Den
obersten Rang nahmen die Weingutsbesitzer ein. Der größte, die Firma Deinhart in Koblenz spielte keine Rolle, da der Inhaber,
Geheimer Kommerzienrat Wegeler, in Koblenz wohnte.
Die angesehensten am Platze waren zwei Witwen Thanisch,
zwei Schwestern Liell, die zwei Brüder Anton und Dr.
Hugo Thanisch geheiratet hatten. Die drei Söhne des
ersteren, Anton, Hugo und Paul, waren mir als Mitschüler vom Bonner Königlichen
Gymnasium bekannt und z. T. befreundet. Ihr Vetter, Tünn
Schmitz, war gleichfalls unser Mitschüler. Sein Vater war ein tüchtiger und
geachteter Arzt. Von seiner Frau her, gleichfalls einer geborenen Liell, besaß er einen ansehnlichen Weinbesitz und kelterte
namentlich im Rosenberg einen guten Tropfen. Als Arzt war er sehr beliebt, zog
mit besonderer Gewandtheit trotz einem Zahnarzt den festsitzenden Backenzahn
und verordnete dem Kranken gern ein Glas guten Weines in allen Lebenslagen. Er
selbst trank den Wein aus feingeschliffenem Glase und auch den Gästen wurde er
in solchem Gefäße eingeschenkt. Seinem Neffen Hugo Thanisch
waren diese Nippgläschen zu klein und er
ließ sich stets zwei davon geben und trank beide stets hintereinander leer. Die
Mutter Schmitz war in solchen Fällen nicht dazu zu bewegen, sich auch gemütlich
mit an den Tisch zu setzen Zimmer herum und bediente Mann, Sohn und Gäste aufs
Eifrigste. Alle waren daran gewöhnt, machten sich nichts daraus und bald war es
einem selbst auch gleichgültig. Wie es bei Damengesellschaften mit ihr der Fall
war, habe ich nicht erfahren, vermutlich nicht anders. Wir nannten sie höchst
undankbar die Brummfliege. Der Sohn, mein Freund Tünn, hatte sich in einem Krankenhaus bei einer Trachotymie durch Aussaugen der Wunde eine schwere Blut-
und Nierenvergiftung zugezogen, mußte sich lange Zeit
ganz still halten und fast ausschließlich von Milchspeisen ernähren. In jener
Zeit besuchte ich ihn oft und lernte ihn näher kennen und schätzen. Er besaß
auch manche Kenntnisse und Interessen auf naturwissenschaftlichem und allgemein
menschlichem Gebiete. Merkwürdig war seine Verlobung mit Fräulein Lilly Dick,
der späteren Frau meines Freundes Sondag. Erst ließ
sich alles ganz schön an. Ich machte noch mit dem Brautpaar einen Autoausflug
nach Idar. Wir besahen uns mit großem Interesse das
Museum dort mit den vielen geschnittenen und geschliffenen Steinen. Einer
besonders schönen Kugel aus Bergkristall ich mich noch. Mit dem Herrn vom
Museum kam ich hierüber in ein Gespräch und gedachte der schönen Kristallkugel,
die ich als Student in Dresden im Grünen Gewölbe gesehen hatte. Sie stammte aus
der Beute, welche die Schweizer Herzog Karl dem Kühnen in der Schlacht von
Murten abgenommen und später dem Kurfürsten von Sachsen verkauft hatten. Ich
kaufte damals für meine Frau eine einfache nette blaue Halskette aus gefärbtem Jaspis, auch deutschem Lapislazuli genannt. Schmitz kaufte
seiner Braut etwas ähnliches, worüber diese ein wenig enttäuscht war, denn sie
hatte auf ein wesentlich größeres Schmuckstück gehofft. Schmitz aber war von
Hause aus zur Sparsamkeit erzogen und die Braut machte den Fehler, alles zu
großartig haben zu wollen, beeinflußt ohne Zweifel
von der Emmi Thanisch, der Frau von Paul, die
allerdings in seiner opulenten Moselvilla einen Haushalt ziemlich großen Stils
führte. Ob Schmitz nun Bedenken ob der Kostspieligkeit seinen künftigen
Haushaltes bekam oder was sonst der Grund war, eines Tages war Fräulein Dick
fort und die Verlobung beendigt und nach Walter Thanischs
Ausdruck sein Vetter Tünn noch soeben einmal seinem
drohenden Verhängnis entgangen! Schade drum, denn er lebte nicht allzu lange
mehr und wer weiß, ob er bei einer ruhigeren Lebensweise nicht doch noch viel
älter hätte werden können? Heute ist die Familie Schmitz ganz ausgestorben, das
Vermögen ist an Verwandte Berres in Ürzig vererbt und ich freute mich zu hören, daß sie auch etwas der Schwägerin, Frau Liell,
vermacht hatten.
Von
den beiden Brüdern Anton und Hugo, die vor 1910 verstorben waren, weiß ich nur
vom Hörensagen, daß der ältere, Anton, an Alkohol zu
Grunde ging und daß der jüngere, um bei einer
lebhaften Unterhaltung am Biertisch auch einmal zu Wort zu kommen, mit dem
Revolver in den Tisch schoß. Ein origineller Mensch muß deren Mutter gewesen sein: Schön, klug, geistreich und
eine der reichsten Erbinnen an der Mosel, entwickelte sie ihre Befähigung zur
Unterhaltung und Vermehrung des Familienbesitzes derart einseitig, daß sie ihre Kinder in spartanischer Sparsamkeit erzog und
um schließlich im Alter zu einem förmlichen Geizkragen zu werden. Hiervon
erzählen böse Zungen dann bare Unmöglichkeiten: Sie habe jahrelang in Bonn auf
einer ärmlichen Dachkammer gehaust, eine ganz arme Frau gespielt, um zu Schluß auf der Reise in einem Abteil III. Klasse zu
erkranken und in einem Armenhause ihr Leben auszuhauchen. Seltsame
Menschenwege!
Ihr Sohn Jakob sagte als alter Mann über ihren Geisteszustand als Zeuge vor
Gericht: Nein, von einer geistigen Schwäche kann bei ihr keine Rede sein, sie
war für und Kinder zwar eine wahre Rabenmutter, aber an Schärfe des Verstandes
übertraf sie uns alle! Es ging die Sage, sie habe den Kindern keine
Butter aufs Brot gegönnt und aus eigener Beobachtung weiß ich, daß ihre Enkel keine Butter aufs Brot mochten. Aber diese
Gewohnheit kann auch andere Ursachen gehabt haben. Die Enkel waren jedenfalls
eher geneigt, das Leben sich nach der genußreichen
Seite zu gestalten und ich habe manche vergnügte Stunde mit ihnen verbracht.
Heute ist die Familie Anton Thanisch bis auf eine Tochter meines Mitschülers Anton (aus seiner Ehe mit der Tochter Alice des Weingutsbesitzers Hüsgen in Traben-Trarbach und seiner Frau geborene Böcking) völlig ausgestorben und die Gräber angeblich schon verwahrlost. Das große Weingut hat der inzwischen schon verstorbene Zacharias Bergweiler aus Wehlen erworben.
Schon in früherer Zeit hatte es Deinhard verstanden, eine besonders schöne Zinke aus des Thanischschen Weingutes herauszubrechen. Überall in der Welt war die Bezeichnung Doktor für Wein niedergekämpft worden und nun klagte Deinhard gegen Anton Thanisch wegen Unterlassung dieser Bezeichnung für das Wachstum aus ihrer Doktorlage. Der Prozeß war dem damaligen Landrichter Dr. Thanisch unangenehm. Er endete damit, daß Thanischs ihren Doktorweinberg mit Felsenkeller an Deinhard verkauften. Dieser nannte natürlich den Wein daraus jetzt Doktor und setzte es außerdem durch, daß durch ein Ortsstatut die Bezeichnung Doktor ausgedehnt wurde und nun eine viel größere Grundfläche umfaßte. Ich habe damals die Eintragung dieser Flurnamensänderung im Grundbuch bewirkt. Dieser Name ist ein Unikum, lediglich in der unmittelbaren Umgebung des Ortes Mülheim/Mosel gibt es eine Bezeichnung Doctorey. Die Flur eignet sich aber nicht zum Anbau von Weinreben. Auf den Gedanken scheint auch noch niemand gekommen zu sein.
Es herrschte gar keine Freundschaft zwischen den Thanisch-Jägern und den Königlichen Förstern und Jägern. Man ärgerte sich gegenseitig, wo man nur konnte, auch wurden gelegentlich kleinere Jagdfrevel verübt und zur Anzeige gebracht, kurz, es herrschte ein ununterbrochener Kleinkrieg. Daher auch meine ängstliche Grenzfeststellung damals bei der abendlichen Saupirsch. Eines Tages sehe ich das Auto von Walter Thanisch in rasendem Tempo mit einem starken Geweihten nach Hause fahren. Bald darauf verbreitete sich die Kunde, der Hirsch sei im Königlichen niedergegangen, von den Jägern dann in das Jagdgebiet von Thanisch geschleppt worden, wobei man vergeblich die Spuren zu verwischen getrachtet habe usw.
Jedenfalls hatte Kollege Winckler bald darauf die wenig angenehme dienstliche Aufgabe, bei Walther Thanisch die bereits als goldene Vorstecknadel gefaßten ungewöhnlich schönen Grandeln und das Geweih des Hirsches beschlagnahmen zu müssen. Was später in der Sache erfolgte, weiß ich nicht mehr.
Auch Hugo hatte mal was zusammen mit einem Arzt Dr. Kettenhofen. Sie waren aus dem Auto gesprungen und hatten geschossen, wo sie es nicht durften. Anzeigen und Strafen blieben nicht aus und es schwebte öfters die Drohung mit dem Entzug des Jagdscheines. Das alles war der üblen Lehre des Onkels Jacob zu verdanken, der schon ein recht wilder Jäger gewesen sein muß.
(Bei Dr. Schmitz ist nachzutragen: Der Nachlaß ging an Ehses in Zeltingen, Familie der Mutter des alten Schmitz.)
Erst
nachträglich ist mir eingefallen, daß die
Besitzerfamilien wenig oder so gut wie gar keinen politischen Einfluß ausübten. Sogar kommunalpolitisch verhielten sie
sich ziemlich passiv und der Stadtbürgermeister muß
im allgemeinen ein bequemes und geruhsames Leben dort geführt haben, wozu
allerdings sein Äußeres sehr gut paßte: Der
vollendete rundbäuchige Philister mit weinrotem
Gesicht, ganz das Modell zu einem weinseligen Moselbild mit Zechern, als
welcher er auch auf einem bekannten Gemälde dargestellt ist. In der Stadt
herrschte ziemlich unangefochten das Zentrum, nach außen vertreten durch den
Reichstagsabgeordneten Jakob Astor, Bruder des Notars, der mit seiner Frau eine
sehr kinderreiche Familie bildete und ein gutgehendes Textilwarengeschäft
betrieb. Waren diese beiden schon verträgliche Leute, so dies noch mehr ein
Weingutsbesitzer Christian Veltin, der den
preußischen Landtagsabgeordneten machte: Er beschränkte sich ganz auf das
Kinderkriegen! Unter der Asche aber glimmte es und
gelegentlich gab es auch ein bißchen Rauch und Feuer:
Es war schon recht verdrießlich, daß von vier Richtern
einer Jude, zwei Protestanten und der vierte nur ein Margarinekatholik
war, der eine evangelische Frau hatte und seine Kinder evangelisch erziehen
ließ. Schlimm aber war es, daß von drei
Bürgermeistern zwei Protestanten waren, dazu der Landrat, der Oberförster, der
Kreisarzt und wer weiß noch wer alles protestantisch war! Da mußte einmal Ordnung geschaffen werden und als gleich zwei
Amtsrichterstellen frei wurden, erscholl in der Kölnischen Volkszeitung der Ruf
nach Parität mit dem überraschenden Ergebnis, daß der
Protestant Reineke und der obgemeldete Margarinekatholik
Rech zu Amtsrichtern wurden.
Auf
eine Anordnung der Kurie mußten sämtliche Geistliche
es abschwören, daß sie Modernisten seien. . Manchem
ist dieser Eid sauer zu schwören gewesen, denn nicht alle haben die Auffassung,
den Eid möchte ich sehen, den ich nicht leisten kann! Einige schworen ihn auch nie. Die Klerikalen hatten einen Jesuiten
kommen lassen, der mehrere langatmige Vorträge über den Modernismus hielt. Als
Gegenstück ließ RA Schönberg einen waschechten Modernisten in der Person des
Professor Schnitzer aus Würzburg kommen, der aus einen Theologieprofessor zu
einem Philosophieprofessor geworden war. Das war ein Stich ins Wespennest.
Sofort arbeitete die Klerisei mit geistigen Argumenten! Zunächst versuchte man,
den Rednersaal abzutreiben. Es mißlang natürlich
gegen Anwalt und Gericht und die Versammlung fand unter dem Vorsitz
des Gerichtsvollziehers statt. Es lag eine merkwürdige Stimmung über dieser
sehr gemischten Versammlung: Vorne links in der Ecke saßen in einem schwarzen
Klumpen die Geistlichen unter der Führung des blonden Bernkasteler
Dechanten, der vor zorniger Erregung leise stöhnte. Man hatte sich eine Hülfe
vom Seminar in Trier verschrieben, die später in der anschließenden Diskussion
auftrat. Schnitzer hielt in aller Ruhe seinen gediegenen Vortrag, in dem alle
Sünden und Moritaten zur Erlangung des päpstlichen Primats des Bischofs von Rom
säuberlich aufgeführt waren. Dem kirchengeschichtlich gebildeten nichts Neues,
um so mehr aber den staunenden Bernkastelern. Im
Übrigen kam mir der Redner ähnlich wie jedes andere Päffchen
und ich konnte ihn nach kurzer Zeit trefflich nachmachen. Er sprach sein
Sprüchlein wie ein kleiner Pastor. Nach Beendigung seiner Rede wurde eine
Diskussion eröffnet, die von den Trierer Klerikern geführt wurde und sich
alsbald in ein theologisches Gezänk verlor. Es langweilte mich und ich ging
hinaus zum Bierhaus Lauer. Dort saßen die
Neumalneunklugen, welche nicht gewagt hatten, in die Versammlung hineinzugehen.
Ihr Hauptvertreter war Apotheker Stöck, der mir
gruselig machen wollte, weil die weitgehenden Folgen dieser religiöse Sturm
haben würde. Ich meinte, es würde für kurze Zeit nur den Bierkonsum heben und
sich im übrigen bald verlaufen. Die Sache hatte noch ein Nachspiel: Professor
Schnitzer gab eine Broschüre heraus mit der Wiedergabe seiner Rede. In der
Einleitung hieß es, er habe auf einer Reise in China eine riesige Mauer zum
Schutz gegen die Tartaren gesehen, eine viel größere Mauer habe er aber im
Trierer und Bernkasteler Bezirk auf
geistig-religiösem Gebiete vorgefunden. Die Klerisei wollte erst eine
Beleidigungsklage anstrengen, unterließ dies aber und statt dessen erschien
eine dicke und langatmige Broschüre des Rektor Neyses
vom Cueser Hospital, der ein guter Bekannter von mir
und ein harmloser Mann war. Damit verlief sich die Sache im Sande. Die Kölnische
Zeitung brachte in einem etwas spöttischen Ton einen handlosen Artikel in der
die Rede war von jugendlichen Brauseköpfen. Immerhin wirkten eine ganze Menge
von Gedanken aus der Rede von Schnitzer noch eine Zeit lang bei manchen klugen
und gebildeten Leuten nach, bis sich schließlich wieder alles beruhigte. Fränzchen Müller zitierte Hutten: Es ist eine Lust zu
leben. Wie alle Dinge im Rheinland wurde die Sache von vielen nicht recht ernst
genommen und bot manchen Anlaß zur Erheiterung. (Zum
gleichen Thema folgt noch ein Nachtrag ca. 60 Zeilen weiter unten.)
