9. Teil:  La Goulette 1866

La Goulette am 30sten Juli 1866

  Mein lieber Onkel,
zu meiner nicht weniger als freudigen Ueberraschung haben wir so eben Deinen für mich so freundlichen Brief empfangen, in dem Du Dich nach dem Grunde meines langen Schweigens erkundigst. Ich danke Dir von Herzen für diesen neuen Beweis Eurer liebevollen Theilnahme und bedaure aufrichtig, Euch Sorgen gemacht zu haben. Wie es möglich war, daß meine Schwester Marie so lange keine Nachricht von mir hatte, ist mir gänzlich unklar, da ich auf ihren damals letzten Brief zwei Male, und zwar stets durch die italienische Post, geschrieben hatte. Glücklicher weise habe ich auch von ihr Nachricht, daß sie durch Ankunft derselben sehr schnell von ihrer Unruhe befreit wurde. Übrigens mögen wohl die kriegerischen Zustände Europas auch mancherlei Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten der Posten verschulden.
Daß ich meine Antwort auf Deinen lieben Brief, den ich bei meiner Rückkehr von der Küste hier vorfand, einige Wochen hinausgeschoben habe, ist zwar richtig. Dies war in der Hoffnung geschehen, etwas Bestimmtes über mein Kommen sagen zu können, das von dem Erfolge der Schritte der tunesischen Regierung bei dem Preußischen Ministerium, wie ich sie Euch bei meinem unterdessen sicherlich längst eingelaufenen Briefe auseinandergesetzt zu haben glaube, abhängen muß. Ich erwarte in der nächsten Woche eine Antwort der Preußischen Regierung und werde danach meine Maßregeln nehmen. Ohne eine officielle Antwort in der Tasche zu haben, würde ich ungern Preußischen Boden betreten, um vor etwaigen Weitläufigkeiten geschützt zu sein. Thatsache ist, daß man mich persönlich gar nicht aufgefordert hat, zurückzukommen und daß, wenn ich auch sofort nach meiner Rückkehr aus dem Innern abgereist wäre, keine Möglichkeit mehr war, an den Lorbeeren von Sadowa zu participiren. Doch trotzdem lastet der Gedanke des Mangels an Aerzten in diesem blutigen Kriege schwer auf mir und ich wäre nicht abgeneigt, mit dem Urlaub in der Tasche, wenn man der Ärzte dann noch bedürfen sollte, dem Vaterland oder meinen Mitbürgern für die Sommer- und Herbst-Monate meine Dienste zu widmen. Gleich abzureisen nach der berühmten entscheidenden Schlacht* war nicht räthlich, da die Abtretung Venedig’s an den französischen Kaiser sofort Friedens-Aussichten eröffnete, und der Bey so wohlwollend hatte für mich interveniren lassen. Ich würde von Herzen wünschen, daß die nächste italienische oder französische Post mir Aufschluß bringen möge, um meine begreifliche Unruhe zu stillen.
 

