Matthias Rech, Erinnerungen – 4. Teil

Dienstbare Hausgeister

Die Erste: Johanna

Glück und häusliches Wohlbehagen hängen bei unsereinem sehr ab von den Dienstboten. Heute Hausangestellte, früher Gesinde genannt. In unserer heute über dreißigjährigen Ehe haben wir natürlich auch auf diesem Gebiete reiche Erfahrungen machen können und tüchtige und weniger tüchtige Menschen kennen und zum Teil schätzen gelernt. Meine Frau lernte in Bernkastel eine Friseuse namens Wagner kennen, welche auch einen kleinen Laden führte, in dem sie unter anderem Tee aller Sorten vertrieb und für jede Krankheit einen entsprechenden Tee bereitete. Sie machte uns aufmerksam auf eine junge Nichte von ihr namens Johanna in einer Arbeiterfamilie auf der Graacher Schäferei. Dies ist ein kleines Nest, das hoch über den letzten Weinlagen von Graach an dem Felsen klebte. Johanna war ein schüchternes aber kluges Mädchen, das vom Kreisarzt Lehmann durch einen geschickten operativen Eingriff von einem quälenden Magenübel geheilt worden war. Sie hatte zu ihrem Arzt eine rührende Anhänglichkeit und holte diesen zu uns, als wir beide einmal gleichzeitig bettlägerig wurden. Auf diese Weise wurden wir mit dem Kreisarzt Lehmann in der oben geschilderten Form bekannt. Helene gab sich nicht ohne Erfolg eine rechte Mühe mit diesem Wildling, der ein sehr ruhiges und sittliches Benehmen zeigte, um ihm den nötigen Schliff und die Künste der Haushaltung beizubringen. Dabei ereigneten sich manchmal köstliche Szenen, zu denen mitzulachen sie den nötigen Humor aufbrachte. Eines Tages hatten wir ein handgroßes Sauerbrätchen. Johanne sollte es auf einem Fleischbrett servieren. Mit ernstem Blick betritt sie das Eßzimmer, der winzige Sauerbraten liegt ganz verloren auf einem riesigen Nudelbrett, das sie mit großer Vorsicht und nicht ohne Geschick durch den Türrahmen steuert. Sie mußte herzlich mitlachen. „Eich han oh als jedach“, war eine Lieblingswendung von ihr. Wir hatten damals Freude an diesem Kinde. Weshalb sie wegging, weiß ich nicht mehr. Wir blieben mit ihr und ihren Verwandten und auch mit ihrer Frisiertante mit Teeverkauf in Berührung und erfuhren später, daß sie einen wohlsituierten Winzer geheiratet hatte und eine tüchtige und umsichtige Hausfrau geworden war.
 