Im übrigen war das geistige Leben in Bernkastel recht bescheiden. Ganz im Gegensatz zu Traben-Trarbach, wo schon das Vollgymnasium und die protestantische Konfession der Einwohner einen ganz anderen Ton angab. Dort gab es wirklich gebildete Lese- und Sprachenkränzchen und in der Gesellschaft ging das allgemeine Niveau der Unterhaltung wesentlich weiter als über Trinken und Jagd, worauf sie sich in Bernkastel hauptsächlich beschränkte.
Der
Weltkrieg brachte, wie überall, einschneidende Veränderungen auch in das Leben
der Bernkasteler Phäaken. Zunächst war ein großes
Wehklagen der Kaufmannschaft und der fest besoldete Beamte wurde beneidet um
seines Einkommens willen. Bald aber wurden die Darlehenskassenscheine
erfunden, die Papiergelddruckerei begann und den Kaufleuten ging es besser. Nur
der Weinbau stürmte erst ein ganzes Jahr lang bis im Laufe des Jahres 1916 sich
eine starke Nachfrage nach Wein allenthalben erhob, nachdem die Front mit Wein
beliefert wurde. Die ersten Lieferanten waren die Brüder Dick gewesen und das
fortgesetzte Flaschenklingeln in deren Weinkellerei hatte die nächsten
Nachbarn, vor allem den Weingroßhändler Clemens wochenlang gefoltert. Bis auch
sie die großen Aufträge bekamen und der Beamte mit seinem kleinen Gehalt und
der schwindenden Kaufkraft des Geldes sich in den Hintergrund gedrängt sah. Wir
haben dann auch tatsächlich nach vier schönen fetten Jahren vier magere Jahre
in Bernkastel erlebt, wobei die Versorgung gänzlich anders war als heute, in
dem richtigen fortgesetzten Weltkrieg. Ich z. B. erhielt als Lungenschwächling
und in Anerkennung meiner Verdienste um die Kriegsbeschädigtenfürsorge, die ich
als einziger Rheinischer Richter freiwillig übernommen hatte, die Berechtigung,
für mich wöchentlich ein Pfund Butter zu entnehmen. Brot war schlecht und knapp
und meine Frau hat mir hinterher gestanden, daß sie
oft abends gern noch eine Schnitte Brot gegessen hätte, es aber mit Rücksicht
auf die Kinder unterließ. Kartoffeln und Zucker hatten wir stets genug. Der
Zucker wurden den Geschäften auf dem Lande zugeteilt und der Vater unserer Rosa
wußte damit nichts anzufangen, so daß
wir ihn kistenweise bekommen konnten. Der Schleichhandel blühte in jeder Form
und das Tauschen war derartig Mode, daß z. B. ich als
Amtsrichter so gut wie nichts bekam, weil ich anfangs nichts zu tauschen hatte.
Als nach dem Tode des Sohnes unserer Hauswirtin ich ihr beim Verkauf des
Weingutes und des Hauses behilflich gewesen war, verehrte mir Frau Liell ein Faß Bälge (Weintreber).
Einige Monate später konnte ich daraus dreißig Liter Tresterbranntwein brennen
lassen und gegen diesen Tresterbranntwein alles eintauschen. Sehr nützlich
erwies sich unsere Gemüsezucht, auf die ich mich schon vier Jahre vorher
verlegt hatte, weil die Beschaffung von Gemüse in Bernkastel immer schwierig
gewesen war. Auch Obst hatten wir ziemlich. Auf eine seltsame Weise kamen wir
an Öl. Ich schrieb damals kleine Aufsätze in der Kölnischen Zeitung, u. a. Pflanzt
Mohn! Ich hatte auch wirklich die Absicht gehabt, mir auf dem Cueser Plateau von der Gemeinde ein brachliegendes Stück
zum gemeinsamen Anbau von Mohn anweisen zu lassen, war aber dann erkrankt und
die Mohnpflanzung scheiterte daran. Ein Großbauer am Niederrhein hatte meinen
Aufsatz in der Kölnischen Zeitung gelesen und war durch die Zeitung an meine
Adresse gekommen. Er schickte im weiteren Verlauf eine Reihe Säcke voll Mohn an
Krings nach Bernkastel und wir ließen den Mohn zu Öl schlagen. Das war ein vorzügliches
Öl, was aber nur sehr leicht ranzig wurde. Der Züchter erhielt gut ein Drittel
des Ertrages. Das andere blieb unterwegs hängen. Jedenfalls hatte er keine Lust
mehr, im nächsten Jahr diese Ölfrucht nur anzubauen.
Zu dem Modernistenvortrag von Professor Schnitzer, der etwa 1911 oder 1912 in Bernkastel stattfand, ist noch folgendes nachzuholen: Die ganze Bewegung wirkte unter der etwas aufgeregten Bevölkerung in Bernkastel wie ein seltsam sicherer Filter: Das größte Sieb ließ die ganz treuherzigen und fanatischsten Zentrumsanhänger durch. Leute wie Heinrich Krings, der sein Geschäftsgebaren, keineswegs stets sauberer Art, auf das angenehmste mit einer knüppelhaften Zentrumsüberzeugung zu verbinden wußte, hatte versucht, den Besuch des Vortrages durch die Bildung einer wirklichen Knüppelgarde zu verhindern. Den vorher gemieteten Saal suchte man durch Druck auf den Wirt abzutreiben. Es bedurfte einer einstweiligen Verfügung des Gerichtes, um den Wirt zur Hergabe des Saales, wozu er verpflichtet war, zu zwingen. Die Versammlung fand dann auch unter dem formellen Vorsitz eines Gerichtsvollziehers statt.
Krings hatte sich gedacht, durch die bloße Gegenwart seiner Knüppelleute könnte er etwas erreichen, er war aber schlau genug, sich selbst im Hintergrund zu halten und als zahlreiche Leute aus allen Ständen in das Versammlungslokal einstürmten, zogen sich die Terroristen freundlich grinsend mit eingeklemmten Schwänzen zurück.
Ein zweites Sieb ließ alle diejenigen durch, die unabhängig dachten, die keine Rücksicht auf die Geistlichkeit zu nehmen hatten. Es waren ihrer viel mehr, als man hätte denken sollen. Das Lokal war gut besetzt. Abgesehen von den akademisch Gebildeten erschien eine Menge gute Bürgersleute. Geistliche waren in Menge erschienen, aber seltsamerweise alle als erklärte Gegner des Vortragenden. Eine ganze Reihe erschien nur aus Neugierde in der angenehmen Hoffnung, ein kleines Skandälchen für billiges Geld zu erleben. Sie kamen nicht auf ihre Kosten. Ich selbst beobachtete den alten Sanitätsrat Dr. Schmitz, wie er sämtlichen Ausführungen des Redners mit wirklichem Interesse verfolgte. Mir selbst, der ich Kirchenrecht studiert hatte, brachte der Vortrag stofflich nichts Neues.
Eine dritte Sorte, die ganz Klugen und Leisetreter, blieben vom Vortrage weg und versammelten sich in zahlreicher Menge in Lauers Bierstube zu einem zeitigen Dämmerschoppen, um von dort aus durch die Fenster auf die Straße zu sehen und sich von jeder Bewegung an dem Versammlungslokal überzeugen zu können. Ihr Anführer war der Apotheker Stöck.
Außer der genannten Broschüre von Neyses mit zahlreichen Rollbildern, welche wirklich langweilig waren, hatte die ganze Sache aber noch eine andere Folge. Die Geistlichkeit stellte fest, daß in ihrem braven Bernkastel etwa sechzehn Personen lebten, die sich zwar Katholiken nannten, aber nicht praktizierten. Man drohte damit, sie auf eine Liste zu bringen und nach ihrem Tode nicht kirchlich zu beerdigen. Der Fall sollte bald akut werden: Ich lag an einer Lungenblutung darnieder, Apotheker Stöck, der die verschriebenen blutstillenden Arzneien aus seiner Lieferung kannte, gab Feuilletons über meinen Zustand abends bei Lauers aus und rechnete mit meinem baldigen Tod. Ich aber stand nach wenigen Tagen auf und ging zum Gericht. Mein biederer Amtsrichter Brinkmann sah mich derart entgeistert an, daß ich unwillkürlich lachend zu ihm sagte: Sie wollten mich wohl schon begraben? Ja, Herr Amtsrichter, was von ihnen nicht alles erzählt wurde. Er war ein Westfale und Protestant, hatte Vertrauen zu mir und berichtete mir bald alles getreulich. Man hatte sich also ehrlich schon um mein Begräbnis gestritten. Freundchen Krings, der Roisdorfer Landsmann, auf den ich später noch zurückkommen werde, hatte schon deswegen an meine alte Mutter nach Bonn geschrieben, die ihm aber sehr kräftig und deutlich geantwortet hatte. Ich lachte natürlich voller Hohn und gab durch Stöck allen Beteiligten zu verstehen, daß ich sie allesamt noch zu überleben gedächte. Sie brauchten sich gar keine Mühe zu machen. Tatsächlich sind sie heute, Ende Juni 1942, alle mit einer einzigen Ausnahme des alten Stöck alle längst tot.
Endete so meine Sache mit Gelächter, so war es mit Fränzchen
Müller schon anders. Der katholische Kreisschulinspektor, der auch
zu den räudigen Schafen gehörte, sollte nach seinem plötzlichen Tode in aller
Stille an der Kirchhofsmauer verscharrt werden. Seine Genossen legten sich aber
für ihn ins Zeug, unter Mitwirkung des evangelischen Pfarrers fand ein riesiges
Begräbnis statt, an dem sogar zum Mißvergnügen des
Dechanten Becker zwei ländliche Pastöre als katholische Ortschulinspektoren
teilnahmen. Das war schon eine rechte Blamage für die Geistlichkeit. Eine
besondere Ironie des Schicksals war es, daß der
genannte Dechant bei dem Tode von seinem Erzfeinde, dem Atheisten Rechtsanwalt
Schönberg, noch dankbar sein mußte für eine erwiesene
Betreuung.
Er
ist einer der sympathischsten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt
habe. Er ist ein Jurist von unbestechlichem Gerechtigkeitssinn, auf den ich
später noch zurückkommen werde.
Von den Richtern war mir der sympathischste ein Amtsgerichtsrat, Dr. Karl Winkler. Er konnte mir Recht von sich behaupten, sein Unabhängigkeitsgefühl sei so stark, daß er gegebenenfalls seinen eigenen Vater hätte unbefangen aburteilen können. Er kam natürlich nicht in die Verlegenheit. Sein Vater war ein hochbetagter Ehrenbürger der Stadt Kreuznach, Jean Winkler. Er besaß dort und in Oppenheim am Rhein je ein Weingut. Außer seinem Sohne Karl hatte er eine Tochter, deren Mann lange Jahre in Indien gelebt hatte. Mit Hülfe dieses Schwagers hatte Karl Winkler in seiner umfangreichen Briefmarkensammlung das Land Indien bis zu einem gewissen Zeitpunkt vollständig. Die Briefmarkensammlung ist später ihren eigenen Leidensweg gegangen. So lange ich Winkler kannte, hatte er nie Ferien gehabt. Seinen Urlaub benutzte er zu Weinernten, sei es in Kreuznach oder sei es in Oppenheim am Rhein. Auf beiden Gütern gab es gute Lagen und bis heute habe ich stets guten Wein, Rhein- oder Nahewein, von Winkler bekommen. Im übrigen machte er auch als Reserveoffizier der Artillerie reichlich militärische Übungen mit. Als Artillerieoffizier führte er im Weltkrieg eine schwere Kolonne. Die Imkerei hatte er von Jugend an bei seinem Vater erlernt und ich habe viele schöne Stunden mit ihm verlebt und gemeinsam geimkert. Bis dann der Weltkrieg uns trennte. Er zog ins Feld und ich vertrat ihn in Bernkastel auch im Bienenhaus so gut es ging. Als Richter war Winkler in weiten Kreisen sehr angesehen. Er verstand sich nicht nur auf Wein und dessen Anbau, sondern überhaupt auf alle Dinge, die mit Wein irgendwie in Zusammenhang standen.
Rechtsanwalt Schönberg hatte gute und viele Beziehungen zu den größeren Weingütern und Weinhandelsfirmen. Er verfügte über eine feine Zunge und ein reiches Wissen in Weinbausachen. Für eine Reihe von Firmen war er ständiger Berater und vereinbarte in seinen Verträgen stets das Amtsgericht Bernkastel als vereinbartes Gericht für die erste Instanz. Infolgedessen entwickelte sich in Weinhandels- und Weinbaukreisen das Amtsgericht Bernkastel zu einer eigenen Art Weingerichtsbarkeit. Die Rechtsprechung war schon ganz beachtlich.
Weniger Glück hatte Winkler mit seiner Familie. Seine Frau Irma, eine tüchtige Hausfrau und schicke Dame entstammte einer Offiziersfamilie. Der Vater war ein rechter Durchgänger, hatte es aber militärisch nur bis zum Hauptmann gebracht und litt an einer seltenen Krankheit. Eine Schwester, in Frankfurt verheiratet, wurde die todschicke Olle genannt. Die Schwiegermutter des Vaters muß einer angesehenen Kölner Familie (Reuss-Zöffe?) entstammt sein. Eine Speditionsfirma, deren Reichtum so groß war, daß die Polsterung in den Wagen, je nach den Toiletten der Damen, in der Farbe passend neu ausgeschlagen wurde. Das waren aber längst tempi passati. Anscheinend recht jung hatte man Frau Irma mit einem vermögenden katholischen Hotelbesitzer Baum in Kreuznach verheiratet, aus der Ehe entstammte ein Mädchen, das heute eine Frau Threes ist. Von ihr wurde Frau Irma schon vor Jahren Großmutter, am Ende ist sie heute schon Urgroßmutter. Die Ehe mit diesem Baum war nicht glücklich. Sie lernte damals den jedenfalls sehr hübschen und forschen Assessor Winkler, also Sohn einer angesehenen Familie in Kreuznach kennen und lieben. Er war Korrespondent bei den Bonner Rhenanen gewesen. Während der Scheidung mit ihrem Manne hatte sie in Bonn in einer Bonner Pension gewohnt und kannte daher eine Reihe Bonner. In dieser Zeit war Frau Irma konvertiert und vom Katholiken zu einer sehr überzeugten Protestantin geworden. Als wir sie 1910 in Bernkastel kennen lernten, war sie mit Winkler bereits sechs Jahre verheiratet und lebte in glücklicher Ehe, der eine Tochter Nora, ein Sohn Helmuth und eine zweite Tochter Ruth entsprossen waren. Frau Irma war von schlanker Figur und blasser Gesichtsfarbe, sowie etwas leicht angeknittert. Jedenfalls verstand sie es gut, mit ihrer schlanken Figur auch in einfachen Kleidern gut auszusehen. Sie war eine treffliche Hausfrau und eine vorzügliche Köchin. Sie verstand es, es ihrem Manne im Hause sehr angenehm zu machen. Sie bewohnten ein Haus des alten Weinhändlers Hauth in der Bahnhofstraße. Dasselbe war ganz gut, hatte aber einen Fehler, nämlich eine gemeinsame Waschküche, die durch einen schmalen Gang auch von dem großen Hause des Vermieters zu erreichen war. Diese Gemeinsamkeit war die Veranlassung zu dauernden Auseinandersetzungen.
