Erinnerungen

von Matthias Rech (1879 - 1946)

herausgegeben von Karl Wüllenweber  (Copyright)


Geburt

In der Neujahrsnacht 1879 muß es sehr kalt gewesen sein. In Zürich heizte Gottfried Keller in dieser Nacht seinen Ofen mit den Exemplaren der 1. Auflage seines „Grünen Heinrich“, die er sich für teures Geld von seinem Verleger Viebig zurückgekauft hatte. Wie mir meine Mutter gelegentlich mitteilte, verdankte ich dieser Nacht mein Leben, und wurde am 3. Oktober geboren. Die Geburt geschah im Hause Bonngasse 38 in Bonn, nicht allzuweit von Beethovens Geburtshaus, das als solches damals noch keineswegs anerkannt war, sondern sich diese Stellung erst durch einen jahrelangen Kampf erobern mußte. Schon näher stand das Elternhaus dem „Stiefel“, einem Hause, in dem Pittesch Dröckje damals eine solide Kornbranntweinbrennerei trieb, und in dem heute eine bekannte volkstümliche „obergärige Bierbrauerei“ blüht und gedeiht.

Der Kornbranntwein, der damals noch ein verbreitetes Nahrungsmittel der Handwerker, Bauern und Arbeiter war, muß gut und billig gewesen sein. Er wurde aus kleinen, fast faustdicken Gläsern getrunken, die „Vögelchen“ hießen. Diese ließ man „zwitschern“. Ich erinnere mich genau, daß mit Schlag zehn Uhr von der einen Seite mit gewichtigen Schritten langsam und breitspurig in der Lederschürze dahinstapfend „Kömpel“, der Schmied mit schwarzem Bart und rollenden Augen erschien, und von der anderen Seite der schmalere, rotbärtige Schreinermeister Heinemann aus der Maargasse (ihm ging nach seiner Behauptung der beste Limburger nie unter drei Pfund aus) und aus der Kesselgasse der Kohlenhändler Rieck mit lustig zwinkernden Augen und zwei gut dazu passenden, lang herabhängenden Schnurrbartspitzen. Wie es kam, daß ich dann zu gleicher Zeit mitunter den in Wien längst verstorbenen Beethoven noch frisch und frank habe durch die Bonngasse gehen sehe, das will ich einmal später erzählen.

Jetzt zurück zum Elternhaus: Mein Großvater Christian Rech, genannt der „Jannessen Kress“ (= Johannis hörender Christian) hatte in seiner Jugend ob seiner weißblonden Haare den Spitznamen „Et Schömmeljen“. Bei der Heirat seines Sohnes mit meiner Mutter hatte er diesem das Haus in der Bonngasse, und zwar von deren Tante Schmitz, mitsamt dem darin betriebenen „Kurz- Weiß- und Wollmanufakturwarengeschäft“ um 11.000 Mark gekauft. In der Vorzeit war in diesem Hause einmal eine Hausbierbrauerei gewesen und daher stammte der gewaltige Keller mit den dicken Wänden voll schwerer Basaltkrotzen, in den tief hinab eine gewaltige Balkentreppe führte und den oben eine gewichtige Falltür aus Eiche abschloß.

Durch das grobe Gitter dieser Falltür habe ich als kleiner Junge mit großer Geduld stundenlang versucht, Mäuse an einer mit Speck versehenen Holzangel von eigener Erfindung zu fangen. Es konnte mich gar nicht verdrießen, daß ich nie eine Maus fing, stets wurde etwas Neues probiert, mal mit aufgestreutem Salz, mal mit rohen Kartoffeln usw. Ganz bestimmt war ich nie enttäuscht, wenn die vorsichtig aufgezogene Schnur keine Maus vorwies, vielmehr wurde die Angel mit gleichem Eifer sofort wieder von neuem ausgeworfen.

In meinem späteren Leben habe ich mich oft an diesen vergnüglichen Zeitvertreib erinnert, wenn ich sah, wie erwachsene Leute ähnliches mit völliger Hingabe an eine Sacher stundenlang vollführten.
Kohlenkeller

Als ich größer wurde und schon „mitarbeiten“ durfte, war das schönste im Keller für mich wie für meine Brüder das „Bergwerk“. Im Herbst erschien das „Kollemänche“, ein kleiner verwachsener Zwerg, der stark nach Branntwein duftete und im Dienst des Kohlenhändlers in der Kesselgasse stand. Mitten auf der Straße wurden mehrere schwere Schlagkarren „Grieß“ aufgeschlagen, ein Gemisch von feinsten kleinen Kohlen und Kohlenstaub. Aus dem riesigen Haufen bildete sich unter lebhafter Beteiligung von und Jungens und unseren Nachbarfreunden ein Ringwall. Die Mulde in der Mitte wurde mit Wasser gefüllt und in diesen schönen Schwarzsee wurde dann eine größere Menge „Ullett“ (fette Tonerde) geschüttet. Dann wurde mit besonderen dreieckigen, in der Mitte durchlöcherten Haken an langen Stangen stundenlang alles fest durcheinander gemischt, bis die ganze Masse einheitlich durchgefettet und gleichmäßig mit dem Ton verbunden war. Dann wurde der ziemlich dünnflüssige Brei durch eine Lucke in den Keller gefüllt und erstarrte dort zu einer Art lockeren Lava, die in gewaltigen Bogen wie eine Schutthalde hoch vom Kellerloch bis tief zum Boden bis tief zum Boden drohend herabhing. Im Winter eröffneten wir hierin das Bergwerk. Wir bohrten mit Hacken den Hang unten an und füllten den Kuchen mit Kohlenschaufeln in Eimer, um damit die zahlreichen Öfen im Hause zu stochen. Erfolgte der Bergbau nicht fachmännisch, so konnte er gefährlich werden. Ich erinnere mich, daß ein junges Dienstmädchen im Keller heftig schrie. Wir stürzten hinunter und fanden sie unter der abgerutschten Masse im Bergwerk begraben und dazu war die brennende Petroleumlampe umgefallen. Gottlob geschah ihr nichts. Aber der Bergwerkbetrieb stand seitdem unter scharfer laufender Kontrolle und es war strengstens verboten, Stollen und Gewölbe in den Hang zu treiben, was wir nur gar zu gern immer wieder versuchten.

In meinen ersten Schuljahren habe ich im Bergwerk meine erste Erfindung gemacht. Im Hause wohnten Studenten in drei Stockwerken. Im zweiten Stockwerk wohnte einmal ein Theologe, der die mit 35 Pfg. pro Tag berechnete Heizung derart übertrib, daß er seinen Kanonenofen rundum glühend stochte, sodaß die Wände vor Hitze barsten. Trotzdem war es ihm immer noch zu kalt und der Brand (d. h. die Kohlen) war gar nicht all herbei zu schaffen. Ich erfand eine „Wiener Kohlenmischung“, indem ich das Grieß mit reichlich feiner Asche vermischte. Der Theologe konnte von nun an trotz eifrige Stocharbeit nur noch eine trübe dunkelrote Glut in seinem Ofen erzeugen. Er beklagte sich heftig über mangelhaften Zug im Kamin. Mein Vater kam hinter meine Schliche, gab mir eine kurze Aufklärung über Betrug und Schwindel und stärkte mein Gedächtnis hierfür durch eine hübsche Tracht Prügel. Ich empfand das als Unrecht, denn ich war stolz auf meine Erfindung und auf dem im Brand so unersättlichen Theologen.



 

Hauszimmer

Die Zimmer in den oberen Stockwerken waren zur besseren Übersicht numeriert. Die Studenten, die sie zum Teil bewohnten, wurden der Einfachheit halber im Hausverkehr mit der Zimmernummer benannt.

Auf dem zweiten Stockwerk waren zwei Zimmer nach vorn zur Straße Nr. 1 und 2, von denen Nr. 2 einen Schlafalkoven hatte. Nach hinten, dem Hofe zu, lagen die Zimmer 3 und 4. Auf dem zweiten Stock gab es ebenso die Zimmer 5 bis 8 und auf dem dritten 9 bis 12. Geboren wurde ich auf dem zweiten Stock Nr. 7. einem Zimmer nach dem Hofe zu, mit einer Tapete, die mir stets als die schönste aller Wandbekleidungen in meiner Kindheitserinnerung haften geblieben ist. Noch im Alter von vier bis fünf Jahren schlief ich in diesem Zimmer und hatte die Mutter schon mit endlosen Fragen gequält, was alles auf der Tapete dargestellt sei. Es war die Nachahmung einer alten Ledertapete, dunkelgrün mit braun und die Zeichnung des Musters mit Goldstrichen gehöht. Das Muster bestand aus fortlaufenden Palmetten. Ich sah darin fantastische Bäume und grimmig drohende Mäuler von Löwen und was alles sonst noch. Stundenlang konnte ich mir vom Bett aus die nächste Wandfläche besehen und immer neue Dinge darin entdecken. Eine angeborene Kurzsichtigkeit und die kindliche Fantasie erwiesen sich dabei als sehr schöpferisch. Als herangewachsener Junge sah ich in den aufgemalten Wandpilastern der Pfarrkirche in Alfter stets ähnliche Fratzen mit Löwenmäulern.

Durch meine Frage hatte ich von meiner Mutter herausgekriegt, in welcher bestimmten Ecke in dem Zimmer ich zur Welt gekommen war. Die Hebamme hatte mich um elf Uhr abends dorthin gebracht und ich verband die Tapete, meine Mutter und diese Hebamme auf eine eigentümliche Weise mit meiner Geburt. Das alles war mit derart lebendig, daß ich fast bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr fest daran geglaubt habe, das Tapetenmuster schon bei meiner Geburt gesehen und gekannt zu haben. Erst später ist mir aufgegangen, daß dieser Eindruck nur aus einer Vermischung von Reflektion und Sinneneindrücken herrühren konnte. Nach vielen Jahren fand ich die gleiche Tapete in recht abgewetztem Zustande in einem fremden Haus oder in einem Gasthof, und ich weiß, daß ich sie mir eingehend besehen und die folgenden Nächte von meinen ersten Kindheitstagen und den schönen Fabelgestalten auf der Tapete geträumt habe. Oft und oft denke ich an diese Tapete und es tut mir leid, daß ich nicht heute noch ein Stück davon besitze.

In dem gleichen Zimmer schliefen wir, die wir zu vier Brüdern waren, stets zu mehreren gemeinsam. Im Winter brannte, wenn es gar zu kalt wurde, ein Kanonenofen. Wenn dessen Tür halb offen stand, spiegelte sich der Flackerschein des Feuers an der weißen Decke und auf der Tapete wurden in dem zitternden Helldunkel alle Geheimnisse aus den Märchen wach. Die Goldstriche zitterten in dem Spiegel des Halbdunkels. Ein größeres Gefühl des Behagens habe ich nie gehabt. Stand dann noch eine brennende Kerze so, daß ich sie sehen konnte, so blinzelte ich so lange mit den Augenwimpern, bis sich vom Licht der Kerzenflamme aus strahlende Kometenschweife bis dahin erstreckten, wo ich sie haben wollte. Dieses schöne Spiel kann ich auch heute noch aufführen, namentlich, wenn ich mit abgelegter Brille vom Bett aus in einen schmalen Sonnenstreifen blinzle, der etwa auf eine Spiegelkante fällt. Ich weiß nicht, ob nur Kurzsichtige das machen können, oder ob auch Normalsichtige sich solche Lichtstrahlungen erblinzeln können. Jedenfalls ist das Spiel damit eine wahrhaft königliche Beschäftigung in süßem Nichtstun, wobei ich mir das Schönste ausdenken, vorstellen und schließlich sogar leibhaftig vorführen lassen kann.

Als kleiner Junge hörte ich oft von „Geborenen“ als Namenszusatz und ich meinte, mich auch so nennen zu können. Ich hatte bald herausgebracht, daß die Hebamme, die mich gebracht haben sollte, Klienger hieß. So bezeichnete  ich mich dann stolz als „Rech, geborener Klinger“. Ich konnte zwar nicht verstehen, daß alles herzlich lachte, wenn ich solches vorbrachte. Ich lachte dann selbst arglos mit und fühlte mich glücklich dabei.



 

Die Familie der Vaterseite

Längs der sogenannten Kölner Bucht zieht sich auf der lingen Rheinseite vom Siebengebirge her bis tief in die Köln Ebene eine Bruchfalte, „das Vorgebirge“ genannt. Diese langgestreckte Erhebung ist auf dem Rücken bewaldet ist auf dem Rücken bewaldet und nach der Rheinseite zu dicht besiedelt und kultiviert. Die Hochfläche ist ein zusammenhängendes Waldgebiet, in dem man heute die Braunkohle gewinnt. Die entgegengesetzte Seite neigt sich flacher auf die zweite, etwas höher gelegene und ältere Rheinterrasse. Deren Boden ist zwar ebenfalls fruchtbar, doch nicht so reich und und lange nicht so mannigfaltig angebaut wie die dem Rheinstrom zugewandte Seite. An dieser Rheinseite wurde bis etwa 1900 eine Burgunderrebe gezogen und Rotwein gekeltert. Ihre Bewohner führten daher von alters her die Bezeichnung: „Wingertländer“ während sie die Bewohner der anderen Seite „Durbeusche“ nannten, d. h. Leute, die durch den Busch wohnten, also so viel wie Hinterwäldler. Böse Zungen behaupten, bei den Durbeuschen beginne bereits die Eifel. Wenn diese auch erst mit dem Waldzuge beginnt, der die nächsthöhere Terrasse hinaufklettert, so wollen deren Bewohner dies auch nicht wahr haben. Der Eifelwanderer ist stets erstaunt, wie wenig Eifel er finden kann und wie schnell er sie durchwandert hat.