Die Zweite: – Oa Utz

In der Küche sprach uns eines Tages ein untersetzter dunkelhaariger Mann mit klugen braunen Augen an. Er war Kleinbauer und Dachschiefergrubenbesitzer in einem kleinen Dörfchen Commern bei Longkamp , dem nächsten größeren Ort im Hunsrück. Er betonte stark, daß seine Rosa in der Krankenkasse versichert sein müsse. Wir versicherten, daß dies ganz selbstverständlich sei. Rosa stellte sich als seine älteste, hoch und schlank gewachsene, hellblonde Tochter vor. Sie war eine wahre Perle. Sie war von hervorragender Klugheit und Geistesbildung und hatte eine Ausbildung als Lehrerin durchlaufen sollen, wozu aber die Mittel fehlten. Sie war eine treue und anhängliche Seele und gehörte mit zu unserer Familie. An dem Aufwachsen unserer Herta hat sie großen Anteil genommen, und Herta liebte sie dafür aus vollem Herzen. Als sie zu lallen begann, brachte ihr Rosa eines Tages aus Commern Baumnüsse mit. Die edle Walnuß stammt aus Persien und bringt es im milden Mosellang zu köstlichen Früchten, aus denen auch vielfach noch Öl geschlagen wird. Auf dem rauhen Hunsrück hingegen wehrt sich dieser Baum seines Lebens so gut er kann und verkleinert seine Nüsse zu kleinen hartschaligen und mit kleinen Kernen durchsetzten Steinnüssen, mit denen man trefflich einem ein Loch in den Kopf schmeißen kann. Der eßbare Kern ist zwar sehr verzettelt und bedarf eines mühsamen Herausklaubens, aber diese Nüsse bildeten Hertas ganzes Entzücken und unaufhörlich wiederholte sie: „Rosa, Nuß“, d. h. „Oa Utz.“ Dieses treffliche Mädchen erhielt daher den Namen Oa Utz. Zu unserem größten Schmerz mußten wir es erleben, daß ihre tüchtige Mutter eines Tages krank wurde und starb und ihrem Manne eine ganze Stube voll kleiner Kinder zurückließ. Wir verstanden den Schmerz des Witwers, aber auch die Notwendigkeit, daß Oa Utz uns verlassen und sich der Erziehung ihrer Geschwister widmen mußte. Über der gewissenhaften Erfüllung dieser Aufgabe ist sie, so viel ich weiß, gar nicht zu einem eigenen Hausstand gekommen. Jedenfalls war sie ein prächtiger Mensch, dessen wir uns alle mit großer Hochachtung und Liebe erinnern. Ihr Vater, Mitbesitzer einer Schiefergrube an der Waldstraße nach Longkamp zu, kam noch öfters mit uns zusammen und hat uns sogar noch einmal in Bonn aufgesucht. Ein Bruder der verstorbenen Frau war ein origineller Hunsrückbauer, der eine derartig holperige Mundart sprach, daß Helene von ihm nur das Wort „Oar“ verstand, das Eier bedeutete.

Einmal hatte Rosa unsere Herta mit nach Hause genommen. Herta kam ganz begeistert heim von der urtümlichen Sitte, das Mittagessen aus einer gemeinsamen Schüssel zu nehmen und auf einem Holzteller zu verzehren. Das hatte einen unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht. Sie hat dann diese Sitte auch bei uns einführen wollen. Nur noch einmal haben wir in unserem Leben einen Hausgenossen gehabt, der uns ähnlich nahe stand wie Rosa, nämlich unsere gute Maria Pleinen aus Birresbach.

Nur kurze Zeit hatten wir eine stille, etwas gedrückte Person, die treulich ihre Arbeit schaffte, die wir aber nicht lange halten konnten, weil sie an Fallsucht litt. Die Kinder begannen, solche Anfälle nachzumachen, und so mußten wir uns von ihr trennen, was wir sehr bedauerten.
 

Die Dritte: Anna Molitor aus Fischbach in der Eifel

Dunkelhaarig, die gedrungene Tochter von Kleinbauersleuten. Ich traf sie später als Wirtsfrau in Bonn wieder in der Rheingasse in dem schönen alten Gasthaus Zur Stadt Frankfurt. Als Mädchen war sie ein wenig langsam in Arbeit und Denken. Herta saß als kleines Kind in ihrem Rollstühlchen am Boden. Plötzlich ruft sie nach der Küche zu: „Anna, Anna.“ Anna hört endlich und gibt Bescheid. „Haben Sie auch daran gedacht, um elf Uhr die Kartoffeln aufzusetzen?“ Anna hatte natürlich nicht daran gedacht. Sie war ungehalten, von dem kleinen Kind mitten in seinem Spiel daran erinnert zu werden. Die Türen standen auf. Mutter war aus, und der Vater hörte aus dem benachbarten Wohnzimmer zu seiner großen Erheiterung diese hübsche Szene. Anna aber knurrte vernehmlich und setzte die Kartoffeln auf.
 