Chronisch waren im Hause Winkler kleinere oder größere erotische Skandale mit dem jeweiligen Kinderfräulein, an denen Vater Winkler aber niemals die Schuld trug. Er hatte guten Humor und verstand es glänzend, über gelegentliche kleinere Faux pas der guten Frau Irma hinweg zu sehen. Frau Kreisarzt Lehmann hatte sich eine neue Küche angeschafft und Frau Irma, die dies der Frau hätte lächelnd nachsehen wollen, erhob ein lebhaftes Gegacker. Karl Winkler aber bemerkte grinsend zu Lehmann: Daß ihre Frau sich eine neue Küche angeschafft hat, wird Ihnen meine Frau niemals verzeihen können. Das war betreffend und prachtvoller Humor. Frau Irma hatte nämlich, als ihre vorzüglichste Eigenschaft neben ihrer Freude an etwas boshaftem Klatsch und daran litten wir in der Kleinstadt alle eine recht betonte Eifersucht, und zwar so ziemlich auf alles und jedes und jegliche Personen, die mit ihr und ihrem Manne in Berührung kamen. Zum Beispiel plagte sie ihren guten Karl mit einer Liebschaft, die dieser angeblich mit der stattlichen und kinderlosen Frau des recht patenten und wohlbeleibten Herrn Willi Clemens jun., Weingroßhändlers, zu ihrem Manne hegte. Ich glaubte nicht, daß etwas daran war, die Liebessachen dieser etwas derben Frau mit Alabasterbusen lagen auf anderen Gebieten. (Der Ausdruck fand sich in einem Briefe an sie, der in falsche Hände geraten war und in Bernkastel an den Stammtischen die Runde gemacht hatte.) Diese Eifersucht erstreckte sich gleicherweise auf eine neue Damenbluse, oder z. B. auf einen neuen Sportanzug mit Lederknöpfen, in dem ich eines Tages auftrat. Kurzum, es war zum Lachen. Ihre ständige und vollständig gedankenlos zur leeren Formel erstarrte Redensart war: Mein Mann hat auch gesagt. . .Dabei hatte der gute Mann nie etwas gesagt. Karlchen, wie von Hymmen ihn nannte, dachte nicht im entferntesten daran, so etwas zu sagen. Er ging nicht auf die Jagd, trank wenig und dieses mit Verstand und Weinkunde und widmete seine ganze freie Zeit seiner Familie, seiner Briefmarkensammlung, der Imkerei und der Aufzucht von Schmetterlingsvarietäten. Er besaß hierin eine besondere Übung und unterhielt einen lebhaften Briefwechsel mit den Verwaltungen von Zoologischen Gärten und einschlägigen Schmetterlingshandlungen. In seiner Sammlung konnte man ganze Reihen einzelner Schmetterlingsflügel bewundern, deren Zeichnung und Farbenabstufung eine genau verlaufenden Entwicklung aufwies. Auch hatte er einen lebhaften Verkehr an der Briefmarkenbörse und war gern bereit, für diese oder seine ... Neigungen erkleckliche Summen auszugeben, sehr zum Verdrusse von Frau Irma, die hierfür wenig Verständnis hatte.
Eine Bekanntschaft mit einem sehr gewandten Bankbeamten Dr. Brüning, der zunächst in Bernkastel bei der dortigen Volksbank arbeitete, sollte später ihm wie manchem anderen verhängnisvoll werden. Die Bekanntschaft verdichtete sich zur Freundschaft, und diese führte zu gewagten Bankgeschäften. Wie mir erzählt wurde, besaß Winkler beim Ausbruche des Weltkrieges (Brüning war mittlerweile mit der Volksbank zum Barmer Bankverein und mit diesem zur Deutschen Bank in Trier gekommen) ein Effektenkonto von etwa neun mal hunderttausend Mark, von denen etwa viertausend Mark ungedeckt waren. Er geriet damit ins Unglück. Der Zusammenbruch fraß fast sein ganzes Vermögen auf, und selbst seine wertvolle Briefmarkensammlung geriet in den unersättlichen Schlund der Bank. Der Weinbesitz konnte durch ein Schuldungsverfahren noch gerettet werden. Nach dem Umbruch traf ich Winkler 1933 bei einer Parteiveranstaltung der Juristen in Köln wieder und war ordentlich erschüttert, wie wenig gut er aussah und wie schlecht er angezogen war. Er mag damals allerdings auf dem Tiefstand seines finanziellen Niedergangs gewesen sein. Seine Augen hatten aber noch den gleichen alten Glanz und konnten einen recht schelmisch anlachen.
Wir hörten uns damals nach einem Marsch eine Ansprache des
Oberlandgerichtspräsidenten unter freiem Himmel an und saßen nachher im Kölner
Bürgerverein bei einem Teller Erbsensuppe in einem großen Gemeinschaftsessen,
wie es damals mode war. Seitdem hat er seinen
tüchtigen Sohn im Kriege verlieren müssen, der es als Staatsanwalt bei dem
Volksgericht in Berlin zu einer beachtlichen Stellung gebracht und sich
verheiratet hatte. Mit seiner älteren Tochter Nora, die eine bildschöne junge
Frau geworden war, hat er auch allerlei Unglück gehabt. Als ich gegen Ende des
Weltkrieges die Kriegsbeschädigtenfürsorge des Kreises Bernkastel übernommen hatte,
wurde mir eines Tages ein junger Wehr zur Beratung überwiesen, ein Sohn des
obengenannten Weingroßhändlers, der den Spitznamen der Bläckes
oder der Postscheckrat trug. Der Junge sah sehr schlecht aus. Trotzdem wurde er
Winklers Schwiegersohn und Nora, die zwei Kinder von ihm hatte, ging es eine zeitlang gar nicht gut. Winkler war gezwungen, die
öffentliche Fürsorge für diese beiden Enkel in Anspruch zu nehmen. Nora wurde
geschieden, später Witwe und heiratete als solche einen der sehr reichen Brüder
Anheuser, die einen riesigen Grundbesitz im
Hessischen besaßen. Die beiden Brüder führten ununterbrochen Streit
miteinander, und der riesige Besitz an Weingütern und Wäldern mit Jagdschloß usw. schmolz in unausgesetzten Prozessen stark
zusammen. Wie es heute steht, weiß ich nicht. So spielt das Leben.
Die jüngere Tochter Ruth hatte den Lehrgang einer technischen ärztlichen oder
klinischen Assistentin durchlaufen und später eine Stellung in Bonn an der
Universität bekleidet. Sie war in dieser Zeit öfter bei uns eingeladen. Sie war
körperlich wohl entwickelt, im übrigen aber doch das geblieben, als was sie ihr
Vater in ihrem jungen Kindesalter bezeichnet hatte: Unser
Dummerchen. Charakterlich schien die Mutter nicht den besten Einfluß auf sie gehabt zu haben, und wir hatten von ihr den
Eindruck, daß sie es in Liebesdingen schon zu
reichlich praktischen Erfahrungen gebracht hatte.
Anfang 1942 hörte ich dann von Schönberg, daß
Karlchen Winkler in Kreuznach als Amtsgerichtsdirektor aus dem Dienst
geschieden und in den Ruhestand getreten sei, den er jedenfalls redlich
verdient hatte. Hoffentlich erlebt er noch einen ruhigen Lebensabend im Hause
seiner Väter in der Rheingrafenstraße in seiner Heimatstadt Kreuznach. Dorthin
strebte er schon im Jahre 1910 und hatte wenig Verständnis dafür, daß er damals, kurz nach der Scheidung seiner Frau von
einem Kreuznacher Hotelbesitzer, als Richter nicht gut möglich war. Eines Tages
war er auf seine Bewerbung hin an das Amtsgericht in Niederlahnstein versetzt
worden, wo er auch eine gute Wohnung hätte finden können. Seiner Frau aber, die
sich damals in der Vorstellung gefiel, sie hätte jetzt einen so angenehmen
Verkehr mit dem Landrat von Nasse, setzte es durch, daß
er diese Versetzung rückgängig machte. Ich hatte ihm damals von diesem Rückzug
dringend abgeraten und glaube, daß er es auch oft
bereut hat. Die Folgen waren nicht nur die törichte Heirat der Nora, sondern
auch ein häufiger Wohnungswechsel, der ihn dazu zwang, einmal seine Wohnung ins
Hotel Drei Könige (wo ich ihn einmal besuchte bei einem Ausflug nach Saarburg) und später sogar nach Müllem
an der Mosel zu verlegen, von wo er dann täglich zum Dienst nach Bernkastel
fahren mußte. Schließlich war über die Kreuznacher
Sache Gras gewachsen, und es gelang ihm zu seinem weiteren Unglück, in seine
vielgeliebte Vaterstadt Kreuznach zurückzukehren. Dor lebt er eben noch. Mit
seiner verwitweten Schwester und deren Sohn war das Verhältnis nicht gut.
Als
wir 1910 nach Bernkastel kamen, war an der Bernkasteler
Volksbank, die ein Einheimischer namens Tapperich
leitete, der später Schwiegervater von Viktor Thanisch
wurde, als zweiter Direktor ein Dr. Brüning angestellt, ein kleines bewegliches
Männchen, der mit Winkler befreundet war. Man sagte, er stamme aus kleinen Kreisen,
sei der Sohn eines Schusters, seine wirklich nette und angenehme Frau Tochter
aus einer Brauerei. Irre ich nicht, so ging die Bank später an den Barmer
Bankverein und mit dieser auf die Deutsch Bank über. Winkler war Dr. Brüning
stets dankbar für die guten Tipps, die er ihm gab. Alle Welt war von Brüning
entzückt, nur Schönberg hatte Mißtrauen und warnte
mich vor ihm, es sei ihm nicht zu trauen. Wir sind auch mit Brüning und seiner
Frau niemals in gesellschaftlichen Verkehr gekommen, weder damals in Bernkastel
noch später anderswo. Wie man heute sagen kann, zu unserem großen Glück, denn
Schönbergs Warnung sollte nur allzu wahr werden. Alle, die mit ihm zu tun
hatten, hatten später Schaden durch ihn. Damals aber kam er in großen Flor und
machte Karriere in seinem Bankfach wie ein feuriger Renner. Bald kam er als
Direktor an die Deutsche Bank in Trier und erwarb sich dort Ruhm, Namen und
Vermögen, schluckte für die Deutsche Bank das Bankhaus Rewerchon
und war ein großer Mann. Er wurde dann Direktor der Deutschen Bank in Frankfurt
am Main. Ein Schwiegersohn meines Hauswirts Heinrich Leistner, der sein
Günstling in der Bank war, berichtete mir später, in Frankfurt habe es
Differenzen gegeben. Brüning fiel wie eine Katze auf die Füße und landete als Mitdirektor der Deutschen Bank in Köln. Hier begann nun
eine geradezu dolle Geschichte, die schließlich nach
Jahren mit einem jähen Sturz endete, wie Schönberg und ich es jahrelang
vorausgesehen hatten. Unseren Vetter Werner Brügelmann hatte er in einem
Winterurlaub in St. Moritz kennen gelernt. Ich warnte Werner vor ihm und
wiederholte diese Warnung später seinem Vetter Otto gegenüber, als Brüning nach
Köln versetzt wurde und dort begann, eine große Rolle zu spielen. Ich erinnere
mich, daß ich den Ausdruck gebrauchte: Er ist
ein erklärter Lump und mit größter Vorsicht zu genießen.
Ich greife nochmals zurück: Gegen Ende des Krieges, als wir schon in
Bernkastel waren, hatte der alte Schmidtchen die
Absicht, seine Brauerei zu verkaufen. Herr Leistner, der mittlerweile schon das
Hausgrundstück von Frau Liell gekauft hatte, war für
den Plan gewonnen, in einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft den
technischen Direktor zu machen. Ich hatte selbst vor, den Rest meines Vermögens
in Aktien dieser Brauerei anzulegen. Es fand eine Besprechung mit Brüning
statt, der als krankes Bündel Nerven in Trier im Bett lag. Bei dieser
Gelegenheit habe ich ihn zuletzt gesehen.
Er entwickelte seinen Plan und seine Beziehungen, durch die er ungarische
Gerste zu schieben gedachte. Gottlob war Frau Leistner verständig genug, ihren
Mann von diesem Plane abzubringen, der für ihn doppelt verlockend war, weil er
früher in demselben Unternehmen jahrelang Braumeister gewesen war. Er kannte
alle Wirte und war mit dem ganzem Betrieb genauestens vertraut. Meine 35.000
Mark, die ich damals noch besaß, habe ich zwar in Kriegsanleihen verloren,
nachdem ich törichterweise es abgelehnt hatte, sie meinem Freund Bruhns in Leysin als Hypothek auf ein neu gebautes Chalet zu geben.
Ich hätte sie dort gut durch die Entwertung retten können. Aber alles war fest
von unserem Sieg und von der dauernden Geltung unserer Währung durchdrungen.
In Bernkastel hatte Frau Brüning einen intimeren Verkehr mit Frau Notar Sieburg und setzte ihn auch in Köln weiter fort. Weinend gestand
sie ihr eines Tages, ihre alten Möbel, in denen sie glücklich gewesen, ständen
jetzt in den Dienstbotenzimmern und ihr Mann habe sich jetzt die großkotzigsten
Manieren angewöhnt. Aber das Glück sei nicht mehr da. In der Tat war der Mann
jetzt als Bankräuber wie ein losgelassener Löwe und betrieb die Gaunerei im
allergrößten Stil. Eins, zwei, drei, war er Mitglied des Kölner Clubs, in den
hineinzukommen sich die Angehörigen der Familien Brügelmann seit langen Jahren
vergeblich bemüht hatten, war päpstlicher Protonotar und was weiß ich.
Schönberg und ich trafen eines Tages Sieburg in Köln,
der dort einen großen Bernkasteler Abend aufziehen
wollte. Als Brüning jedoch hörte, daß Schönberg und
Rech auch kommen würden, blieb er unsichtbar. Er ließ sich auch gern als
Verwandten des damaligen Reichskanzlers Brüning ansprechen, so viel ich weiß,
war er aber gar nicht verwandt mit diesem Manne. Seine Wohnung war ein ganz
toller Protzkasten geworden und angefüllt auch mit Kunstsachen aller Art, die
er wahllos zusammengebracht hatte, vollgestopft. Der spätere
Versteigerungskatalog der Firma Lempertz (Hanstein) ist ein wahres Kulturdokument jener wüsten
Schieberzeit. Er warf mit Geld nur so um sich, zahlte enorme Zinsen und
Provisionen und entnahm diese ganz bedenkenlos den Geldern, welche ihm neue
Vertrauensselige zur Anlage brachten. Es kam zum Krach, zu dem es kommen mußte. Und zur großen Gerichtsverhandlung in Köln, wo es
sich um zwanzig bis vierzig Millionen handelte. Die Sache war schließlich ganz
und gar systemlos und ging auf glatten einfachen Betrug an großen (Geld-)
Leuten, die zu viel Geld hatten und nicht genug bekommen konnten, hinaus.
Brüning wurde zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Er wird sie inzwischen
abgesessen haben. Mit angeklagt war sein früherer Famulus,
der Bankprokurist Dr. Conrad, Leistners Schwiegersohn, er wurde aber gottlob
freigesprochen. Die Benediktiner von Maria Laach, die
auch mit einer großen Summe drinsaßen, haben aber, anscheinend mit Erfolg, die
Deutsche Bank selbst dafür haftbar gemacht. Im Stillen mag die Bank manchen
Schaden haben decken müssen. Sic transit gloria mundi.