Mein Vater war ein Wingertländer. Er stammte aus dem Ortsteil Olsdorf der Gemeinde Alfter am Vorgebirge. Meine Mutter war eine Durbeusche und stammt aus Heimerzheim an der Swist im früheren Kreise Rheinbach, heute im Landkreis Bonn (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ort Heimersheim an der Ahr. Dort an der Ahr gibt es, nebenbei bemerkt, auch ein Dorf mit Namen Rech, das sich durch eine sehr widerstandsfähige alte Steinbrücke und durch einen guten Rotwein auszeichnet).

Mein Vater Konrad Hubert Rech war am 5. Januar 1845 als jüngstes von sechs Geschwistern von seiner Mutter Gertrud, geborene Hennes, zur Welt gebracht worden. Die Großmutter Hennes starb, als mein Vater erst vier Jahre alt war. Er konnte sich seiner Mutter nur aus einem Vorfall erinnern, daß er sich als Vierjähriger mit dem Beil in den linken Daumen gehackt und die Mutter ihn dann verbunden hatte.

Der Großvater war als jüngstes seiner sieben Geschwister auf dem elterlichen Hof in Olsdorf geblieben und hatte seine Lebensaufgabe glänzend gelöst: nämlich den durch die Teilung zerstückelten Besitz wieder zusammenbrigen zu können, zu erweitern und nebenbei noch ein für die damalige Zeit ganz beträchtliches Vermögen in sonstigen Werten zu hinterlassen. Weniger glücklich war er in der Auswahl seiner Frau. Sie war die Tochter eines reichen, verwitweten Bauern aus dem „Uehlelauch“ (Eulenloch, heute Kronenstraße geheißen). Der Schwiegervater war selbst Witwer und hatte seinem Schwiegersohn vermutlich die Erbschaft nach der verstorbenen Frau herausgeben müssen. Er heiratete in zweiter Ehe eine ältere Schwester seines Schwiegersohnes, woraus sich ganz putzige Familienverhältnisse ergaben, in dem z. B. die Vettern auch gleichzeitig im Verhältnis von Onkel und Neffen standen.

Der Großvater besaß einen ungewöhnlich klaren Verstand. Dieser hatte ihn wohl bewogen, mehr auf das Vermögen als auf die Gesundheit des Mädchens zu achten, das er sich zur Frau holte.
 

Die mit der Teilung und der Übernahme des Elternhauses verbundenen Lasten hatten ihm hierbei wohl stets vor Augen gestanden. Von alten Leuten wurde mir öfter mit listigem Augenzwinkern erzählt, daß er als junger Mann eifrig auf die Freite gelaufen sei und sich allenthalben nach einer Frau umgesehen habe. Auf einer dieser Fahrten hatte er auch die schöne jüngste Tochter auf dem Bauernhof in Heimerzheim kennen gelernt, deren älteste Tochter, meine Mutter, später seine Schwiegertochter werden sollte. Er war klein von Figur, muskulös und mager, hatte krallblaue Augen, eine große, leicht gebogene Nase und so weißblonde Haare, daß er den oben angeführten Spitznamen vom Schimmelchen trug. Seine Frau muß schwach auf der Lunge gewesen sein. Sie wurde als stille und geduldige Frau geschildert, die den recht harten, wenn auch gewissenhaft gerechten Charakter des Großvaters mit großer Sanftmut ertrug. Nicht nur der frühe Tod seiner Frau, sondern auch anderes Unglück hatte den Großvater in seinen besten Jahren schwer getroffen. Sein erstes Kind, mein Patenonkel Matthias Rech, wurde auf beiden Beinen lahm geboren. Ein harter Schlag für einen rührigen Jungbauern, der gerade von seinem Erstgeborenen die erste Hilfe in der Landwirtschaft erwartet. Der Junge kam dank der Energie seines Vaters als kleines Kind in die Bonner Universitätsklinik zu dem berühmten Professor Busch. Die Klinik lag damals im ersten Obergeschoß des ehemalig kurfürstlichen Schlosses in Bonn mit den Fenstern nach der Hofgartenseite zu, worin sich heute die Vorlesungssäle der Juristen befinden. Professor Busch schnitt beide Achillesfersen durch und flickte sie so glücklich zusammen, daß der Junge laufen lernte, wenn er auch dabei humpelte. Dank seiner Begabung wurde er Bürgermeistereisekretär, später selbständiger Steuerempfänger und hatte zum Schluß ein weit über die Bezüge eines Akademikers reichendes Einkommen. So wurde er seit Menschengedenken der erste „Schriwwes“ in der Familie. Mit „Schriwwes“ bezeichnet der rheinische Bauer jeden, der irgendeine Schreibarbeit ausübt, vom letzten Kanzlisten bis zum ersten Minister. Als sein Patenkind hatte ich die fragwürdige Ehre, der zweite Schriwwes in der Familie zu werden. Die Vorfahren hatten es zwar stets dazu gebracht, daß wenigstens einer von ihnen aus jeder Generation schreiben und lesen konnte, wie dies ein bis 1630 zurückgehendes Familienanschreibebuch beweist.

Sonst haben sie auf den Schriwwes mit der den Bauern eigenen stolzen Verachtung herabgesehen. Nach vielfachen Berichten fremder Leute und nach äußerst kargen Bemerkungen seines Vaters hat der Großvater seine Kinder mit großer Strenge erzogen. Lediglich mein Vater, mein Patenonkel Matthias und der Ohm Johann erreichten ein höheres Alter und überlebten den Großvater. Die anderen starben als Erwachsene, aber doch in verhältnismäßig jungen Jahren bei Lebzeiten ihres Vaters.

Der Großvater war ohne Zweifel die markanteste Persönlichkeit aller unserer Familienmitglieder, soweit mir bekannt geworden sind. Er war noch unter dem französischen Regiment im Jahre 1808 geboren und hatte die originelle Dorfschule eines Verwandten besucht, der zugleich Drechsler war. Er hatte seine Drechslerbank in der Schulklasse stehen und mußte beizeiten auch während der Schulstunden stramm an seiner Drehbank arbeiten. Er war jedenfalls ein fortschrittlicher Mann, denn an schönen Tagen ging er mit seinen Schülern hinaus ins Freie an den Waldrand und trieb mit den Kindern eifrig Sport im Laufen, Springen und Exerzieren. Mein Großvater hat mir selbst öfters mit besonderer Befriedigung erzählt und mir auch das Haus gezeigt in der Knipsgasse in Alfter, wo er den Schulunterricht erhalten hat. Auf dem Heimwege aus der Schule, so erzählte mein Großvater mit Behagen, gingen die Jungens ein Stück den Mirbach entlang, um dann am Ende des Baches durch einen Hohlweg aufzusteigen. An diesem Bachwinkel wohnte ein alter früherer Zollbeamter, der in den Tagen der berüchtigten Kontinentalsperre öfters geäußert hatte: „Et is aber noch Tubak im Dorf.“ Davon trug er seinen Spitznamen, mit dem ihn die Kinder reichlich beehrten. Er steht vor seinem Häuschen und besieht sich voller Mißtrauen die schweigsam vorbei stelzenden Buben. Diese mucken sich wohlweislich nicht, bis sie in den kleinen Hohlweg mit den schützenden Hecken kommen. Dann beginnen sie erst langsam und leise, dann stets lauter und schneller: „Et is, et is . . . et is aber noch, et is aber noch,“ dann alle zusammen im Chor: „T’bak im Dörp, T’bak im Dörp.“ Jetzt erbost sich der Alte und ganz wütend schimpft er nicht nur, sondern wirft auch mit Holzstücken nach den Buben. Darauf haben die Buben nur gewartet und mit lautem Kampfgeschrei wird jedes Holzstück und jeder erreichbare Stein auf das ohnehin altersschwache Dächlein geworfen, das nach und nach von derartigen Auftritten völlig zertrümmert wurde. Das war die Rache der jungen Preußen gegen einen alten Franzosen. Da ich als kleiner Junge viel auf dem Lande lebte, bei schlechtem Wetter gern in der Stube saß und den Erzählungen der Alten zuhörte, so hat der Großvater mir viele Geschichten aus seinem Leben erzählt. Die meisten habe ich vergessen, hoffe aber, daß sie mir im Alter wieder einfallen werden. Eines weiß ich noch: Er war eben verheiratet, als die neugebaute Eisenbahnstrecke Köln-Bonn eröffnet wurde. Es war Freifahrt und er hatte mit anderen diese erste Fahrt, auf den Trittbrettern sitzend, mitgemacht. Noch eine Generation später, als mein Vater im Felde pflügte, war die Geschwindigkeit der Züge noch derart, daß die Bauern sich mit den vorüberfahrenden Lokomotivführern und Heizern unterhielten. Die Bauern warfen mit „Schöen“ (Erdklumpen) und die Bahnleute mit Kohlenstücken. Die Frauen der Bahnwärter erhoben Durchgangszölle, indem sie sich die nötigen Kohlen mit einer Stange von der vorbeifahrenden Zügen abschoren. Heute, wo die Lastzüge mit Schnellzuggeschwindigkeit dahinrasen, klingt uns dies wie ein Märchen aus längst vergessenen Zeiten und liegt tatsächlich erst hundert Jahre zurück.

Im Jahre 1848, also mit achtundvierzig Jahren, war der Großvater Ortsvorsteher in Alfter. Die aufrührerischen Bauern seiner Gemeinde zogen aus der Gemeinde aus, um Bonn zu stürmen. Der Großvater ging ihnen nach und im benachbarten Dransdorf gelang es ihm, durch eine ernste Ansprache, seine Dorfinsassen wieder zur Umkehr zu veranlassen. Die damals viel radikaleren Herseler mußten durch Ulanen aus der Stadt hinausgejagt werden. Der Großvater erzählte oft und mit viel Wärme von dieser aufgeregten Zeit. In seinem Sekretär verwahrte er einen alten Steindruck, der den Rebellen Kinkel bei Wasser und Brot in Festungshaft in Spandau darstellte, wie er am Spinnrad saß. Der wilde Strom jener Zeit brachte auch allerhand Separationsbewegungen im Rheinland an die Oberfläche und ein beliebtes Lied war: „Freiheit und Republik, wären wir doch die Preußen quick.“

Der Großvater verstand es gut, die ganze Fragwürdigkeit jener Freiheitsbrüder zu kennzeichnen: Unter dem Feldgeschrei „Freiheit und Gleichheit, alles wird geteilt“ suchten sie sich kostenlos Hab und Gut der Wohlhabenden anzueignen ohne für die wirkliche Linderung der damals kurz zuvor stark herrschenden Hungersnöte sachlich besorgt zu sein.

Wenn er im Gespräch den Ausdruck „Preuß“ brachte, so verstand er darunter lediglich den Fiskus, insbesondere den Steuer- und Militärfiskus. Wie notwendig deren Macht sein mußte, war ihm nur zu gut bekannt. Als nüchtern und klar denkender Bauer hatte er ein streng rechtliches Urteil und ließ sich nicht durch Phrasen bestechen. Er lachte selten, aber ich erinnere mich, daß sein altes und verrunzeltes Gesicht von grimmigem Humor geradezu strahlte, wenn er auf Einzelheiten aus dem kriegerischen Gehaben jener Zeit zu sprechen kam. Etliche Alfterer hatten sich sehr gegen sein Abraten an dem abenteuerlichen Zug der Freischärler zum Sturm auf das Siegburger Zeughaus beteiligt. Die Frucht auf dem Felde stand hoch und einer der Marschierenden hatte geglaubt, von weitem Militär zu erblicken. Sofort hatte er mit lauter Stimme den Befehl gegeben: „Links und rechts zum Korn herein, rette sich, wer kann!“ Noch die Enkel dieses tapferen Kommandanten wurden gelegentlich in den Wirtshäusern mit jenem Kommandoruf geelendet.

Andere, die selbst nicht hatten mitgehen wollen, hatten dafür einem Bekannten ihr Gewehr mitgegeben und schwebten nun in großer Sorge, ob dieses kostbare Besitzstück wohl zurückkehren würde oder ob man sie dafür verantwortlich machen würde.

Etliche waren, einmal in Lauf gesetzt, bis hinter das Siebengebirge in den Westerwald gerannt, was so viel wie das Ende der Welt bedeutete, und hatten schließlich nach wochenlangem Ausbleiben den Rückweg über Rhein und Eifel in die Heimat gefunden, sehr zu ihrem Glück, da sie dadurch der drohenden Verhaftung entgangen waren.
Fürstenpartei
In der Gemeinde Alfter gehört auch heute noch ein ganz erheblicher Bruchteil der Feldflur und des Waldbestandes dem Fürsten Salm-Salm. Der Großvater war stets der Führer der „Freien Bauern“, d. h. derjenigen, die kein Fürstenland gepachtet hatten und sich daher vom Fürsten oder besser gesagt von dessen Rentmeister völlig unabhängig wußten. Die Fürsten hatten schon seit Generationen keinerlei Zusammenhang mit der Gemeinde. Der jeweilige Fürst wohnt weitab auf Schloß Dyck bei Neuß und ließ sich in Alfter nicht blicken. Die alte Generation der Bauern hatte sich, als das Rheinland zu Preußen kam, große Hoffnungen darauf gemacht, daß sie nunmehr in den Besitz des Fürstenlandes kommen würden. Sie hatten sich, wie mein Großvater häufig erzählte, vorgenommen, mehrere Generationen hindurch sich die Finger blutig zu arbeiten, um sich endlich das Land frei zu erkaufen.