Die Vierte: Hedwig

Es begann der Reigen der „Fräuleins“, die der Kindererziehung wegen mit bei Tische aßen. Ihn eröffnete eine dunkelhaarige Schlesierin Hedwig, deren Vater eine zweite Frau genommen und damit die Tochter in die Fremde getrieben hatte. Sehr dienstwillig und beflissen war sie eine echte Domestikennatur. Unsere Marianne zog sie gut auf, kniff und puffte aber Herta, die ihr geistig schon etwas über war und die sie nicht recht leiden konnte. Sie hat uns im großen und ganzen treue Dienste geleistet. Schließlich wurde sie für längere Zeit krank, und wir brachten sie im Cueser Hospital unter, wo sie auf der sonnigen Südterrasse Kur machte. Hierbei besuchte sie Frau Irma Winckler, und zwischen beiden entspann sich eine merkwürdige Freundschaft. Frau Irma vertrat eine scheinbare Fürsorge und Betreuung mit deutlicher Spitze gegen uns, die aber wie eine Seifenblase zerplatzte, als Helene die Kündigung aussprach und damit Frau Irma Gelegenheit gab, ihre Fürsorge in die Tat umzusetzen. Es geschah natürlich nichts, und wir haben von ihr auch weiterhin nie mehr etwas gehört.
 

Ida, die Perle

Die Perle unter unseren Fräuleins war eine höchst sympathische Tochter des Siegerlandes, Ida Menn, Tochter des Gast- und Landwirtes, Schreinermeisters und Geschäftsinhabers Menn in Helberhausen bei Hilchenbach. Sie hatte eine Anzeige von uns in einer auswärtigen Zeitung gelesen und sich daraufhin auf ein Jahr bei uns festgemacht, um für sich den Haushalt zu erlernen. Wie sich später herausstellte, hatte sie dies ganz selbständig, ohne ihre Eltern gemacht. Die weite Reise von Helberhausen nach Bernkastel mit einer Zwischenstation in Bonn bei unseren Schwiegereltern gemacht. Vater Reitmeister, der erst Bedenken wegen des zierlichen Figürchens gehabt hatte, war ganz versöhnt mit ihr, als sie sich mit festem Händedruck verabschiedete. Sie war schlank, hellblond mit einem allerliebsten regelmäßigen Gesichtchen, wie der Kopf einer griechischen Gemme mit hoher Nasenwurzel. Ihre Magerkeit behob sich bei unserer guten Küche. Sie wurde etwas voller, was ihr gut stand. Als echte Siegerländerin war sie äußerst schweigsam, ja wortkarg. Aber bald gewannen wir alle eine gute Freundschaft mit ihr, und sie schloß sich ganz besonders der Tochter Lorchen unseres Hauswirts Leistner an, mit der sie sich bis heute noch ausgezeichnet versteht. Ida war eine Perle in jeder Beziehung und erlernte Haus- und Küchenarbeit sehr gut bei meiner Frau, kochte auch recht schmackhaft. Über alles Persönliche von sich und ihren Eltern sprach sie äußerst wenig und erst später, als sie nicht mehr bei uns war, und als  wir in mehreren Sommern zu ihren Eltern in die Sommerfrische kamen, lernten wir diese alle erst recht genau kennen und ernteten dabei in schönster Weise die Früchte ihrer Ausbildung bei uns. Ihr Bräutigam war im Weltkriege gefallen. Später heiratete sie einen entfernten Verwandten und wurde eine Frau Menn. Ihre Buben sind heute schon wieder im Kriege. Meine Frau schreibt immer noch mit ihr gelegentlich. Es gilt jetzt festzustellen, ob ihr Bruder Heinrich nach dem Tode seiner Eltern auch wieder Gäste nimmt und ob unsere Tochter Marianne mit ihren beiden Kindern sich eventuell dorthin flüchten kann.
 