Er
war ein ehrgeiziger Volljude mit unterdrücktem
Erwerbssinn, schlank und rassig, ein aristokratischer Typus seiner Gattung,
Sohn eines Trierer Rechtsanwaltes, der es zu bedeutendem Vermögen gebracht
hatte. Lange hatte er vergeblich versucht, eine Christin zu
heiraten. Als ihm dies nicht gelang, hatte er eine hübsche junge und
charakterlich sehr angenehme Cousine gleichen Namens aus Frankfurt am Main
geheiratet. Beide Eheleute waren literarisch trefflich gebildet und besaßen
einen guten Geschmack auch in sonstigen künstlerischen Dingen. Einige kleine
Buben belebten das Haus. Sie wohnten auf der Bernkasteler
Seite in unserer Straße in einem Haus des Anstreichermeisters
Eich (Kaiserallee). Die Küche lag in einem Anbau, irre ich nicht, zu ebener
Erde. Eine vorzügliche Köchin ernährte gleich einen ganzen Teil der Miteinwohner und Hintersassen mit. Rothschild konnte sehr
ironische und witzige Schilderungen aus dem Leben der ehrlichen Handwerker und
ehrsamen Kaufleute in Bernkastel geben, die ihn im großen wie im kleinen zu behumsen versuchten. Es gelang ihnen aber keineswegs immer.
Er hatte den Ehrgeiz besessen, in Preußen Richter zu werden, ohne sich nach dem
Osten versetzen zu lassen, und war ihm dies auch, nachdem er über zehn Jahre
lang als Gerichtsassessor ausgehängt worden war, gelungen, etatmäßiger
Amtsrichter zu werden. Er war bereits dienstlich so alt geworden, daß er gleich Amtsgerichtsrat wurde. Diese Ehre wurde
damals nur ziffernmäßig der älteren Hälfte der preußischen Amtsrichter zuteil.
Auch war er als Dienstältester der aufsichtsführenden
Amtsrichter in Bernkastel und man hatte, wie man Winkler eines Tages verriet,
eine Amtsrichterstelle in Bernkastel wie saures Bier ausgeboten, nur um einen
älteren Amtsrichter dorthin zu bekommen, der dann an seiner Stelle aufsichtsführender Amtsrichter hätte werden können. Die
Aufsicht brachte allerhand Schriftverkehr mit der vorgesetzten Behörde mit sich
und führt zu endlosen Plänkeleien, die zwar von seiten
Rothschilds mit einem großen Aufgebot an kluger Gerissenheit und Gewandtheit
geführt wurden, aber stets das Endergebnis hatten, daß
man von oben alles mögliche ablehnte. Dazu kam, daß
der ihm zweifellos eigene, aber durch das Beamtentum unterdrückte Erwerbssinn
ihn auf einem seltsamen Gebiete mit seinem Kollegen v. Hymmen
zusammenführte, der ihm sonst so wenig ähnlich sah. Beide konnten sich nicht
genug tun, die Notare als geldgierig zu verschleißen. Beide führten einen
Kampf, nicht etwa gegen das Rheinische Notariat, sondern lokal gegen die beiden
Notare in Bernkastel. Als der Klügere hob Rothschild, wie es mir jemand
drastisch schilderte, die Steine auf und gab sie Hymmen
in die Hand, der dann tapfer damit warf. Die Rückwirkungen auf derartige
Angriffe mußte dann immer er ertragen. Für ihn war es
mehr eine ehrlich gemeinte Schrulle eines mäßig begabten, wenn nicht gar
beschränkten Menschen, für Rothschild dagegen war es ein gewisser Sport, in der
er seine Gehässigkeit gegen dieses damals den Juden noch vollständig
verschlossene Institut des Notariats Luft machte. (Erst kurz vor dem Umbruch
hat es die Kölner Judenschaft durchgedrückt, gegen das Gutachten der
Rechtsanwaltskammer in Köln und trotzdem der Justizminister vierzehn Tage
vorher im Preußischen Landtag den Gedanken als unmöglich heftig abgelehnt
hatte, einen jüdischen Anwalt als ersten zum Rheinischen Notar mit Sitz in Köln
zu machen. Der Umbruch brachte allerdings dieser Errungenschaft ein jähes Ende,
indem ein SA-Mann bei dem Notar erschien und ihm drohte, ihm die Knochen im
Leibe zu zerbrechen, wenn er sein Notariat ausüben wolle.
Im Volksmund führte v. Hymmen nach seinem Vornamen
den Spitznamen Notar Ludwig. Die Spannung mit seiner vorgesetzten
Behörde war mit einem Schlag beseitigt, als im heißen Sommer 1911 sich
Rothschild und v. Hymmen je auf eine
Landgerichtsstelle meldeten. Im Mai-Juni schon kam der eine nach Berlin, der
andere nach Bonn. Es kam alsbald ein Revisor namens Hagen und entpuppte sich
als ein angenehmer Mensch, mit dem wir abends bei einem Glase Bier unsere
Wünsche besprachen. Bald hatte wir alles, war wir nur wollten, z. B. in meiner
Abteilung für meinen Assistenten eine Schreibmaschine, für die Vormundschaftsabteilung
eine neue Mietlokalität gegenüber usw. Karlchen Winkler wurde Aufsichtsführender
und alles lief wie geschmiert.
Frau Rothschild war ein wirklich nettes und liebes Frauchen. Sie nahm sich gleich zu Anfang unserer Ehe meiner Frau sehr an. Denn diese hatte von Anfang an gar kein Verhältnis zur Frau Irma Winkler. Rothschilds besuchten wir häufig abends und diese uns, wobei wir uns aufs beste und geistreichste über alle möglichen Sachen unterhielten. Er wußte vieles, hatte eine Menge Interessen und einen scharfen Blick. Er wollte gar nicht begreifen, daß ein Jude sich in irgend etwas von einem sonstigen Deutschen unterschied. Ich konnte ihm dies aber durch viele Einzelheiten aus meinen Erfahrungen mit Juden sachlich widerlegen, wobei er allerdings rein dialektisch immer recht behielt. Wo mag er heute dran sein? Heute wird er wohl den Unterschied zum Arier nicht mehr leugnen. (15.1.42 bzw. 1.8.42).
Für die Landbevölkerung war es ein Unding, einen Eid vor einem jüdischen
Richter zu schwören, mußten aber natürlich aus
kollegialen Rücksichten die Beanstandung vermeiden. Die Eingeborenen übertrugen
übrigens nach dem Weggang von Rothschild ihre Antipathie gegen seinen
Nachfolger, der ihnen als Hannoveraner mit seiner spitzen Aussprache des S
volksfremd vorkommen mochte. Eine Welt liegt zwischen 1911 und 1942. In diesen
Jahrzehnten hat sich Deutschland völlig umgestürzt. Antisemitisch war zwar
Rechtsanwalt Schönberg schon als Student und Angehöriger einer die Juden
bekämpfenden Studentenverbindung gewesen mit altdeutschem Einschlag. Allerdings
war dies alles mehr Theorie. Praktisch nahm er noch nach 1933 die Interessen
der verfolgten Juden wahr, solange dies gesetzlich zulässig war. Er kam
natürlich ganz gut mit Rothschild aus, aber dieser war auch viel zu klug, um er
mit Schönberg zu verderben.
war
früher Arzt in Kempfeld im hohen Hunsrück gewesen,
einem sehr netten aber stark abgelegenen Ort, der für ihn wohl mit Rücksicht
auf den Gesundheitszustand seiner Frau bestimmend gewesen war. Diese, eine
stattliche vornehme Erscheinung, Tochter eines Obersten, war etwas
lungenschwach. Er selbst stammte aus kleinen Verhältnissen und bezeichnete sich
selbst gern launisch als eine unglückliche Mischung zwischen Berliner
Schutzmann und norddeutschen Gent. Auch in seinem Charakter war er ein
ausgesprochen norddeutscher Typus, eine aufrechte, männliche Erscheinung. Zu
seinem weiteren Fortkommen hatte er sich in seiner Kempfelder
Zeit zur Kreisphysikatsprüfung vorbereitet. Und
dieses ja nicht leichte hat er auch in reifen Jahren mit zwei hübschen Töchtern
glänzend bestanden. Bald war ihm die Stelle des Kreisarztes in dem gepflegten
städtischen Bernkastel zugefallen. Er hatte auch auf eigene Rechnung
Privatpraxis betreiben dürfen und in den ersten Jahren seiner Tätigkeit war er
förmlich Modearzt in den besseren Familien geworden. Durch ein paar
unglückliche Zufälle, deren Breittretung durch eben
dieselben, die anfangs mit ihm fast familiär verkehrt hatten, war dies schon
eine Zeit lang vorbei, als wir auf dem Plan erschienen. Unser ersten Mädchen
aus der Graacher Schäferei war rein zufällig an ihn
als Arzt gekommen und hatte nie vergessen, daß er ihr
geholfen hatte. Als meine Frau und ich ziemlich hilflos im Bett lagen, holte
sie ihn als Arzt und er vergaß niemals, welchen seltsamen Anblick ihm das Assessorenehepaar im Bett darbot bei seinem ersten Besuch.
Der Mann blaß, ohne einen Ton zu sprechen, liegt im
Bett mit einem aufgespannten Regenschirm, die junge Frau mit einem vorzeitigem
Wochenbett im Ammenbett. Beide an Blutungen leidend, der eine an der Lunge, der
andere am Unterleib. Unser erstes Kind, das ein Junge zu werden versprach,
hatte so ein trauriges Ende genommen. Der Kreisarzt, der sich das Lachen verbiß und todernst blieb, hatte erst eine sehr ernste
Auffassung vom Gesundheitszustand der jungen Leute, überzeugte sich aber bald
davon, daß es längst nicht so schlimm war. Später
machten wir Besuch bei ihm und verkehrten bei ihm und seiner Frau
freundschaftlich. Mit ihm verband mich ein besonderes Gefühl der
Kameradschaftlichkeit dank der vielen gemeinsamen Fahrten im Hunsrück. Das kam
folgendermaßen: er hatte von Jahr zu Jahr gehofft, nach Düsseldorf in die
Heimat seiner Frau versetzt zu werden. Außer seinem Gehalt erhielt er ca. drei bis
viertausend Mark Dienstaufwandsentschädigung, mußte
aber jedes Jahr soundso viele Dienstreisen mit einer mit einer vorgeschriebenen
Anzahl von Kilometern nachweisen. In der Hoffnung auf Versetzung verschob er
diese Dienstreisen möglichst in den Herbst. Dann hatten die Landwirte mehr
freie Zeit. Er hielt zwei Pferde und einen Wagen, und ich war sein ständiger
Begleiter. Ich erlernte das Kutschieren und konnte ihm dabei etwas behülflich sein. Die Reisen gingen meist auf sehr
abgelegene Dörfer und erstreckten sich auf den hygienischen Zustand, die
Dungumwehrungen, die besser aus Tonerde als aus Zementmauern gefertigt wurden,
weil die Humussäure den Zement angreift und zerstört. Auch wurden die
zahlreichen Wasserleitungen, deren Anlage ein Verdienst des verflossenen
Landrats von Hammerstein gewesen war , besichtigt. Die meist trefflichen
Quellen waren vielfach mit Kohlensäure versetzt, welches die gußeisernen Rohre angriff. In komplizierteren Fällen ging
der Kreiswiesenmeister zur Besichtigung mit. Ein fideler und energischer
Rheinländer, den ich kennen und schätzen lernte. Irre ich nicht, so saß er in Rhaunen. In diesem abgelegenen Orte waren wir eines Morgens
in aller Frühe. Mein heutiger Kollege Römer in Bonn war damals dort Notar. Und
ein Amtsrichter Liell bewohnte den ersten Stock einer
Molkerei als Wohnung. An dem Kreiswiesenbaumeister erlebte ich eines Tages, was
es mit einer angeborenen Gewitterfurcht, selbst bei einem sehr vernünftigen
Menschen für ein Bewenden hat. Wir waren an einem hochgelegenen Ort. Es zogen
Gewitterwolken auf. Er bemerkte sie und mitten im Gespräch verabschiedete er
sich mit affenartiger Geschwindigkeit und setzte gleich querfeldein im
Laufschritt den Berg hinunter, durch eine bewaldete Anhöhe auf das bewohnte Tal
zu. Ich sehe ihn noch, wie er in seinen Nagelschuhen und den naturgefetteten
groben Wollstrümpfen wie eine Gemse abwärts sprang.
Er hatte uns vorher einen kleinen Vortrag über die Regendichtigkeit solcher
gefetteten Strümpfe gehalten. Lehmann und ich konnten uns des Lachens nicht
erwehren, blieben ruhig oben. Der Kreisarzt machte mir aber klar, daß der Mann hierzu nichts konnte. Ich lernte
mancherlei auf diesen Hunsrückfahrten an Land und Leuten kennen und wußte in vielen Dingen besser Bescheid als der Landrat v.
Nasse, der sein Land, wie ich zu sagen pflegte, vom Keller des Landratsamtes
aus zu regieren pflegte, obschon ihm ein Dienstwagen zur Verfügung stand und er
ihn selbst fahren konnte. War das Wetter allzu schlecht wir fuhren bei
jedem Wetter presente medico
nihil nocet so nahm
ich einen altehrwürdigen Pelzfußsack mit, der mir zusammen mit ein Paar alpinen
Nagelstiefeln beste Dienste tat. Dazu ein Paar dicke doppelte, bis an die
Ellbogen gestrickte Wollhandschuhe, alles noch aus meiner Kurzeit in Arosa.
Hierzu muß man wissen, daß
der Kreis Bernkastel ein großes Gebiet umfaßt und die
Kreishauptstadt exzentrisch an einem Zipfel liegt. Außer Bernkastel gehören
noch die Amtsgerichte Rhaunen und Neumagen
zum Kreis, der sich bis zu der Oldenburger Exklave Birkenfeld erstreckte, dem
Sitz der Halbedelsteinindustrie. Fast vierhundert Mühlen jeder Art gab es an
den zahlreichen Bächen des vielfach tief eingeschnittenen Geländes. In manchen
abgelegenen Orten waren noch altertümliche Wirtschaftsformen und vielfach
Kulturrelikte, z. B. eigene Webereien, Gerberei und gemeinsame Lohmühlen,
eigenes Gewebe, Ölmühlen usw., usw. Unsere Fahrten dehnten sich bis nach Woppenroth aus und in Hottenbach sah
ich erstmals in meinem Leben einen pflügenden Juden. Der Vater war
Bauer, aber natürlich auch Viehhändler, der Sohn nur Bauer. Ein Unikum, das
nicht mancher je gesehen zu haben sich rühmen kann.
Lehmann lehnte jeden Verkehr mit Juden für sich und seine Familie ab. Seine
Frau konnte daher nichts in einem jüdischen Geschäfte kaufen. Mit Rothschild
hatte er keinerlei Verkehr. Kam er mit ihm dienstlich zusammen, z. B. bei
Obduktion einer Gerichtsleiche, so begrüßte Lehmann den protokollführenden
Gerichtsschreiber durch Handschlag, den jüdischen Richter durch stumme
Verbeugung. Wer mit Kreisarzt Lehmann verkehrte, mußte
doppeltes Essen geben, denn mit Rothschild konnte man ihn nicht einladen. Man
kann sich daher vorstellen, welchen Groll und Bitterkeit Rothschilds gegen ihn
hegten. Lehmann blieb stets ganz korrekt, überhaupt behielt man gegenseitig die
Haltung. Nur einmal rutschte Frau Rothschild meiner Frau gegenüber aus, indem
sie die Mutter Lehmanns als Fischweib bezeichnete, wozu allerdings deren
Äußeres alle Veranlassung gab. Sie war nämlich eine ungemein wohlwollende
ältere Frau norddeutschen Charakters, aber in der ganzen Figur und im Gesicht
derartig auseinandergegangen, daß sie wirklich sehr
gut als Fischfrau auf dem Markt hätte sitzen können. Im Gegensatz zu ihr war
Frau Rothschild die anmutige Tochter einer allerdings ebenso jüdisch wie häßlich aussehenden Frankfurter Dame, von der Hans v. Gumppenberg in seiner Heine-Parodie treffend bemerkt: Frisch
gekauft im ersten Vorwitz sind sie zum Entzücken freilich, aber später lieber
Moritz, später werden sie abscheulich.
