Mein lieber Onkel,
zu meiner nicht weniger als freudigen Ueberraschung haben wir so eben
Deinen für mich so freundlichen Brief empfangen, in dem Du Dich nach
dem Grunde meines langen Schweigens erkundigst. Ich danke Dir von Herzen
für diesen neuen Beweis Eurer liebevollen Theilnahme und bedaure aufrichtig,
Euch Sorgen gemacht zu haben. Wie es möglich war, daß meine
Schwester Marie so lange keine Nachricht von mir hatte, ist mir gänzlich
unklar, da ich auf ihren damals letzten Brief zwei Male, und zwar stets
durch die italienische Post, geschrieben hatte. Glücklicher weise
habe ich auch von ihr Nachricht, daß sie durch Ankunft derselben
sehr schnell von ihrer Unruhe befreit wurde. Übrigens mögen wohl
die kriegerischen Zustände Europas auch mancherlei Verzögerungen
und Unregelmäßigkeiten der Posten verschulden.
Daß ich meine Antwort auf Deinen lieben Brief, den ich bei meiner
Rückkehr von der Küste hier vorfand, einige Wochen hinausgeschoben
habe, ist zwar richtig. Dies war in der Hoffnung geschehen, etwas Bestimmtes
über mein Kommen sagen zu können, das von dem Erfolge der Schritte
der tunesischen Regierung bei dem Preußischen Ministerium, wie ich
sie Euch bei meinem unterdessen sicherlich längst eingelaufenen Briefe
auseinandergesetzt zu haben glaube, abhängen muß. Ich erwarte
in der nächsten Woche eine Antwort der Preußischen Regierung
und werde danach meine Maßregeln nehmen. Ohne eine officielle Antwort
in der Tasche zu haben, würde ich ungern Preußischen Boden betreten,
um vor etwaigen Weitläufigkeiten geschützt zu sein. Thatsache
ist, daß man mich persönlich gar nicht aufgefordert hat, zurückzukommen
und daß, wenn ich auch sofort nach meiner Rückkehr aus dem Innern
abgereist wäre, keine Möglichkeit mehr war, an den Lorbeeren
von Sadowa zu participiren. Doch trotzdem lastet der Gedanke des Mangels
an Aerzten in diesem blutigen Kriege schwer auf mir und ich wäre nicht
abgeneigt, mit dem Urlaub in der Tasche, wenn man der Ärzte dann noch
bedürfen sollte, dem Vaterland oder meinen Mitbürgern für
die Sommer- und Herbst-Monate meine Dienste zu widmen. Gleich abzureisen
nach der berühmten entscheidenden Schlacht* war nicht räthlich,
da die Abtretung Venedig’s an den französischen Kaiser sofort Friedens-Aussichten
eröffnete, und der Bey so wohlwollend hatte für mich interveniren
lassen. Ich würde von Herzen wünschen, daß die nächste
italienische oder französische Post mir Aufschluß bringen möge,
um meine begreifliche Unruhe zu stillen.
7 August 1866
Noch immer ist keine Antwort da. Ich werde in diesen Tagen einmal nach
Tunis gehen und mit meinem Consul Rücksprache nehmen. Ich möchte
doch gar zu gern noch nach Hause gehen und die Jahreszeit drängt sehr.
Wenn ich sicher wäre, daß der Arzt noch sehr nöthig oder
erwünscht sei bei der Armee und in den Spitälern; ich würde
in der That vorziehen, die Antwort nicht abzuwarten und gleich kommen.
Doch auf der anderen Seite hält mich ein natürliches Gefühl
von Scheu ab, nach Ablauf der Gefahr mich zu präsentiren. Ein Grund,
der mich noch zurückhält, ist die prolongirte Abwesenheit des
ersten Arztes der Regentschaft, des Baron Lumbroso, von dessen Remplacirung
man sogar spricht, in dem auch mein Name dabei erwähnt wird. Solche
Gelegenheiten, von denen hier alles abhängt, zu verlieren wäre
unverantwortlich. Das wäre das einzige noch, was werth wäre der
zahlreichen Opfer, die man sich auferlegt durch freiwillige Verbannung
vom Vaterlande und die traurige Wahl eines tunesischen Hoflebens. Jetzt
habe ich wenigstens noch außer dem Höflingsdienst genug zu thun.
