TEIL 2 - FORTSETZUNG VON TEIl 1

Rückkehr zur Justiz, Verlobung, Heirat

Ich war reuig zur Justiz zurückgekehrt und man hatte mir nur sechs Monate als Verlust angekreidet, während ich doch fast drei Jahre außer Dienst gewesen war. Ich trat als Assessor meinen Dienst am Amtsgericht Bonn wieder an und habe auch ganze vier Monate dem Staate unentgeltlich gearbeitet, indem ich die schon damals unter dem Dach gelegene Registerabteilung bearbeitete. Auf meine Eingabe, mir eine mir eine Hilfsrichterstelle an der oberen Rhein- und Moselgegend zu geben, erhielt ich für den Mai 1909 einen zunächst nur einmonatlichen Auftrag an das Amtsgericht Bernkastel-Kues an der Mosel. Ich reiste mit einem Liegestuhl und einem flachen Badeblech dorthin und mietete mich bei einer Clementine Pfeifer in der Kaiserallee ein. Die Richter empfingen mich recht freundlich, meinten aber, ich würde nicht verlängert werden, denn ein Assessor von Henke, der mit dem damaligen Landwirtschaftsminister von Schorlemmer in Lieser freundschaftlich verkehrte, werde die Stelle wohl bekommen. Er bekam sie aber nicht und so konnten wir im Juli unsere Verlobung wahrmachen und am 7. Juli uns nach Bernkastel verheiraten.
 

Bekanntschaft, Verlobung, Verheiratung

Die Entwicklung unserer Freundschaft von Kindesjahren an bis zur Verheiratung ist ein eigener Roman, der für sich einen vollen Band füllen würde. Ich will mich hier nur auf das Notwendigste beschränken. Der Goldleistenfabrikant Peter Reitmeister war mit seiner Familie im Jahre 1890 nach Bonn in ein neuerbautes Haus Bachstraße, damals 38, gezogen. Ich lernte meinen späteren Schwager als Mitschüler 1890 kennen und besuchte mit ihm das Haus seiner Eltern zum ersten Mal im Dezember 1890, nachdem wir vorher auf dem Eisplatz zusammen Schlittschuh gelaufen hatten. Noch heute sehe ich, wie die ovale Nickelkaffeekanne im Eßzimmer auf dem Tisch stand. Aus dem Freund des Schulgenossen entwickelte sich bald ein Freund des Hauses und auch der älteren Schwester des Schulkameraden. Der Bruder hatte etwas zu kämpfen, um das Schulpensum zu erfüllen. Mir, der ich etwas älter war, wurde dies verhältnismäßig leicht und bald hatten wir uns daran gewöhnt, unsere Schulaufgaben gemeinschaftlich zu machen. Auf meine Veranlassung erhielt er schließlich auch ein eigenes Zimmer, wie ich ein solches auf der Bonngasse im dritten Stock hatte. Die Schwester besuchte die Schubringsche Schule und wurde mit verhältnismäßig jungen Jahren nach Wiesbaden auf ein Jahr in eine Pension geschickt. Als sie zurückkam, war sie noch ein echt junges Mädchen, das durch seinen Mutterwitz und sein freundlich gewandtes Benehmen allgemein angenehm auffiel. Es stellte sich auch bald die Freier ein, der Vater galt allgemein als ein recht vermögender Fabrikant, der jedenfalls in sehr behaglichen Verhältnissen lebte. Er war Mitglied der Loge und der Lese. In beiden Gesellschaften hatte er gute Bekannte, die ihre Söhne gerne als seinen Schwiegersohn gesehen hätten. Da war z. B. ein Major Brebeck, der einen hellblonden Sohn hatte. Dieser verehrte das Helenchen, wie sie allgemein genannt wurde, sehr. Sie hatte aber wenig Sinn für ihn und alle seine Bewerbungen waren vergeblich. Er hatte eine Stellung im Verkehrswesen der Bonner Stadtverwaltung und wurde der Pferdewagenkutscher genannt. Er heiratete später eine Tochter aus der Apotheke Scholl am Markt und ging mit ihr nach Südamerika. Auf einer Urlaubsreise nach Hause starb er auf dem Schiff. Die Witwe zog mit der einer hellblonden Tochter nach Bonn und führte sich dort wenig schön auf.

In der Familie Brügelmann, aus der Frau Reitmeister stammte, wäre der Name Brebeck ganz unmöglich gewesen, denn es knüpfte sich daran folgende Mordgeschichte: In der Firma des Johann Dietrich Nachtigal, Onkels und Protektors des Afrikareisenden Gustav Nachtigal, war ein Bruder des Major a. D. Brebeck Prokurist gewesen. Er hatte Unterschlagungen verübt und um diese zu vertuschen, den Kassierer ermordet und die Leiche in den Geldschrank geschlossen. Er hatte dann einen Raubüberfall fingiert, wurde von der Polizei aber bald überwiesen und machte seinem Leben in der Untersuchungshaft durch Erhängen ein Ende, nachdem er noch einen wenig schönen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Glücklicherweise kam es nicht zu einer Verbindung mit der Familie Brebeck. Der Bruder des Mörders und seine Frau waren ein wirklich biederes Ehepaar.

Ein weiterer Logenfreund von Reitmeister war ein Fabrikdirektor Frömbling, der König in einer Jutespinnerei am Bonner Talweg war. Er hatte einen Sohn Karl, der zwar eine zeitlang Corpsstudent mimte, aber sonst nichts Rechtes wurde. Er hätte seinen Sohn am liebsten auch mit der Tochter seines Ordensbruders Reitmeister verheiratet. Daraus wurde auch nichts. Mit der Familie Frömbling war im übrigen ein reger Verkehr. Die älteste Tochter war Mitschülerin von Helene und lebt heute noch in Bonn. Die jüngere, eine auffallend schöne aber nicht besonders kluge, Helene Frömbling, heiratete später einen tüchtigen Dr. Oldenburg, mit dem sie heute noch zusammen in Berlin wohnt, er als pensionierter Beamter des Landwirtschaftsministeriums, sie als mehrfache Großmutter. Ich habe selbst im Hause Frömbling – der Vater starb verhältnismäßig sehr früh – manche fröhliche Stunde als junger Mann verlebt.

Eine jüngere Schwester von Frau Reitmeister hatte in jungen Jahren einen Arzt Gustav Forstmann in Werden geheiratet. Aus der Ehe stammen vier Söhne, der älteste, Max, war Marineleutnant und kam häufiger zu seiner Tante nach Bonn zu Besuch. Nicht nur die Weine und die Zigarren seines Onkels Reitmeister, sondern auch der ganze Ton im Hause und vor allem die Tochter des Hauses gefielen ihm ausnehmend. Zwischen beiden entspann sich ein Liebesverhältnis, als es aber zur Heirat oder zu einer Verlobung kommen sollte, war von einer moralischen Verpflichtung des Vetters gegenüber seiner Kusine die Rede, eine Redensart, die allgemein Verdruß erregte. Vater Reitmeister war auch nicht gewillt, die zur Heirat erforderliche Offizierskaution zu stellen. Der Vetter Max lernte später im Verlauf eines Kuraufenthaltes, den er seiner Tropenerkrankung wegen machen mußte, seine spätere Braut und Frau, eine Freiin Tucher von Simmelsdorf kennen. Zwischendurch war mal eine Sache mit dessen Vetter Otto Forstmann, einem recht schneidigen und tüchtigen Artillerieoffizier, der später zur Firma Zeiss ging. Gelegentlich eines Besuches, den er in Bonn gemacht hatte, lernte er die Tochter Reitmeister kennen und schätzen und diese nicht weniger ihn. Er war wirklich nicht nur ein sehr schöner, sondern auch sympathischer und tüchtiger Mann. Sein Antrag wurde von Vater Reitmeister aber auch abgelehnt.

Auf den vielen Veranstaltungen der Lesegesellschaft hatte u. a. auch ein junger Jurist namens Heuser, Sohn des Bürgermeisters von Vilich-Müldorf, Helene kennengelernt und sich sterblich in sie verliebt. Sein älterer Bruder war in der Bonner Stadtverwaltung als Beigeordneter tätig. Der junge Liebhaber stellte sich toll an, machte Fensterpromenaden und spielte derartig den seufzenden Liebhaber, daß es allgemein Stadtgespräch wurde. Eine zeitlang konnte sich Helene nirgendwo zeigen, ohne daß er sie in der aufdringlichsten Weise belästigte.

Wenn ich an diese Zeiten zurückdenke, so muß ich mich wundern, mit welchem sicheren Instinkt und welchem Aufgebot an natürlicher Schlauheit ich bei dieser Frage vorgegangen bin, die für mich ganz ohne Zweifel die wichtigste meines Lebens war. Ich hatte es verstanden, über den Weg des Bruders mir stets das Vertrauen des jungen Mädchens zu sichern. Sie erzählte mir fast restlos alle ihre Erlebnisse mit den verschiedenen Bewerbern und hörte sehr auf mich, wobei ich ihr mitunter sehr verzwickte und keineswegs gerade Wege anempfahl. Zugleich verstand ich es die Situation dahin auszunutzen, daß der Vater Reitmeister möglichst fest den Daumen auf seinen Beutel hielt. Auch er zeigte stets Vertrauen zu mir und ich suchte es auch zu rechtfertigen. Vor allem hatte er in mir einen sehr geduldigen Schüler, der seine weisen Lehren ruhig anzuhören pflegte, während der Sohn dazu wenig Lust zeigte. Er brachte mir unter anderem bei, die Kölnische Zeitung mit Kritik zu lesen, auch den Handelsteil derselben, die Bedeutung der Börsenberichte, Wertpapiere und so weiter. Durch den fast täglichen Verkehr mit ihm lernte ich eine ganze Unmenge. Dabei betonte er immer wieder, daß die meisten Leute nach ihrem äußeren Auftreten, sowohl bezüglich ihres Vermögens als auch ihrer einzelnen Verhältnisse bedeutend überschätzt würden, so daß es sehr selten sei, wenn es einmal ausnahmsweise umgekehrt der Fall war. Als letzteres Beispiel führte er den Vater des berühmten chemischen Professors Fischer an, der obgleich selbst Millionär, jeden freundlich behandelte, der nur für zwei Pfennig bei ihm kaufte. Ich lernte daher verstehen, daß er weder Verbindlichkeiten für einen Schwiegersohn noch Bürgschaften übernehmen wollte und erst recht nicht daran dachte, eine Kaution für einen Schwiegersohn zu stellen. All diese Momente benutzte ich, um eins gegen das andere auszuspielen und um Zeit zu gewinnen, selbst später als ernsthafter Freier auftreten zu können. Damals war ich natürlich noch ohne Stellung und Vermögen und zu jung dazu, um so etwas wagen zu dürfen. Inzwischen lernten wir uns alle besser kennen und gefielen uns immer besser. Das Ergebnis war, daß wir uns gegenseitig Treue versprachen und ich kann Helene bis heute nicht genug dafür danken, daß wir dies auch durchgehalten haben. Einfach war es nicht, zumal zum Schluß durch meine Erkrankung noch drei bittere Jahre des Wartens hinzukamen, mit denen wir eigentlich nicht gerechnet hatten. Es war nicht angenehm, was in dieser Zeit meine Braut und deren Mutter von allen Seiten zu hören bekamen, während ihre Freundinnen sich alle nach und nach verheiratet hatten. Einzig ein Fräulein Rittershaus, die auch ihrem Verlobten die Treue hielt, kam ebenso wie wir erst spät zur Heirat. In beiden Fällen war dies aber, wie sich erst später herausstellte, von besonderem Glück. Unsere Verlobung hatten wir bis Anfang des Jahres 1909 geheimgehalten, obwohl alle Bekannten längst davon wußten. Im Mai 1909 schickten wir die Verlobungskarten und machten daraufhin noch einmal die üblichen Besuche, die Einladungen usw. Im darauffolgenden Winter arbeitete ich dann die Monate auf dem Amtsgericht. Ich war auch noch einmal als Vertreter des Justizrat Schumacher I tätig, der den Spitznamen der rote Schumacher führte. In seiner Jugend war er ein guter Bekannter meines Schwiegervaters  als „Lord Feuerbrand“ gewesen. Aus dem Honorar kaufte ich bei Tietz einen Kasakteppich, der heute noch unser Bibliothekzimmer ziert. In Bernkastel lebte ich noch zwei Monate als Junggeselle in recht angenehmem Verkehr mit den Kollegen Amtsgerichtsräten Dr. Rothschild, Dr. Winckler und von Hymmen. Nach der Heirat im Juli hatten wir mit diesen einen recht angenehmen Verkehr. In Bernkastel verlebten wir vier fette und vier magere Jahre. Die fetten Jahre waren von 1910 bis 1914, die vier mageren Jahre von 1914 bis 1918. Schließlich wurde es so mager, daß wir uns noch vor Kriegsschluß nach Rheinbach versetzen ließen, um uns dort wieder zu ernähren. Wir wurden dort von den Pächtern des Schwiegervaters in Büllesheim besser versorgt. In Bernkastel hat meine Frau nach ihrem eigenen Geständnis regelrecht gehungert und sich abends eine Schnitte Brot nicht gegönnt, damit diese anderen Morgens den Kindern zukäme. Es ist gut sich daran zu erinnern. Die Kartoffeln sind uns freilich auch damals nicht ausgegangen.