Was das heißen will, kann nur der verstehen, der den geradezu sprichwörtlichen Fleiß der Vorgebirgsbauern kennt. Diesem Fleiß verdankt der gesegnete Landstrich seine heutige hohe Gartenkultur und seinen riesigen Bevölkerungszuwachs.

Der damalige fürstliche Rentmeister Linden, der auf einer fürstlichen Pachtmühle in Alfter saß, war dem Großvater zwar nahe verwandt, aber dieser untersagte uns jeden Verkehr mit dessen Kindern, was uns damals sehr schmerzlich vorkam. Aber wie sehr er recht behalten sollte, lehret uns die Zukunft.

Er erzählte mir, wie die Bauern gehofft hatten, der Fürst würde keine Entschädigung für seine Rheinzölle erhalten, und dadurch gezwungen sein, den Alfterer Landbesitz zu verkaufen. Der Fürst habe sich aber zu helfen gewußt, habe am Hof des Königs scharwenzelt und sei durch freundschaftliche Beziehung zu der Königin und andere Intrigen Kammerherr bei Hofe geworden. Schließlich habe er es verstanden, eine ansehnliche Entschädigung auch ohne Prozeß zu erhalten. So besitzt noch heute die Fürstenfamilie das Kernstück der Alfterer Landflur. Findet eine Erbteilung in einer „fürstlichen“ Bauernfamilie statt, so wird das „Fürstenland“, das diese Bauernfamilie schon von alters her in Pacht hat, „mitgeteilt“. Ob dies die nächste Generation noch überdauern wird, bleibt abzuwarten.
Einzelheiten aus dem Leben des Großvaters
Der Großvater erzählte mir, wie er für einen seiner Gemeindegenossen fern am Oberrhein eine Erbschaft erhoben und diese in blanken Talern in einer großen ledernen Umhängetasche heimgebracht hatte. Diese Tasche mit einem ganz breiten Riemen und einem Dachsfell auf dem Überschlag, mit einer großen messingnen Schnalle versehen, hing in meiner Kindheit noch auf dem Söller. Eine solche Reise war damals schon ein gewisses Unternehmen, das nicht ganz ohne Gefahr war. Auf der Heimfahrt hatte er auf den Rheinschiffen mehrere Auswandererfamilien angetroffen, hatte sich mit ihnen angefreundet und sich von ihnen ihre Papiere geben lassen. Nach eingehendem Studium der Verträge hatte er die Überzeugung gewonnen, daß sie von gewissenlosen Agenten arg betrogen worden waren. Sofort hatte er sich bei der nächsten größeren Stadt auf die dortige Agentur begeben, wobei es durch finstere und unheimlich bedrohliche Gäßchen gegangen hatte. Durch sein unerschrockenes Auftreten und die Drohung mit der Polizei hatte er es erreicht, daß die Verträge geändert und vor der Ausreise aus dem Seehafen den Auswanderern in richtiger Form neu zugestellt wurden.

Mit Auswandererfamilien aus seiner Gemeinde und deren Nachkommen pflegte er einen lebhaften Briefwechsel. Die Ausgewanderten schrieben ihre Briefe auf dünnem blauem Papier in einem wunderlichen Bibeldeutsch. Ob diese Briefe, die ich als Junge oft in der Hand gehabt und fleißig studiert habe, heute noch in Olsdorf vorhanden sind, weiß ich nicht. Auf diesem Gebiete wird ja heute historisch fleißig gearbeitet.

Die meiste Zeit seines Lebens betrieb mein Großvater noch Ackerbau und Viehzucht und nebenbei den Weinbau nach altüberlieferte Weise. Schon früh erkannte die Wichtigkeit des Obstbaues. Uralte Holunderhecken an den Gärten warf er aus und ersetzte sie durch Stachelbeerhecken. Irre ich nicht, so führte er als Erster die zweckmäßige Zucht von Stachelbeeren in Heckenform ein, dergestalt, daß diese Spaliere ein ganzes Grundstück füllten. An den beiden Kopfenden wurden starke Pfähle mit Widerlagern, alle aus alten Obstbäumen gerissen, unterwegs schwächere Pfähle, eingerammt. Zwei bis drei Reihen übereinander wurden lange schlanke Gerten aus Rottannen mit Weiden quer an Pfosten befestigt und an diesen die Stachelbeersetzlinge, Stalen genannt, hochgezogen. Die Stachelbeeren brachten viel Handarbeit. Die Gerten mußten häufig ausgewechselt werden; die Sträucher wurden eifrig beschnitten und die Erde unter ihnen mußte stets locker und unkrautfrei gehalten werden. Für das Schneiden und Pflücken der Stachelbeeren („Krüchele“ genannt), wurden alle Sorten von alten Lederhandschuhen gesammelt und aufgehoben, denn die scharfen Stacheln zerkratzten einem die Hände.

Die Neuanlage einer Stachelbeerhecke war für uns Jungens stets etwas Interessantes. Ausgeworfene alte Obstbäume, die meistens eine ansehnliche Dicke hatten, wurden erst auf die nötige Länge geschnitten und dann gerissen. Hierzu wurde an den Kopfenden mit der Axt ein kleiner Spalt geschlagen und in diesen wurden dann eiserne Keile getrieben, die mit dem „Witthammel“ angetrieben wurden. Der „Witthammel“ war ein großer runder Klotz, aus einem Stammende geschnitten, durchbohrt und mit einem Stiel versehen. Wenn wir auch natürlich zu schwach waren, um mit diesem wuchtigen Hammer zu hantieren, so versuchten wir es doch immer wieder von neuem und da gab es denn manchmal schmerzhafte Prellungen, Knieschläge und Ähnliches. Die gerissenen Balken wurden an der Stelle, wo sie in die Erde kamen, angebrannt oder geteert. Die Weidenruten, in Bündel gebunden und vorher gut in Wasser eingeweicht, durften wir beim Anheften der Gerten anreichen. Aber das war auf die Dauer langweilig. Alles wurde versucht, um sich dieser Handlangertätigkeit möglichst bald wieder zu entledigen. Am meisten Freude machte natürlich das Pflücken der Stachelbeeren, zumal der reifen, mochten die Stacheln auch noch so sehr kratzen. Allzu reif durften sie freilich nicht gepflückt werden, denn dann vertrugen sie den Transport nicht so gut. Der Großvater hatte früh eine Verbindung gefunden, mit der er seine unreifen Stachelbeeren zu Schiff von Köln nach London verfrachten konnte, so daß sie dort „reif“ ankamen, und schöne Preise erzielten. Von den Engländern hatte ich damals merkwürdige Vorstellungen und hielt sie für sonderbare Leute, denn mir selbst schmeckten eigentlich die ganz überreifen Stachelbeeren und am besten die, welche schon geplatzt waren und an denen das Innere herauslief. In der Stadt kannte man die Engländer nur von den spleenigen Exemplaren und hielt sie daher alle durchweg für „geck“. Einen „gecken Engländer“ zu machen, war eine stehende Fastnachtsfigur. Mit diesen Vorstellungen gingen die unreifen Stachelbeeren  gut zusammen.

Eine besondere Vorliebe hatte der Großvater für gute Pfirsiche. Es waren damals ziemlich hochwüchsige Halbstämme in Schwung, die etwa vierzehn Jahre lang recht große saftige Früchte trugen. Mit einer Kölner Marktfrau namens Jansen, die einen Stand auf dem Altermarkt und einen Laden in der Bechergasse hatte, stand er in Verbindung und verkaufte ihr nur sorgfältig ausgelesene Pfirsiche zu hohen Preisen. Er konnte dort beliebige Mengen absetzen. Viele Jahre später hörte ich von Verwandten meiner Frau, daß vor Zeiten eine Frau Jansen in der Bechergasse die besten, aber auch die teuersten Pfirsiche gehabt habe.

Für den Landwirt ist es immer etwas Mißliches, wenn Leute kommen und kleinere Mengen von landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf dem Hofe kaufen wollen, stets in der Erwartung, diese Dinge dort billiger als auf dem Markt zu kaufen. Der Bauer weiß keinen Preis, und das stimmt auch, weil jeder Markttag einen anderen Preis bringt. Was der Bauer dann fordert, ist dem Käufer stets zu hoch, auch wenn er auf dem Markt den gleichen Preis zahlt. Daß das Aussortieren, Verpacken und Verwiegen einer kleineren Menge außerhalb des geregelten Betriebes eines Hofes störend wirkt, Zeitverlust und Unkosten verursacht, bedenkt ein solcher Käufer natürlich nicht. Ich erinnere mich selbst eines lustigen Falles: Die sparsame Mutter eines bekannten Lederfabrikanten, G. in Roisdorf, schickte eines Samstags um Pfirsiche. Ohm Johann wollte die Abgabe zunächst ablehnen, auf dringendes Bitten des Boten packte er schließlich doch ein Körbchen zu entsprechenden Preisen. Der Bote läuft in dreiviertel Stunden heim, Frau G. ist entsetzt und meint, sie müsse es sich zur Sünde anrechnen, solche Preise zu zahlen. Der zurückgeschickte Bote bekommt vom Ohm den Bescheid, die Pfirsiche wieder zurückzubringen, und so kamen diese nach zweimaligem Transport zurück, wobei der Bote viermal hatte laufen müssen. Es wurde geschworen, Frau G. niemals mehr irgend etwas zu verkaufen.

Der Großvater pflanzte auch gerne Pflaumenbäume, setzte diese aber nach der Ansicht von Ohm Johann viel zu nah aneinander, so daß ein dichtbelaubter Pflaumenwald entstand. in dem es nach Ohms Ansicht an genügender Belichtung und Ertrag fehlte. Der Großvater muß das wohl auch selbst gesehen haben, konnte sich aber nicht oder nur sehr schlecht entschließen, die Pflaumenbäume abzuholzen. Erst nach seinem Tode, in den neunziger Jahren, wurde der Pflaumenwald durchgeforstet und gelichtet. Die Vorzüge des Pflaumenbaumholzes hat er mir oft geschildert und daß daraus die Faßhähne gedreht wurden, wußte ich längst, ehe ich zur Schule ging. Ich habe bis heute noch eine besondere Vorliebe für dieses merkwürdige dunkelrote Holz. In meinem Besitz befindet sich noch ein Holzstuhl, den ich mir 1901 nach einem Modell in Münster i. W. damals selbst in gedrechseltem Pflaumenholz gearbeitet habe.

Als echter Deutscher hat mein Großvater sich auch stets eifrig um seine eigene Bildung bemüht. Er besaß ein vollständiges Exemplar von Brockhaus „Universallexikon für die gebildeten Stände“ von 1835. Die bräunlich grauen dicken Pappbände mit roten Rückenschildchen standen auf dem Sekretär und sobald ich lesen konnte, habe ich viele Kenntnisse daraus geschöpft. Ich erinnere mich, daß es mich kaum jemals auf noch so neugierige Fragen im Stich gelassen hätte. Als ich mit beginnender Pubertät den Geschlechtsfragen nachspürte, mußte ich allerdings feststellen, daß ich nicht alles so eingehend fand, wie ich es wissen wollte. Das Werk war in liberalem Sinne geschrieben und manche Stellen hatten den Widerspruch des selbständig denkenden Großvaters so herausgefordert, daß er Notizen mit Protesten am Rande vermerkt hatte. Zur Jugendzeit meines Vaters hatte zusammen mit seinem unverheirateten Bruder Heribert die Kölnische Zeitung gehalten und die Söhne hatten abwechselnd diese Zeitung täglich am Roisdorfer Bahnhof abholen müssen.

Der Bildungsstand des Großvaters äußerte sich auch darin, daß er gern mit gebildeten Stadtleuten verkehrte, so z. B. mit dem Universitätsfechtmeister. Dieser habe ihm, so erzählte er einmal gelegentlich, eine Armbrust mit frei zu spannendem Bogen vorgezeigt und war sehr erstaunt gewesen, daß der Großvater ihn ohne Mühe hatte spannen können. Hinter dem kleinen mageren Manne vermutete man nicht die ihm eigene Muskelstärke, die sich an uns Enkeln, öfter als uns lieb war, schmerzhaft ausübte. Eine wohlgezielte Ohrfeige von ihm, die er uns mit stark zitternder Hand versetzte, ließ uns quer durch die ganze Stube schweben. Ich beobachtete ihn einmal, wie er am Ofen das Hemd wechselte und sah zu meinem Erstaunen, daß der zitterige kleine Greis an Oberarmen und Schultern, namentlich aber unter den Achseln, ganze Bündel von Muskeln sitzen hatte. Das Zittern seiner Hände im hohen Alter machte es ihm zwar schwierig, einen Löffel Suppe ohne Verlust in den zahnlosen Mund zu schieben. Es hinderte ihn aber nicht, mit einem wohlgezielten Schuß einen Vogel von einem alten Birnbaum herunter zu holen, der sich beim Präparator als ein sibirischer Wanderfalke auswies und jahrelang von mir immer wieder von neuem bestaunt wurde. Sein Gegenstück war ein in lockender Stellung mit halbgespreizten Flügeln ausgestopfter Kuckuck, den Ohm Johann eines Tages eines  Tages als Wingertswächter geschossen hatte, ohne den Vogel zu kennen. So scheu war damals der Kuckuck. Heute ist es schon bedeutend leichter, ein Stück dieses seltsamen Waldvogels zu Gesicht zu bekommen.