Der rheinische
Schieferdevon, genannt die Grauwacke, ist ein ausgezeichneter Baustoff, aber
gefährlich, wenn er nicht ganz knochentrocken verbaut wird. Der frühere Mann
unserer Hauswirtin Hildegard Liell hatte, ehe er sich
als Junggeselle sein stattliches Haus baute, die Steine brechen und jahrelang
unter einem Dache trocknen lassen, bevor er sie verbaute. Das Haus war und
blieb stets trocken, kühl im Sommer und warm im Winter. Ganz im Gegensatz
hierzu hatte man an dem Hause, das Kreisarztes Lehmann bewohnte, den Fehler
begangen, mit zum Teil feuchten Steinen zu bauen, und der öffentliche Vertreter
der Hygiene hatte Feuchtigkeit und Salpeterausschläge an den Wänden seines
Schlafzimmers, war aber an diesem Punkte schwach gegenüber seiner Frau, die das
sonnige und trockene Straßenzimmer nicht wie natürlich zum Schlafzimmer sondern
zum Salon eingerichtet hatte. Wir benützen nicht gern diesen stillosen Salon
und drangen oft genug gänzlich unbekümmert in das Wohnzimmer zu ebener Erde ein,
obschon Frau Lehmann die strikte Losung gegeben hatte: Bitte nach oben.
Dieses bitte nach oben war für uns eine sprichwörtliche Redensart
geworden. Die sonst so korrekte Frau Olga hatte auch einige wenige sonstige
Schwächen, z. B. sang sie gern. Hierbei brauchte sie aber einen solchen Aufwand
an Stimmitteln, das ich erst schnöder Weise nur als Wehgeschrei bezeichnete.
Ihr Gesangspartner war der Weingroßhändler Willi Clemens, der sich vor seinem
Einsatz als Sänger den Bauch stark aufblies und sich gewaltig kröpfte. Ich
beobachtete ihn dabei und obwohl ich keine Miene verzog, kam ihm ein
plötzlicher Lachkrampf, indem ihm blitzartig einleuchtete, welchen komischen
Eindruck sein Gebaren machten mußte. Er besaß Humor
genug, selbst darüber herzlich zu lachen.
Kamen
wir an einem nassen und kalten Spätherbsttag in einen Moselort,
so tranken wir wohl mal einen einheimischen Grog, das heißt einen
heißgemachten Wein, nicht gerade aus der besten Lagerung und vom besten
Jahrgang, der reichlich mit Pfefferkörnern und Zucker versetzt war. Er fuhr
einem wie Feuer durch den Schlund und wärmte gewaltig. Ich glaubte, er war noch
eine Erinnerung an den mittelalterlichen Würzwein, die dort noch lebendig war.
Der naturreine bessere Wein wurde damals als gemeiner Wein
bezeichnet. Lehmann gab mit entwaffnender Offenheit zu, daß
ihm gezuckerter Wein mit brandigem Beigeschmack, der einem ordentlich scharf
durch die Kehle lief, besser schmeckte als eine feine und edle Kreszenz. Da
konnte ich gar nicht mit.
Umgekehrt konnte ihm ein auch nur leicht angepicktes Ei den ganzen Eierkuchen verderben und seinen Darm ernstlich in Mitleidenschaft ziehen, während mir ein schon recht angegangenes noch stets gut schmeckte und bekam. Verschieden sind die Bestrebungen der Menschen.
Mit Frau Olga hatten wir einen gemeinsamen Butterbezug. Obgleich alles
peinlich genau gebucht wurde, drohte es doch einmal wegen unterbliebener
Zahlung ihres Butteranteils zu einer ernsten Differenz zu kommen. Frau Olga war
besten Glaubens der Überzeugung, ihren Anteil schon bezahlt zu haben, was aber
nicht der Fall war und urkundlich belegt werden konnte. Ich zog daraus den Schluß: Möglichst nichts gemeinsam, sondern jeder für sich
allein.
In
eine ähnliche Differenz geriet ich einmal mit Kollegen Winkler. Wir saßen bei
Lauers beim Bier und als es zum Zahlen kam, hatte Winkler nur ein
Zwanzigmarkstück in Gold bei sich, das die Kellnerin nicht wechseln konnte. Als
ich von Winkler das Geld in einer gewissen Zeit nicht zurück bekam und ihn
deswegen fragte, meinte er, er habe es mir schon längst zurückgegeben. Wir
hatten beide buchgeführt, und es standen Meinungen und Buchungen gegenüber.
Sachlich ließ sich die Angelegenheit nicht weiter klären. Jeder von uns hätte
genau und besten Glaubens das Gegenteil von dem beschworen, was der andere
geschworen hätte. Die Prozeßregeln über die
Beweisführung wurden blitzartig klar. Als vernünftige Leute einigten wir uns.
Winkler gab mir für die Hälfte der Differenz Rotwein seines eigenen Wachstums
aus Rheinhessen. Ein Prozeß hätte nach Beweisregeln,
also ordal entschieden werden müssen.
Weder der Jurist noch ein sonstiger Fachmann ist in Dingen, die ihn
persönlich angehen, vor groben Schnitzern gefeit.
Winkler, ein ganz trefflicher Prozeßrichter, übergibt
an Schönberg schon fertiggestellte Klage seiner Frau auf Rückgabe eines
Darlehens. Der Anwalt liest den Schriftsatz und gibt ihn mit den Worten zurück:
Als Richter würden Sie die Klage ohne weiteres abweisen, sie haben die
Kündigung vergessen. Winkler mußte dies lachend zugeben.
Ein
Gutsbesitzer Mainzer, der zwei linke Füße hatte, wollte seinen Garten in eine
Gärtnerei umwandeln und sich dabei mit einem Gärtner Mockk
verbinden. Um Vermeidung von Verwechselung wollte er den Namen seiner Frau gebrauchen,
die eine geborene Unkel war. Er hatte vom Notar Dr.
Astor, unrichtig beraten, schon seine gesamten Drucksachen auf Mock und Unkel abgestellt. Astor verstand es mich dazu zu bewegen,
unter Vorlegung von allerlei Literatur ihm eine offene Handelsgesellschaft
unter Mock und Unkel einzutragen. Jedenfalls war es
nicht ganz korrekt. Abgesehen von dem Kollegen Rothschild, der mir gegenüber
wiederholt darauf zu sprechen kam und mir die Unmöglichkeit dartat. Sein Gift
gegen Astor war hierbei wohl die Haupttriebfeder, auch mochte er geprahlt
haben, daß die Eintragung einer solchen Firma
unmöglich sei. In einem Kommentar fand ich einen ähnlichen Fall, aus dem man
die Zustimmung zu dieser Sünde herausfinden konnte. Ich habe mir
allerdings nie darüber Gewissensbisse gemacht. Um so mehr war dies der Fall für
eine Reihe Verhaftungen, zu denen ich mich in den ersten Tagen des Weltkrieges
durch Schönberg verleiten ließ.
Ich
habe irgendwo gelesen, daß im Ganzen genommen, das
deutsche Volk mit einer bewundernswerten Haltung in den Weltkrieg 1914
hineingegangen sei. Demungeachtet haben wir im August anfangs tolle Tage
erlebt. Alles lief durcheinander und nur Wenige behielten den Kopf. Mich
verließ die Ruhe auch für kurze Zeit, und wenn ich daran zurückdenke, so habe
ich heute noch ein beschämendes Gefühl. Alles wurde nach und nach oder auch
gleichzeitig verdächtigt: Heute waren es Nonnen, die harmlos einen Fluß überquerten, sofort verdächtigt und einer
Leibesuntersuchung unterzogen wurden. Morgen war es ebenso mit den Geistlichen.
Wilde Gerüchte gingen, daß Autos angeblich
Goldladungen ins Ausland brachten. Die Bauern rotteten sich zusammen, um auf
diese Jagd zu machen und schossen auch auf Ärzte, die im Wagen fuhren. Auf der
alten Kaffeestraße marschiert abends ein Bauer mit der Laterne durch den Wald.
Hier und da drang ein Lichtblitz durchs Tal bis nach Bernkastel. Schon waren
das Lichtsignale, aufgeregt Gemüter sahen feindliche Luftschiffe am Himmel.
Eine erregte Volksmenge besprach die Sache abends auf der Straße. Rechtsanwalt
Schönberg machte sich zu ihrem Sprecher und ersuchte mich dringend, noch abends
eine Reihe von Leuten verhaften zu lassen, die des Landesverrates verdächtigt
seien. Ich fiel auf den Schwindel herein, schrieb in Vertretung des nicht
anwesenden Strafrichters einige Verhaftungszettel, und bald war das
Gerichtsgefängnis gefüllt. Andern Morgens fuhr ich mit meinem Bekannten und
Mitschüler Dr. Anton Schmitz nach Zeltingen und nahm
dort zuerst eine Haussuchung vor bei einem biederen Moselschiffer, der abends
zuvor mit Frau und Kindern eingeliefert worden war. Damit hatte es folgende
Bewandtnis: Schon in Friedenszeiten hatte sich ein Gastwirt in Cochem der
Falschmünzerei verdächtig gemacht, eines Verbrechens, das oft als Deckmantel
für Spionage dient. Von diesem Wirt wurden die unglaublichsten Dinge erzählt.
Er wurde der Beihülfe zur Sprengung des Cochemer Eisenbahntunnels verdächtigt. Meine Haussuchung
förderte nichts, aber auch rein gar nichts Belastendes zu Tage. Ich schämte
mich in tiefster Seele, beeilte mich, nach Bernkastel zurückzufahren und die
Häftlinge freizulassen, wobei ich nicht anstand, mich bei Ihnen zu
entschuldigen und ihnen eine schriftliche Bescheinigung auszuhändigen, daß alle Anschuldigungen völlig unbegründet seien. Ich
hatte dabei doppelt gelernt, einmal, mich nicht aufregen zu lassen und das
andere Mal das Innere der Wohnräume einer behäbigen Familie in Zeltingen. In der Erinnerung ist mir noch ein riesiger
Vorrat an Braunkohlenbriketts. Vermutlich trieb der Schiffer Handel damit.
Lange Zeit sah ich noch das aufrichtig bekümmerte Gesicht des Familienvaters,
der mit seiner großen Nase eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Reichsfreiherrn von
Stein aufwies.
In Bernkastel wohnte am Moselgestade ganz am Ausgang der Stadt nach Graach zu ein großer rotblonder Rentner Leutzgen
mit einer hochgewachsenen schönen Hausdame Paula. Auch bei ihm führte ich eine
Haussuchung durch, und zwar in seiner Gegenwart, nachdem ich ihn aus dem
Gefängnis geholt hatte. Keinerlei Verdächtiges, auch sonst nichts Verdächtiges,
als eine große Menge Goldstücke, deren Besitz damals erlaubt war. Leutzgen, sonst ein gewalttätiger und hochgewachsener Mann,
dem eine gewisse Roheit im Gesicht nicht abzusprechen
war, benahm sich durchaus ruhig und vernünftig. Er mag sich wohl etwas geschämt
haben ob seines Goldbesitzes. Er erhielt die gleiche Bescheinigung. Die
Betroffenen blieben still und beklagten sich nicht. Erst viel später vermißte ein Staatsanwaltsrat Pefferkorn
in Trier die Originale und Abschriften der Haftbefehle. Ich wußte
sehr wohl, daß gar keine da waren und hütete mich,
auch nachträglich etwa solche auszustellen. Pefferkorn
fiel später im Kriege, und auch über diese Sache wuchs Gras. Nicht aber in
meiner Erinnerung, und den Schwur, niemals mehr einen Menschen verhaften zu
lassen, der mir nicht dringend durch genaue Tatsachen als verdächtigt
nachgewiesen war, habe ich mein Leben lang gehalten. Blicke ich auf meine
Richterzeit zurück, so ist dies das Einzige, dessen ich mich zu schämen habe.
Sonst aber lebten wir fröhlich in den Tag hinein und taten redlich unsere
Pflicht, ohne sich viel dabei zu denken. Damals aber in den ersten
Übergangstagen war das ganze Volk in tiefster Seele aufgewühlt, als habe es
eine Vorahnung dafür, welch ein schwerer Tag ihm noch bevorstand.
Es
gibt Vorahnungen und geistige Fernwirkungen, wie ich aus eigenen Feststellungen
weiß. Zum Beispiel vor acht Tagen (wir waren im Januar 1942 zur Erholung in
Oberstdorf) denke ich sehr scharf an unseren Bekannten Notar Dr. Astor, früher
Bernkastel, heute in Boppard. Zwei Tage darauf
erhalte ich von ihm und seiner Frau einen sehr ausführlichen Brief. Wir waren
zwei Jahre lang ohne Verbindung miteinander geblieben. Ich habe mir von solchen
Gedankengängen die genaue Stunde fixiert und in meinem Tagebuch aufgeschrieben.
Nachher konnte ich dann feststellen, daß der Andere
zur selben Zeit den Brief geschrieben oder im Geiste vorbereitet hatte. Meine
Mutter hatte aus diesen Erfahrungen heraus sogar ein kostenloses Inkassobüro
eingerichtet. Sie setzte sich abends in der Dämmerung in ihren bequemen
Lehnsessel, gedachte der säumigen Zahler unter ihren Mietern in der Bonngasse und beschimpfte diese heftig im Geiste. Der
Erfolg war prompt, aber gar nicht überraschend: andern Tags erschienen die faulen
Zahler und beglichen ihre Miete. 1911 war ich in der heißen Sommerzeit
mit Helene, die damals in Hoffnung war, bei den Schwiegereltern in Bonn. Auf
der Lese war eine Zusammenkunft der Juristen, und der Oberlandgerichtspräsident
Morkramer hielt eine ernstgestimmte Rede und sprach
voller Sorgen über die drohenden Gewitterwolken, welche sich am politischen
Himmel zusammenzogen. Es war damals die Zeit der Marokkokrise, die damit
endete, daß der französische Minister Delcassé gestürzt wurde. Ein deutliches Vorzeichen für den
späteren Weltkrieg. In diesem gab ich den Damen bei einem Kränzchen in
Bernkastel zu verstehen, sie würden noch die Fenstervorhänge abnehmen und
Kleider daraus machen. Ich wurde ausgelacht, und später gab man mir recht und
erinnerte sich an meine Vorhersage.
Als etwa zehnjähriger Junge besuchte ich mit meiner Mutter die Notarstube Brabender, damals Meckenheimer Straße 61, in dem alten Anwesen, das ein Freiherr von Diergard erbaut und bewohnt hatte (heute steht dort die Kreissparkasse). Das Wartezimmer war mit Urkundengestellen bis an das hohe Gewölbe hinan gestopft voll. Mir gefiel das ungemein: Mutter, ich will auch Notar werden. Fünfzig Jahre später sitze ich im Hause gegenüber als Notar mit zweiundsechzig Jahren.