Wenn ich auf meine Ehe zurückblicke, so kann ich wohl sagen, daß ich das große Los gezogen habe. Sorgen, Krankheiten und Verluste sind uns nicht erspart geblieben, aber alles haben wir mit gutem Mute überstanden. Der erste schlimme Schlag, der uns traf, war ein böses Wochenbett meiner Frau, das sich unglücklicherweise zusammentraf mit einem leichten Rückfall in meiner Lungensache. Unser etwas hilfloses Mädchen holte den ihr bekannten Kreisarzt Dr. Lehmann, der das Ehepaar in einer seltsamen Verfassung antraf. Der Mann lag mit einem Regenschirm im Bett und sprach kein Wort, die Frau lag im Blute und hatte eine Frühgeburt. Es war für den Mann schwierig, sich ernst zu halten, wie er mir später gestanden hat. Da wir mit dem Gesicht zum Fenster lagen, blendete ich das Licht mit dem Regenschirm ab. Wenn ich wegen meiner Lunge im Bet lag, pflegte ich diese Zeit über möglichst kein Wort zu sprechen. Erst als mich der Arzt einige Tage später, als ich ins Fremdenzimmer umquartiert war, genau untersuchte und ich ihm die Gründe meines Verhaltens erklärte, sah er die Sache sehr viel günstiger an und fand meine Erkrankung durchaus ungefährlich. Bedenklicher war die Geschichte mit meiner Frau, es hätte leicht die Folge haben können, daß wir überhaupt keine Kinder mehr bekamen. Wir waren daher sehr froh, als wir im September 1911 unsere Herta bekamen und es war uns wirklich durchaus gleichgültig, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die vier Vorkriegsjahre führten wir wirklich ein recht angenehmes Leben in Bernkastel. Nach Ablauf des ersten Jahres wurden gleich zwei Amtsrichterstellen dort frei. Obwohl ich mich bis dahin nur, und zwar ohne Erfolg, um die Verleihung einer Notarstelle beworben hatte, meldete ich mich auf eine der beiden Stellen und wurde dort auch zum Amtsrichter ernannt. Es war ein behagliches Leben im kleinen Städtchen, das auf etwa dreitausend Einwohner dreißig Kneipen hatte und mindestens etwa zwei Dutzend Schlächter. Man lebte gut und billig dort. Im Weltkriege änderte sich dies leider sehr gründlich. Im Laufe des Krieges kam eine starke Nachfrage nach Wein und alles was mit Wein zu tun hatte, verdiente spielend die Mittel zu einem größeren Lebensbedarf. Die Beamten mit ihren festen Bezügen gerieten derweil ins Hintertreffen. Dazu kam, daß Bernkastel mit Gemüse ohnehin schlecht versorgt ist. Die einheimischen Bauern haben nur so viel, als sie zum eigenen Bedarf anbauen und das alles ziemlich grob. Schon gleich in den ersten Jahren legte ich mir ein kleines Gärtchen zu und zog mir eine ganze Reihe Gemüse selber.

Bei Gericht nahmen die Kollegen Rücksicht auf meinen Gesundheitszustand und so hatte ich die meiste Zeit keine öffentlichen Sitzungen. Ich bearbeitete Grundbuch und Vormundschaftssachen, wechselte auch schon einmal mit dem neuen Kollegen Reinecke, dessen Abteilung. Er hatte nämlich Zivilsachen und kam nie zum Urteil. Er schleppte die Sachen vom Gericht zu seinem Kotten und von seinem Kotten wieder zum Gericht. Nach dem Tausch war er derartig erstaunt über den Umfang meiner Arbeit, daß der den Tausch schleunigst wieder rückgängig machte. Ich arbeitete im allgemeinen schnell und hatte viel Zeit übrig, zumal in den Jahreszeiten, in denen Winzer und Bauern stark beschäftigt waren. Die meiste Freude machte mir die Bearbeitung der Vormundschaftssachen. Die Vormünder taten meistens nichts und der Richter mußte alles machen. Von der Justizverwaltung wurde dies berücksichtigt und meist noch ein Hilfsrichter in Bernkastel mitbeschäftigt. Durch meine Tätigkeit als Vormundschaftsrichter hatte ich manchen Einblick in das Leben der Winzerfamilien an der Mosel. In kleinen Familien verursachte neben der Sorge um das tägliche Brot die Beschaffung des Schuhwerks viel Kopfzerbrechen. Man macht sich keine Vorstellung davon, wie anstrengend das Leben der Schuhe der Winzersleute ist. Den ganzen Tag stehen sie in dem Grauwackegestein, stets geht es bergauf und bergab und obwohl die Schuhe bis an die hundert Nägel pro Stück zählen, verschleißen sie ganz gewaltig. Ich erinnere mich, daß in einer Familie die Schuhschulden auf eine Summe von drei- bis vierhundert Mark angewachsen war. Diese wurde erst dann wieder abgedeckt, wenn ein gutes Weinjahr kam.

Stirbt ein Elternteil mit Hinterlassung von minderjährigen Kindern, so schickt das Nachlaßgericht einen Vordruck, worin im Interesse dieser Minderjährigen deren Vermögen möglichst eingehend aufgezählt werden soll. Das Ausfüllen dieser Vordrucke ist für die meisten Leute ein wahres Kreuz und pflegt meistens so summarisch wie möglich zu geschehen. Der Vormundschaftsrichter muß meistens mithelfen. Einmal erlebte ich das Gegenteil. Ein junger Lehrer war der übriggebliebenen Witwe zum Beistand für ihre minderjährigen Kinder beigeordnet worden. Er lieferte ein sauber geschriebenes Vermögensverzeichnis, in dem auch nicht der geringste Gegenstand fehlte. Dieses Vermögensverzeichnis hatte einen hohen kulturhistorischen Wert, denn es gab ein Bild von dem gesamten Hausmobiliar einer mittelgroßen Winzerfamilie um die Jahrhundertwende. Ich habe dieses Aktenstück vor der Vernichtung bewahrt, indem ich groß mit Buntstift darauf schrieb: Staatsarchiv. Es war angelegt worden, da solchen kulturhistorisch wichtigen Urkunden von der Vernichtung ausgeschlossen sein sollten. Ich bin überzeugt, daß es später eine reiche Fundgrube für einen bilden wird, der das Leben der Bauern erforscht.

Auch an vielen sonstigen Sachen erlebte ich meine Freude. In einem kleinen Hunsrückdorfe lebte eine kinderlose Witwe auf einem umfangreichen Bauernhofe. Sie war recht bequem und verkaufte leider den gesamten schönen alten Hausrat, um sich ganz gewöhnlichen Plunder dafür anzuschaffen. Nach und nach verkaufte sie auch ihre Äcker und Wiesen. Da griffen die Bauern der Gemeinde ein und auf ihren Antrag wurde die Witwe wegen Verschwendung entmündigt, nachdem sie noch nicht alles durchgebracht hatte. Manches mußte weiter liquidiert werden. Und im Besitze mehrere Sparbücher war die recht ansehnliche Frau ein begehrtes Heiratsobjekt, meist für ältere dürre Witwer mit mehr oder weniger großer Kinderzahl. Die Bauern der Gemeinde waren sehr dafür, daß sie heiraten sollte, denn an ihrem Treiben wurde lebhaft Anstoß genommen. Ich sorgte dafür, daß sie nicht den ersten besten heiratete. Ich hatte allerhand Erlebnisse mit den verschiedensten Bewerbern. Schließlich heiratete sie einen schon älteren Arbeiter aus der Graacher Schäferei, der keine erwachsenen Kinder mehr daheim hatte. Sie ist ganz glücklich mit ihm geworden. Über die verschiedenen Erlebnisse schrieb ich einen kleine Skizze „Die lustige Witwe im Hunsrück“.