Es giebt viele Kranke, wie immer im Sommer, und die bisherigen Aerzte der
Goulette sind nicht sonderlich beliebt. Unglücklicherweise ist die
europäische Bevölkerung des Städtchens, die aus Franzosen,
Maltesern und Sicilianern besteht, nicht gerade die glänzendst situirte,
so daß ich mehr Mühe habe, als materiellen Gewinn. Doch ziehe
ich stets vor, den ganzen Tag von Morgens bis Abends Kranke zu besuchen,
als 3 Stunden zu antichambriren. Wieviel lieber wäre mir ein sommerlicher,
so gloriöser Feldzug gewesen! Die Welt spricht von Nichts mehr, als
von den Preußischen Erfolgen, den Zündnadelgewehren und Gußstahlkanonen.
Leider aber sind die letzteren ziemlich in den Hintergrund getreten, gegenüber
den kolossalen Maaßregeln, die Falkenstein, Manteuffel und Roeder
auf höheren Befehl oder eigenes Gutdünken über Frankfurt
verhängt haben. Ich möchte wohl wissen, was die Rheinländer,
die sich gewiß nicht durch altpreußischen Kriegesruhm verblenden
lassen, über die Bestrafung der österreichisch gesinnten Stadt
urtheilen? Wie denkt Ihr überhaupt jetzt über den Krieg, den
ihr von vornherein so sehr tadeltet? Ich denke nach wie vor über ihn;
ich bedaure von ganzer Seele und von tiefstem Herzen, daß das humane,
civilisirte Deutschland das scheußliche Beispiel eines Bürgerkrieges
geben mußte, läugne aber nicht, daß bei kluger und ernsthaft
angemessener Ausbeutung der errungenen Vortheile, reiches Heil und Segen
für Preußen und Deutschland daraus erwachsen kann. Mögen
Herz und Sinn derer, die am Ruder stehen, zum Nutzen und Frommen des Vaterlandes
und der Menschheit im Ganzen geleitet werden. Wie gern spräche ich
Alles dies mit Dir, mit Euch Allen durch, anstatt nur durch ausländische
Zeitungen mehr oder weniger unklar darüber berichtet zu werden?!
Unser Hauswesen stellt natürlich auch im Kleinen das Bild des
deutschen Vaterlandes dar. Ich, der Preuße, bin wenigstens durchaus
für die Hegemonie des Nordens in Deutschland und erkenne Oesterreichs
Unfähigkeit. Herr Schmidt, Hessen-Casseler, war erst Preußen-Hasser,
ist aber seit der Einsteckung seines Kurfürsten durchaus zu Preußen
zurückgekehrt und wünscht annexirt zu werden. Herr von Moers
endlich, der Frankfurter, ist von wüthendstem Preußenhasse beseelt
und bei den neuesten Nachrichten über Frankfurt in der traurigsten,
desperatesten Stimmung und beweint als Katholik, und sehr eifriger Katholik,
den Fall Oesterreichs auf’s tiefste. Schreibe doch, ich bitte, über
Deine und Deiner Kreise Ansichten und über das, was man von der neuen
Kammer erwartet.–
Meinen Respect der verehrungswürdigen Großmama, meine unveränderliche
Liebe der Tante, meinen aufrichtigen Glückwunsch an Herrmann Brügelmann
(wegen der gelungenen Operation) und meine besten Grüße an die
übrigen so sehnsüchtig von mir erwarteten Glieder der Familie
Brügelmann-Nachtigal.– Herr Schmidt und Herr von Moers empfehlen sich
Dir bestens; ich hatte es über mich genommen, sie von einer Antwort
Deines lieben Briefes zu dispensiren. Nochmals adieu, lieber Onkel, bleibt
gesund und erhaltet mir Deine und Euer aller Liebe.
Gustav
* Schlacht von Königgrätz
am 3.7.1866