Den Professor Arndt (gemeint ist der Dichter Ernst Moritz Arndt) hat mein Großvater noch persönlich gekannt und sich mit ihm öfters unterhalten. Er wohnte in seinem heute noch erhaltenen Hause, das damals weit draußen am Rhein stand, und pflegte seine großen Geschäfte mitunter an einem Baume im Hofgarten zu erledigen, was er einen Cactus germanicum nannte. In der Baumschul-Allee wohnte ein pensionierter General Raitz von Frentz, der den Großvater öfters in Olsdorf besuchen kam.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter ihren Schwiegervater allzusehr lieben mochte. Jedenfalls hatte sie eine Schwäche dafür, seine Bildungserscheinungen komisch zu finden und lächerlich zu machen. Sie verstand dies in so launiger Weise zu machen, daß wir stets herzlich lachen mußten. Dazu gehören einige Redensarten, die der Großvater öfters gebrauchte, wie „Tonnensystem“ und „Wisdom“.

Der Großvater war ein eifriger Anhänger der Fäkalienabfuhr mittels Tonnensystem. Er mochte dies in Karlsruhe wohl praktisch einmal in Betrieb gesehen haben. Er bedauerte es lebhaft, daß das städtische Kanalsystem den Fluß verunreinige und der Landwirtschaft hochwertige Düngerstoffe entziehe. Meiner Mutter brauchte das Wort Tonnensystem nur von weitem in der Erinnerung aufzutauchen, so befiel sie sofort ein schütteres Lachen. Das Gleiche war der Fall mit dem „Wisdom“. Der Großvater hatte eine ziemliche Kenntnis von alten Weistümern und hatte auch selbst einige Abschriften von solchen besessen. Darunter war eine, aus der hervorging, daß der frühere Johannishof seiner Vorfahren weiter keine Abgabe als jährlich vier Spießvögel in Alfter zu machen hatte. Ein Spieß waren vier Stück. Diese Abgabe mag damit zusammen gehangen haben, daß die Vorfahren einen Vogelherd besaßen, den man Kau nannte.

Einen solchen Vogelherd beschrieb mein Onkel folgendermaßen: An einer nach Osten offenen Stelle am Waldrand der Olsdorfer Heide war ein großes Viereck sauber gefegt und rundum mit einem Graben umgeben. An einer Seite war der Graben vertieft ausgehoben und an dieser Ecke war ein mit Schilf bekleidetes Häuschen angebracht, in dem der Vogelsteller saß. Am anderen Ende dieses tiefen Grabens war versteckt ein Käfig angebracht, in dem eine Krähe, eine Elster oder ein Eichelhäher gehalten wurde. In der Nähe dieses Vogelbauers war, möglichst weithin sichtbar, in einem größeren Vogelbauer eine Eule untergebracht. Durch die beiden anderen Gräben liefen die Seitenteile eines großen Schlagnetzes, das bei offenem Zustande rückwärts gedreht in dem gegenüber liegenden Graben lag und durch eine Auslösung über das ganze Viereck geschnellt werden konnte. An den in der Nähe stehenden Bäumen waren kleine künstliche Zweige angebracht, die mit Vogelleim bestrichen waren. Diesen Vogelleim gewann man durch Auskochen von Zweigen und Blättern der Stechpalme. Diese wuchs im Walde wild in Form von Sträuchern, war aber am Vorgebirge schon gänzlich ausgerottet und mußte nicht ohne Gefahr auf nächtlichen Streifzügen aus dem Siebengebirge geholt werden.

Der Vogeljäger hatte die Möglichkeit, den Lockvogel zu reizen, so daß dieser mit großem Geschrei die Eule belästigte und die Eule mit den Flügeln schlug, krächzte oder knappte. Das Erscheinen einer Eule am Tage zieht bekanntlich die Vögel herbei, die der Eule dann zuzusetzen suchen. Durch diese Lockvögel wurden die Vögel herangelockt, taten sich an den ausgestreuten Futterkörnern gütlich und büßten ihre Neugierde mit dem Leben, sobald das Netz über den Vogelherd gezogen wurde. Zur Frühjahrs- und Herbstzeit saß meist tagelang einer in der Kau zum Vogelfang. Es soll vorgekommen sein, daß bis zu zweihundert Weinbergdrosseln sich in dem Netzschlag fanden. Diese Krammetsvögel, die heute ganz selten geworden sind, tauchten damals in großen Massen strichweise auf und wurden auch in den Weinbergen viel geschossen.

Jene Weistümer hatte mein Großvater eines Tages einem mit rheinischer Lokalgeschichte befaßten Pastor Meusel geliehen und dann niemals wieder gesehen. Er erzählte mir auch öfter noch folgendes: Ein Kölner Erzbischof von Truchseß hatte Kurköln reformieren wollen; im Höttchen in Bonn, damals Haus Zur Blomen, hatte er mit einer Gräfin Mansfeld Hochzeit gefeiert. Er war dann aber von der bayerischen Liga mit Krieg überzogen und in Bonn belagert worden. Bei dieser Belagerung hatte er einen Ausfall gemacht und die alte Burg in Alfter zerstört. Mit dem Brande dieser Burg waren die meisten Weistümer von Alfter und Umgegend vernichtet worden. Darunter auch ganz bestimmt eines, aus dem hervorging, daß die Roisdorfer Mineralquelle (Roisdorf bildete damals mit Alfter, Olsdorf und Birrekoven eine Gemeinde und Pfarrei) im Gemeinschaftsbesitz der hofgesessenen Bauern gewesen und erst allmählich in den Besitz der „Herrschaft Alfter“ gekommen war. Er lehrte uns, daß wir auch heute noch das Recht hätten, zum eigenen Bedarf den Boun (d. h. das Brunnenwasser) im Faß an der Originalquelle zu holen. Zu diesem Zweck schickte er uns Junges öfters nach Roisdorf und es gab jedesmal Krach, wenn man uns an einen Seitenabfluß verweisen wollte. Wir bestanden darauf, das Wasser aus dem richtigen Brunnen zu holen. Es wurde in rotgebrannte, glasierte Steinkrüge mit einem winzigen Henkelchen am Kopf gefüllt und zugekorkt. Obwohl es wenig Kohlensäure  hatte, hielt es sich jahrelang frisch und schmeckte stark säuerlich. Es will mir stark fraglich erscheinen, ob diese Füllung nicht besser war als die heutige in Glasflaschen mit stark zugepreßter Kohlensäure. Daß der Radiumgehalt einer Mineralquelle sich in einem Steinkrug hält, während er in einer Glasflasche alsbald verloren geht, steht heute wissenschaftlich fest.

Die historische Bedeutung des Wortes Weistum ist mir erst viel später als Rechtsstudent aufgegangen, als ich deutsche Rechtsgeschichte hörte. Wie man sieht, hatte das Wort wirklich nichts Lächerliches an sich und trotzdem konnte meine Mutter sich darüber halbtot lachen, da sie der Ansicht war, daß der Großvater sich mit solchen gestelzten Worten und Redensarten brüste, um sich eine Art von gelehrter Bildung zuzulegen, die ihm nicht zustände.
 

Der Trester

Zum Roisdorfer Brunnen führte von Olsdorf ein Hohlweg, genannt die Buonhöll. An dieser Straße standen zwei riesig hohe Tonnen, die uns Kindern in der Dunkelheit sehr gespenstig als große Riesen erschienen und vor denen wir uns nachts herzlich fürchteten. Gingen wir in der Dämmerung oder nachts dort vorbei zum Roisdorfer Bahnhof, so atmeten wir auf, wenn wir sie im Rücken hatten. Am hellichten Tage dagegen schienen sie uns völlig gleichgültig und wir beachteten sie kaum. Durch diesen Brunnenhohlweg machten wir unsere Expeditionen, wenn wir den Auftrag erhielten, zu zwei in Brenig ein Fäßchen Branntwein abzuholen. Der Großvater legte großen Wert darauf, aus seinen Rotweintrebern einen guten Trester brennen zu lassen und zwar in einer Branntweinbrennerei Klein in Brenig. Diesen Trester trank er täglich mehrfach in kleinen Gläschen aus einer flachen Flasche, die im Wohnzimmer neben dem Glasaufsatz eines Eschenschrankes in der kleinen Wandnische stand. Frühmorgens wurde schon alles für diese Fahrt hergerichtet und ein leeres Branntweinfaß auf einem kleinen, mit einem Hunde bespannten Wagen festgekeilt. Die Fahrt ging dann morgens sehr flott und fröhlich los, solang es den Berg hinunter ging. Hatten wir die erste Talsenke zum Dorf hin überquert, so ging es schon langsamer und der kleine Anstieg an der Alfterer Burg wurde schon mit aller Bedächtigkeit genommen. Am Eingang der Buonhöll machten wir stundenlange Rast und suchten die Abhänge nach Brombeeren, Raupen von Wolfsmilchschwärmern und sonstigen Kostbarkeiten ab. Dann ging es mit neuem Schwung, fröhlichem Hundsgebell und heftigem Geschrei den Brunnenhohlweg hinunter und durch die Brunnenstraße, bis wir an der Roisdorfer Kirche wieder das Freie gewannen. Dort wurde der Hund vermahnt, recht aufmerksam beim Fuhrwerk zu bleiben und wir machten einen kleinen Abstecher auf die Wolfsburg, welche dem Ohm Wilhelm gehörte. Dort wurden wir immer froh aufgenommen, mußten vieles berichten und nahmen ein Frühstück, obwohl uns zu Hause bereits im voraus dieses verboten worden war. Wir versprachen dann, nachmittags auf dem Rückwege noch einmal vorzusprechen und machten uns dann wieder auf den Weg, um das uns unendlich lang scheinende Dorf Bornheim zu durchqueren. Hinter Bornheim kam das dicke Ende, nämlich der ziemlich steile Aufstieg nach Brenig hinauf. Das galt es erst Kräfte sammeln, was wohl gut eine Stunde dauerte und dann mußten wir endlich notgedrungen daran gehen, mit vereinten Kräften von Hund und zwei „Mann“ das leere Gefährt die lange steile Straße hinaufschieben. Ziemlich ermattet standen wir endlich vor dem großen Anwesen, wo ein schwarzes Schild die weiße Aufschrift trug:

„Brau- & Brennerei von Wilhelm Klein.“

Der Wirt war ein großer stämmiger Mann mit starkem Rumpf. Obenauf saß ein auffallend kleines Köpfchen mit zwinkernden Augen und von dieser Höhe herunter grüßte uns eine so feine kindlich helle Stimme, daß wir uns gegenseitig ansehen mußten. Wir waren ordentlich verblüfft und es hätte nicht viel gefehlt, daß wir hellauf gelacht hätten. „Och, sed ühr de Enkelche vom Kris Rech in Olsdorp?“ Oft haben wir später die Begegnung als Theater gespielt und immer mit schlechtem Erfolg versucht, das hohe Stimmchen des Brauers nachzumachen. Er nahm uns sehr freundlich auf. Wir mußten uns hinter den Tisch setzen und tüchtig einhauen. Auch der Hund bekam das Seine. Dann schliefen wir fest ein. In der Zwischenzeit verstaute der Brau- und Brennmeister ein volles Fäßchen Tresterbranntwein fest auf dem kleinen Wagen. Dann zockelten wir mit dem braven Karo ab. Der Wirt hatte uns noch einen starken „Vrengel“ mitgegeben, einen Holzknüppel, den wir vorn am Wägelchen einklemmten, um damit zu bremsen. Es hieß scharf aufpassen, wollte man bei der flotten Fahrt abwärts nicht umschlagen. Auf dem Heimweg liegen wir wieder an der Wolfsburg an, machten auch sonst noch häufig ausgiebig Rast. Das letzte Stück, die Kirschallee von der Binge bis zum Hause des Großvaters wurde uns besonders sauer und ich kann mir vorstellen, daß der Großvater die Heimkehr mit besonderer Freude sah. Hatten wir uns ein wenig ausgeruht, so begannen wir sofort damit, ihm die Begegnung mit dem Wirt sprachlich und mimisch vorzuführen, denn daran hatten wir schon unterwegs geübt.

Weinbau
Nicht nur die Treber, sondern überhaupt der überlieferte Rotweinbau aus der kleinen Burgunderrebe lag dem Großvater besonders am Herzen, und er verwandte schon deshalb große Sorgfalt auf ihn, weil er klar sah, daß es mit dem Weinbau am Vorgebirge in absehbarer Zeit zu Ende sein würde. Er wußte wohl, daß seine Vorfahren früher viel größere Mengen Wein gekeltert hatten. Seine Weinberge mußten sich durch die beste Pflege auszeichnen. Ein Weinberg bedarf der liebevollen Pflege fast das ganze Jahr hindurch und setzt diese auch nur kurze Zeit aus, so „verdriescht“ er sehr bald, bringt keine Früchte mehr, erstickt im Unkraut und steckt die Nachbarparzellen mit reichlichem Unkrautsamen an. Wird er hingegen gut gepflegt, so bringt er auch bei klimatisch wenig begünstigten Lagen immer noch einen trinkbaren Wein. Die nördliche Weingrenze ging in meiner Jugend auf der Karte über Köln, während im Mittelalter noch in Bremen Wein gezogen wurde. Ich bin daher der Ansicht, daß der Wein, der sich bei uns in den Wäldern am Bodensee wild findet, ein einheimisches Gewächs ist und gar nicht erst über die Alpen eingeführt werden brauchte.