Eine weniger glückliche Angelegenheit war die Vormundschaft über einen wegen Geistesschwäche entmündigten Stadt- und Bürgermeistereisekretär Bildhauer. Dieser war ein sehr tüchtiger Beamter gewesen und hatte die Geschäfte gleich zweier Bürgermeistereien gut geführt. Er war ein hervorragend talentierter Mann, es war ihm aber längst vor meiner Zeit in irgend einer Form ein Unrecht geschehen, damit hatte er sich nicht abfinden wollen und war zu einem unleidlichen Stänkerer geworden, der seine ganzen Fähigkeiten dazu benützte, um die unmöglichsten Szenen gegen alle möglichen Behörden in Gang zu setzen. Er mußte als Beamter abgesetzt werden, wobei auch durch eine Dummheit der verschiedenen Bürgermeister seine Pensionsansprüche gegen eine Provinzialkasse verloren gingen. Ich  hatte mir lange Zeit, nachdem er unter vorläufige Vormundschaft gestellt worden war, die größte Mühe gegeben, diese Pensionssache in Ordnung zu bringen, wogegen Bildhauer mir fest zugesagt hatte, in eine andere Landschaft zu verziehen. Durch eine neue Torheit wurde auch dies unmöglich und mir blieb nichts übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und ihn zu entmündigen. Das Material war längst beisammen, es war ein typischer Fall einer vollendeten Paranoia Querulatoria. Ich war so klug, diesen Beschluß durch einen Vertreter während meiner Abwesenheit aussprechen zu lassen, weil ich später als Vormundschaftsrichter mit ihm weiter zu tun hatte. Jetzt begann ein herrliches Schauspiel, das ich im großen und ganzen vorausgesehen hatte, dessen Einzelheiten aber immer wieder neue Seiten der menschlichen Seele zum Vorschein brachten. Alle blamierten sich dabei so gut sie konnten. Zunächst wollte keiner Vormund werden. Ich hatte verbreiten lassen, daß ich mich streng an den Vorschlag des zuständigen Gemeindewaisenrats, des erfahrenen Hammelschlächter Stüttgen halten werde. Dieser schlug einen Bernkasteler Bürger vor, Roderfeld mit Namen, Schwager von Notar Astor, der eine Weinkellerei Astoria besitzt. Bei Weigerung hat der Vormundschaftsrichter das Recht, dreimal eine Ordnungsstrafe bis zu 300 Mark auszusprechen. Ich hatte durch den Volksmund verbreiten lassen, daß ich in diesem Falle nur einmal, und zwar gleich 300 Mark erheben würde. Dies hatte den Erfolg, daß Roderfeld das Amt, wenn auch seufzend, übernahm. Vermutlich hat er es heute noch. Um ihm sein Leben zu erleichtern, erfand ich zwei vervielfältigte Drucke a) und b). In dem einen war etwas kürzer, in dem anderen ausführlicher die gesamte Rechts- und Tatsachenlage auseinandergelegt und insbesondere nachgewiesen, daß Bildhauer unpfändbar sei und den Offenbarungseid geleistet habe. Je nach den Anfeindungen, die sein Vormund erfuhr, wurde den Betreffenden, die sich mitunter gewaltig erregten, Formular a) oder Formular b) zur Besänftigung zugeschickt. Da kamen die tollsten Dinge vor. Ein märkischer Kaninchenzüchter ließ sich beschwindeln und sandte einen Kaninchenzuchtbock gegen Nachnahme. Dessen Annahme wurde verweigert und das wertvolle Kanin unter den Bahnbeamten versteigert. Die Differenz wurde von einem jüdischen Advokaten in Potsdam eingeklagt, der sich nur sehr schwer wieder beruhigen wollte. Juwelierlieferanten hatten ihm Sachen zugeschickt, unvorsichtigerweise nicht gegen Nachnahme, und sahen sich um ihr Geld betrogen. – Der Verkehr mit Reben in den verschiedenen Weinbaubezirken unterliegt einer sehr strengen Kontrolle. Bildhauer handelte mit Reben nach seinem Belieben. Der Staatsanwalt erhob Anklage und Bildhauer wurde auf das ausführliche Gutachten des Kreisarztes freigesprochen. Der Oberstaatsanwalt in Koblenz rumorte gewaltig und forderte vom Vormundschaftsrichter dringend geeignete Maßnahmen, um diesen Unfug zu steuern. Dir werde ich schon helfen, dachte ich, und schickte sämtliche Akten Bildhauer, die fast eine Viertel Stube füllten, der Staatsanwaltschaft in Koblenz mit ausführlichem Bericht zu und versicherte, ich wäre sehr dankbar dafür, wenn sie mir einige Vorschläge machen wollten. Wie ich vorausgesehen hatte, kam die Sache nach Kenntnisnahme einfach zurück. Der Stadtbürgermeister von Bernkastel, Simonis – genannt der dicke Philipp – behandelte diese Sache ganz ohne Humor, hatte persönliche Angst vor Bildhauer, der gedroht hatte, ihn über den Haufen zu schießen, und versuchte, ihn und seine Familie verhungern zu lassen. Dagegen sorgte ich dafür, daß die Familie wenigstens Brot bekam. Gegen diesen Bürgermeister hatte sich Bildhauer in eine sinnlose Wut hineingearbeitet, hatte dessen Liebesleben als Junggeselle ans Tageslicht gezogen und schließlich hatte ich bei Bildhauer in all seinen amtlichen Eingaben (es erfolgten solche fast täglich) folgenden Rubrum herausgebildet: Auf einem guten einfachen linierten Bogen, der links oben das Prägewappen von Bildhauer trug, stand oben rechts folgende stereotypische Formel:
In meiner durch die Meineide, Amtsverbrechen und die öffentliche Hurerei des Bürgermeisters Simonis, im gleichen durch die Amtsverbrechen des Amtsrichters Dr. Rech verursachten Entmündigung . . .
dann kam der Text, z. B. lege ich hiermit Einspruch ein gegen den mir zugestellten Mahnbefehl auf Zahlung von 15 Mark wegen gelieferter Enteneier.
Solche Sachen erregten meine ungeteilte Heiterkeit, womit ich allerdings alleine dastand, denn die meisten Leute ließen sich durch B. nervös machen und es wurden dann immer wieder Fehler gemacht. Da er nur beschränkt geschäftsfähig war, waren die Zivilprozesse, die er sehr zahlreich führte, voller häßlicher Sachen und es verging fast keine Woche, daß nicht irgend eine Abteilung des Amtsgerichts in Sachen B. einen Bock machte. Bildhauer griff dies immer sofort auf und spann die Sache immer endlos weiter. Er hatte ein System erfunden, die Post ohne Porto zu benützen wie ein regierender Fürst. Der Postdirektor kam sich klug vor und rühmte sich beim Dämmerschoppen, er werde B. schon beikommen. Ich lachte mir ins Fäustchen und behielt recht. Nach einiger Zeit mußte der Postdirektor bekennen, daß auch für ihn an Bildhauer Hopfen und Malz verloren waren. Im Kriege, den ich hauptsächlich noch von 1914 bis 1918 in Bernkastel erlebte, kam Bildhauer unversehens zu Geld und einem gewissen Ansehen: Er war einer der wildesten Schieber, weil man ihm nichts machen konnte und er jenseits von Gut und Böse in einer Sphäre lebte, „wo Geltscherluft wehte“, wie ein Witzbold sich ausdrückte. Jedenfalls bin ich meinem Grundsatz treu geblieben, mich über ihn nicht zu ärgern, auch wenn er noch so ausfällig wurde. Daß ich ihm im Grunde wohlgesinnt war, hat er wohl gespürt. Jedesmal, wenn ich mich mit einem Bernkasteler unterhalte, stelle ich fest, daß Bildhauer noch lebt und weiter „bildhauert“.
 

Familiärer Verkehr

Meine Frau und ich hatten fest damit gerechnet, nur auf eine kurze Zeit in Bernkastel zu bleiben, es wurden aber acht Jahre daraus, darunter vier Kriegsjahre. Wir hatte keine Besuche gemacht und waren auch nicht dem Kasino beigetreten. Wir hatten unseren Verkehr auf diejenigen Familien beschränkt, mit denen wir dienstlich oder gesundheitlich zu tun hatten. Dazu kamen noch die Weingutsbesitzer Thanisch, deren ältester Sohn Anton Thanisch mein Mitschüler in Bonn gewesen war. Natürlich konnten wir nicht verhindern, auch den einen oder anderen noch kennen zu lernen. Schließlich hatten wir einen festen Kreis, in dem im Winter fast jedesmal einmal in der Woche ein Abendessen stattfand. Hier trafen sich immer wieder dieselben und nur insofern war eine Spaltung, die jeder gewissenhaft beobachten mußte, als der Kreisarzt nicht mit dem aufsichtsführenden Amtsrichter zusammen eingeladen werden konnte. Amtsgerichtsrat Rothschild war nämlich Jude und der einzige jüdische Richter im Westen der preußischen Monarchie. Man hatte ihn über zehn Jahre lang als Gerichtsassessor heraushängen lassen, bis er endlich doch etatmäßig und dann seines hohen Dienstalters wegen sofort Aufsichtsführender wurde. Eine Amtsgerichtsstelle in Bernkastel wurde für einen dienstälteren Kollegen wie saures Bier ausgeboten. Alles ohne Erfolg, der Jude war und blieb Aufsichtsrichter. Als solcher erfreute er sich nur eines sehr geringen Wohlwollens seiner vorgesetzten Behörde und man legte ihm Steine in den Weg, wo man nur konnte. Darüber wurde er verbittert und schaffte sich Luft, indem er sich mit dem originellen Amtsgerichtsrat von Hymmen darin verband, eine wüste Hetze gegen Notare zu betreiben. Von Hymmen, ein älterer sehr origineller aber ebenso verdrehter Junggeselle, der richtige Sohn seines Vaters, der als Landrat a. D. von Hagen sein Alter als Erzstänkerer auf seiner Burg in Endenich verlebt hatte. Hiermit erklärte er die Notare für Lumpen und Leuteschinder und führte einen heftigen Kampf gegen sie, indem er sie durch geringere Gerichtsgebühren überbot und auch alle Abmahnungen seiner vorgesetzten Behörde ungeachtet ein regelrechtes „Notariat“ durch Referendare in der Weise betrieb, daß diese Privaturkunden schmieren mußten, zu denen dann nur Auflassungen erfolgten. Hymmen hieß infolgedessen der Notar Ludwig. Er führte seinen Kampf unverdrossen. Während Rotschild ihm das Material lieferte, warf Hymmen die Steine. Dieser Kampf hatte schon jahrelang getobt, ehe ich dorthin kam. Als Prädikatsassessor und ausgesprochener Notariatskandidat geriet ich in den gänzlich falschen Verdacht, von der Justizverwaltung als eine Art Spion dort eingesetzt zu sein. Ich machte mir nichts daraus, hatte aber bei aller guten Bekanntschaft mit Hymmen einmal einen heftigen Zusammenstoß wegen dieser falschen Beurkundungen.

Der Kreisarzt Dr. Robert Lehmann, heute noch regierender Medizinalrat in Düsseldorf, war erklärter Antisemit, sprach mit einem Juden nur das Notwendigste, gab keinem Juden die Hand, weder er noch seine Frau kauften bei Juden das geringste. Wurde Rotschild eingeladen, so war es unmöglich, Lehmann dazu einzuladen und ebenso umgekehrt.

Abgesehen hiervon sah man immer die gleichen bei den gründlichen und ausgiebigen Abendessen, die damals stattfanden. Der ausgezeichnete Wein der Mosel schärfte die Zunge und einer überbot den anderen mit Leckerbissen jeder Art. Ich habe mir ein Aktenheft angelegt, in dem ich die von uns gegebenen Essen registrierte mit allen Gästen, Gängen, Weinen, Zutaten, Kosten und Resten, welche die ganze Woche verzehrt werden mußten. Diese Gastereien wurden allmählich immer üppiger und wir machten anfangs kräftig mit, zumal uns Mutter Reitmeister von Bonn aus dabei unterstützte und uns die schönsten Gerichte aus dortigen Lebensmittelgeschäften zukommen ließ: z. B. fette rheinische Poularden usw. In Bonn war damals die Blüte des Rentnerlebens, Lebens- und Genußmittel jeder Art von der feinsten Sorte strömten dort in Massen zusammen und die Delikatessengeschäfte waren auf der Höhe. Ein Freund meines Schwagers Reitmeister, Regierungsbauführer Heck, der später bei der Dessauer Gas eine große Rolle spielte, leitete damals einen Umbau des Bonner Güterbahnhofs und konnte in spaßhafter Form den Umschlag an Stückgütern beschreiben, welche fast ausschließlich aus Fressalien und Saufalien bestanden.

Wir machten dies eine zeitlang mit, führten dann aber eine Reform der Vereinfachung ein, die bald allgemeinen Beifall und eifrige Nachahmung fand. Anstelle des üblichen Biersiphons legten wir ein kleines Bierfaß auf und schenkten nach Tisch frisches Bier vom Faß. Es gab in Bernkastel zwei Brauereien, die gutes Bier lieferten. Hieraus entwickelten sich, zunächst für die Junggesellen, förmliche Bierabende und bei dem Junggesellen Amtsrichter Reinecke wuchsen sich diese zu förmlichen Bierfesten aus. Solch ein Bierfest begann mitunter schon vormittags, dauerte den ganzen Tag bis in den Abend, dazu gab es unendlich große Würste und riesige Brote, von denen sich jeder selbst herunterschnitt. Nach wenigen Stunden war der Landrat, der nicht viel vertragen konnte und desto eifriger trank, vollständig beschwipst.