   7 August 1866
Noch immer ist keine Antwort da. Ich werde in diesen Tagen einmal nach Tunis gehen und mit meinem Consul Rücksprache nehmen. Ich möchte doch gar zu gern noch nach Hause gehen und die Jahreszeit drängt sehr. Wenn ich sicher wäre, daß der Arzt noch sehr nöthig oder erwünscht sei bei der Armee und in den Spitälern; ich würde in der That vorziehen, die Antwort nicht abzuwarten und gleich kommen. Doch auf der anderen Seite hält mich ein natürliches Gefühl von Scheu ab, nach Ablauf der Gefahr mich zu präsentiren. Ein Grund, der mich noch zurückhält, ist die prolongirte Abwesenheit des ersten Arztes der Regentschaft, des Baron Lumbroso, von dessen Remplacirung man sogar spricht, in dem auch mein Name dabei erwähnt wird. Solche Gelegenheiten, von denen hier alles abhängt, zu verlieren wäre unverantwortlich. Das wäre das einzige noch, was werth wäre der zahlreichen Opfer, die man sich auferlegt durch freiwillige Verbannung vom Vaterlande und die traurige Wahl eines tunesischen Hoflebens. Jetzt habe ich wenigstens noch außer dem Höflingsdienst genug zu thun. Es giebt viele Kranke, wie immer im Sommer, und die bisherigen Aerzte der Goulette sind nicht sonderlich beliebt. Unglücklicherweise ist die europäische Bevölkerung des Städtchens, die aus Franzosen, Maltesern und Sicilianern besteht, nicht gerade die glänzendst situirte, so daß ich mehr Mühe habe, als materiellen Gewinn. Doch ziehe ich stets vor, den ganzen Tag von Morgens bis Abends Kranke zu besuchen, als 3 Stunden zu antichambriren. Wieviel lieber wäre mir ein sommerlicher, so gloriöser Feldzug gewesen! Die Welt spricht von Nichts mehr, als von den Preußischen Erfolgen, den Zündnadelgewehren und Gußstahlkanonen. Leider aber sind die letzteren ziemlich in den Hintergrund getreten, gegenüber den kolossalen Maaßregeln, die Falkenstein, Manteuffel und Roeder auf höheren Befehl oder eigenes Gutdünken über Frankfurt verhängt haben. Ich möchte wohl wissen, was die Rheinländer, die sich gewiß nicht durch altpreußischen Kriegesruhm verblenden lassen, über die Bestrafung der österreichisch gesinnten Stadt urtheilen? Wie denkt Ihr überhaupt jetzt über den Krieg, den ihr von vornherein so sehr tadeltet? Ich denke nach wie vor über ihn; ich bedaure von ganzer Seele und von tiefstem Herzen, daß das humane, civilisirte Deutschland das scheußliche Beispiel eines Bürgerkrieges geben mußte, läugne aber nicht, daß bei kluger und ernsthaft angemessener Ausbeutung der errungenen Vortheile, reiches Heil und Segen für Preußen und Deutschland daraus erwachsen kann. Mögen Herz und Sinn derer, die am Ruder stehen, zum Nutzen und Frommen des Vaterlandes und der Menschheit im Ganzen geleitet werden. Wie gern spräche ich Alles dies mit Dir, mit Euch Allen durch, anstatt nur durch ausländische Zeitungen mehr oder weniger unklar darüber berichtet zu werden?!
Unser Hauswesen stellt natürlich auch im Kleinen das Bild des deutschen Vaterlandes dar. Ich, der Preuße, bin wenigstens durchaus für die Hegemonie des Nordens in Deutschland und erkenne Oesterreichs Unfähigkeit. Herr Schmidt, Hessen-Casseler, war erst Preußen-Hasser, ist aber seit der Einsteckung seines Kurfürsten durchaus zu Preußen zurückgekehrt und wünscht annexirt zu werden. Herr von Moers endlich, der Frankfurter, ist von wüthendstem Preußenhasse beseelt und bei den neuesten Nachrichten über Frankfurt in der traurigsten, desperatesten Stimmung und beweint als Katholik, und sehr eifriger Katholik, den Fall Oesterreichs auf’s tiefste. Schreibe doch, ich bitte, über Deine und Deiner Kreise Ansichten und über das, was man von der neuen Kammer erwartet.–
Meinen Respect der verehrungswürdigen Großmama, meine unveränderliche Liebe der Tante, meinen aufrichtigen Glückwunsch an Herrmann Brügelmann (wegen der gelungenen Operation) und meine besten Grüße an die übrigen so sehnsüchtig von mir erwarteten Glieder der Familie Brügelmann-Nachtigal.– Herr Schmidt und Herr von Moers empfehlen sich Dir bestens; ich hatte es über mich genommen, sie von einer Antwort Deines lieben Briefes zu dispensiren. Nochmals adieu, lieber Onkel, bleibt gesund und erhaltet mir Deine und Euer aller Liebe.
               Gustav
 

* Schlacht von Königgrätz am 3.7.1866


FORTSETZUNG IM 10. TEIL