Schon in den neunziger Jahren begannen die Nachbarn ihre Weinberge auszuwerfen und Obstbäume anzupflanzen. Fängt dies einmal an, so ist kein Halten mehr. Die Bäume werfen ihre Schatten auf den Nachbarweinberg und der hat dann nicht mehr die nötige Sonne. Fast noch schlimmer wirkt sich eine mangelhafte Pflege des Nachbarn aus: Der Unkrautsamen fliegt andauernd aus dem verdrieschten Wingert herüber und das Unkraut kann nicht mehr beigehalten werden. Großvaters Lieblingsstück war ein Weinberg, der auf dem Kuckstein lag. Von dort war wirklich eine schöne Aussicht auf das lachende Rheintal und die Sieben Berge. In der Mitte stand ein morsches Gartenhäuschen, das in meiner Kindheit eine neue Auferstehung erlebte. In dem Hause Bonngasse 38, meiner Geburtsstätte, waren schon in den siebziger Jahren zwei große Schaufenster eingebaut worden. Diese waren verglast mit viereckigen Einzelscheiben, Rutten genannt. Es wurde nun Mode, ganze Spiegelscheiben einzusetzen und diese mit Rolläden zu versehen. Bis dahin hatten wir jeden Abend die auf den Seitenpilastern zusammengeklappten eichenen Klappläden abends von beiden Seiten über die Rutten ziehen müssen und dann mit einer riesigen Querstange verriegelt, durch die wir Bolzen steckten, die innen mit Stiften verkeilt wurden. Durch die Rolläden wurden vier solcher Klappläden überflüssig und nach Alfter auf den Kuckstein gebracht. Dort wurden Balken eingerammt und ein Weinberghäuschen daraus gearbeitet, das ein spitzes Dach bekam. Viele Jahre hat es uns dort als Gartenhäuschen gedient, auch als der Kuckstein schon keine Reben mehr trug.

Weinernte
Eines weiß ich noch ziemlich genau: 1900 haben wir zuletzt in Olsdorf Rotwein gekeltert. Seit dieser Zeit habe ich keine Weinernte mehr mitgemacht bis zum Jahre 1910, wo ich als Gerichtsassessor nach Berncastel-Cues an der Mosel kam und in der Weinkellerei und dem Weingut Franz Liell wohnte. Bei einer Schilderung der Olsdorfer Weinernte muß ich daher scharf achtgeben, daß ich nicht Beobachtungen von der Moselernte mit meinen Erinnerungen an den Vorgebirgsherbst vermische.

Wie allenthalben, so wurden auch in Alfter die Weinberge vier bis sechs Wochen vor der Ernte geschlossen. Das bedeutet, daß auch der Eigentümer selbst nicht ein seinen eigenen Weinberg gehen darf. Ohm Johann wurde häufig ehrenamtlich zum Hüter der Weinberge bestellt und zog alltäglich mit der Flinte zur Bewachung aus. War das Wetter gut, so durfte ich ihn öfter begleiten und saß dann stundenlang an einem Fleck, um die Vögel zu scheuchen oder dem Ohm zuzutreiben. Der Hüter hatte eine schriftliche Bescheinigung, laut der er alles abschießen durfte, was dem Weinberg irgendwie schädlich war. So kam es, daß mein Onkel zur halben Hochzeit einmal einen Dachs erlegte oder frühmorgens im ersten Zwielicht einen Kuckuck schoß. Manches Dutzend Krammetsvögel wanderte nach Bonn zu meinem Vater, der sie gern scharf gebraten aß. Diese Leckerbissen verschmähe ich auch heute nicht, nur ist die Weindrossel heute selten geworden. Übrigens bezeichnet man mit dem Ausdruck „Spro“ am Vorgebirge fast alles drosselartige Geflügel, einschließlich der Schwarzamsel, Pirol usw.

Weinbergshüter und Förster hatten damals das sogenannte Recht des Drohnenstieges, d. h. sie durften Drosseln in Roßhaarschlingen fangen, die mit reifen Vogelbeeren gespickt waren. Doch diese grausame Jagdmethode ist längst verboten.

Vor der Weinlese begann ein großes Putzen im Kelterhaus. Kelter und Bottiche wurden mit heißem Wasser ausgebrüht und mit reichlich kaltem Wasser nachgespült, namentlich die große und furchtbar schwere Traubenmühle mit den quergerieften Walzen, mußte umständlich gereinigt werden und wurde dann auf einem riesigen Bottich an einer Seite aufmontiert. Diesen großen Bottich benutzten wir Junges übrigens im heißen Sommer als Schwimmbad.

Für kleinere Mengen besonders feiner Trauben war noch der Traubenstößel da, ein Holzklotz an langem Stiel, durch und durch rotviolett gefärbt. Hiermit wurden diejenigen Trauben zerquetscht, die nicht in die Mühle und in den allgemeinen Most kommen sollten. Ich erinnere mich nicht, daß eine Traubenmühle, wie dies an der Mosel geschah, mit in die Weinberge genommen wurde. Unsere Mühle wäre dazu auch viel zu schwer gewesen. Dort geschieht das Keltern noch anders, indem die Trauben nach dem Quetschgang durch die Mühle sofort auf die Kelter kommen und der Saft dann im Faß gärt. Beim Rotwein tritt die Kelter erst in Tätigkeit, nachdem der Saft mit den Trebern „auf der Maische“ gegoren hat. Die Gärung auf der Maische ist nötig, weil erst durch diese Gärung der rote Farbstoff aus den Bärenschalen und der Tanningehalt des Rotweins aus diesen und den Stielen gezogen wird. In etlichen Jahren kam es vor, daß die Traubenschalen nicht genügend Farbstoff hatten. Da wußten wir uns zu helfen. Im Garten standen zwei Reihen schwarzer Johannistrauben. Die waren um die Zeit der Weinlese mehr wie überreif und wurden dann einfach mit vergoren. Im Weinberge wurden die Trauben mit einem derben krummen „Wingertsmetz“ abgeschnitten, in Körbe gelegt und diese in Tonnen gestürzt, die auf einem Fuhrwerk unterhalb des Wingerts auf der Fahrstraße standen. Hatten wir als Jungen fleißig mitgeschnitten und uns die Mägen mit Trauben überstopft, dann fuhren wir mit den Tonnen nach Hause und sahen dem Altknecht Hendrich fleißig zu, wie er im Schweiße seines Angesichts die Traubenmühle drehte. Dann kam eine Zeit, wo wir uns im Kelterhaus nicht sehen lassen durften. Es hieß, der „Böse Geist“ geht um und erstickt die Hunde und die kleinen Kinder. Das Kelterhaus lag im Zuge der geschlossenen Hofbauten des fränkischen Bauernhofes an dem dem Hause entgegengesetzten Ende zwischen der großen Fruchtscheune und dem Ausgange zum Garten. Die aus dem Maischbottich aufsteigende Kohlensäure floß daher in den etwas tiefer gelegenen Hof und lagerte sich in diesem wohl in die großen gemauerten Gruben, die den Stalldung und das Dachwasser auffingen. Immerhin war damit nicht zu spaßen, wie die Geschichte vom „Schüller Ühmche“ zeigt, die ich später erzählen werde. In dem Gärbottich sammelte sich die feste Masse immer wieder oben und mußte dann mit einem Rechen nach unten gedrückt werden. Mitunter wurde auch alles durcheinander gerührt. War die Gärung so weit fortgeschritten, daß man annahm, der Wein nimmt keinen weiteren Farbstoff mehr an, so wurde die ganze Brühe auf die Kelter geschüttet.

Die Keltern waren nur mehr der Rest einer viel größeren älteren Kelter, deren Spindel ehemals einen langen Querbaum hatte, dessen Ende mit einem Seil herangezogen wurde, das um eine senkrecht stehende Haspel lief. Diese konnten mehrere Männer durch Umlaufen drehen. Der Großvater hatte mir erzählt, daß er nach dem Aufkommen des Obstbaumes mit der Verkleinerung der Weinlagen sich eine „kommode kleine Presse“ hatte bauen lassen. Diese bestand aus einem kleinen viereckigen Kasten, dessen beweglicher Deckel mit einer eisernen Spindel herabgedrückt werden konnte. In das Ör dieser Spindel wurde ein starker Baumast gesteckt und damit angeschraubt. Der gepreßte Wein wurde auf Ohmfässer gefüllt, der Überschuß und nötige Menge zum Auffüllen in Ankerfäßchen. Diese kamen in den Keller unter dem Haupthause, der zwei Abschnitte hatte, der neuere war mit Backsteinen gewölbt und erstreckte sich unter der neuen guten Stube her, der ältere jatte noch Holzbalken und lag unter dem alten Hause.

Eines Tages sah ich zu meinem Entsetzen aus der vorsichtig geöffneten Stubentür in einen gähnenden Abgrund: Der Fußboden der Stube war verschwunden und die Sohle des Kellers wurde tiefer gelegt und dann ein Gewölbe neu darüber aufgeführt. Soweit ich mich erinnere, ging dies sehr fix. Und der jugendliche Maurermeister lachte über unseren alten steifen Knecht Hendrich, daß er nicht „jau“ genug sei, und wie er die Leiter schnell auf und ab steigen konnte. Im Keller lagerten die Fässer auf schweren und alten schwarzen Balken, links und rechts mit dreieckigen Holzklötzen gesichert. Das Küfern des Weines besorgte ein alter Küfermeister namens Mömmerzheim. Dieser wohnte an der Binge und besaß eine Werkstätte, die mir ungemein interessant war. Da standen die kleinen und schweren Hobel mit gebogener Unterseite, viele Schnitzmesser hingen an den Wänden und ein unglaublicher Kram lag umher. Mömmerzheim war längst schon viel mehr Landwirt und Gärtner, wie jedermann am Vorgebirge, als ein Küfer. Die Weinküferarbeit bei dem Großvater und dem Ohm Johann war bis zuletzt für ihn schon eine Art von Ehrendienst. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß ich niemals Ohm Johann auch nur ein Glas Wein habe trinken sehen. Wohl nahm er öfter mit einem blechernen Stechheber oder mit einem Gummischlauch eine Weinprobe aus dem Faß, spuckte sie aber regelmäßig wieder aus, ohne den Wein zu trinken. Mit vierzehn Jahren durften wir Jungens offiziell mit aus dem bei Tisch umgehenden Steintopf Wein mittrinken. Wir konnten das dann schon ganz gut, weil wir ihn vorher schon längst geprüft hatten. Ich könnte aber nicht sagen, daß er uns besonders geschmeckt hätte. Viel lieber tranken wir Milch und bei meinem jüngeren Bruder ist dies sogar bis heute so geblieben, trotzdem er vier Jahre Feldschlacht vor Verdun mitgemacht hat.

Der Wein wurde nach zwei- bis dreimaligem Umhebern auf Flaschen gefüllt. Jede Flasche hatte den feststehenden Preis von einer Mark. Häufig kamen Leute, die ein oder zwei Flaschen holten: „Von dem jode, et wör für ene Kranke.“

Wenn wir in der Stadt bei den Eltern wohnten und meine Mutter die ungebärdigen Rangen nicht zu beschäftigen wußte, gab sie uns öfter den Rat: Lauft mal auf den Markt und seht, ob der Ahrens keine Maan mit hat (Mandel oder Korb). Sofort stürmten wir die Bonngasse hinauf und suchten den Markt ab nach dem Alfterer Fuhrmann Ahrens, der dann oft genug freundlich aus seinem alten Barte grinste und sagte: „Do möhte mer ens an de Weeg nohsenn.“ Und richtig, unter dem Wagen stand auf einem von vier Ketten schwebend gehaltenen Brett, der Wiege, ein großer hochverpackter und mit Sacktuch zugebundener Marktkorb. Sofort kletterten wir auf den Bock und mit ...



Die folgenden etwa 180 Seiten sind verloren gegangen.

Im Inhaltsverzeichnis, das komplett erhalten ist, folgen weitere Kapitel aus Kindheit und Jugendzeit, Erinnerungen an die Schulzeit und Studentenzeit, Examen und erste Berufsjahre.
Erhalten sind dann wieder aus dem Kapitel seiner Krankeit die Erinnerungen an seine Kur in Arosa (fragmentarisch).