Jeden Montag versammelten sich die „Hergelaufenen“, meistens Akademiker, in einer Doctorweinstube genannt Pop zu einem WABC gleich Wissenschaftlicher Abend Bernkastel Cues. Neu angekommene Referendare mußten hierzu eine wissenschaftliche Arbeit liefern, für die ein Referent und ein Koreferent bestellt wurden. Manche von den bestellt wurden. Manche von den jungen Dächsen nahmen dies blutig ernst und merkten erst später bei der feierlichen Aufnahme in diese Akademie der Wissenschaften und Künste bei der Verleihung eines riesigen Ordens am großen Band, daß das ganze natürlich alles spaßhaft war. Dementsprechend war der Ton der ganzen Unterhaltung, welche alles und jedes mit einer sanften Ironie übergoß und vieles mit großem Ernst höchst scheinheilig behandelte. Die Klerisei hatte ein gesundes Mißtrauen gegen diesen wissenschaftlichen Abend und hielt ihn für eine Art Zweigstelle von Freimaurern, was uns wieder höchlichst amüsierte. Vorsitzender dieses Abends war ein martialisch hochgewachsener älterer Stabsarzt in Ruhe Dr. Deblin, ein Rassejude aus dem Geschlecht der Makkabäer – genannt der Sally. Unter seinen Stammesbrüdern war er eine große Ausnahme, bereits sein Vater war Oberstabsarzt in der preußischen Armee gewesen, der einzige sogenannte Renommierjude der Armee, und hatte sich Verdienste im Jahre 1870/71 erworben. Sally war sehr humorvoll und fing an zu zaubern, wenn er etwas beschwipst war. Er pflegte dann nicht nur ein Monokel ins Auge zu klemmen, sondern sich gelegentlich auch einen Taler auf die Stirn zu kleben. Als Junggeselle bewohnte er sein schönes Elternhaus in der Nachbildung einer riesigen Traube auf der Graacher Straße dicht hinter dem Graacher Tor. Diese Gasse war eine wirkliche Schwindt’sche Idylle in dem Städtchen Bernkastel.
 

Die sonstigen Juden

Außer dem Amtsgerichtsrat Rotschild, der den Typus eines aristokratischen Juden verkörperte, war der Besitzer des Gaswerkes, ein Dr. Nathan Wolf, Schwager von Deblin, der im Gegensatz zu seiner gutaussehenden Frau den Typus einen vollkommenen Proletariers darstellte.
gegenüber von uns in der Kaiserallee wohnte eine Judenfamilie Thal. Der alte Vater und der Sohn betrieben einen schwunghaften Pferdehandel. Auch sonst gab es noch Juden genug. Viele von ihnen hatten die Bauern und Winzer in der Hand und die Kreis-Sparkasse führte einen heftigen Kampf gegen das ungeordnete Kreditgeben der Juden, die namentlich als Händler, so z. B. in Niederemmel und Trittenheim saßen und die Leute bevorschußten. Mancher Winzer und Bauer geriet dadurch, daß die Zinsen eingetrieben und höher wurden, ins Unglück und verlor Haus und Hof. Namentlich das große Winzerdorf Wintrich war diesen Juden stark verschuldet. Der Kreis-Sparkassendirektor und ich gaben uns große Mühe, die Bauern zur Kreis-Sparkasse zu bringen. Jedenfalls hatten die Bauern ein gewisses Vertrauen zu mir, denn noch nach vielen Jahren wandten sie an mich, um die Grundbuchverhältnisse an einer alten deutschen Markgenossenschaft zu regeln, die den schönen Namen Stierhof führte. Aus alten Zeiten war noch ein erheblicher Grundbesitz geblieben und dieser diente dazu, zur Entlastung der Gemeinde einen Stall mit Zuchtstieren zu halten.

Über die Judenfrage wurde natürlich oft und heftig diskutiert, zumeist natürlich in Abwesenheit des Kreisarztes Dr. Lehmann, für den es gar keine Judenfrage gab und der immer alles ablehnte. Bei meinem Amtsantritt im Jahre 1910 wechselte der Landrat. Anstelle des von Hammerstein trat ein von Nasse. Unter Hammerstein fand einmal zwischen ihm, Rechtsanwalt Schönberg, der ziemlich jüdisch aussah, aber reiner Arier war, Deblin, Rotschild und dem arischen Oberförster Bauer, der aus Hessen stammte, eine Diskussion über die Judenfrage statt, bei der zum Schluß Schönberg alle Fragen dahin zusammen zu fassen suchte: Die Juden sind wohl und schlecht, die Christen ebenso, jeder soll sich aber für sich halten, was ich gar nicht schätze und nicht leiden kann, das ist der jüdische Verschnitt. Dabei tappte ihm der Oberförster Bauer auf seinen Fuß und Schönberg fiel zu seinem Schreck ein, daß der Landrat von Hammerstein, der eine jüdische Kölner Bankierstochter geheiratet hatte, die ihn mit einem jüdischen Agenten betrogen hatte und ihm durchgebrannt war, zu Hause den jüdischen Verschnitt in mehreren Exemplaren auf Vorrat hatte. Das alles klingt mir heute wie Märchen aus alten Zeiten, alles hat sich auch dort natürlich seit 1933 grundlegend geändert.
 

Das Männersterben

Kurze Zeit, ehe ich dorthin kam, war unter den Männern im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren ein starkes Absterben mode gewesen. Der tägliche Umgang mit dem Alkohol führt natürlich dazu, daß er immer wieder probiert werden muß, um sich ein gründliches Urteil zu bilden. Daneben war Bernkastel ein Saufnest aller ersten Ranges. Damals hatte sich auch der Brauch herausgebildet, sich an dem Federweißen gütlich zu tun. Dieses ist der Wein im Anfangstadium der Gärung, wo er noch milchweiß ist. Er schmeckte seltsam säuerlich und prickelnd und verführte leicht zu mehr trinken. Ein übermäßiger Genuß davon führte zu tollen Erkrankungserscheinungen, Herzkrämpfen und sogar zu Todesfällen. Es waren damals schlimme Zeiten für die meist beschäftigungslosen Großgrundbesitzer und Weingroßhändler. Den Mann meiner Hauswirtin Liell ereilte das Geschick mitten auf der Brücke in Gestalt eines tödlichen Herzschlages und so andere mehr. Es fand eine scharfe Auslese statt, und die sie überwanden, lebten um so länger, obwohl sie keineswegs vom Trinken ließen. Es ist eine eigene Sache damit, daß man zu jeder Tages- und Nachtzeit Wein in mehr oder minder unbegrenzter Menge im Keller liegen hat und man davon nach Belieben nehmen kann. Manch einer kann da der Versuchung schlecht widerstehen und ich bekam Verständnis dafür, daß Ohm Johann in Olsdorf niemals Wein trank, obschon er genug im Keller hatte. Kurz vor meiner Zeit hatte mein früherer Mitschüler Tünn Schmitz mit seinem Vetter Hugo Thanisch eine Schiffsreise gemacht und Hugo war im Anschluß daran gleich in eine Entziehungsanstalt gegangen und hatte dann wirklich jahrelang keinerlei Alkohol zu sich genommen, eine Leistung in Bernkastel, deren Größe nur zu beurteilen vermag, der selbst dort gelebt hat. Er ging dann eine törichte Wette ein und hatte das Unglück mit einer vollkommen überstürzten Ehe und so konnte er seinem Thanischschicksal nicht entgehen und endete im Suff. Sein jüngerer Bruder Paul trank eigentlich mäßig für einen Bernkasteler und ich erinnere mich nicht, ihn je tipsy gesehen zu haben. Aber er hatte eben oft eine kleine Stärkung nötig und darin liegt der Fehler. Er trank eben sehr oft ein „Weniges“. Dabei war seltsam zu beobachten, wie ihn eine unüberwindliche Unruhe bei Eintritt der Spätnachmittagstunde überfiel, sobald er sich im Weichbild seiner Vaterstadt befand. Dieses Weichbild erstreckte sich recht weit und umfaßte fast den ganzen Bernkasteler Hinterwald. Waren wir dort zur Birsch, so kam es zum Frühabend über ihn und er ruhte und rastete nicht, bis wir vor Lauer Bierstube am Gestade standen und dort zum Dämmerschoppen einwechselten. Trennte uns ein weiteres Tal von der Heimat, so überfiel ihn dieses seltsame Heimweh nicht. Als wir uns dagegen einmal zu gemeinsamer Kur in Leysin im Kanton Waadt bei Freund Bruhns aufhielten, überfiel ihn um die gleiche Stunde diese „heimatliche Sucht“ und trieb ihn unwiderstehlich zur Kneipe. Er konnte mir dann hinterher so viel von der Billigkeit und Güte der Getränke dort erzählen, daß ich ihm den Gefallen tat, seiner Einladung dorthin zu folgen. Ich erlebte dann, daß er dort ebenso schweigend da saß und seinen Wein in stiller Melancholie trank wie daheim seinen Abendschoppen bei Lauer. Überhaupt wollte es mir so vorkommen, als ob über dem Moselfranken unabwendbar eine leise und stille Melancholie läge, sehr im Gegensatz zum Rheinfranken, der beweglicher und fröhlicher von Natur ist. Dasselbe ist wohl auch bei dem Eifeler der Fall. Unsere Hauswirtin, Frau Witwe Liell, die angeheiratete Tante der Thanischs, die aus einer Prümer Familie Plaum stammte, war ein gutes Beispiel hierfür: Ziemlich früh Witwe geworden, mit einem gesunden Eifeler Mißtrauen ausgestattet, beargwöhnte sie alle Handwerker, die in ihrem Hause verkehrten, derart, daß ich schon mal sagte, mit so offen gezeigtem Mißtrauen gebe sie den Leuten förmlich die moralische Berechtigung, sie zu übervorteilen. Die Kluge sah dies vollkommen ein, änderte aber nichts an ihrem Verhalten. So hatte sie mancherlei Ärger und dazu den vielen und guten Wein im Keller. Sie hatte stets glitzernde Äugelchen und hatte überraschende Übergänge von manchmal nicht recht erklärbarer Lustigkeit zu heftiger Verkehrtheit. Später lernte ich das besser verstehen. Wir beobachteten, daß das Mädchen öfter morgens zwei oder drei leere Weinflaschen herunterbrachte und uns auf Befragen erklärte, das sei Frau L. Nachstärkung! Seitdem wußte ich, daß sie zwar nie betrunken, aber auch nicht ganz nüchtern war. Zur Bekämpfung des Nachdurstes pflegte sie nachts einige halbvolle Flaschen unter dem Bett liegen zu haben, deren sie sich nach Bedarf bediente. Überall im Hause hatte sie eine mehr oder minder angebrochene Weinflasche stehen und oft genug sah ich sie ein „Butterbrötchen“ essen und dazu einen Schluck trinken. Daher die funkelnden Augen. An einem Tage aber habe ich sie richtig gesehen. Es war an einem Sonntage, der unter dem Zeichen der blauen Kornblume stand. Es herrschte eine lustige Stimmung und Frau Liell, die ihre Schwester, Frau Alf, zu Besuch hatte, lud uns nachmittags zu einer Bowle ein. Es war die einzige Bowle, die ich in acht Jahren an der Mosel getrunken habe. Sie war ganz köstlich. Man hatte dazu firnealten Wein und ganz spritzigen guten jungen Wein genommen. Sie mundete so ausgezeichnet, daß Frau Liell schon am hellen Nachmittage genug hatte und sich alsbald ins Bett begab. Vorher hatten wir noch eine Aufnahme gemacht, die sie mit einem Strohhut und in ziemlich vorgerückter Verfassung zeigt.

Auch mein Freund Paul Thanisch, mit dem und mit dessen Frau wir in näheren Verkehr kamen, zeigte diese Eigenschaft des häufigen Trinkens. Schöneberg behauptete, allen Thanischs sei es vorbestimmt, vom Trinken zu sterben. Dem ältesten Bruder von ihnen, meinem Mitschüler Anton Thanisch, war dies nicht beschieden, er lebte in einer wenig glücklichen Ehe und fiel im Herbst 1915 als Artilleriehauptmann vor dem Feinde, nachdem er vorher einen erschütternden Brief an seine gute Mutter geschrieben hatte, der voller Todeszuversicht war.
 