 

Der Kriegsblinde

Als Leiter der Kriegsbeschädigtenfürsorgestelle für den Kreis Bernkastel, die ich freiwillig übernommen hatte, lernte ich den jungen Halbbruder unseres Mädchen Johanna aus der Graacher Schäferei kennen. Irre ich nicht, so waren ihm kurz vor dem Frieden von Brest-Litowsk bei Osowietz beide Augen ausgeschossen worden. Die Augenhöhlen verheilten. Er erhielt zwei Prothesen und wurde der Kriegsbeschädigtenstelle in seiner Heimat überwiesen, nachdem er die entsetzliche seelische Krise überstanden hatte, die alle jungen und kräftigen Männer beim Erblinden durchmachen müssen, wenn sie sich endlich nach aller Schonung der bitteren nackten Wahrheit klar werden, ich habe für mein ganzes Leben das Augenlicht verloren, werde unwiederbringlich dauernd blind sein und absolut in Dunkelheit sitzen. Es muß ein fürchterlicher Seelenzustand sein, der immer neu ausgekämpft und bestanden werden muß. Ist der blinde Junge temperamentvoll, auch sonst gesund und kräftig, so ist diese Krise naturgemäß viel heftiger, als bei einem kränklichen ungesunden Menschen, der sich ohnehin vom Leben nicht viel mehr verspricht. Den letzteren Fall hatte ich bei einem bescheidenen anderen Kriegsverletzten aus dem Hunsrück, der Flöte erlernt hatte und bald starb. Ich habe keine Erinnerung mehr an ihn, aber eine um so deutlichere an den jungen Mann aus der Graacher Schäferei. Als er zu mir kam, hatte er die Sache in der Hauptsache überwunden. Gelegentlich aber brachen bei ihm heftige Nachwehen aus zu dieser geistigen Wiedergeburt. Ich vermochte ihn dazu zu bestimmen, daß er sich in einer Blindenerziehungsanstalt. in Düren in der Korb- und Bürstenmacherei ausbilden ließ. Im weiteren Verlauf gelang es mir, für ihn ein Haus in Bernkastel unter Zuhülfenahme seiner kapitalisierten Rente zu erwerben, worin er sein Handwerk und einen Verkaufsladen betreiben konnte. Er heiratete, wurde Familienvater, beruhigte sich allgemach und wurde ein glücklicher und zufriedener Mensch. Ich habe mich oft nach ihm erkundigt und stets nur Befriedigendes über ihn und die Seinen gehört. Unvergeßlich aber bleibt mir seine Schilderung, wie er aufrechten Schrittes und ohne Beihilfe seines Blindenhundes den steilen und holperigen Weinbergsweg zwischen Bernkastel und der Graacher Schäferei marschieren könnte. Nach seiner Äußerung war es ihm lieber nachts zu marschieren als am Tage, weil ihn keiner störte, der ihm begegnete. Vor allem muß man sich hüten, solchen tapferen Leuten Mitleid zu bezeigen.
 
 