 

(Krankheit - Kur in Arosa) - Madame Kowalow, Sumarotzka

... Kowalow, die allerdings sehr viel jünger war, als sie aussah. Ihr Vater war Nowaja Wremja, des bedeutenden deutschhetzerischen Blattes von Moskau. Sie war eine typische Russin, schwärmte für alles Russische, hob es hoch in den Himmel, war aber jederzeit bereit, anzuerkennen, daß es bei den Deutschen in vielem besser sei. Sie war auch eine angenehme Unterhalterin und sprach zwar gebrochen Deutsch, konnte es aber ausgezeichnet verstehen. Ich bedauere heute noch, damals nicht Russisch erlernt zu haben, ich hätte mit ihr gut Konversation treiben können. In ihrer äußeren Erscheinung war sie manchmal sehr nachlässig und erregte unter den Gästen Aufsehen, wenn sie in einem ziemlich legeren Morgenkostüm zum Frühstück erschien. Sie hatte zwei nette Jungen, dem kleineren passierte es eines Tages, daß er oben in den Aufzug steigen wollte und sich die Gittertür hinter ihm schloß, ehe er die innere Tür geöffnet hatte. Im selben Augenblick will es das Unglück, daß unten ein fahrlustiger Gast auf den Knopf drückt und die Kabine abfährt. Der Kleine stand nun oben hoch im Schacht im Türrahmen und hielt sich an der Klinke fest. Sein älterer Bruder hörte sein Schreien, kam herzu, schlug die Fensterscheiben der Türe ein und zog den Bruder durch die Öffnung aus dem Schacht heraus. Es hätte in scheußliches Unglück geben können. Der ältere Bruder war ein Junge von etwa zwölf bis vierzehn Jahren und außergewöhnlich talentvoll. Freund Bruns erzählte mir, daß es eine häufige Erscheinung sei bei den Russen in diesem Alter, außergewöhnliche Talente an den Tag zu legen, nach einiger Zeit aber verschwände dies restlos und der früher so talentierte werde ein junger Mensch von ganz normalen Fähigkeiten, ja häufig zeige er sich noch unbegabter als andere. Frau Kowalow war sehr mit dabei, wenn es galt, ein Fest zu feiern. Sie war dann innerlich so froh und gab ihrer Freude einen solch ungeschminkten Ausdruck, daß es einen Rheinländer ungemein sympathisch berührte. Bei Fortschreiten des Festes, „ich bin jetzt in Deutsch, man kann nicht sagen, besoffen, aber betrunken,“ womit sie meinte, daß sie einen kleinen Schwips hatte. Wurde der Schwips etwas größer, so konnte das frohe Lachen ganz unversehens in Weinen umschlagen. Hieraus machte weder sie noch ihre Umgebung sich etwas, denn bald war sie auch wieder froh.

Ein anderer Typus war eine Landedelfrau aus der Gegend von Moskau, Sumarotzka, sie hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einer damals allgemein käuflichen großen Kaffeewärmerpuppe, die ich auch mit nach Hause brachte und die bei uns die S. hieß. Sie hatte eine leidlich hübsche kleine sehr kluge und gebildete Tochter, die wohl in Deutschland und in Paris studiert hatte. Sie war ein angenehmes und ernstes Mädchen und gab ihrer Abneigung gegen die Balten deutlich Ausdruck. Sie verkehrte viel mit einem deutschen Halbbrasilianer Nikkele, dessen Vater aus Schwaben stammte und dessen Mutter eine Kreolin war. Mit seinem Freunde Stoll aus Reutlingen, dem munteren Sproß einer Maschinenfabrikantenfamilie war er unzertrennlich. Mit der Sumarotzka habe ich häufig längere Spaziergänge gemacht und geistig recht anregende Gespräche geführt. Im gemeinsamen Wohnzimmer von ihr und ihrer Mutter sah es ziemlich russisch bürgerlich aus , immer summte der Samowar und immer gab es Tee und Zigaretten. Die Tochter hatte ein besonderes Talent, eine aparte Damentoilette zu tragen mit den verschiedenartigsten kleinen Pantöffelchen. Von ihrem weiteren Verbleib habe ich nie wieder etwas gehört.

Ein Ehepaar von Fehleisen gab sich einen vornehmen Anstrich und lebte fast ausschließlich auf seinem geräumigen Zimmer und auf den Gängen des Sanatoriums. Er hatte eine Knochenaffektion und ging an einer Krücke. Beide waren große schlanke Leute und sahen gut aus. Ich erinnere mich aus Gesprächen mit ihnen, daß er mir erzählen konnte, wie die Russen am Ural jahrzehntelang Platin gewonnen und im Staatsschatz aufgehoben hätten. Lange Jahre fand sich kein Käufer dafür, bis die deutsche chemische Industrie einen größeren Bedarf an Tiegeln und sonstigen Geräten aus gediegenem Platin hatte. Seitdem erst kam der Markt für dieses Edelmetall in Fluß.

Trotz der verschiedenartigen Herkunft hielten die Russen zusammen und feierten gelegentlich ein gemeinsames Fest, bei dem sie ein Spanferkel verzehrten. Ich weiß nun nicht mehr, war es Weihnachten oder Neujahr, wo ein solcher Schmaus stattfand, an dem natürlich die Deutschrussen nicht teilnahmen. Die echteste Figur unter den Russen, die ich dort erlebte, war ein Arzt. Er sprach außer Russisch nur Lateinisch, eine Ausnahme für einen gebildeten Russen. Als er zuerst auftauchte, trug er noch das richtige rote Hemd des Russen, wie eine Bluse, das knapp über den Bauch ging. Dazu hohe schwarze Stiefel, eine flache Mütze. Er hatte die Belagerung von Port Artur und deren Einnahme durch die Japaner miterlebt. Ein sehr dünnes japanisches Infanteriegeschoß war ihm zur Lunge herein und herausgefahren und die ausheilende Wunde hatte tuberkulöse Rückstände gezeitigt. Die anderen Russen schämten sich seiner etwas und bemühten sich eifrig um seine Europäisierung. Er war ein gutmütiger Mann und wir radebrechten mit ihm Lateinisch so gut es ging. Eines blondbärtigen Deutschrussen aus Odessa erinnere ich mich noch sehr genau, er war ein reinblütiger Deutscher und hieß Engel, er sprach langsam und bedächtig ein fehlerfreies Deutsch und war in seinem ganzen Wesen sehr bedächtig und sympathisch. Es verknüpfte ihn ein enges Verhältnis mit einer dunkeläugigen Dame aus Rumänien, was die beiden untereinander für eine Sprache redeten, ist mir immer ein Rätsel geblieben. Es war ein Gemisch von Deutsch, Französisch, Russisch und Rumänisch durcheinander. Ich hatte ein gutes Gehör für den russischen Tonfall und konnte ihn ausgezeichnet nachmachen, so daß alle Russen erklärten, es sei waschechtes Russisch, nur verstände man kein Wort davon. Mit solchen Sachen belustigte man sich. Die Russen nahmen es keinesfalls übel. Einige Brocken sind mir natürlich bis heute festgeblieben. Zu dumm, daß ich nicht damals Russisch gelernt habe. Eine jüdische Familie Wolf aus Petersburg war in mehreren Exemplaren vertreten. Die schlanke blonde Frau sah ganz deutsch aus, die Rassenmischlinge waren zum Teil sehr hübsch und ein kleiner Mischa konnte sich mit uns allerliebst auf Russisch unterhalten, wobei wir wenig von seinem Russisch und er gar nichts von unserem Russisch verstand. Das hinderte aber keineswegs, daß die Unterhaltung stets sehr nachdrücklich war. Trafen wir ihn abends und riefen ihm zu, Mischa damoi, dann sprudelte er eine halbe Stunde lang sehr lebhaft. In einem großen Gegensatz zu diesen Russen standen die Balten, Deutsche aus Adels- oder Pastorenfamilien, welche daheim die Oberschicht bildeten. Es waren fast durchweg angenehme Gesellschafter, wenn auch eigenwillige und zum Teil ganz gebildete Menschen. Bei vielem Verkehr mit ihnen kam heraus, daß sie nicht nur eine Menge Wörter, sondern auch Gerichte, Gewohnheiten und auch Blutsverwandtschaft mit Rheinländern und Westfalen hatten. Es waren meist blauäugige und schlanke Gestalten mit selbstbewußtem Gebahren. Ich konnte mich gut mit ihnen vertragen. Da ich das Zungen-R und das ei hart ausspreche, gewann meine hauchdeutsche Aussprache eine starke Färbung ins Baltische. Und wenn ich mich be meiner mundvollen Aussprache klar und gut verständlich machen wollte, wurde ich meistens für einen Balten oder Ostpreußen gehalten. Die Balten hatten früher und haben heute furchtbare Schicksale erlebt, aber ihr Deutschtum nie drangegeben. Im Sanatorium befanden sich auch einige Damen, die wir von Deutschen nicht unterscheiden konnten, die aber von den Balten nicht ganz voll angesehen wurden, weil sie Letten waren. Ich habe mir dann erzählen lassen, was es mit den Esten, Letten, Lieven und Kuren auf sich hatte und wie es auch unter ihnen graue Barone gab. Aus den deutschbaltischen Adelsfamilien waren manche Söhne, die nicht Gutsbesitzer sein konnten und auch nicht Offiziere und Beamte im kaiserlichen Rußland waren, sondern es vorzogen im Lande herumzuziehen und bei der recht zahlreichen Verwandtschaft abwechselnd zu Besuch einzukehren. Sie besaßen meistens ein Pferd und ein Musikinstrument und waren eine Art fahrende Sänger. Sie hießen die Juchzer und von ihren Taten und Fahrten konnte Freund Bruns wundervolle Sachen erzählen, die lebhaft an das Tun und Treiben der Barone in Gösta Berling erinnerten. Die Juchzer veranstalteten eines Tages einen Ball in Dorpat und luden dazu den baltischen Adel ein. „Bröderchen, für dieses Jahr habe ich keinen Frack, könntest du mir nicht einen Frack ausleihen?“ So holen sie sich die Monturen zusammen. Während des Tanzes sitzt ein Teil barfuß in einem Nebenzimmer beim Kartenspiel, sie hatten nicht genügend Strümpfe und Ballschuhe und wechselten sich damit ab. Aus all diesen Erzählungen strömte eine unversiegliche Lebensfreude. Ich bedauerte es lebhaft, nie einen richtigen Juchzer kennengelernt zu haben. Eine Art Juchzer war ein junger Baron Nolden, der allerdings „zu sonderbaren Aufträgen“ gelegentlich bei der russischen Regierung Verwendung gefunden hatte. Seine Mutter war eine Engländerin und er selbst ein ungemein schlanker Kerl voller Humor und Schelmenstücke. Bei der Aufführung eines Liebhabertheaters hatte er eine Rolle als Masseur zu spielen, seine Partnerin war eine deutsche Jüdin und er maskierte sich auf einen Juden heraus, das ganz unglaublich war. Unter eine photographische Aufnahme, die ihn als einen solchen Ostjuden darstellte, schrieb er seinen Namen mit dem Zusatz evangelisch-lutherisch. Die Namen der einzelnen sonstigen Balten sind mir nicht mehr in Erinnerung, aber das ganze Leben und Treiben in den baltischen Provinzen ist mir durch ihre Schilderung, durch die vielen Erzählungen von Bruns und durch eine eifrige Lektüre von baltischen Romanen und sonstigen baltischen Büchern sehr eindrucksam von Augen. Sehr schön verkörpert finde ich es in einer Handzeichnung des Wilhelm von Kügelgen, des Verfassers der Erinnerungen eines alten Mannes. Die Handzeichnung stellt ihn mit seiner Braut, geborene Krummacher, auf einem baltischen Gut Poth im Garten dar. Vor Jahren konnte ich dieses Blatt von einem Kölner Händler erwerben. Sonstige Ausländer waren im Sanatorium selten. Einen einzigen weiteren Engländer begrüßten wir gelegentlich im Hause als Gast, ein kleiner lustiger Kaufmann aus London, Mister Bingham. Er war ein guter Billardspieler und sehr lustig und interessant in seiner Unterhaltung. Napier verriet mir, daß er ein rechter Cockness-Londoner wäre. Er mochte auch knapp bei Kasse sein und benutzte das deutsche Sanatorium, um seinen Landsleuten aus dem Wege zu gehen und manche Nebenausgaben zu sparen.
 

Die Italiener

Völlig verschieden von den anderen Gästen waren einige Italiener. Ein Signor Mauro aus Mailand, ein langer runder Langobarde, spielte ganz ausgezeichnet Billard und alle Billardstümper, darunter auch ich, spielten sehr viel besser, solange er da war. Er betrachtete die Süditaliener als halbe Neger und verachtete sie sehr, er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Ein Vertreter dieser Sorte war ein Maestro Philipini aus Torre Annunziata am Vesuv. Er verkehrte viel mit einem Sohne Fränkel, der gut Italienisch sprach. War dann noch ein Kaufmann Castel Franco mit riesigen Vollbart dabei, erhob sich eine so schnelle und laute Unterhaltung, daß man glaubte, mindestens fünf Mann wären am reden. Ein kleiner blonder Lemke suchte den Philipine aufzudrehen mit Maccaroni etc, worauf dieser sehr schlagfertig, wenn auch etwas mühsam herausbrachte a Kartoffel. Castel Franco kokettierte nicht nur mit seinem Bart, sondern auch mit seiner unentwegt revolutionären und republikanischen Gesinnung. An seiner Uhrkette trug er einen in Golddraht gefaßten Stein, dessen politische Bedeutung er mir oft erklärt hat, was ich aber ebenso schnell wieder vergaß. Eine quittengelbe schwarzhaarige Römerin, die reife Gattin eines römischen Professors war eine sehr unterhaltsame Dame und suchte das ziemlich häßliche aber äußerst gutmütige Fräulein Meyer aus Papenburg mit folgendem Kernspruch zu trösten, den sie einem harten Französisch von sich gab: Vous savez que les dames qui ont la bouche très petite, ont beaucoup de chances de gagner un marie et ceux qui l’ont très grand en auront deux. Als Mariechen Meyer das endlich begriffen hatte, war sie ganz selig.