Kaufleute

Der gewöhnliche Werdegang eines größeren Grundbesitzers war der, daß er oder seine Vorfahren zunächst Kaufleute waren. Ein Kaufmann, der es allerdings nicht zum Weingutsbesitzer gebracht hatte und auch sonst ein rechtes Original war, hieß Dillinger. Er war ein Junggeselle von langer schmaler Figur mit einem blassen nervösen Gesicht mit ein Paar lebhaft funkelnden braunen Augen, der Kopf war ganz durchgeistigt und er war ein Kleinstadtoriginal erster Güte. Er rühmte sich wohl mit Recht, daß seine Vorfahren schon mehrere hundert Jahre Kaufleute in Bernkastel gewesen seien. Er führte den Spitznamen der Kaufmann „Durch und durch“ oder der Kaufmann „Comme il faut“. Er hatte sich wohl gelegentlich selbst so bezeichnet. Er besaß eine große und reichhaltige Sammlung von kulturhistorisch interessanten Gegenständen, welche in ihrer Gesamtheit eine sehr gute Grundlage für ein Heimatmuseum hätte bilden können. Namentlich war darin eine sehr reichhaltige Sammlung von gußeisernen Ofenplatten aus der näheren und weiteren Umgebung von Hunsrück und Eifel, zum Teil auch mit noch gotischen Bildwerken. Er zeigte die Sammlung nicht leicht einem, zu mir aber hatte er Vertrauen und ich erinnere mich, daß manches Interessante darunter war, zum Beispiel ein Paar steinharte aber wohl erhaltene nagellose Mannsstiefel, mit denen früher die zu kelternden Trauben in dem Bottich durch Zertreten gequetscht wurden. Ich habe mich oft und mit großem Genuß mit ihm unterhalten. Er war wirklich ein ehrlicher Kaufmann, der alle Schiebungen ablehnte. Es mag auch der Grund dafür gewesen sein, daß weder seine Vorfahren noch er es zu Großgrundbesitzern gebracht hatten. Im Kriege war mir wegen meiner Verdienste für die Kriegsbeschädigtenfürsorge und mit Rücksicht auf die wacklige Gesundheit meines Körpers vom Landrat ein Pfund Butter die Woche zugebilligt worden. Diese bezog ich von Dillinger und es war manchmal nicht einfach, sie in der Zeit der Not in Empfang zu nehmen, wenn die Leute ohnehin gereizt waren. Dillinger aber blieb stets ruhig und klärte die Leute auf. Ich habe gehört, daß er längst gestorben ist und weiß nicht, wohin die Ergebnisse seiner langjährigen Sammlertätigkeit geraten sind.

Offensichtlich fehlt hier ein Teil des Textes.

. . . Verschiebung in dem Besitzverhältnis durch den Krieg. Eine solche habe ich in meinen Bernkasteler Jahren gründlich an vielen Familien entdeckt. Grundsätzlich waren es Leute, die von außen kamen und durch rücksichtsloses Geschäftsgebaren die alten eingesessenen Familien zu überflügeln pflegten. Ich schrieb damals humoristisch gefärbte Artikel unter dem Strich in der Kölnischen Zeitung unter der allgemeinen Überschrift „Aus Kunst, Wissenschaft und Leben“. Die Abschrift eines solchen Aufsatzes über dieses Thema kann ich hier einlegen.

Gemeindlich pflegten diese neuen Kaufleute einen riesigen Fleiß und eine große Betriebsamkeit zu entwickeln. In grellem Gegensatz dazu standen dann einige Nichtstuer.
 

Nichtstuer

Diese bevölkerten das Gestade und hielten sich namentlich gerne an einem sonnigen Plätzchen an der Mosel vor dem Landratsamt auf. Hier konnten sie stundenlang beieinander stehen ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ein Onkel Hugo Thanisch, Vatersbruder meiner Bekannten, der in seinem früheren Leben ein scharfer Jäger und auch einmal ein bedeutender Bienenzüchter gewesen war, gehörte zu dieser Genossenschaft. Er war schon etwas bei Jahren und sah das Leben gelassen an. Er konnte gelegentlich von grimmem Humor sein. Als sein ältester Neffe, Anton Thanisch, mein Mitschüler, eine evangelisch Dame, die Tochter der Eheleute Hüßgen und geboren in Traben-Trarbach, heiratete und die Hochzeit einmal in einer katholischen und einmal in einer evangelischen Kirche vollzogen vollzogen wurde, schlug er vor, nun auch in eine Synagoge zu gehen. Von dieser Hochzeit wurde noch jahrelang von einer echten Thanischhochzeit geredet, auf der alles heftig betrunken war.

Sein Genosse war ein alter Besitzer Gribeler, von stattlicher Körpergröße zeichnete er sich namentlich durch den Besitz einer unendlich weiten und großen Hose aus. Er bewohnte das stattliche alte kurfürstliche Zehnthaus, also sozusagen das alte kurfürstliche Finanzamt und brachte die meiste Zeit seines Lebens auf dem besagten Platze vor dem Landratsamt zu. Auf diesem Platze tummelten sich auch noch sonstige, teils zu Ehre und Reichtum gekommene, teils gestrandete und weniger mächtige Bürger der Stadt. Alle vertrugen sich untereinander aufs Beste.
 

Die Fresser

Im allgemeinen wird in einem Lande, in dem der Wein eine ausschlaggebende Rolle spielt, auch gut gegessen. Viktor Hehn hat schon längst diese Beobachtung gemacht, sie traf auch auf Bernkastel zu. In der Tat wurde bei den meisten Bürgern recht gut gegessen. Viktor Hehn hat schon längst diese Beobachtung gemacht, sie traf auch auf Bernkastel zu. In der Tat wurde bei den meisten Bürgern recht gut gegessen. Darüber hinaus hatten es aber einige in solchen Küchengenüssen zu einer ungewöhnlichen Fertigkeit nach Menge und Güte gebracht. Dazu gehörten unter anderem Kollege Ernst Reineke, damals noch langer und dürrer Junggeselle aus dem Hannöverschen, genannt der letzte Romantiker. Das Gegenstück zu diesem war der zwar nicht kleine, aber sehr breite und gewichtige Assessor Schmitz, der aus einem alten Förstergeschlecht aus Trier stammte, ebenfalls Junggeselle. Der dritte im Bunde war Fränzchen Müller, „katholischer“ Kreisschulinspektor des Landkreises Bernkastel, dazu kam noch ein schwarzbebarteter Weinkommissionär, dessen Name mir entfallen ist. In der Bahnhofstraße befand sich dicht vor dem Staatsbahnhof linker Hand eine Kutscherkneipe, deren Wirtin eine frühere Köchin des Hotels „Zu den drei Königen“ von Gassen war. Diese konnte ausgezeichnet kochen und genoß als Lenchen Liell in diesem Punkte allerhand Ansehen im Städtchen. Jene bevölkerten das Herrenstübchen und sorgten dafür, daß zu jeder Jahreszeit die nötigen Essensvorräte vorhanden waren. So wurde im Frühjahr rechtzeitig erste Spargel von Oberrhein beschafft und selbst im Winter sorgte man für frisches Schweineschlachten. Zu letzterem war ich einmal zur Metzelsuppe eingeladen und fand diese so fett, daß ich mir nur mit Hülfe von mehreren Schnäpsen wieder auf die Beine helfen konnte. Unvergessen bleibt mir folgender Fall: Die Kollegen Reineke und Schmitz waren zusammen mit mir und meiner Frau von der Frau des Amtsgerichtsrats Dr. Karl Winckler, Emma geborene Bender, zu einem einfachen Abendessen mit Reibekuchen eingeladen. Die Reibekuchen waren ganz köstlich und ich meine, ich hätte nie bessere gegessen. Wir sprachen dem Gericht fleißig zu und bekamen hinterher noch belegte Butterbrote. Reinecke und Schmitz waren schon bei den Reibekuchen durch eine etwas matte Beteiligung der Hausfrau aufgefallen, setzten aber bei den belegten Butterbroten ziemlich aus. Dies war so auffällig, daß die Hausfrau ordentlich beleidigt war und nach einigem Bohren den Grund des schwachen Appetits herausbekam: die beiden hatten in Erwartung des einfachen Abendessens sich zunächst bei Lenchen Liell eine ganze Gans braten lassen und diese zu zweit verzehrt. Frau Irma war mit Recht ordentlich beleidigt.

Eine tragische Wendung nahm diese übertriebene Eßsucht im Kriege. Fränzchen Müller, der wohlbeleibte Kreisschulinspektor, erlitt bei einem einfachen Spaziergang in der Gegend des Cueser Hafens einen Schlaganfall, fiel auf das Gesicht und erstickte. In seinem Nachlaß fanden sich alle Schubfächer voll von Würsten und Räucherwaren, von handhohem Schimmel bedeckt. Müller hatte sich vor der Hungersnot gefürchtet und seine Vorräte waren ihm förmlich über den Kopf gewachsen. Da er nicht kirchlich gesinnt war, wollte man ihn sang- und klanglos an der Kirchhofsmauer verscharren. Den Bemühungen seiner Freunde war es zu verdanken, daß unter Führung des evangelischen Geistlichen ein großes Begräbnis stattfand, an dem sogar einige katholische Geistliche in ihrer Eigenschaft als Ortsschulinspektoren teilnahmen. Es war ein dunkler Tag voll dicken nassen Nebels. Ich hatte mich dem Leichenbegängnis anfangs angeschlossen, war aber dann schleunigst wieder nach Hause geeilt, weil mit ein heftiger Hustenanfall überfiel und ich ernsten Schaden für meine damals recht schwache Lunge befürchtete.
 

Spitznamen

Der leibenswürdige Brauch, seinen Mitmenschen sowohl wie den benachbarten Orten Spitznamen zu geben, blühte auch in Bernkastel. Da spazierte ein älterer Großweinhändler Wehr, der ob seiner riesigen Glatze den Beinamen „der Bleckes“ führte. Durch seine eifrige Propaganda für die damals noch ziemlich unbekannte Einrichtung des Postscheckkontos hatte er sich auch den Titel eines Postscheckrats erworben.

Gelegentlich eines Besuches des Dichters und Schauspielers Frank Wedekind in dem vom Wetter begünstigten Herbst 1915 hatte dieser mich, da ich öfters mich unter Berufung auf ein gesund zu führendes Leben beglückt hatte, den „Gesundleber“ getauft.
Die Bernkasteler nannten die Wittlicher die Säubrenner, vermutlich war bei ihnen der Brauch, eine geschlachtete Sau mit Strohfeuer abzubrennen, länger im Gebrauch geblieben, während andere schon dazu übergegangen waren, das angesottene Schwein mit dem Messer zu schaben. Weniger schön hießen die Graacher „Esel“, die Zeltinger „Reisfresser“ die Ürziger „Rotschwänze“, die Lösenicher „Schnälesplisser“, die Cueser „Schweden“. Infolge der engen Bebauungsweise der Stadt Bernkastel, die sich an einige schale und tief eingeschnittene Felsentäler preßte, war im Altteil der Stadt ein bedenklicher Mangel an Abtritten und ich habe es selbst aus Rechtsstreitigkeiten erfahren, daß sich einige Häuser mit gemeinsamen „stillen Örtchen“ behelfen mußten. Daher von alters her der Drang, sich der größeren Geschäfte einfach an der Straßenecke zu entledigen. Die Bernkasteler hießen daher die „Barescheißer“, d. h. die ihr Geschäft in der Hockestellung erledigten. In dem seltenen spritzigen Moselführer des früheren A.G.R. Bresgen, worin dieser manche Flurnamen umwandelte, befindet sich ein Abdruck eines höchst amüsanten Berichtes des Polizeibeamten Scubonius über diesen Straßenmißbrauch der „Berrekesseler“.
 

