat habe ich noch ein Dutzend arabischer,
verhungernder Kinder gefunden, deren einige sich auch jetzt nicht wieder
erholen, d. h. keine anständige Nahrung mehr vertragen können.
Ja, man hat zweifellos nicht allein Kinder gegessen, sondern man scheint
sogar menschliches Fleisch eingepökelt zu haben. Genug von dem scheußlichen
Bild, das sich zeitweise wiederholen wird, so lange die unthätigen
Anhänger des Islam arabischen Ursprungs hier herrschen werden.
Mit um so größerem Vergnügen wende ich mich zu dem
jüngst gesehenen Vaterlande zurück und versetze mich im Geiste
in Eure Mitte und die Mitte derer in ganz Deutschland, deren freundschaftlicher
und liebevoller Empfang mir so angenehme Tage bereitet hat. Alles Interesse
für fremde Länder und fremde Völker muß verschwinden
vor dem Glück, das die Liebe von Verwandten und Freunden bietet. Ich
habe es, offen gesagt, nie so empfunden, als dies mal, und ich glaube,
daß gewiß eine lange Abwesenheit das Gute an sich hat, einmal
so recht die innige Zuneigung, welche die Gemüther verbindet, zum
Ausbruche und zum Bewußtsein kommen zu lassen. Nachdem ich, mein
Herz schwer und voll und betrübt Cöln verlassen und Stuttgart
erreicht hatte, wurde ich aufs Neue beglückt, durch den rührenden
Empfang, den mir mein Freund, der Dr. Berlin, und mein einstiger Lehrer,
der Prof. Niemeyer, der nach Stuttgart gekommen war, zu Theil werden ließen.
Ich schied nach wenigen Tagen mit noch schwererem Herzen, blieb 2 Tage
in Paris und ging über Marseille und Bône nach Tunis.
Nehmt, meine Lieben, noch einmal alle meine Dankbarkeit, deren mein
Herz noch jetzt voll ist, in Empfang und theilt meine Gefühle allen
Verwandten, die so viel dazu beigetragen haben, mir meinen Aufenthalt in
Cöln angenehm und werth zu machen, so beredt als möglich mit,
denn mit aller Beredsamkeit würdet Ihr kaum die Wahrheit und Herzlichkeit
meiner Gefühle genügsam und würdig wiedergeben können.
Vergeßt Niemand von der werthen Großmama bis zu Dietrich herab
und grüßt besonders herzlich die jungen Damen der Familie von
mir. Der kleine Carl muß bald sein Zeugnis erhalten haben? Nun lebt
für heute recht wohl, grüßt noch einmal Verwandte und Freunde
so herzlich, warm und innig, als es nur möglich erscheint, sagt Allen,
daß ich binnen Kurzem wieder in Eurer Mitte zu erscheinen vorhabe
und nehmt die Versicherung meiner dankbarsten Liebe für Euren Empfang.
Euer treuer Gustav.