Alle diese wenigen Ausländer konnten aber wenig an dem deutschen Charakter des Sanatoriums ändern. Kaisers Geburtstag wurde ebenso festlich begangen wie der Geburtstag des Prinzregenten Luitpold von Bayern. Zu einem solchen luden alle Bayern ein, und ein Spielwarenfabrikant Schönner aus Nürnberg stiftete ein Faß stark eingebrauten Ledererbräus dazu, das trefflich schmeckte und auch sehr sättigte. Dazu gab es sehr dünne kleine Bratwürstchen, wie man sie von Nürnberg her kennt. Sie schmeckten ausgezeichnet und ein Herr von Eck aus Nassau konnte uns trotz seiner Hundevergleiche den Appetit nicht verderben. Wir ließen uns die Gaben des Nürnbergers trefflich schmecken, obwohl kurz vorher der Ochsenstall ein sehr gut singbares Spottgedicht auf ihn gemacht hatte. Es ging auf die Melodie des schwarzen Mann aus Treuenprizen. Alle Reime gingen auf -oren, -oren, -oren. Die Ballade behandelte den Spaß: Herr Sch. hatte sich einer Dame aus Brasilien gegenüber verschworen, ihr die Schuhe so zu wichsen, wie sie es  nie erlebt hatte. Das wirkte sehr komisch, weil er schon Großvater war. Er erwischte die falschen Schuhe, nämlich die von Fräulein Strauß, einer lettischen Dame, die in ihrer Gutmütigkeit uns die eingelegten Verse des Schuhwichsers herausgab. Die letzten Verse hießen: Er hat sich schwer blamoren, denn es war offenbore, die Stiefel die gehoren dem Zimmernachboren. Das Lied erklang auf allen Wegen und Herr Sch., der mittlerweile seinen Konkurs abgemacht hatte, fuhr davon. Ich schildere diese Torheiten etwas ausführlicher, um darzutun, daß in einem deutschen Lungensanatorium auch eine andere Atmosphäre herrschen kann, als sie der verflossene Thomas Mann in seinem Zauberberg oder ein französischer Schriftsteller in einem Buche  Les Emberassées, letzterer allerdings für ein Sanatorium Le Fedey in Leysin, schildert. In beiden Büchern spielt das Erotische eine große Rolle, was jedenfalls in diesem Umfange nicht in Arosa in Erscheinung trat. Es waren eine ganze Reihe junger Frauen und Mädchen dort, für welche die Tante allerdings in der Saison eine besondere Anstandsdame kommen ließ, für welcher ein junger Stuttgarter das Wort erfand: „Lasterwehe“. Auf sie wurde ein Gedicht gemacht, das Mädchen aus der Fremde, es begann mit den Versen: In einem Tal bei armen Kranken erschien mit jedem neuen Jahr, sobald die Thermometer sanken, ein Mädchen alt und wunderbar. Das Gedicht fand natürlich keine Aufnahme in der Faschingsbierzeitung, wurde aber um so eifriger handschriftlich verbreitet. Der Beruf dieser Lasterwehe war vermutlich ziemlich dornig.

Von den Deutschen sind mir noch einige in Erinnerung: ein junger Jurist namens Reuer aus Braunschweig war ein netter sympathischer Mensch, er arbeitete an seiner Referendararbeit, ich half ihm ein bißchen dabei und zum Dank verehrte er mir eine hübsche Schreibmappe aus Gamsleder und außerdem lieferte er mir aus seinem väterlichen Schnittwarengeschäft mehrere Kleiderstoffe zu Anzügen, die ich mir dort bei einem geschickten tschechischen Schneider Irek machen ließ. Einen Smoking besitze ich heute noch.

Aus Oberhausen war eine sehr nette kleine Frau von Carnap mit zwei allerliebsten Kindern. Der Sanitätsrat hatte sie, da sie wegen der Abwesenheit ihrer Kinder stets weinte, in eine muntere Gesellschaft eingeführt. Sie tröstete sich, gewann an Gewicht und machte gute Fortschritte. Das Unglück will, daß sie eine Affektion am Kehlkopf bekam und infolgedessen heiser wurde. Der leitende Arzt Jacobi machte ihr weis, dies sei eine Verfettung des Stimmbandes. Glücklicherweise glaubte sie es und machte eine ausgezeichnete Kur. Der Sani verriet mir nachher den Schwindel als Musterbeispiel für die Berechtigung einer Lüge in der Hand eines erfahrenen Arztes. Hätte ich ihr die Wahrheit gesagt, sie wäre mir unter der Hand gestorben. Ich konnte sie dann später noch einmal in ihrem schönen Heim in Mannheim besuchen. Ihr Sohn Wilhelm, der als Knabe mir sehr befreundet war, hatte schon den Weltkrieg mitgemacht. Ob er noch lebt, weiß ich nicht.

Ein Gegenstück zu dem früher bereits ausgeheilten Artillerieoffizier von Hillern war ein Bromberger Dragoneroffizier von Humboldt, ein langer schlaksiger Mensch mit Monokel und einem hochmütigen Gesicht, wie aus dem Simplicissimus geschnitten. Er besaß die seltene Fähigkeit, ihm aus größerer Entfernung zugeworfene Schokoladenstücke mit dem Mund auffangen zu können. Seine Mutter stammte aus der saarländischen Industriellenfamilie Wagner. Seine Großmutter lebte in Bonn. Im Grunde seines Herzens war er ein ganz tüchtiger Junge, er hatte eine zeitlang eine Verehrung für das norwegische Fräulein Mowinkel und besaß die Geschmacklosigkeit, sich auf irgendeine Weise eine Auskunft über die Finanzverhältnisse deren Vaters zu verschaffen. Dabei mußte er in den Dreck greifen, denn von der Dame wußte ich, daß ihr Vater einmal Kippe gemacht hatte und das Geschäft auf ein anderes Familienmitglied lief. Ein sehr bemerkenswerter Mann war der Vater Humboldt, der einmal einen längeren Urlaub oben verbrachte und den ich auf vielen Spaziergängen als einen sehr tüchtigen deutschen höheren Offizier kennenlernte. Es war ein untersetzter kleiner Mann, Sohn des berühmten Wilhelm von Humboldt. Er wußte sehr amüsant zu erzählen aus seinem Leben. Eines Tages ist er vom Kaiser zu einem Hofessen auf Schloß Wilhelmshöhe in Kassel eingeladen. Er erscheint in voller Paradeuniform als Oberst der Totenkopfhusaren. Die beiden Infanterieposten vor dem Schloß besehen sich ihn schon kritisch von weitem, der eine gibt dem anderen ein Zeichen mit einem kurzen Kopfschütteln, der andere nickt bejahend und sie lassen ihn ohne Ehrenbezeigung hineingehen. Ich nahm es ihnen gar nicht übel, denn ich sah aus, wie ein Zigeunerprimas. Ich fand es gut, daß die beiden sich vorher verständigt hatten und daß nicht etwa der eine salutierte und der andere nicht.

Etwas erheiternd wirkte auf uns alle die große Angst seines Sohnes um seine Schulden. Er hatte uns nämlich anvertraut, daß er ganze 600 Mark Schulden hatte und es nicht wagte, dieses seinem Vater zu beichten. Wir haben ihm auch nicht den Gefallen getan, es dem Alten mitzuteilen, dem damit der Ferienaufenthalt in Arosa wohl ziemlich vergällt gewesen wäre.
 

Antonius von Kintzel

Der Mittelpunkt eines geselligen Kreises, der sich das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten suchte, war ein bereits etwas angejahrter Gerichtsassessor Anton von Kintzel, genannte der heilige Antonius. Er war der Sohn eines bedeutenden Ingenieurs und Kaufmannes in Kassel und seiner bürgerlichen Ehefrau. Die Familie war nach der Mutter katholisch und besaß in der Umgegend von Kassel ein Tonwerk, auf welchen Dachziegel und Drainageröhren gebrannt wurden. Die Firma hieß Möncheberger Gewerkschaft und fabrizierte Klamotten, wir Kintzel zu sagen pflegte. Aus seinen Erzählungen entnahm ich, daß sie zahlreiche Neubauten, namentlich öffentliche Behörden, belieferten. In einer Ingenieurfirma von Kintzel und Lauser hatte der Vater einen Teil des Nordostseekanals gebaut und daran wohl ein schönes Geld verdient. Seine beiden Söhne hatte er in Straßburg studieren lassen und diese beiden hatten dort als Corpsstudenten ein lustiges Leben geführt. Der jüngere Bruder wurde Landwirt, heiratete die Tochter von Kempis von dem Rittergut Rankenberg in Brenig. Ich habe ihn später in meinem Büro näher kennen gelernt. Als älterer Assessor bekam Anton es auf die Lunge, er hatte auf beiden Seiten eine fast völlige Erweichung der Lungenflügel und es bedurfte jahrelanger Kur, um seine Gesundheit wieder so weit auf den Damm zu bringen, daß er wieder arbeitsfähig wurde. Die Geduld, mit der er die Kur aushielt (zu Zeiten war er auch sehr ungeduldig), mußte man bewundern. Ohne daß er selbst ein großes Lumen war, verbreitete er einen gewissen Frohsinn um sich herum und dem war es wohl zu verdanken, daß er in den verschiedensten Gesellschaftsschichten des Sanatoriums allgemein beliebt war. Er hatte entschieden etwas von einem Rheinländer an sich. Mit einem ziemlich brummigen älteren Herrn von Eck, Mitbesitzer eines bekannten Nervensanatoriums in Nassau, einem Regierungsbaumeister Stoffels aus Münster in Westfalen und einigen anderen bildete sich ein Kreis, der namentlich durch die Anwesenheit von Fräulein Agnes Tholen aus Hannover zusammengehalten wurde. Fast jeden Abend spielten sie zusammen Skat, aber nur bis zu einer gewissen Stunde, dann unterhielt man sich zwanglos. Auch während des Skatspiels war nicht jede Unterhaltung ausgeschlossen, aber der ganze Kreis hatte es ausgezeichnet verstanden, ein kleines Zimmer neben dem Eßzimmer für sich abends zu reservieren. Fast alle anderen Eindringlinge wurden mehr oder minder geschickt hinausexpediert. Bei mir hatte man dies anfangs auch versucht, ich lachte darüber und blieb dort und wurde auch bald in diesen Kreis aufgenommen, ohne daß ich Skat spielte. Denn das tägliche „gewerbsmäßige“ Skatspiel war mir greulich. Die erste Zeit saß ich in einer ganz anderen Tischgesellschaft und während der ganzen Zeit meines Dortseins war ich für die Liegehalle stets und dauernd in einer wieder ganz anderen Gesellschaft. Ich konnte mich daher über Einseitigkeit in meinem persönlichen Verkehr gar nicht beklagen. Sport treiben durften die Skatspieler allesamt nicht, aber alle hatten Interesse an mehr oder minder guter Lektüre und auf diese Weise war das geistige Niveau doch ein ziemlich gehobenes. Dies veranlaßte einige sonstige Damen unter Zuziehung der Frau des leitenden Arztes für einen Tag in der Woche ein literarisches Kränzchen zu gründen. Die Einsichtigen waren zu klug, um dagegen zu sein, obwohl man den Mißerfolg bald voraussah. Es sollte Tee dabei gereicht werden, von Kintzel und ich erklärten, wir könnten nur dann mitmachen, wenn wir echten Rum dazu bekämen. Die Damen waren so töricht, eine große Flasche Rum zu stiften und solange die vorhielt, wurde auch der Anschein eines literarischen Kränzchens hochgehalten. Dann aber verflachte die Sache bald in einen seichten Gesellschaftsklatsch und die Herren zogen sich zurück. Mitunter noch wurden kindliche Gesellschaftsspiele aufgeführt, die oft zu großer Belustigung führten. Schließlich schrumpfte das Ganze zusammen zu gelegentlichen Zusammenkünften und Besprechungen aus besonderen Anlässen, Vorbereitung zu gemeinsamen Festen oder Feiern. Von Kintzel verstand es sehr gut, solchen Zusammenkünften immer eine amüsante Note zu geben und drohende Gegensätzlichkeiten oder Streitigkeiten auszugleichen. Er hatte es besonders zu einer großen Fertigkeit im Frühstückspielen entwickelt. Allen durchreisenden Bekannten wußte er es klar zu machen, wie schlimm es die armen Patienten hätten und wie dringend sie zu ihrer Gesundung der freigebigen Spenden von Leckerbissen bedürften. Namentlich das einfache zweite Morgenfrühstück gab mitunter Veranlassung zu einem solennen Frühschoppen. Es gab im Sanatorium ein ausgezeichnetes Flaschenbier, ein Pilsener und ein Münchener. Einmal in der Woche gab es auch abends Bier vom Faß, meist dunkles. Das war dann stets Veranlassung, einen besonders fröhlichen Extraabend zu veranstalten.