Jagd und Wein

Ja, Mensch, was willst du eigentlich hier, wo du nicht trinkst und nicht auf die Jagd gehst? meinten meine Bonner Schulgenossen, die ich in Bernkastel wiederfand. Sie hatten so Unrecht nicht, ich ging aber in mich und beschritt den Weg der Besserung. Mein Magen konnte den „sauren“ Moselwein nicht vertragen. Oberförster Bauer, der aus Hessen stammte, mit der Zeit aber ein Kenner der Mosel, ihrer Bewohner, Weine und Wälder geworden war, gab mir da einen guten Rat: Trinken Sie keinen Wein, der jünger als drei Jahre ist, keinen, der billiger als drei Mark die Flasche kostet (dafür kaufte man 1910 eine gute Kreszenz) und nehmen Sie stets eine ganze, denn auf der halben Flasche gedeiht der Wein nicht. Ich habe den dreifachen Rat gewissenhaft befolgt und bin gut dabei gefahren. Die nächtliche Unruhe nach Weingenuß verlor sich, kein Haarweh am anderen Morgen und der Geschmack verbesserte sich. Im allgemeinen pflegte man in Bernkastel weniger bei Tisch als vielmehr nach Tisch zu trinken. Dabei wurde der Wein schnell und oft gewechselt, was mir keinen Spaß machte. Ich trank lieber dieselbe Sorte über eine längere Zeit und so hatte sich bei Paul Thanisch der Brauch gebildet, mir schon gleich zu Anfang eine Flasche Bernkasteler Ley 1910 hinzustellen, aus der ich dann langsam und sicher mein bescheidenes Quantum zöppte. Helene beteiligte sich mit an dem raschen Wechsel und Probieren einer Reihe von verschiedenen Weinen, wobei sie gut lernte und bald als Kennerin mit guter Zunge galt, eine Sache, die einem besonderes Ansehen brachte.

Ich war verschiedentlich mit Paul Thanisch als einfacher Spaziergänger mit auf die Jagd gegangen und hatte dabei den seltsam prickelnden Reiz des Jagens kennen gelernt. Beim Aufenthalt auf der landschaftlich sehr schön gelegenen Jagdhütte bei Merscheid im Hunsrück hatte ich hatte ich mich mit Ofeneinheizen, Backen frisch gefangener Forellen, Braten von Rehlebern und Ausbacken von tüchtigen Eierkuchen nützlich zu machen versucht und hatte dabei etwas den Jägern abgesehen. Ich wurde gern mit zu Jagdwanderungen, ja schließlich auch mit zur Pirsch genommen, man stellte ein Examen mit mir an: An einer blanken Buche wurde ein handbreites Stück Rinde ausgeschnitten, aus vierzig Meter Entfernung mußte ich mit der Büchse darauf zielen und traf genau in der Mitte. Kurz vor Weihnachten nahm man mich mit auf eine fernabgelegene Jagd, postierte mich an die Ecke eines Tannichts aufs freie Feld und gab mir eine Flinte in die Hand. Da ich ausgezeichnet höre, so wurde mir bald klar, daß sich leise ein Wesen näherte, man winkte mir noch unnötigerweise, ich aber verhielt mich mäuschenstille, bis der Hase gegen den Wind mir fast auf die Füße gelaufen kam. Dann erst legte ich an und er überschlug sich im Feuer und war mausetot. Ein riesiger Tannenbruch zierte den glückhaften Jäger und die Jagdbeute wurde seiner Frau in die Küche verehrt. Das war mein erster und letzter Schuß auf ein Wild. Pflichtgemäß beschaffte ich mir alsbald einen Jagdschein. Damit ging ich noch öfter mit auf die Jagd, hatte allerhand Erlebnisse, schoß aber nie mehr wieder. Nur einem solch grünen Neuling wie mir konnte passieren, daß ihm im Dämmerlicht eines verschneiten Wintertages eine Rotte von Jungsauen vor die Flinte kam, er aber nicht zum Schießen kam, weil er im Zweifel war, ob er sich auch diesseits der Grenze des Jagdreviers befand. Er zog also seine Karte heraus, stellte mühsam und umständlich fest, daß die Jagdgrenze hier mit einem scharfen Winkel weit über die Waldschneise hinausgeht und versucht dann erst, dem im Unterholz brechenden Wild näher zu kommen. Mittlerweile war es dunkel geworden, ein kleiner Zweig knackte unter dem Stiefel des näher Schleichenden und die Schwarzkittel waren plötzlich wie weggeblasen.

Ein anderes Mal wird der „Jungschütze“ abseits in ein kleines Waldtälchen postiert. Dort ist es einsam und still, nur ganz von weitem bellt ein Hund. Bald erscheint ein Hirschjunges, ein allerliebstes Tier, das sich mit drolligen Sprüngen vergnügt. Der Jäger erhebt die Flinte, nimmt das Tier aufs Korn und hat gut zu Schuß, bald mal von vorne, bald mal von hinten, bald auch mal von der Seite. Er denkt aber nicht daran abzudrücken, das zierliche Wesen gefällt ihm zu gut. Da erscheint der kleine gelbe Jagdhund und treibt leise kläffend das Kalb, das mehr mit ihm zu spielen scheint. Jetzt erwacht die Jagdlust im Jäger und er faßt die Büchse schon fester, als ihm durch den Kopf blitzt: Triff den Hund und laß das Kalb aus und du bist für den Rest deines Lebens dem Spott und Gelächter ausgeliefert! Das lohnt die Sache nicht. Er sieht auf – und Kalb und Hund sind verschwunden zur Erleichterung des Jägers. Es ist ihm klar: Ein richtiger Jäger wird er nie werden! –– Das war zur schönen Sommerszeit. Und wie war es im Winter?
 

Wir hatten in den heißen Federbetten des Jagdaufsehers Mayer in Merscheid geschlafen. Nach Mitternacht weckte der uns, wir standen sofort auf, kleideten uns im Dunkeln an, zogen ein weißes Hemd über und gingen los. (Vergleiche Tagebuch Dezember 1915!) Es lag ein unbestimmtes schwaches Licht in der Luft und es war ganz heimlich, in der unbewegten Luft zu marschieren. Im Walde verteilten wir uns, ich bekam einen Platz angewiesen hinter einem Schirm an einer Waldblöße, den ich auch richtig fand. Hier erlebte ich es zum anderen Male, daß sich eine Rotte Sauen näherte. Das nahe Brechen der Tiere war weniger heimlich, ich erhob mehrmals die Büchse, mußte aber jedesmal feststellen, daß ich nichts sehen konnte und ohne Ziel einfach ins Graue zu schießen, war natürlich Unsinn. Nach einiger Zeit, nachdem ich vergeblich gehofft hatte, die Sauen würden sich in der Blöße nähern, klang das Wühlen und Brechen der Rotte entfernter und war schon gar nicht mehr zu hören, als in anscheinend recht weiter Entfernung ein Schuß fiel, dem noch zwei weitere folgten. Ich wartete eine Weile und marschierte dann vorsichtig und leise durch den lockeren Schnee in der Richtung der Schüsse, hörte bald einen leisen Pfiff und wie aus dem Boden gewachsen steht der Jagdhüter unmittelbar vor mir, in dem hellen Hemd auf zwei Schritte nicht zu erkennen. Wir fanden schnell Paul Thanisch, der Schüsse auf ein durchgehendes Rudel Hirsche abgegeben hatte und hoffte, einen geweihten getroffen zu haben. Es wurde eine Karbidsturmlaterne angezündet, inzwischen war ziemlich dichter Nebel eingefallen und wir marschierten in eine Wolke wie in einem Ballen Watte. Der Nebel strahlte das Licht immer wieder zurück. Es war sehr phantastisch. Endlich fanden wir das Wild, auf ds schon mehrere Blutspuren hingedeutet hatten. Es war ein altes Gelttier. Der Geweihte war also gefehlt worden. Mayer brach das Tier auf und ich erinnere mich noch, daß er beim Ausziehen der Drossel auf den Rücken in den Schnee fiel. Seine Frau brachte einen kleinen Handwagen, auf dem wir das schwere Wild in das Dorf brachten. Wir schliefen uns dann aus und suchten andern Tags im trüben Licht nochmals die Stelle auf, wo das Wild gelegen hatte. Alles war am Tage unglaublich nüchtern und einfach, was wir in der Nacht als ganz phantastisch erlebt hatten. Anscheinend erfüllt die Phantasie des Menschen den undurchsichtigen Nebel mit einer Fülle erdachter Gestalten, so daß einem die Sache unheimlich phantastisch vorkommt. Das Wildbret erwies sich als ziemlich minderwertig und der Jagdherr überließ es den Bauern zur Verteilung durch Herrn Mayer. Diese nächtliche Jagd ist mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Ebenso fest in Erinnerung habe ich eine Situation aus dem Weltkriege, in der wir an einem Spätnachmittage in einem lockeren Gehölz standen und stundenlang schweres Geschützfeuer von der Westfront hörten. Es war der übliche Abendsegen, mit dem die Franzosen an jedem Frontabschnitt die Deutschen jeden Abend zu beunruhigen suchten. Ich hatte später keinen weiteren Jagdschein mehr genommen, gleichwohl hatte die einmalige Lösung eines solchen eine überraschende Folge im Weltkriege, an die niemand gedacht hätte. Eines Tages hieß es, es müssen Jagdkommandos gebildet werden und zu diesem Zwecke erhielten alle diejenigen, welche jemals in ihrem Leben einen Jagdschein hatten, Vorladungen vor das Bezirkskommando in Trier. Dort fand eine seltsame Musterung statt. Hier stand eine Gruppe von Forstbeamten, denen teilweise ein Bein oder ein Arm fehlte und die bis zur Entlassung dauernd beurlaubt waren. Dort stand eine Gruppe von verdächtig aussehenden Kerlen, denen man auf den ersten Blick ansah, das waren Wilderer. Eine andere Gruppe kennzeichnete sich als Herrenjäger. Zu diesen gehörte auch ich. Die Musterung geschah sehr oberflächlich. Ich war auf Grund einer früheren Ausmusterung für dauernd untauglich erklärt worden und nachdem durch ein besonderes Gesetz die so verhaßten „d.-U.-Leute“ nochmals einer Musterung unterworfen wurden, hatte ich auch diese Probe bestanden und war wieder für d. U. erklärt worden. Nun gab es eine Bestimmung, daß wer zweimal im Kriege für d. U. erklärt war, von der Liste der Militärpflichtigen gestrichen wurde. Dies geschah auch mit mir. Ich wußte aber nichts davon und bekam es erst kurz vor Kriegsende zu wissen, als ich mich bei meiner Versetzung nach Rheinbach pflichtgemäß beim Bezirkskommando in Trier abgemeldet und in Bonn angemeldet hatte. So warf die Jagdtätigkeit noch ihre Reflexe bis in den Krieg hinein.

Durch den häufigen Verkehr auf der Jagdhütte, auf der ich auch schon einmal einige Tage ganz allein verbracht habe, ist mir mancher schöne Genuß erwachsen. Es ist eben ganz unvergleichlich, wenn man zur Sommerszeit morgens in aller Frühe vom Gurren der Waldtauben aus dem Schlafe geweckt wird und sich in einer einsamen Jagdhütte wiederfindet, in der man ganz auf sich gestellt und ohne jede menschliche Bedienung ist. Ich erinnere mich noch eines schönen Marsches an einem Regentag, wo ich, um eine Verbindung zu erreichen, erst einen weiten Umweg machen mußte. Unterwegs schauerte ich vor dem dichten Landregen in einem großen alten Heiligenhaus vor einem Dorfe, dessen Namen mir entfallen ist. Das geräumige Heiligenhaus wie einen überlebensgroßen Kruzifixus auf, der nahe der Erde drohend an der Wand stand und einen durchaus lebenswahren Eindruck machte. Nachher wies der Lauf der Flinte, die ich mir von Thanisch geliehen hatte, einen bösen Rostflecken auf. Und seitdem bin ich nicht mehr mit dem Schießgewehr marschiert.