Im Herbst des Jahres 1918 bemühte ich mich um Versetzung von Bernkastel in die Nähe von Bonn. Nach Bonn selbst wollte ich nicht, aus dem unzutreffenden Gefühl, es könnten sich Zuständigkeitskonflikte mit meinem Bruder Josef ergeben, der hier seit langen Jahren als Anwalt tätig war, oder die Justizverwaltung würde das nicht gerne sehen. Landgerichtspräsident Junkermann in Bonn, ein Bekannter von Forstmanns aus Werden, hielt meine Zweifel nicht für begründet. Ich sah mich nach Wohnungsmöglichkeiten in Königswinter, Sinzig usw. um. Bei Notar Justizrat Schorn, Bonn, Meckenheimer Straße, hatte ich eine Unterschrift zu beglaubigen und besuchte den alten Herrn, der aus Rheinbach stammte, in seinem Hause, in dem heute Kollege Noeller seinen Amts- und Wohnsitz hat. Es war kühl, und es fiel ein leichter Regen. Im Hause war es schön warm und heimlich, und der greise Notar saß behaglich in seinem Zimmer zum Garten hinaus, und ich unterhielt mich mit ihm über seine Vaterstadt, wo ich damals noch im Kriege als Amtsrichter in einer kleine Dienstwohnung am Zuchthaus wohnte. Es drängte sich mir der Gedanke auf: könntest du doch auch als alter Notar so in einem gemütlichen Hause in der Meckenheimer Straße in Bonn sitzen. Zehn Jahre später war ich Notar in Bonn, und wieder dreizehn Jahre später sitze ich als Notar mit meinem Büro und der Wohnung in der gleichen Straße, aber in einem viel angenehmeren Teil derselben.
Während der ganzen Jahre des Weltkrieges hat mich ein bestimmtes Gefühl
nicht verlassen: trotz aller Erfolge lag es wie ein Bleihimmel stets und
immerdar über mir, ohne daß ich mir etwas hätte
anmerken lassen. Im heutigen Kriege habe ich davon keine Spur, vielmehr trotz
aller gelegentlichen Depressionen doch immer das sichere Gefühl eines
befriedigten Ausgangs. Ebenso werde ich ein bestimmtes hoffnungsfreudiges
Gefühl nicht los, daß trotz der vielen Fliegeralarme
meinem Hause und den Meinigen nichts Wesentliches passieren wird, unerachtet
der großen Zerstörungen, welche im Mai in Köln und neuerdings im August in
Düsseldorf, Duisburg usw. Hoffen wir, daß
dieses Gefühl nicht fehl geht.
Der
alte Bierbrauereibesitzer Schmittgen, der vom
Zusetzen lebte (Er und seine Familie gediehen ganz gut dabei. Er selbst
war allerdings ein ziemlich dürrer und faltiger Hecht.), hatte einen
evangelischen Braumeister, der aus Franken aus der Gegend zwischen Würzburg und
Nürnberg stammte. Diesen sympathischen und kraftvollen Mann lernte ich gelegentlich
in seiner Eigenschaft als Säckelmeister der evangelischen Kirchengemeinde
Bernkastel kennen. Er wohnte auf der Brauerei, und ich erinnere mich noch gut
unserer ersten Begegnung, als ich ihm die Kirchensteuer für meine Frau brachte.
Sein echt fränkischer Gesichtsschnitt ist mir heute noch ebenso frisch in
Erinnerung, wie seine sehr schlanke Frau mit mädchenhaftem Aussehen, die aus
einer Winzerfamilie in Dusemond stammt. In einem
weitläufigen Drahtgittergehege spazierte ein ausgewachsener Rehbock, den er als
Kitz auf der Jagd gefunden, mit heimgebracht und mit behördlicher Genehmigung
aufgezogen hatte. Er ließ sich nur von seiner Tochter Lorchen behandeln und
wurde schließlich in der Brunftzeit so wild, daß er
nicht mehr zu bändigen war und abgeschossen werden mußte.
Vorher waren die Juden gekommen und hatten Leistner ein hohes Gebot auf den
Rehbock gemacht, und ihn zu schächten, um endlich einmal koscheres Wildbret
essen zu können. Leistner hatte dies mit Entrüstung abgelehnt. Damals ahnte ich
nicht, wie ich ihm später näher treten und ihn besonders hochschätzen lernen
sollte.
Im März 1917 fiel als Soldat ... Liell, einziges Kind unserer Hauswirtin, Witwe Karl August Liell, Hildegard geb. Plaum, welche aus Prüm in der Eifel stammte. Der Schmerz der Mutter war erschütternd anzusehen und anzuhören. Mehrere Tage wimmerte sie in körperlichem und seelischem Schmerz wie ein verwundetes Tier. Sie faßte den Entschluß, das stattliche Haus und die große Weinhandlung, ebenso wie den Wohnbesitz, zu verkaufen. Ich riet ihr zwar dringend ab, aber ihr Entschluß stand fest. Auf ihr Ersuchen half ich ihr dabei, obschon ich gerade damals wieder an einer öfter sich wiederholenden leichten Lungenblutung litt und häufiger das Bett hüten mußte. Als Bewerber für das Haus, die Kellerei und das Weinhandelsgeschäft kam hauptsächlich Heinrich Leistner in Frage, der sich als gründlicher Fachmann erwies. Er war so entgegenkommend, auf Anregung von Frau Liell als Erwerber des Hauses mich mit meiner ganzen Familie in den besten Teil der Wohnung im ersten Stock zu belassen und sich selbst mit dem Erdgeschoß und dem größeren Teil des zweiten Stocks zu begnügen. Wir wohnten sehr einträchtig zusammen, und es war mir ein Genuß, mit Leistner fast täglich zusammen zu sein und den gesamten Ablauf der Geschäfte einer Weinhandlung gründlich kennen zu lernen. Alljährlich erwarb er im Herbste eine Menge geschnittener Trauben, um sie selbst zu keltern, ebenso den Aufwuchs in den Weinbergen seiner Frau, von denen eine Brauneberger Juffer Auslese ein köstlicher Tropfen war, der uns jahrelang im Keller nicht ausging. Wie oft und mit Genuß haben wir bei Leistner Weinproben veranstaltet und dann die Preise für den Verkauf festgesetzt. Eine innige Freundschaft verband unsere kleine Marianne mit dem guten Onkel Leistner, und jeden Morgen fand sie sich pünktlich um zehn Uhr bei ihm in der Küche ein, um an seinem Frühstück teilzunehmen. Dafür sammelte sie ihm alle alten und gebrauchten und neue und ungebrauchte Drahtstifte zum Nageln der Kisten, welche sich täglich zahlreich in den Ritzen des Pflasters fanden. Frau Liell hat mir in Anerkennung meiner Hülfe bei dem Verkauf des Anwesens, für die ich als Amtsrichter natürlich nichts berechnen konnte, außer einem großen Faß Treber zum Schnapsbrennen eine riesige Geschäftskiste voll alter Geschäftspapiere geschenkt, aus denen wir im damaligen Kriege viele Behelfsumschläge herstellten. Für ihre Möbel veranstaltete Frau Liell vor ihrem Wegzug nach Wiesbaden eine Versteigerung, und wir erstanden uns darin einen alten, übel aussehenden Kapselschrank, der im Lager stand. Dieser Schrank stammte aus Prüm, ähnlich wie einige andere wundervolle Schränke, aus den Beständen der alten Reichsabtei. Auch dieser Schrank war, so unansehnlich er geworden war, von wunderbarem altem Eichenholz. Wir schleppten ihn später bei unseren Umzügen mit nach Rheinbach, wo er lange im Zuchthaus lag. Erst später in Bonn erlebte er seine Wiederauferstehung durch den kunstfertigen Schreiner Krämer in Bonn. Er fertigte ein neues Fach mit Türen und oben ein neues Gesims dazu. Heute ist er eine Zierde als Eck- und Gläserschrank in unserem Eßzimmer. Jedermann ist überrascht über das schöne alte Eichenholz.
Mit den überklebten Umschlägen hatten wir ein besonderes Erlebnis. Aus Papier- und Leimmangel wurden die mit fertigen Adressen versehenen Umschläge nur ganz klein beklebt. Einmal fiel das Deckblatt ab, und der Brief gelangte auf großen Umwegen an einen Major an die Front, der sich das Wunder nicht zu erklären vermochte. Seine alte Friedensadresse war genau darauf angegeben. Wir klärten ihn auf und führten noch eine Zeit lang einen Briefwechsel miteinander. Der Kölner Lederleim war damals eben auch so selten geworden wie heute, ich hatte ihn immer dünner verwendet, und schließlich hatte er nicht mehr Klebkraft genug.
Heinrich Leistner litt am Herzen und ging jeden Sommer zur Kur nach
Kissingen. Vorher aber schickte er schon eine Kiste Wein dorthin. Ob das die
Kur förderte, wollte mir fraglich erscheinen. Seine zweite Tochter hat in Bonn
studiert und später einen Dr. Conrad aus Dusemond
geheiratet, mit dem sie noch heute in glücklicher Ehe lebt. Unsere Kinder
hatten eine große Freundschaft mit dem Sohne Heinrich, dessen ich mich noch als
eines lang aufgeschossenen Jungen erinnere. Heute sind die Eltern Leistner tot,
und der junge Heinrich führt mit seiner Schwester Lorchen das Geschäft und den
Weinbau. Beide sind unverheiratet.
Jeder
Deutsche hat eine besondere Freude an seiner Sprache. Dabei meine ich
vornehmlich die gesprochene Sprache, nicht die Schriftsprache. Jeder simuliert
auch über den Ursprung von Wörtern, deren Bedeutung ihm nicht ohne weiteres
erkennbar ist. Dem aufmerksamen Beobachter entgeht es nicht, daß nur die Mundart die Grundlage der Sprache bedeutet und
aus ihr fortwährend neues Sprachgut wie eine unversiegliche Quelle zum Licht
aus dem Dunkel der Erde hervorsprudelt, um dann mehr oder weniger langsam in
die Schriftsprache übernommen zu werden. Mir will als Vergleich die Hefe mit
dem Wein hierfür als das beste Sinnbild erscheinen. Beobachtet man den Wein in
einem gläsernen Fasse, so sieht man, daß ein
ununterbrochener Austausch zwischen Hefe und Wein stattfindet. Die Hefe ist die
Mutter des Weines und die Mundart die Mutter der Sprache. Neue Wörter, die ohne
Untergrund gemacht werden, sind alles künstliche Gebilde, die sich eine Zeit
lang halten und dann vom Sprachverkehr abgestoßen werden. An solchen
Wortgebilden, die in der Luft hängen, erleben wir heute eine Menge. Fast alle
sind Totgeburten. Ich meine, ein Deutscher, der nicht seine heimische Mundart
auch als Sprache beherrscht, ist nicht als ganz voll anzusehen. Es ist
keineswegs leicht, eine Mundart in allen Schattierungen zu beherrschen. Wir
lernten als vier Brüder die rheinische bäuerliche Mundart in Olsdorf - Alfter bei unserem Großvater und Ohm Johann
richtig kennen. Sie hatten beide ein richtiges und feines Gefühl dafür. Sie
sprachen mit uns und in unserer Gegenwart miteinander nur reines Hochdeutsch wie
es in der Zeitung steht, im übrigen aber ließen sie uns untereinander mit
dem Gesinde genau so sprechen, wie uns der Schnabel gewachsen war. Bei der
Großmutter in Heimerzheim, den verschiedenen Onkeln und der Tante Katharina
dort sprachen wir gleichfalls nur Mundart und das Hochdeutsche nur in
parodistischer Form, um irgend jemanden nachzumachen, z. B. meinen Patenonkel
Matthias Rech aus Köln. Das war eine Quelle unerschöpflicher Belustigung.
Als ich nach wohlbestandenem Richterexamen eine langjährige Lungenkur im
Hochgebirge in Graubünden machte, hatte ich die Beschäftigung mit meiner
heimatlichen Mundart vielfach als Zeitvertreib benutzt. Ich beschrieb einige
tausend Blätter nach den Vorschriften, wie sie damals die Redaktion des
Rheinischen Wörterbuches gab. Heute lese ich in den immer noch erscheinenden
Neulieferungen dieses Rheinischen Wörterbuches öfters A1/Bo und erkenne dann
mit Genugtuung, daß der Beitrag von mir stammt.
Ordentlich stolz wurde ich, als ich gelegentlich einer mundartlichen
Unterhaltung mit Bauern vom rheinischen Vorgebirge mit sechzig Jahren dahin
charakterisiert wurde: Dä stamp
va Alfter. Sie hatten das Timbre meiner
mundartlichen Aussprache genau erkannt, wie es mir selbst gar nicht bewußt ist. Glücklich, wer seine Mundart beherrscht.
Hoffentlich erlebe ich es, daß unsere Enkelkinder
auch ihre erlernen. Als ich im Jahr 1937 mit Helene unsere Silberne Hochzeit
feierte, luden wir in Hersel Freunde, Bekannte und Nachbarn in das alte
Fabrikgebäude auf den Hof zu einem Volksfest ein. Es gab nicht nur Herseler Bier, frisch vom Faß,
Kartoffelsalat mit Herseler Würstchen und
Düsseldorfer Senf ohne Ende, sondern auch die Rede des Jubilars hielt der Notar
in rheinischer Mundart. Dies war nicht so leicht, wie der Laie glaubt. Alle
gebräuchlichen Redensarten und rhetorischen Floskeln gibt es in der Mundart
nicht und sie zu gebrauchen, wäre geradezu stillos gewesen. Man muß sich ordentlich darauf besinnen, alles ganz einfach und
sachlich auszudrücken und nicht in Phrasen zu verfallen, womit man sich in den
Augen der Bauern und Arbeiter unsterblich blamieren kann. Es ging, so weit ich
beurteilen konnte, ganz gut. Meine Rede wurde aber weit übertroffen von der
Gegenrede des völlig ergreisten Nachbarn Henn
Faßbender, der ein Menschenalter lang als Schreiner in der Fabrik meines
Schwiegervaters gearbeitet hatte und nebenbei Kleinbauer war. Er redete
geradezu klassisch, erinnerte an die alten gemeinsamen Erlebnisse und sang dazu
ein kleines Liedchen in Mundart mit derbem Inhalt, dessen Kehrreim aber sofort
von allen Anwesenden mitgesungen wurde. Diese Leistung ließ den Nachbar Gran
aus Uedorf nicht ruhen, und bei fortgeschrittener Stimmung zitierte er
Schillers Gang nach dem Eisenhammer. Das war gut gemeint, aber ein riesiger
Abfall nach dem Vorhergehenden.
Den
Weingroßhändler Josef Hauth jun. lernte ich
als alten baufälligen Mann kennen, der abends mit Dr. Nathan Wolff einen
Dämmerschoppen im Hotel Zu den Drei Königen bei Gassen trank. Dabei schliefen
diese Biedermänner ein und wackelten mit den Köpfen. War ein anderer dabei und
wollte sich noch so leise verdrücken, so wachten sie sofort auf und baten
flehentlich, doch noch ein bißchen zu bleiben. Im
selben Moment schliefen sie weiter. Einige zehn Minuten später wiederholte sich
genau dasselbe, und so fort bis tief in die Nacht hinein. War es aber Tag, so
stand Hauth zwischen der Bahnhofstraße, in deren Nähe
er wohnte, und dem Gasthaus Gassen auf der Mauer, um denjenigen zu verhaften,
der mit ihm über die Moselbrücke ging. War er mit seinem Opfer hinüber, so
postierte er sich mit ihm in der Nähe der Brückenpfeiler an der anderen Seite,
wo alle Bernkasteler Spießer das Recht hatten, ein
Verkehrshindernis zu bilden. Dort hielt er ihn in eifriger Unterhaltung so
lange fest, bis seine lebhaft umherschießenden Äuglein ein neues Opfer in der entgegengesetzten Richtung
eräugt hatten. Flugs ließ er den ersten los und stürzte sich auf den zweiten,
um mit einer netten und verbindlichen, mitunter aber mit einer etwas herrischen
und zielbewußten Art, die man aber dem alten und
stets griffbereiten Herrn nicht übelnehmen konnte, das neue Opfer wieder auf
die alte Seite zu schleppen. So klein und häßlich,
wie er äußerlich war, so interessant konnte er einen unterhalten. Er hatte es
zu einer riesigen Kellerei gebracht, aber nicht viel Glück in seiner Familie gehabt.