Im September 1941 erhielt ich von meinem Bekannten Hans Krafft Anthes in Offenbach am Main, der dort jetzt Faß-Spundenfabrikant ist, die Mainummer der „Frau“ aus dem Jahre 1938. Auf Seite 431 folgende findet sich darin ein ausgezeichneter Nachruf über das anfangs 1938 in Arosa verstorbene Fräulein Agnes Tholen. Ich füge diesen Aufsatz in der Anlage bei. Ich habe hieraus erfahren, daß Fräulein Tholen älter war, als ich dachte. Sie war eine vollendete Dame und dazu ohne Vorurteil und von umfassenden Wissen, großer Klugheit und taktvollem Benehmen. Ich kann sagen, daß ich mit ihr ziemlich befreundet gewesen bin. Leider habe ich sie trotz mehrfacher Versuche später niemals in Hannover in ihrer Häuslichkeit und mit ihrer Mutter kennengelernt, was ich heute noch lebhaft bedauere. Jahre habe ich mit ihr in regelmäßigem Briefwechsel gestanden und als ich 1910 als junger Ehemann in Bernkastel lebte, hat sie uns dort einmal besucht und sich auch mit meiner Frau gut angefreundet. Am meisten waren wir uns durch Austausch über literarische Eindrücke näher gekommen und in einer gelegentlichen Karte hatte sie sich zum Schluß als meine Lesefreundin bezeichnet. Aus ihrer großen Schrift konnte man auch lesen Busenfreundin. Und seitdem war und blieb sie für mich und meine Frau die Busenfreundin. Sie legte großen Wert auf ihre friesische Abstammung, und mit Recht. Einer ihrer Vorfahren muß ein bedeutender Mensch gewesen sein. Nach ihm ist die Clas-Tholen-Straße in Emden benannt und er war auch wohl der Gründer einer größeren Familienstiftung, aus der noch Grundbesitz in den friesischen Landesteilen Nordhollands vorhanden waren. Eine gute Freundin von ihr war eine Frau Baronin Nolde geborene von Mahrenholtz. Sie hatte einen Kurländer geheiratet und in dieser Familie war Leo Bruhns, als sie einmal eine Erbschaft gemacht und einen Landsitz bei Florenz erworben hatten, über ein Jahr dort als Erzieher „Gouverneur“ der Knaben. Es muß eine sehr famose Dame gewesen sein, die ich leider nicht kennengelernt habe. Beim Ausbruch des Krieges war Agnes Tholen bei ihr auf dem Gute im südlichen Kurland zu Besuch und konnte nicht über die Grenze nach Ostpreußen zurück. Sie mußte über Petersburg und Finnland zurück und an der finnisch-schwedischen Grenze sich einer peinlichen Leibesvisitation unterziehen. Frau Nolde hatte ihr ein Buchzeichen mit einem guten Einfall, aber in künstlerisch kindlicher Weise gezeichnet, auf der sich der alte friesische Schlachtruf befand: “Eiala Freya Fresenia!“ Sie war nicht wenig stolz hierauf. Ihr Äußeres entsprach vollkommen der Vorstellung, welche wir von einem Friesen haben. Groß und schlank gutgewachsen, rötlichblondes Haar und leuchtendblaue Augen, die den Menschen gut durchschauen konnten. Eine gewisse Kurzsichtigkeit behinderte sie gar nicht. Wer mit ihr verkehrte, hatte reichen Gewinn davon, mochte er jung oder alt sein, ihr näher oder entfernter stehen. Anton von Kintzel und sie haben wohl eine zeitlang erwogen, ob sie einander heiraten wollten. Sie hat auch ihn in seiner Familie einmal besucht und mir davon eine schöne Schilderung gegeben. Abgesehen davon, daß sie evangelisch und Kintzel katholisch war, paßte auch sonst manches nicht und so wurde nichts daraus. Kintzel heiratete dann später eine Streit, Tochter aus einem Bankhaus in Kassel, lebte als Pensionär dort noch eine Reihe von Jahren und ist vor etwa zwei Jahren gestorben. Leider habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Fräulein Tholen, die 1865 geboren war, ist Anfang 1937 mit 72 Jahren in Hannover gestorben. Sie besaß eine ausgesprochene persönliche Kultur, ein reiches Wissen und eine starke geistige Kraft. In Hannover mußte sie einen großen Einfluß als eine der tüchtigsten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gehabt haben.

Namentlich in einem Sommer, als wenig Gäste da waren, kamen wir uns auf stundenlangen Spaziergängen persönlich nahe und lernte uns gegenseitig persönlich achten und schätzen. Im Winter machten von Kintzel, ein Graf Lüttichau, genannt der rauhe Kriegsknecht, ein Baron Nolde und ich mit ihr einen  mehrtägigen Ausflug nach Davos zu den dortigen Sportfesten, wo die Meisterschaften für Schnell- und Kunstlauf im Schlittschuhfahren ausgetragen wurden. Es waren schöne Tage und wir haben uns köstlich miteinander amüsiert. Trotz rechtzeitiger Anmeldung waren wir recht primitiv untergebracht, machten uns aber nichts daraus. Die jungen Leute gaben sich ulkweise unter falschen Anschriften an, z. B. Graf von Rüdesheim usw. Eine mitgenommene Skatkasse wurde in einem guten Abendessen angelegt. Graf Lüttichau, ein kleiner wohlerzogener junger Mann, der aus einer sächsischen Familie stammte, hatte vorher Dusel im Maucheln entwickelt und legte seinen Gewinn dort in einem Überzieher an. Wir freuten uns alle kindlich mit ihm. – Bei den Sportveranstaltungen saßen wir im Freien in der Sonne und sahen bewundernd zu, wie Norweger, Finnen und Deutsche in dunkelgrau eng anliegenden Tricots mit riesiger Geschwindigkeit, zum Teil unter heftig rudernden Armbewegungen, die schimmernde große Eisfläche umkreisten. Dann kamen die Kunstläufer, wir waren einstimmig der Ansicht, daß ein süddeutsches Paar den ersten Preis verdient hatte. Die beiden hatten unglaublich weich und elegant und am schönsten den entscheidenden Walzer getanzt. Den Preis erhielt aber ein englisches Paar, welches zwar technisch auch gewandt, aber gänzlich ohne Musikalität ihren Kunstlauf ausführten. Allgemein hieß es natürlich Schiebung.

Wir pflegten im Bellevue zu essen und bestaunten dort seltsame Gestalten von bemalten Frauen in jedem Alter, deren Lungenleiden schon fortgeschritten war und die diesen Fortschritt mit der modernen Malerei zu verdecken suchten. Sie sahen zum Teil wie gemalte Mumien aus. Wir lernten es begreifen, warum gerade in Davos in den ernsthaften Sanatorien eine so strenge Hausdisziplin herrschen mußte. Denn wer ins Dorf und in die dortigen Vergnügungslokale geriet, war verloren. Uns allen machte dies nichts, weil wir stets in geschlossener Gesellschaft waren. Hochbefriedigt von der willkommenen Abwechslung fuhren wir nach einigen Tagen wieder mit Vergnügen gesättigt über Sargans und Chur zurück, um dann nach sechsstündiger Schlittenfahrt wieder oben zu landen. Dabei muß man bedenken, daß dies für mich die einzige Abwechslung eines sonst ununterbrochen sechzehn Monate langen Aufenthaltes in Arosa war. Fräulein Tholen war zu Anfang ihrer Erkrankung in ein Sanatorium an der Nordsee gebracht worden und hatte sich dort erst gründlich verdorben. Obwohl sie sich wenig an die strenge Einhaltung der Liegekurzeiten hielt, machte sie doch ganz ausgezeichnet Kur. Durch den späteren Verlust ihres Vermögens in der Entwertungszeit war sie gezwungen, ihre pädagogische Tätigkeit, die sie früher rein zum Zeitvertreib ausgeübt hatte, nunmehr als Broterwerb zu betreiben. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß sie mit voller Seele dabei war und dabei ihre volle Befriedigung fand. Sie erreichte auch das schöne Alter von 72 Jahren.

Sie hatte mir gelegentlich von ihren Erfahrungen als gerichtlich bestellter Vormund für uneheliche Kinder und sonstige Jugendliche erzählt, aus diesen Schilderungen konnte ich entnehmen, welche genaue Menschenkenntnis, wieviel reife Erfahrung und welch gutes Herz sie besaß. Ich bin überzeugt, daß alle, die mit ihr in Berührung kamen, einen ähnlichen trefflichen Eindruck von ihr gewonnen haben.

Wenn ich an jene Zeit denke, tauchen mir von Zeit zu Zeit aus einem dämmerhaften Dunkel plötzlich einige Gestalten in ein scharfes Licht, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Ich habe manchmal die Empfindung, in weinseliger Laune auf einem fröhlichen Faschingstreiben zu sein, wobei aus der bunten Menge die eine oder andere Person eines Bekannten auftaucht und schnell wieder weg ist. Es ist mir daher schlecht möglich, diese Figuren festzuhalten. Wir hatten bei Tisch einen Grafen Lüttichau, es war ein kleines sehr wohl erzogenes zartes Männchen, der ein merkwürdiges Zucken von Zeit zu Zeit um die Nase hatte. Er war Leutnant in einem Füsilierregiment in Frankfurt an der Oder. Kienzel nannte ihn den rauhen Kriegsknecht. Wir hatten ihn alle sehr gerne wegen seines einfachen und bescheidenen Wesens. Er war ein kluger und netter Mensch und er erzählte mir rührender Offenheit, er habe in seiner Jugend den Veitstanz gehabt, daher rühre das Nasenzucken her. Ihm gegenüber saß eine zeitlang bei uns am Tische eine ältliche Frau von Grönig, geborene Schwärzel, sie stammte aus einem Gut Ritterhude bei Bremen. Sie mußte früher sehr hübsch gewesen sein, trug ihr angegrautes Haar recht kokett nach oben getürmt mit silbernen Schrauben drin. Sie hatte eine pfirsischblütene Gesichtsfarbe, um die Augen herum hatte sie ein nervöses Zwinkern, das ihren braunen Augen mitunter einen seltsam schelmischen Ausdruck gab. Bei lebhafter Unterhaltung pflegte sie auch etwas mit dem Kopf zu wackeln und dann war es wirklich interessant zu beobachten, wie diese nervösen Bewegungen äußerst anregend auf den kleinen Grafen wirkten, dessen Nase dann um so heftiger zuckte. Sie hatte eine junge erwachsene Tochter, die in einem Graubündner Gymnasium war. Wir haben sie zwar nie zu Gesicht bekommen, wußten aber alles von ihr. Die Mutter, die der Ansicht war, man könne dem Kind nicht genug mit auf den Lebensweg geben, schrieb sich allerhand Bonmots auf, wir sorgten natürlich, daß der Stoff nicht ausging und schmuggelten manches Histörchen hinein, das zwar äußerlich harmlos aussah, aber für ein junges Mädchen nicht paßte. Z. B. war einmal die Rede von verschiedenen Todesarten. Da hieß es, der Kaminfeger kratzt ab usw., zum Schluß, der Herr nimmt die Magd zu sich. Frau von Gröning schrieb auch dies für ihr Töchterchen mit auf. Natürlich waren wir eifrig bemüht, ihr den jungen Grafen als Schwiegersohn schmackhaft zu machen. Hierauf ließ sie sich aber nicht ein. – Sie war eine schöngeistige und etwas preziöse Frau, aber einem guten Spaß durchaus nicht abgeneigt. Auf Anregung Kientzels hatte sie vom Gute ihres Mannes geräucherten Schweinespeck kommen lassen, hierzu stiftete ich frische grüne Stangenbohnen, die meine spätere Frau mit einem Postsäckchen von Hersel geschickt hatte. Der ganze Bekanntenkreis saß morgens auf sonniger Terrasse und fitschelte die Bohnen und abends schmeckte uns köstlich ein Gericht rheinische Speckbohnen mit Bremer Speck.

Etwas nördlicher aus dem Holsteinischen stammte ein fideler Kaufmann, dessen Firma die Schreinernägel waggonweise handelte. Er hieß Peters und führte den Spitznamen Old Peites. Als wir bei kaltem Wetter ein Fest feierten, kam er in schwarzem Gehrock und an den Füßen mit Schneeschuhen. Wir fanden das ganz köstlich und bei der nächsten Fastnachtsveranstaltung wurden die Ferse gesungen: Der Filzschuh, wie ihr alle wißt, ein äußerst praktisch Möbel ist, beim Bratenrock hingegen, pflegt man ihn abzulegen. Dat geit uf mik, sagte Old Peites und war ganz zufrieden damit.

Ich besitze eine ganze Reihe photographischer Aufnahmen von größeren und kleineren Gruppenbildern gelegentlich des Fastnachtstreibens, dabei war es erstaunlich, wie witzig manche sich mit ganz geringen Mitteln kostümiert oder unkenntlich gemacht hatten. Mister Napier hatte sich mit einer dünnen Greisenperücke und goldener Brille auf Mommsen herausgemacht und war überraschend echt. Nur das der kleine Mommsen von einem baumlangen Schotten dargestellt wurde. Die beiden Fräulein Frederik zusammen mit Braun Boverie machten eine Gruppe weiblicher Angehöriger der Heilsarmee, Bruhns einen Clown usw. Zu einem Fastnacht hatte ich ein Lied(heft?) mit Texten von Tonger von Köln kommen lassen. Es fand großen Beifall und noch wochenlang sang alles „habt ihr meinen schönen Adolf nicht gesehn“. Es war interessant zu beobachten, wie bei dem Fastnachtstreiben im Hause auch ganz ernste Menschen aus sich herausgingen und von der allgemeinen Fröhlichkeit angesteckt wurden. Dabei wurde wie auch sonst häufig zum Schluß das Leiblied von Kientzel gesungen „Heut ist heut“, wo es zum Schluß hieß: morgen vielleicht erklingt das Sterbegeläut, heut ist heut.


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