In meiner Erinnerung sind am schönsten die im Winter, namentlich in den Kriegsjahren, die von der Polizei angeordneten Saujagden. Durch die Beunruhigung von der Westfront her hatte sich mancher Keiler und manche grobe Sau vom Ardennerwald her bis zum Hunsrück verlaufen. Sie erschienen dicht vor den Orten und selbst vor der Stadt Bernkastel. Da wurde denn alles, was irgendwie zu jagen vermochte, aufgeboten zur Treibjagd auf diese Unruhe- und Schadenstifter. Im Bernkasteler Hinterwald fand eine solche Jagd statt, an der einige Jäger teilnahmen. In dem großen Treiben waren über vierzig Sauen fest und trotzdem wurde keine einzige erlegt. Ich sah ganze Rotten von je acht Stück flüchten, die Schützen belegten sie mit Sperrfeuer, aber es nützte nichts. Bei dieser Gelegenheit habe ich kennen gelernt, ein wie kluges Tier die Wildsau ist. Bei einer anderen solchen Saujagd stand ich an der Ecke eines Waldabschnittes mit dichten Unterholz. Ich hörte genau, wie ein großes Tier sich darin vorsichtig bewegte, vermochte aber nichts zu sehen. Wiederholt wurden die Treiber und die Hunde hineingeschickt. Es zeigte sich aber nichts. Erst als die Jagd abgeblasen war und die Jäger mit geschultertem Gewehr abzogen, brach ein mächtiger Keiler aus und brachte sich in Sicherheit. Ich bin überzeugt, daß er mich die ganze Zeit über beobachtet hatte. Bei einer anderen Gelegenheit gingen wir kurz vor die Stadt Bernkastel, ein Vetter von Thanisch, der Arzt Dr. med. Thünn ging mit und ließ sich zunächst den Mechanismus einer Repetierbüchse erklären. Eine Stunde darauf hatte er einen Keiler mit schönen Gewehren zwischen die beiden Lichter getroffen. Er ließ den Kopf präparieren und zeigte mit Stolz diese schöne Trophäe seiner ersten und letzten Jagd. Von diesem Keiler habe ich heute noch verschiedene Büschel der ganz groben Nackenhaare. Es ist erstaunlich, wie diese Haare stark und elastisch sind und sich nach oben wie eine kleine Baumkrone verzweigen. Sie dienen den Schustern als Nadel für ihre Pechdrähte.

Meine Frau hatte es herausbekommen, wie man auch das Fleisch von älteren Wildsäuen genießbar zubereiten konnte: Der Braten wurde einige Stunden gekocht und dann erst gebraten und dann meist erst kalt gegessen. Freilich schmeckt das Fleisch von einem etwa achtzigpfündigen Überläufer besser als von einem groben Keiler. Das schönste Stück sah ich gegen Ende des Weltkrieges  einmal bei Thanischs hängen, es war ein ungeheuer großer rotbraun bis schwarz gefärbter langer Keiler, der ziemlich hoch auf den Läufen stand und von dem die Sage ging, er sei aus dem Argonnerwald herübergewechselt. 



 

Die Steuern

Das Steuerzahlen ist eine lästige Pflicht der Staatsbürger, die niemand gerne erfüllt. Jeder hat das Gefühl, mit den Steuerbehörden in einem ununterbrochenen Kampfe zu stehen. Dabei hat man das niederdrückende Gefühl der absoluten Unterlegenheit, solange man sich mit den gesetzlichen Vorschriften und der Arbeitsweise der Steuerbehörden nicht bekannt macht. Den meisten Menschen ist diese Materie ungewöhnlich widerwärtig und sie können sich zu ihrem Schaden nicht entschließen, sich näher damit zu befassen. Als junger Student fand mein Vater einen guten Weg, mich beizeiten mich mit diesen Fragen vertraut zu machen. Er hatte den Gedanken, zuviel Steuern zu zahlen und meinte, sein Sohn, der Recht studierte, müsse ihm davon helfen. Ich versuchte ihm vergebens klar zu machen, daß wir auf der Universität nur die theoretischen Unterlagen, nicht aber die praktische Ausführung lernten. Um mir hieran Geschmack beizubringen, versprach er mir, alles dasjenige mir zukommen zu lassen, was ich ihm an Steuern ersparte. Da ich monatlich nur 25 Mark zu verzehren hatte, war diese Anregung sehr wertvoll für mich. Durch einen regen Verkehr mit dem städtischen Steuerassessor lernte ich allmählich die Geheimnisse des damaligen Einkommensteuergesetzes und die Bestimmungen über die Kommunalabgaben kennen. Damit konnte ich mir nicht nur manche Mark verdienen, sondern hatte auch in meiner späteren praktischen Tätigkeit als Richter und Rechtsberater einen gewissen Vorsprung gegenüber meinen Kollegen. Diesen war schon das Lesen eines Steuerzettels meist unmöglich und von den Privilegien der alten Beamten, die Beschränkung des Gemeindezuschlages auf zwei Prozent des Beamteneinkommens und dergleichen Finessen hatte sie keine Ahnung. In Bernkastel pflegte ich diese Sache weiter und lernte einen Bürgermeistersekretär Kuntze von der Bürgermeisterei Lieser kennen, von dem ich die letzten Geheimnisse der Kommunalabgaben und der Einkommenszuschläge lernte. Eine große Rolle spielte dabei das sogenannte Forensaleinkommen. Mit dem Einkommen aus Grundbesitz konnte man nämlich nur von der Gemeinde herangezogen werden, in welcher der Grundbesitz belegen war. Bei der Ausrechnung der Steuervergünstigungen kam man dabei seltsamer Weise zu einer Rechnung mit halben Kindern. Gleich im Anfang hatte ich mit dem städtischen Steueramt in Bernkastel Differenzen, weil ich zu hoch veranlagt war. Ich führte die Ermäßigung durch, bis es schließlich dem Herrn Stadtbürgermeister zu bunt wurde und er mich zu einer Klage beim Bezirksausschuß drängte. Ich hatte dies vorausgesehen, mir bei der Stadtverwaltung deren beiden Kommentare zum Kommunalabgabegesetz entliehen und in einer Gerichtsschreibschublade eingeschlossen. Erst nach dem Prozeß fanden sich diese Bücher wieder. Nicht nur den Prozeß gewann ich, sondern auch noch eine Wette, die der etwas übermütige Bürgermeister mit mir persönlich abgeschlossen hatte. Als Steuerberater gewann ich an Ansehen und manche Flasche Wein wurde aus Erträgnissen dieser Steuerberatung getrunken. Die Sache griff um sich und der Bürgermeister bat mich schließlich selbst um Rat, da seine Steuereinnahmen stark schrumpften. Ich stellte fest, daß er auswärts wohnende Steuerpflichtige gar nicht zu den Gemeindezuschlägen herangezogen hatte. So z. B. das größte Weingut im Stadtbezirk von Bernkastel, das einer Firma Deinhardt in Koblenz gehörte. Deren Inhaber, Kommerzienrat Wegeler in Koblenz wird wenig angenehm überrascht gewesen sein, als die Bernkasteler Steuerfreiheit ein Ende hatte. Der Bürgermeister war aber ganz Freund mit mir, denn er hatte nachher mehr Geld in der Stadtkasse als vorher. Ich habe mich auch späterhin noch oft im Leben gewundert, wie wenig die Leute geneigt sind, sich mit ihren eigenen Steuerfragen näher zu befassen. 

Von den Bienen

In dem trefflichen Bürgermeistersekretär Kuntze lernte ich erfahrenen und begeisterten Imker kennen. Auf sein Zureden entschloß ich mich, auch Imker zu werden. Kollege Winkler war von seiner Vaterseite bereits zum Imker erzogen worden und machte sich einen Spaß daraus, mit mir die Imkerei gemeinschaftlich zu betreiben. In der Erinnerung ist mir noch ein gemeinschaftlicher Marsch, wenn ich nicht irre, von Ürzig aus nach Bausendorf zum Erwerb von Bienenzuchtvölkern in Strohkörben. Wir hatten eine recht lange Strecke zu marschieren und verkürzten uns die Zeit durch muntere Unterhaltung und Butterbrotessen. Dabei stellte sich die Tatsache heraus, daß wir beide von unseren Frauen alle mitgenommenen Brötchen mit Leberwurst belegt erhalten hatten. Ich hatte mir eingebildet, das Leberwurstessen sei ein besonderes Kennzeichen der Stadt Bönnschen Bevölkerung. Ich mußte hierbei aber erfahren, daß auch andere Rheinländer dem Genuß von Leberwurst in hohem Maße huldigen. Der Kauf der Bienen fiel zur Zufriedenheit aus und in einem Winkel des von Dr. Nathan Wolf gepachteten Gartens wurde zunächst ein einfaches offenes Gestell mit einem Dach errichtet, auf dem diese Körbe ihren Platz fanden. Es dauerte nicht lange, so wurden diese Körbe durch Holzbauten ersetzt. Diese wiesen die Maße des elsässisch-lothringischen Vereinsbienenkastens auf. Kuntze hatte alle zum Bau eines solchen Kastens erforderlichen Holzteile genau maßstäblich vorgezeichnet und bei einem Schreiner in Massenauftrag gegeben. Die Folge war, daß man sich daraus einen Bienenkasten zurechtzimmern konnte, der sehr viel exakter und schöner war, als ein solcher, den man selbst aus der Hand gefertigt hatte. Die Bienen brauchten da nicht erst alle Ritzen und Spalten zu bekleben, sondern es war alles schön dicht und schloß besser. Die Bienenzucht hat mir dann lange Jahre viel Arbeit und Freude gemacht und auch viel Nutzen gebracht. Vor allem erwies sie sich als sehr nützlich in den langen Kriegsjahren, namentlich für die Ernährung unserer Kinder. Die sieben Bienenvölker brachten bei guter Tracht, d. h. wenn die Wiesen bei langem Sonnenschein gehörig blühten, einen ganz ansehnlichen Ertrag. Auf einer Tagung des Rheinischen Bienenzuchtvereins in Bonn lernte ich eine Reihe Vereinsvorsitzender, meist Lehrer kennen, welche durchweg tüchtige Bienenzüchter waren. Sie hatten mitunter mehr Einkommen aus der Bienenzucht als aus ihrem Lehrerberuf. Die Bienenzuchtvereine waren im Rheinischen Bienenzuchtverband zusammengefaßt, dieser hatte einen großen Vereinsbienenstand in Bonn und einen Geschäftsführer namens Welter – genannt der Bienenwelter.

Die Beschäftigung mit Bienen war früher auch schon einmal in Bernkastel mode gewesen und der Onkel Jakob Thanisch war in früherer Zeit auch ein großer Bienenwirt gewesen. Er hatte seinen Neffen Thanisch nicht nur in Jagd, sondern auch in Bienenbehandlung unterrichtet und es war gar kein einfacher oder schmerzloser Lehrgang gewesen.