Seine hochgewachsene Frau machte selbst in dem allgemein ernsthaften Bernkastel
einen auffallend stillen und ernsten Eindruck. Seine Tochter war als ein
erotischer Tiger ihre eigenen Wege und gleich von Hause weggegangen. Zu jener
Zeit war sie die Frau oder die Geliebte eines bekannten Afrikaforschers
und Kolonialoffiziers. Sie zeigte sich äußerst selten. Sein Sohn Egon war ein
seltsames Gemisch von einem tollen Depp und einem jugendlichen, meist
geschmacklosen Witzling. Einige Zeit nach dem Tode der Eltern, die im Geruche
standen, im Stillen viel Gutes zu tun, heiratete er klugerweise eine tüchtige
und kluge Kellnerin von Gassen, die dafür sorgte, daß
ihm nach dem Niedergang der großen väterlichen Firma noch erhebliche
Vermögensreste erhalten blieben und ihm mehrere Kinder brachte. Ein witziger
rothaariger Kölner Gerichtssekretär bezeichnete ihn mir gegenüber einmal als
den Dollen Cues, eine Bezeichnung, die
ich sehr treffend fand und in meinen heimischen Sprachschatz aufnahm, als
Gegenstück zu dem berühmten Nikolaus von Cues. In der
Nähe war Egon Hauth geboren und geblieben nach dem
Worte des Oberförsters Bauer: Wo der Hase geheckt wird, da bleibt
er.
Ein
Vetter des obengenannten Egon war ein vollkommen anderer Mensch. Er lebte in
Wehlen in einem prachtvollen neugebauten Hause in kinderloser glücklicher Ehe
mit seiner Gela. Sie war eine Tochter des Kaufmanns
Koch in Bernkastel aus dessen erster Ehe. Er war beteiligt an einer Firma Wwe. Nikolaus Hauth Erben,
zusammen mit seinem Vetter, wenn ich nicht irre. Die Eheleute führten ein
gepflegtes Haus mit einem prachtvollen Garten, den die Frau mit ganz besonderer
Liebe pflegte. Das Haus war geschmackvoll eingerichtet, zum Teil wohl unter
Mithilfe seines Vetters Hauth, eines bekannten Wein-
und Kunsthändlers in Düsseldorf, den ich auch gelegentlich kennen lernte. Louis
Hauth war als Jäger und als Mensch allgemein beliebt
ob seiner ruhigen und sicheren Art und ob seines wirklich klugen und sachlichen
Urteils in fast allen Dingen. Gegen seine Frau, welche wesentlich jünger war
als er, zeigte er sich als rechter Kavalier. Seine Frau war recht lebenslustig
und führte Haus und Garten geradezu mustergültig. Die Fülle der Früchte im
Garten zeigte, wie dankbar das Moselklima und sein guter Boden bei
sachverständiger Bearbeitung sind. Namentlich Äpfel gediehen sehr gut, auch
Maulbeeren und Nüsse. Im Herbst hatte Hauth
regelmäßig einen größeren Versand von reifen Äpfeln. Seine Frau Gela hatte nicht nur ein Kränzchen mit den Beamtenfrauen,
sondern auch ein zweites mit den Einheimischen, bei denen die Personen weniger
wechselten wie bei den Beamten. Das Streben nach höheren Umgangsformen war
unverkennbar. Im Winter ging das Ehepaar zum Wintersport auf das Feldberghotel.
Eines Morgens lag der Ehemann tot im Bett, er war gänzlich ohne Beschwerden
nachts gestorben. Leider hinterließ er seiner Frau keine rosigen Verhältnisse.
Haus, Garten und Geschäft mußten aufgegeben werden,
und sie zog zu ihrem Halbbruder Walther Koch nach Berlin, wo sie auch heute
noch lebt und freundschaftlich mit der Witwe des späteren Kreisarztes Dr. Knoll
verkehrt.
Louis Hauth besaß außer seinen scharfen Jägeraugen
eine Fertigkeit, die ich seitdem nicht mehr beobachtet habe: Saß ihm eine
Fliege auf dem Handrücken, so konnte er durch eine blitzschnelle Drehung der
Hand die Fliege zwischen den Fingern fangen.
Wenn
man acht Jahre lang täglich mindestens vier mal über eine Brücke schreitet, wie
ich es in Bernkastel getan habe, so bekommt man etwas wie ein Brückengefühl.
Mal scheint die Sonne, und man geht mit einem wahren Hochgefühl durch die warme
und vom Flusse aus stets angefeuchtete Luft, sei es im Winter oder im Sommer.
Stets richtet sich der Blick flußabwärts auf die
sanft geschwungenen Berge mit den tausenden Rebstöcken. Sind diese
noch unbelaubt, so brechen die naturfarbenen
Holzstöcke das Licht in wundervoller Weise. Bald scheint die ganze Landschaft
ausgefüllt mit einem Opalglanz, so namentlich im Winter und im Frühjahr. Erst
Mitte Mai läuft das Grün des Weinstockes aus und gewinnt allmählich die
Oberhand der Landschaft. Dann überziehen sich die Lagen mit einem dunkelgrünen
Samt, auf dem die wandernden Wolken alle möglichen leuchtenden
Farbenerscheinungen hervorzaubern, stets wechselnd und den Wanderer erfreuend.
Man kann dem Spiel von Wolken und Sonne ohne Ermüdung stundenlang zusehen.
Zieht ein Gewitter auf, so wird alles unheimlich plastisch, und die Farben
wechseln noch schneller, um bei Regen in ein fahles Grau zu versinken, aus dem
dann die Spitzen der abertausend Pfähle wieder hell hervorblitzen.
Im Herbst erscheint die Lichtbrechung der Wingertz
Pöhl gegen das Farbenspiel der nunmehr bunten Blätter. Jedes einzelne
Blatt wird ein Juwel mit den stärksten Farbwerten von Gelb zu Rot und mit
entzückender Zeichnung der Fläche. Manchmal aber stürmt es, und man legt sich
gegen den Wind und beschleunigt seine Schritte. Plötzlich schnappe ich nach
meinem Hut, zu spät, er fliegt im hohen Bogen durch die Luft, senkt sich auf
das bewegte Wasser und schwimmt davon. Es war ein alter liebenswürdiger
Wanderfilz, schweißdurchtränkt. Ich vermißte ihn mit
Schmerzen. Meine Frau freute sich dagegen, denn der Hut war in ihren Augen
längst überständig.
Die Bernkasteler Brücke bestand aus zwei Seitenbrettern in Eisenstrebungen, denkbar einfach und nüchtern. Aber man hatte den freien Himmel über sich und konnte nach allen Seiten frei hinausschauen. Die Laufstege waren von derben Bohlenbrettern, durch deren Ritzen man unmittelbar in das Wasser sah; es war keineswegs eine Verschönerung, als diese Bohlen eines Tages durch Zementplatten ersetzt wurden. Die Brücke gefiel mir sehr viel besser, als die in Traben-Trarbach, bei deren Begehung ich mich stets beengt fühlte. Statt des freien Himmels hat man dort immer das Eisengerüst des hohen Brückenbogens über sich. Es hat schon etwas an sich mit dieser Brücke. Jedenfalls sind für den Hinüberschreitenden alle diejenigen Brücken die angenehmsten, die den tragenden Bogen unter der Schritt- und Fahrbahn haben. Unter diesen machte mir den schönsten Eindruck von allen, die ich kenne, die alte Mainbrücke in Würzburg und die Prager Karlsbrücke über die Moldau. Mit einem herrlichen freien Gefühl wandelte, fuhr und bummelte man über diese beiden Brücken mit dem unvergleichlichen Blick auf die Stadt Würzburg und die Marienfeste, oder auf den Hradschin und das völlig deutsch anmutende Prag. Von ähnlicher Sicherheit sind die zahlreichen, aber freilich viel kürzeren Brücken über Seine in Paris. Sie stimmen unvergleichlich gut in das Gesamtbild dieser beglückenden Stadt. Ein Problem eigener Art sind aber die Hängebrücken. Das Urbild ist die tropische Hängebrücke in Asien, die über einen tiefen Abgrund und einen reißenden Gebirgsfluß tief herunterhängt und an beiden Stützpunkten oben aufgehängt ist. Schreitet man darüber, so gerät sie gehörig ins Schwanken, und um nicht herunterzufallen, wird man sich dem Rhythmus anpassen müssen. Eine solche Brücke hatte ich nicht gesehen, sondern nur im Traum erlebt. Ich stelle mir vor, wie ein schwerbeladener Kuli im Paßschritt sich langsam hinüberarbeitet. Eine gewisse Ähnlichkeit damit haben die Seilbrücken in Freiburg in der Schweiz. Sie hängen in eisernen Drähten und schwanken gehörig, wenn ein leichtes Gefährt hinüberfährt. Das Gefühl der Sicherheit verläßt einen trotzdem nicht, während ich mir vorstelle, daß es einen auf einer Bambushängebrücke sehr im Stich lassen muß.
Jeder Brückenbau hat wohl damit begonnen, daß ein hingelegter oder hingestürzter Baum zum Überqueren eines Wassers benutzt wird. Holzhacker und andere schwindelfreie Leute benützen heute noch derartige Naturbrücken, um trockenen Fußes über einen kalten und meist steinigen Gebirgsbach hinüberzufinden. Das nächste ist, daß man ein Brett legt und dies an einer Seite mit einem Geländer versieht. Ist das Geländer doppelt, so ist die Brücke kräftig. Ist das Brett nicht lang genug, so legt man in der Mitte Steine unter. So entwickelt sich der Brückenpfeiler. Erst die eingerammten Pfähle mit einem Wehr gegen die Strömung zum Auffangen der Wurzel- und Asthölzer, die der Bach stets mit sich führt. Die eingerammten Pfähle werden mit Steinen gefüllt, und aus diesen Palisaden mit Steinfüllung entwickelt sich allmählich der Brückenpfeiler aus behauenen Werksteine, dessen besonders gründliche Fundamente auf die Sohle des Flusses verlegt werden. Solche Brücken, solide gebaut, halten oft Jahrhunderte lang und sind meistens ein Schmuck für die Landschaft. Über solche Brücken zu wandern ist stets ein hoher Genuß. Man hat den Himmel über sich und den Fluß unter sich mit dem Gefühl, der kann mir nichts anhaben. Fast auf allen diesen Brücken hat man herrliche Landschaftsbilder. Als man sich in Frankfurt am Main entschloß, die alte Mainbrücke zu ersetzen, gab man sich die größte Mühe, nichts an dem landschaftlichen Eindruck zu ändern. Man kann wohl sagen, daß es gelungen ist. Enttäuscht war ich von den Brücken in Passau. Ich hätte mir eine herrliche Verbindung beider Ufer von Inn und Donau vorgestellt und fand nur eine Reihe ziemlich nüchterner Flußübergänge. Der Inn gebärdete sich übrigens damals als starker und gewalttätiger Mann, gegenüber der breit und sanft fließenden Donau.
Am schönsten fand ich stets eine alte Schiffbrücke. Die neue Verkehrsentwicklung hat leider die meisten dieser Brücken weggespült. Nur in Koblenz kann man eine solche noch erleben. Sie schmiegt sich dem Fluß in trefflichster Weise an und ist jedenfalls die bequemste von allen. Sie hat einen Seltenheitswert und wird von allen, die sie benützen, augenscheinlich sehr geliebt. Obwohl man mitunter durch das Ausfahren lange warten muß bis man hinüberkommt, so hat doch alle Welt hierzu Zeit und lehnt es ab, über eine nahe feste Brücke zu marschieren.
In meiner Jugend gab es zwischen Bonn und Beuel eine fliegende Brücke. Diese gute alte Gierponte fuhr recht stolz und langsam von einem Ufer zum anderen. Sie hing an einer unendlich langen Kette, die unterwegs von verschiedenen kleinen Kähnen getragen wurde. Auf dem Fahrschiff der Ponte war ein großer Galgen, über dem die Rolle zur Befestigung der Kette auf einer Laufkatze hing. Eine Glocke hing daran und läutete vor der Abfahrt lange und eindringlich: No Beuel, no Beuel, no Beuel. Es waren gemächliche Zeiten, und es wurde als ein unerhörter Fortschritt gepriesen, als daneben für eilfertige Menschen ein kleines Dampferchen eingesetzt wurde, das den Personenverkehr über den Rhein besorgte.
Die ein wenig ins Spielerische geratene feste Brücke mit zwei damals als
besonders kühne Konstruktion angestaunten Bogen erregte zwar damals allgemeine
Bewunderung, ihre höchst überflüssigen Türme auf den Brückenpfeilern hat man
neuerdings etwas gekürzt und Flakgeschütze darauf gestellt. Seitdem sehen die
Türme etwas manierlicher aus, insofern als sie eine zweckmäßige Funktion
erhalten haben. Das Schlimmste sind solche Brückenaufbauten voll
mittelalterlicher Romantik, die als reine Dekoration wie Theater wirken und
einen peinlichen Eindruck hervorrufen können, wie dies z. B. in Köln bei der
Hohenzollernbrücke der Fall ist.
Das
Gebäude vom Amtsgericht Bernkastel liegt im Moselbett, der Keller und die Räume
für die Gefangenen im Untergeschoß fast auf dem Flußboden,
das Erdgeschoß hoch an der Straße erbaut in eigens dazu erfundenem
Stile aus Gotik mit romantischem Einschlag, im ganzen aussehend wie eine
stählerne Trutzburg, aber kühl im Sommer und warm im Winter. Im Inneren
durchaus in der bekannten preußischen proletarischen Ausstattung aller
Gerichte, wie Bismarck es so treffend in seinen Gedanken und Erinnerungen
ausdrückt. Die Treppen mit ihren Wappen und Inschriften hatten etwas
Ordensburgartiges. Schön war die Inschrift: Jeder Richter sitzt an Königs
statt.
Eines Tages hatte ich die Frage zu lösen, ob in Preußen der König
Vorgesetzter über seinen Minister, mit anderen Worten: hatte der preußische
Landwirtschaftsminister Freiherr von Schorlemer zur Übernahme der Vormundschaft
über seinen Enkel Fürstenberg die Genehmigung des Königs nötig oder nicht.
Weder dem Justizminister noch dem Minister des Inneren war der Fall jemals
vorgekommen. Keiner wußte Bescheid. Assessor Schmitz
fand des Rätsels Lösung: Beachten Sie die Inschrift im Treppenhaus, nehmen Sie
den Sitz da ein und machen Sie es wie der König. Schorlemer fand diese Lösung
trefflich und war herzlich froh, in dieser Sache Willi nicht bemühen zu müssen,
mit dem in solchen Dingen je nach nicht gut Kirschen essen war. Er bedankte
sich noch besonders dafür, daß er nicht wegen
sachlicher Zuständigkeit an das Amtsgericht Berlin Mitte mit seinen endlosen
Korridoren verwiesen wurde. Seine Dankbarkeit erwies er durch die billige
Überlassung eines Zuchtkaninchenpaares Marke graue Silber. Wir erzielten von
diesen schöne Tiere mit gutem Fleisch und gutem Pelz. Unsere Kinder trugen
Schals, Kragen und Mäntel davon.