Feld- und Gartenfreuden in Bernkastel

So gut der Boden und das Klima im Moseltal für den Anbau von feinem Gemüse sind, ebenso selten war dort überhaupt Gemüse zu haben. Wir waren beide von Hause aus mit gutem Gemüse reichlich verwöhnt und empfanden den Mangel um so drückender. Hewels Karline, die Tochter eines Gemüsehändlers, der in Trier seine Ware einkaufte, die nach dort über Köln aus unserer Heimat kam, beherrschte den stets knappen Markt mit souveräner Sicherheit. Und nur gegen viel Geld und gute Worte war von ihr überhaupt etwas zu bekommen. Das galt nicht nur für die Zeit des Krieges, sondern auch für die Zeit vor ihm. In welchem Zustand sich das Gemüse, nachdem es so viele Hände passiert hatte, befand, kann man sich vorstellen. Schon gleich im ersten Jahr sah ich mich nach einem kleinen Garten um. Wir fanden bald einen solchen zwischen den beiden Gärten von Blau und Dr. Wolff mit einer Hecke nach der Mosel zu gelegen. Ich brachte dort ein kleines Törchen an; das Gemüse gedieh in ungeahnter Fülle. Der Nachbar Wolff, ein alter Jude, staunte: „Was haben Sie Ertrag, was haben Sie Ertrag!“ meckerte er voll Vergnügen. Von dem Holzhändler und Hotelbesitzer Blau erhielt ich bald die Erlaubnis, die schöne Terrasse seines gänzlich unbenutzten Gartens zu betreten und unseren Kinderwagen dort einzustellen. Zu diesem Zwecke durften wir den Maschendraht etwas lockern, um seitlich hineinzuschlüpfen. Mit dem anderen Nachbar, Dr. Nathan Wolff, kam ich öfters ins Gespräch, und er vertraute mir nach und nach seine Sorgen an. Es handelte sich um den Weiterbestand seiner Gasanstalt. Der Vertrag war mit der Stadt abgelaufen, und ich hatte dem Stadtbürgermeister Simonis geraten, sich mit dem Juden zu einigen, den er aber unterschätzte und der er ohne Entschädigung abzuschlachten gedachte. Er war der falschen Meinung, er könne den ganzen Kram von dem Juden nach Beendigung der Konzession für einen Appel und ein Ei kaufen. Es kam aber ganz anders. Ich riet dem Juden, sich an die Dessauer Gas zu wenden. Er kam damit zustande und war mir sehr dankbar. Nach seinem Abzug nach Düsseldorf ließ er sich dazu bestimmen, seinen Garten mir erst anzuvertrauen und späterhin ihn mir regelrecht zu verpachten. Nun hatten wir alles, war wir wollten. Der Garten, ein Kitschprodukt allerersten Ranges, war für unsere Kinder ein Zauber- und Märchengarten. Nach der Mosel zu war eine massive schöne Mauer mit prächtiger Steinfassung, eine bequeme Treppe mit eiserner Türe führte zum Fluß. Auf der hoch gelegenen schönen Terrasse erhob sich ein großes Gartenhaus mit einem zweiten Stockwerk, zu dem eine breite bequeme Eichentreppe hinaufführte. Oben war eine große, mit einem Eisengitter abgeschlossene Terrasse, die mit Asphalt gedeckt war. Auf dieser Terrasse erhob sich wiederum ein kleines Gartenhäuschen mit bunten Fenstern, gekrönt von einem kleinen Zwiebeldach. In dieses Dach, das von der Decke zu öffnen war, hatten wir für den Krieg ein Verborgnis eingerichtet, das selbst mein findiger Bruder, als Pionierhauptmann im Felde, nicht zu finden vermochte. Das Ganze war untermauert von einem soliden Keller, der sogar geplattet war. Man hätte ihn als Küche benutzen können. Zu ebener Erde lag ein Salon mit einem kleinen Balkon nach der Flußseite zu. Nach der Gartenseite vervollständigte ein kleines Klosett diese Anlage. Es gab aber auch noch sonstige Herrlichkeiten: In der Ecke des Gartens nach der Stadt zu stand auf einer solide gemauerten Basis ein allerseits offenes, von derbem Eichenholz gezimmertes Gartenhaus mit festem Dach, zu dem wieder eine Treppe hinaufführte. Außerdem stand etwas zurück im Garten eine von Tufflava erbaute Grotte um einen Baum herum. Gartenhaus, Pavillon und Grotte waren mit allen möglichen Garnituren von Salon- und Gartenmöbeln ausgestattet. In der Grotte war es kühl und feucht. Auf die Veranda stellte ich noch einen Liegestuhl und pflegte dort im Sommer wie im Winter täglich einige Stunden im Freien zuzubringen. Der Blick von der Terrasse darüber war ganz herrlich flußaufwärts und flußabwärts. In dem kleinen Stübchen auf der Terrasse pflegte Dr. Wolff zu arbeiten, und ich fand noch einige Reste davon, zum Beispiel Bücher über die Fabrikation von Stiefelwichse. Der Garten war voller guter Obstbäume, und der einzige Mangel war höchstens, daß der Bäume etwas viel waren. Bei der Überlassung des Gartens hatte Dr. Wolff sich die Obsternte vorbehalten. Er hatte aber im allgemeinen wenig Glück damit. Ein herrlicher Prunusbaum blühte prächtig und brachte mitunter eine Überfülle der Früchte, aus der wir ein gutes Kompott machten. Herr Wolff legte keinen Wert darauf. Erschien er mit dem Handkoffer, um die Kirschen zu ernten, so waren diese noch nicht reif, und als alter Chemiker ließ er sich überzeugen, daß man zwar die Säure der Früchte durch Zuckerzusatz beseitigen, nicht aber den Bitterstoff aus den unreifen Früchten entfernen könne. Froh, seinen Damen gegenüber aller Pflückübungen überhoben zu sein, reiste er ohne zu pflücken ab. Kam er nach einigen Wochen wieder, so hatten die frechen Vögel den größten Teil der Früchte geklaut und nur die Steine oder Stiele am Baum gelassen. Ähnlich erging es ihm mit anderen Früchten, deren waren nicht wenige. Zum Beispiel köstliche Pfirsiche, Mirabellen, gut einzumachende Pflaumen und Beerensträucher. Hin und wieder pflegten wir ihm einen Korb voll aus Ippendorf zu schicken. Es fehlte etwas Luft im Garten, weil die Bäume zu dicht ineinander gewachsen waren. In den Sommermonaten war das tägliche Absuchen des Gartens nach reifenden oder abgefallenen Früchten ein köstlicher Sport, der immer wieder von neuem mit Genuß betrieben wurde.