Mit Winkler baute ich zusammen ein geräumiges schönes Bienenhaus. Zum Schleudern liehen wir uns anfangs eine Schleudermaschine, später schaffte ich eine solche für mich selbst an. Mit der Zeit fand ich überhaupt, daß alles einfacher ist, wenn man vollständig alleine wirtschaftet und nicht an einen Vertragsgenossen gebunden ist. Bei dem glorreichen Wegzug, den ich gegen Kriegsende bei meiner Versetzung nach Rheinbach unternahm, ließ ich das Bienenhaus in Bernkastel an Winkler zurück. In Rheinbach baute ich mir ein neues Bienenhaus mit Hülfe eines Zuchthausgefangenen. Dies war gleich von vornherein zum Auseinandernehmen eingerichtet. Es hat dann 1920 den Umzug nach Bonn mitgemacht und stand noch einige Zeit bei meiner Mutter im Garten am Hause Bachstraße 60. Dort imkerte ich noch, während ich gleichzeitig in Köln arbeiten ging. Dieser Zustand ließ sich auf die Dauer nicht halten und so suchte ich das Bienenhaus mit seinen Insassen loszuwerden und vertauschte es schließlich gegen Halbedelsteine an einen in der Entwertungszeit reich gewordenen Juwelenhändler Falz aus dem Birkenfeldischen.

Ich hatte die Kinder von vornherein daran gewöhnt, sich nicht in der Nähe des Bienenhauses aufzuhalten. Nur ein einziges Mal erinnere ich mich, daß Herta in der Nähe des Bienenhauses einen Stich in die Lippe erhielt. Ich konnte rechtzeitig den Stachel entfernen und die frische Wunde gleich mit einer Jodseife einreiben, so daß der Schmerz bald schwand und gar keine Schwellung erfolgte. Ich selbst mußte mich gegen Bienenstiche in Acht nehmen, weil bei mir dann ganz unverhältnismäßige Anschwellungen kamen, die zwar bald wieder verschwanden, aber mir das Gesicht völlig verunstalteten. Ich hatte mir daher nach eigenem Entwurf einen Bienenhelm konstruiert, er bestand aus zwei Weidenringen und einer Hülle aus Fliegenmaschendraht. Vorne war ein Leder mit einem Kreuzschnitt zum Durchstecken der Pfeife angenäht, die Schultern waren mit einem langen Schulterkragen versehen, den ich unter die Weste einsteckte. Abends kam es oft genug vor, daß, wenn ich am Tage bei den Bienen gearbeitet hatte, beim Ausziehen ein verirrtes Bienchen ins Schlafzimmer brummte. Zum Imkern bediente ich mich der Lederhandschuhe, aber die Bienen verstanden es glänzend, wenn sie einmal gereizt waren, auch durch das Handschuhleder in die Fingerspitzen zu stechen. Der Schmerz war manchmal rasend, mußte aber standhaft verbissen werden, um keine Unvorsichtigkeiten zu begehen.

Die ausgedehnten Weinbauflächen brachten den Bienen nichts. Die Wiesen wurden nach Schluß des ersten Drittels im Juni gemäht, vorher waren sie sehr ergiebig. Die ganze Zucht drehte sich darum, um diese Zeit starke Völker zu haben, die nicht schwärmten. Zu diesem Zwecke begaben wir uns im Herbst meist zu mehreren auf die Fahrt in Hunsrückdörfer und besuchten die Bauern, die nach alter Manier imkerten. Sie hielten die Bienen in Körben und wogen diese im Herbst ab, um zu entscheiden, welche Völker „geschlachtet“ wurden. Dieses erfolgte durch Abschwefeln, wobei die Bienen zugrunde gingen. Wir ersparten ihnen diese Prozedur, indem wir die schlachtreifen Stöcke abtrommelten. Auf den Korb wurde ein anderer gesetzt und die Bienen wurden durch langsames Abklopfen von unten her allmählich in den aufgestülpten leeren Korb getrieben, dann wurde ein Brett untergeschoben und die Bienen wurden betäubt. Zu diesem Zwecke hatten wir uns im Wald einen kindskopfgroßen Bovist geholt und getrocknet. Damit entwickelten wir Rauch, den wir in den Bienenkorb bliesen. Man durfte sie nicht zu lange betäuben, sonst streckten sie den Rüssel weit heraus und starben. Das betäubte Volk wurde schnell auf ein ausgebreitetes Tuch geschüttelt, mit einer Hühnerfeder wurde die Königin herausgeholt und in besonderes Gewahrsam gesetzt. Dann konnte man nach Belieben mehrere der abgetrommelten Völker vereinigen und in einen Kasten zusammensperren. Diese Transportkästen mußten besonders gut versperrt werden, denn auf der Heimfahrt kamen die Bienen wieder zu sich und fingen gewaltig an zu brummen. Wären sie losgekommen, so hätte es leicht ein Unglück geben können. Gottlob ist niemals etwas geschehen. Einmal hatte ich es so eingerichtet, daß uns Kreisarzt Dr. Lehmann mit seinem Zweispänner von einer solchen Trommelfahrt abholte und die Bienenkästen dabei mitnahm. Er hat nicht wenig Angst dabei ausgestanden, aber die Kästen hielten zu. Wenn wir mit den Bienen glücklich zu Hause waren, wurden diese an einen kühlen Ort gestellt und bald darauf ein starkes Volk daraus zusammengestellt mit einer jungen Königin. Dieses wurde dann gut eingefüttert und konnte im Frühjahr als ein starkes Volk die Tracht gut ausnützen.

Später wurde das Abtrommeln der Bienen durch Einkauf von sogenannten nackten Bienenvölkern aus der Lüneburger Heide ersetzt. Dieser Kauf nahm einen solchen Umfang an, daß schließlich ganze Waggons voll solcher Bienenvölker transportiert wurden.

Der Rheinische Bienenzuchtverein hatte auch eine Einrichtung getroffen, mit der man mittels eines nächtlichen Extrazuges die Bienenstöcke in einen Bieneneilzug bringen und nach Holland auf die Heide stellen lassen konnte. Ein Bauer sorgte dafür, daß die Bienen nach Ankunft auf Schubkarren an einen geschützten Platz auf der Heide gebracht wurden. Mitunter wurde pro Volk bis zu dreißig Pfund Honig auf einer solchen Spätsommerreise aus der Tracht der Heideblumen erzielt. Mitunter machten sich auch einige Imker das Vergnügen, an einem Sonntage ihre fleißig arbeitenden Völker zu besuchen und sich von ihrem Wohlergehen zu überzeugen. Es waren damals herrliche Zeiten für einen Imker. Nur war es nicht ganz einfach, den Heidehonig aus den Waben zu kriegen, denn er löste sich sehr schlecht. Wollte man ihn herausbekommen, so bediente man sich der Honiglösemaschine, in der mit großen losen Nadeln jede einzelne Zelle angestochen wurde. Am einfachsten aber war es, man verzehrte diesen Heidehonig als Wabenhonig oder man beließ ihn den Bienen als Winterfutter.

Die ganze Bienenzucht machte nicht unerhebliche Arbeit. In dem Herbst war man froh, wenn man seine Völker mit dem grauen unvergällten zollfreien Zucker eingefüttert hatte, der den Imkern hierfür besonders zur Verfügung gestellt wurde.
 

Wachsmotten

Um den Bienen den Bau der Waben zu erleichtern, wurden die Rähmchen mit Kunstwaben versehen. Solche wurden in besonderen Fabriken massenhaft hergestellt. Die Bienen sind sehr wählerisch und lassen sich durchaus nicht betrügen durch irgendwelche Zusätze von Ersatzwachsen. Solche Waben nehmen sie nicht an und bauen darauf nicht. Durch längeren Gebrauch werden die Waben dunkel, sie müssen luftig aufbewahrt und von Zeit zu Zeit geschwefelt werden. Gar zu leicht nistet sich auch eine weiße Wachsmotte darin ein, deren Raupe das Wachs verzehrt. Diese brachte mich auf den Gedanken, daß diese Wachsmottenlarve in ihrem Verdauungsapparat ein Sekret entwickeln müßten, welches imstande ist, das sonst allen Angriffen widersteht. Da der Tuberkelbazillus und der Lepraerreger eine feine Wachshaut als ihren Panzer tragen, so gedachte ich der Wissenschaft einen Dienst zu tun, indem ich meinen Freund Professor Gerhartz darauf aufmerksam machte und ihm eine größere Menge fette Wachsmottenlarven lieferte. Er hat auch eine große Menge Versuche damit angestellt, leider ohne Ergebnis. Bei seiner Forschung stellte er fest, daß in Frankreich schon einmal ein Arzt auf denselben Gedanken gekommen war und ebenfalls zahlreiche Untersuchungen, leider auch ohne Ergebnis, angestellt hatte. Uns als Praktikern war bekannt, daß die Wachsmotten niemals ganz reines frisches Wachs angriffen, sondern immer nur in altem, sogenanntem Raaß zu finden waren, d. h. in Waben, die schon länger gebraucht und bräunlich bis schwarz geworden waren. Vermutlich erleidet das Wachs hierbei eine gewisse Veränderung, welche es diesen Tierchen erst verdaulich macht.

Die Bienen holen von jeder Blume Honig und Pollen ein, gleichviel ob dieselben giftig sind oder nicht. Auch ist ihnen die Farbe des Honigs gleichgültig. Von den gelbblühenden Rapsfeldern gibt es einen schneeweißen Honig, der sehr bald fest wird und das Aussehen von Schweineschmalz hat. Die Gewürzpflanze Borretsch blüht das ganze Jahr mit kleinen blauen Blumen, die stets Nektar tragen. Der Honig daraus gewinnt seltsamerweise das Aussehen von Karrenschmiere. Reiner Honig davon hat sogar eine grünschillernde Oberfläche, wie irgendein Schweröldestillat. Dieses Aussehens wegen ist er unverkäuflich und die Bienenväter hüten sich, übermäßig viel Borretsch in erreichbarer Nähe ihres Bienenstandes zu haben. Ich selbst hatte einmal einen ganzen Garten voll davon gesät und die Folge war, wir bekamen in allen Honig dunkelfarbige Streifen. Da wir ihn nicht verkauften, sondern selbst verzehrten, war uns dies gleichgültig. Aber der ganz schwarze mit der grünlich schillernden Oberfläche wurde selbst von uns mit Roggenmehl verbacken.

Es gibt viele Imker unter den Bahnangestellten und die Eisenbahnverwaltung begünstigt das Imkern sehr. Diese Angestellten sorgen dafür, daß die Bahndämme mit honigbringenden Pflanzen besät sind. Einen originellen Gedanken hatte ein ländlicher Imker, der in Longkamp im Hunsrück wohnte. Er hatte den einige hundert Meter von seinem Bienenstand entfernten Gemeindefriedhof mit riesig wucherndem Riesenhonigklee bepflanzt und bezog so seine Honigbeute von den Toten. Überall waren die Imker bestrebt, die Landwirte zum Anbau von solchen Pflanzen zu interessieren, deren Blüten Honig brachten, z. B. Raps, Fazelien.

Das ganze Bienenwesen war ungemein interessant. Das Leben der Bienen und ihre interessanten Geschlechtsbestimmungen sind für jeden Naturforscher von großem Interesse. An bayrischen Universitäten gibt es sogar Lehrstühle für Bienen.

Ich habe mir oft geträumt, ich würde im Alter, wenn ich nichts zu tun hätte, wieder zur Bienenzucht zurückkehren und meine Zeit dann fast ohne Unterbrechung am Bienenkorb zubringen. Es besteht wenig Aussicht dazu, daß dies einmal Wirklichkeit wird. Immerhin ist es durchaus nicht unmöglich, selbst in einer Stadt wie Bonn Bienen zu halten. Vorausgesetzt, daß man einen geeigneten Garten dazu hat. In den städtischen Gärten und Anlagen werden nämlich eine Unmasse Stauden und Blumen gezogen, die das ganze Sommervierteljahr hindurch blühen.


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