In
einem dunklen Parterreraum stand klein und vollbärtig der Zwerg Alberich. Er trug einen langen Bratenrock, warf man einen
Blick in sein Gesicht, so wußte man sofort, daß er voll Gutmütigkeit und ohne Arg war. Er war nie dazu
zu bewegen, eine klare deutliche Stellung oder einen Standpunkt in einer
Streitfrage zu vertreten. Nach einer alten Vorschrift erhielt der etatmäßig
eingestellte Richter vierteljährlich einen Taler zur Beschaffung von Papier für
den amtlichen Gebrauch. Es war ebenso eine alte Überlieferung, daß diese Papiertaler vertrunken wurden. Ich setzte unseren
guten Zwerg Alberich eines Tages in tödliche
Verlegenheit, als ich ihm für einen Taler Papier abkaufen wollte. Er lehnte es
strikt ab diesmal hatte er wirklich eine Meinung und war
verzweifelt, als ich darauf bestehen wollte, er fand keine Spalte für eine
derartige Einnahme in seinem monatlichen Kassenabschluß.
Ich hatte zwar in Königswinter beim alten Wolbert den
Kassenabschluß gelernt und einen Blick in die kameralistische Buchführung getan und ließ mich erweichen.
Zum Dank für mein Entgegenkommen übergab er mir einen ganzen Stoß
Amtspapier, von dem ich noch lange Jahre zehrte. Es war das einzige Mal,
daß ich Faber eine entschiedene Meinung vertreten
sah. Er war eine besondere Respektsperson im Bernkasteler
Kasino, dessen Mitglied ich nie war. Seine Frau war eine feine und
geschmackvolle ältere Dame, von der der derbe Arzt Dr. Kettenhofen
in unglaublicher Weise eine indiskrete Bemerkung machte. Die Eheleute hatten
eine schwarze Tochter, die hübsch und sinnlich aussah. Mit Fabers hielten wir
einmal im Kriege zwei Pensionsschweine, worüber noch zu berichten ist.
Unter
diesen fiel manchmal durch unbewußte Anmaßungen
Altenpohl auf. Er war ein unzuverlässiger Mensch, verschwand eines Tages und
schickte Zeitungen und Drucksachen aus Neuyork. Was
aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.
Ein
liebenswürdiger Luftikus war Horn, der im Grundbuchgewölbe hauste, stets Reste
hatte und sich nachmittags ein Brett mit Kaffee aus der benachbarten Wirtschaft
vom Pitterchen Dahm in das trockene Gewölbe bringen
ließ. Er war stets guter Laune und zu einem Streiche bereit. Im Scherz hatte
ich einmal davon gesprochen, man müßte die
Feuerlöschordnung nicht nur lesen, sondern auch mal praktisch an einem fingierten
Brande üben. Horn war davon so begeistert, daß er am
liebsten gleich das ganze Gebäude mit den unter Glas blitzbereit angeschraubten
Schläuchen unter Wasser gesetzt hätte.
In
jedem Zimmer stand eine derbe Holzkiste mit der Aufschrift SAND. Sand ist an
der Mosel eine Seltenheit und wird durch die Angehörigen eines besonderen
Standes, Sandschiffer genannt, aus dem Moselbett gewonnen. Sie ziehen ihn mit
einem eisernen Reif aus dem Flußgrund. Dabei nehmen
sie ihn natürlich da, wo er sich für sie am bequemsten findet und nicht immer
da, wo die Strombauverwaltung den zu finden sie anweist. Ein Sandfischer hat
daher, ähnlich wie ein Besenbinder, stets ein ellenlanges Strafregister und
steht mit dem Gericht auf bekanntem Fuße. Man kann sich die Freude der
geplagten Leute vorstellen, nun endlich einmal die geliebte Justizbehörde bei
einem Sandeinkauf schröpfen zu können. Nach den Vorschriften hat der
diensttuende Beamte die Pflicht, den Sandkasten, wenn eine Petroleumlampe
umfiel, darauf zu stülpen. Gemeinlich wurde der
Sandkasten als Spucknapf benutzt. Als ich das schmutzige Ding aus
Gesundheitsrücksichten aus meinem Dienstzimmer entfernen wollte, erhob Faber
ein großes Wehgeschrei und erzählte mir, wieviel er
für die Kisten, den Sand, die Aufschriften und die Stricke im Grundbuchamt,
kurzum die ganze Feuerlöscheinrichtung dem Staate an Bargeld gekostet hatte. Im
Moselbett trieben die Seiler ihr ehrsames Handwerk und im Grundbuchgewölbe
hingen ganze Bündel hübsch gezwirnter Hanfschnüre, alle mit einer Öse versehen.
Brannte es, so hatten die Grundbuchführer sich im Gewölbe zu versammeln, je
fünfzig Stück Grundbuchakten so aufeinanderzulegen, daß
je die Hälfte den Rücken nach links und nach rechts zeigte, darum die Schnur zu
ziehen, durch die Schleife zu verknoten und den Packen zum Fenster hinaus zu
werfen. Wer aber eine kräftige Schnur benötigte, wußte
wo er sie sich holen konnte, und an den Brandschnüren war dauernd ein
ärgerlicher Abgang. Ja, manches Leid mußte der
biedere Faber erdulden. Die Feuerlöschübung kam gottlob nie zustande.
Ein
junger, etwas leichtsinniger Sekretär hieß Wachendorf.
Er arbeitet nicht schlecht, schrieb eine flotte künstlerische Handschrift und
war im ganzen keineswegs unsympathisch. Er hatte den Hang zum vornehmen
Auftreten, verwickelte sich in Schulden und mußte
öfter ernstlich ermahnt und zur Besserung angehalten werden. Im Kriege lag mir,
als dem stellvertretenden Aufsichtsrichter, dieses ärgerliche Geschäft ob.
Schließlich gelang es, ihn wegzuloben; aber wer beschreibt mein freudiges
Erstaunen, als ich ihn 1918 nach meiner Versetzung nach Rheinbach dort
wiederfand. Er war noch ganz der Alte.
Unter
den beiden Assistenten des Gerichts war ein tüchtiger, hochbegabter, fleißiger
und zuverlässiger Mann mit Namen Kickhefel. Er
hat es späterhin weit gebracht.
In dem malerisch gelegenen Talveldenz und auf einer besonderen Siedlung in der Nähe des Hunsrückdorfes Gonzerath, genannt der Judenbungert, lebten noch Reste der Urbevölkerung des Hunsrücks, die vom Betteln, Holz- und Felddiebstahl, Kesselflicken und Besenbinden lebten und keine Gemeinschaft mit den Bauern hatten. Bei gutem Wetter waren sie mit Wagen unterwegs, ihre Kinder wuchsen wild auf. Nur die Wintermonate über pflegten sie in den genannten Orten in kleinen Schlupfwinkeln zu wohnen, streng geschieden von den Bauern. Es war eine feinknochige Rasse mit vielen auffallend hübschen schönen Kindern, von denen allerdings manche im zarten Alter starben. Sie wuchsen auf in freiem Gelände in stetem Kampf mit den Polizisten, Flurschützen und Gendarmen und waren in allen Kniffen des Kleinkrieges vertraut. Sie hießen Tittelbach, Kackert und ähnlich, besaßen riesige Strafregister, fuhren mit ihren Wagen durch das Rheinland und hausten im Winter in dürftigen Kotten. Im Kriege waren sie tüchtige Soldaten, und manch einer kam mit dem E.K.I aus dem Feld zurück. In den langen Wintermonaten erfanden sie allerhand, um ihr Dasein ohne Arbeit besser zu gestalten, z. B. rissen sie sich gegenseitig die Zäune ein und jämmerlichen Hecken ein, zeigten sich alsdann wegen Hausfriedensbruches und Sachbeschädigung an, um dann ganz hübsch an den Zeugengeldern zu verdienen. Leider mußte ihnen dieser Sport durch eine grobe Strafverfolgung wegen Betruges gelegt werden. Mir war das ganze im Grunde harmlose Völkchen interessant, und sie spürten das natürlich sofort mit dem sicheren Instinkt eines Jagdhundes heraus. Einer besaß in Talveldenz einen Nußbaum, und meine Frau, die gern frische Walnüsse zu einem Glas Wein schätzte, hatte darüber unvorsichtigerweise etwas verlauten lassen, und schon wurden wir mit einem Sack voll Nüsse überschüttet und mußten schließlich ablehnen, um nicht in den Verdacht der Hehlerei zu geraten. Das Gleiche war der Fall mit köstlichen Maronen. Mit diesen eßbaren Kastanien war ein großes Stück der Straße bepflanzt, die von Talveldenz über Burgen nach Gornhausen führte. Ich meine, deren Früchte hätten viel besser geschmeckt, als die besten Maronen aus dem Tessin.
Ein Mann namens Schmitz war vollständig verkommen und von der Bauernschaft ausgestoßen worden. Mit einem Weibe aus dem Judenbungert wohnte er in Talveldenz in einer wahren Räuberhöhle als Säufer. Die Kinder, die der Himmel diesem edlen Paare schenkte, waren so grauenhaft verwahrlost, und die Behörde wußte nichts besseres, als bei dem Gericht ihre Fürsorgeerziehung zu beantragen. Ich fand das grausam und gedachte des Spruches, daß die schlechteste Erziehung daheim immer noch besser wäre als die öffentliche Fürsorgeerziehung. Eines Tages machte ich mich mit Kickhefel auf den Weg nach Talveldenz, um den Sachverhalt an Ort und Stelle durch Augenscheinnahme festzustellen. Wir fanden haarsträubende Zustände. In einem Raume von wenigen Quadratmetern hausten zeitweise bis zu achtzehn Personen. In einem Lumpenberg lag das Familienoberhaupt besoffen im Bett. Der Raum war von Kot, Schmutz und Unrat jeder Art völlig verdreckt. Kickhefel erzählte auf dem Heimweg folgendes: Im Boxeraufstand in China war er unter dem Grafen Waldersee Divisionsschreiber gewesen. Auf dem Marsch nach Peking hatte er Unterkünfte aller Art erlebt, eine solche Verkommenheit aber hatte er selbst in der schlimmsten Chinahütte nicht angetroffen. Was blieb übrig? Der grindige Säugling mußte verhaftet und in Fürsorge gebracht werden.
Ich habe nie eine so künstlerisch schöne und schwungvolle Handschrift gesehen, wie Kickhefel sie schrieb, und ich hatte vor, mir von ihm den Faust, erster Teil, auf besonders gutes Papier als Handschrift schreiben zu lassen. Er hatte auch nicht übel Lust dazu, lehnte aber jede Vergütung dafür ab, und so kam es nicht zur Ausführung, was ich heute noch lebhaft bedaure. In meiner Bibliothek hätte sich eine solche Handschrift sehr gut ausgenommen.
Kickhefel war einer der wenigen aus dem Unteroffiziersstande hervorgegangenen Gerichtsassistenten, der alle Hindernisse, die man ihnen für das Gerichtssekretärexamen in den Weg legte, überwand und seine Examen zustande brachte.
Ich habe ihn später noch einmal in Köln bei einer Parteiveranstaltung
getroffen, er hatte seiner Tüchtigkeit entsprechend Karriere gemacht und
bekleidete einen hervorragenden Posten bei dem Kölner
Oberlandesgerichtspräsidium. Das hat mich ganz besonders für die
Justizverwaltung und für ihn gefreut. Er selbst erinnerte sich noch aller
Einzelheiten aus unserer gemeinsamen in Bernkastel verlebten Zeit.
Einen
ebenso gutwilligen wie unfähigen Assistenten Bollig
traf ich später in Bonn wieder. Dank der Heirat mit einer vermögenden Frau ging
es ihm aber gut. Im Weltkrieg soll er auch allerhand erlebt haben.
Ich
selbst habe die längste Zeit in Bernkastel zu meiner vollen Zufriedenheit mit
dem Assistenten Brinckmann zusammen gearbeitet. Ein rötlich-blonder Westfale
mit Kindbart, der es freilich nicht zum Examen
gebracht hat. Er hatte Verwandte in Flamersheim oder Palmersheim und wohnte nach meinem Weggang von Rheinbach
dort, tat seinen Dienst auf dem Amtsgericht in Rheinbach und fuhr täglich mit
einem kleinen Wagen heim. Im Weltkrieg war er Feldwebelleutnant, Als solcher
unterlag er einer recht schwankenden Beurteilung. Als Assistent war er bei mir
jedenfalls eine treue Seele, die nicht nur pflichtgemäß alles das arbeitete,
was ich wünschte, sondern auch darüber hinaus den gesamten Verkehr mit dem
rechtsuchenden Publikum übernahm, so zwar, daß die
Tür meines Zimmers zu seinem Amtszimmer immer offen stand. Redete er dann
gelegentlich einmal zu stark daneben, so gab ich ein Zeichen mit einem
Räuspern, worauf er nach einiger Zeit bei mir eintrat und sich berichtigen
ließ. Nach Abgang von Rothschild bekamen wir eine Schreibmaschine, und
Brinckmann erlernte mit Eifer das Maschinenschreiben. Meinen gesamten
Schriftwechsel als Richter konnte ich ihm, wie ich es bei Trimborn
aus Köln gewohnt war, in die Schreibmaschine diktieren. Anstelle des jahrtausendalten
Amtsschimmels mit Verfügung des Richters, Fertigung der Reinschrift, Rückkehr
des Schriftstücks zum Richter, dessen Unterschrift und die Expedition durch den
Justizwachtmeister, alles dies fiel zusammen in einen Vorgang, und wenn wir
mittags zu Tisch gingen, so konnten wir die fertig adressierten Umschläge ohne
weiteres in den Kasten werfen. Dieser Vorgang hat bei dem alten Verfahren
vierzehn Tage nötig. Auf diese Weise machte sich die Schreibmaschine wirklich
bezahlt, wenn auch keineswegs zur Freude der Kanzlei.
Weniger gut war mein Vetter Johann Rech, genannt der Burgjohann aus Roisdorf (wir haben den gleichen Urgroßvater Heinrich Rech gemeinsam, kennen uns aber außerdem von Jugend an und verkehren freundschaftlich miteinander) auf Brinckmann zu sprechen. Brinckmann war sein Vorgesetzter als Landsturmmann im besetzten Südbelgien und wußte ihm jeden Heimurlaub zu hintertreiben. obwohl ich für ihn wiederholt einen solchen bei dem Herrn Feldwebelleutnant befürwortet hatte. Ganz klug daraus bin ich nie geworden. Ferner ging die Sage, Brinckmann habe den Tod eines Kollegen Castendyck zu verantworten. Ob dies auf Klatsch beruht, ist mir ebenfalls nie klar geworden. Wie dem auch sei, mir war Brinckmann ein sehr ergebener Beamter. Er selbst besuchte mich im Kriege wiederholt und machte keinen Hehl daraus, daß ein Hauptmann v. Hagen aus Kempfeld, den er im Felde als Vorgesetzten hatte, sich als ein wahrer Teufel bei den Kämpfen um die südlich gelegenen Vogesen erwiesen habe, wo Brinckmann auch längere Zeit eingesetzt war. Bei meiner Versetzung 1918 kurz vor Kriegsschluß hat er sich jedenfalls in Rheinbach für mich um eine Wohnung umgesehen, und seiner Anregung verdanke ich zweifellos die Möglichkeit, daß wir damals mietweise die leerstehende Wohnung eines Assistenten Kraicicek überwiesen erhielten, die sich für uns in den ersten Besatzungsjahren als ein wahrer Segen erweisen sollte. Ich habe Brinckmann daher jedenfalls in angenehmer Erinnerung.
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- Fortsetzung im Teil 4.