Mit dem Kollegen Winckler hatten wir erst einen Behelfsbienenstand und späterhin ein richtiges Bienenhaus in das ursprüngliche Gartenstück zwischen den beiden Gärten erstellt. Außerdem hatte ich von einem langgestreckten Grundstücke zwischen dem Fußweg, der hinter den Moselgärten entlang führte und sich bis zur Landstraße nach Wehlen erstreckte, zu einem Drittel von seinem Eigentümer, einem vermögenden Winzersmann aus dem Dorfe Graach zu erpachten vermocht. Im Winter baute dieser Mann uns dieses Gartenstück mit seinem Gespann um, und vom Frühjahr ab konnten wir es benützen. Wir zogen Gemüse und Salat von seltener Güte daraus.
 
 

Kanzlei- und Gerichtsdiener

Vom Amtsgericht muß ich noch einiges über die Kanzlei berichten. Darin saßen einige kleine, meist bleiche Leute, die tagaus, tagein Reinschriften fertigten und als Angestellte im Lohn beschäftigt wurden. Ich kannte sie nicht, denn man sah sie nur höchst selten. Über sie herrschte ein einzelner Kanzlist namens Ritschewski, von Geburt ein Pole, klein, stämmig und mit ziemlichem Haupt und lustig zwinkernden Augen hinter einer gelbgrünen Brille. Er hatte eine besondere Vorliebe für Schmuck und trug die gepflegten Hände beringt. Seine Muttersprache hatte er im Laufe der Jahre so verlernt, daß er gelegentlich in einer Sache, wo er als Dolmetscher für Polnisch auftreten sollte, es sich herausstellte, daß er es gar nicht mehr konnte. Um so größere Kenntnisse und Erfahrungen besaß er auf dem Gebiete der Kanarienzucht. Zu seiner Befriedigung besuchte ich ihn eines Tages in seinem niederen Hause an dem Ende der Cusanenstraße. Dort sah ich erstmals eine große private Zuchtvoliere. In dem geräumigen Zimmer schwirrte es nur so von frei umherfliegenden Kanarienvögeln, daß es nur eine Lust war. Dabei schmetterte alles durcheinander. In den anderen Räumen saßen friedliche Pärchen mit sanft flötenden Rollern u. s. w. Er trieb einen lebhaften Handel und zeigte mir die zierlichen Versandkartons, in denen die Vögel ihre Weisen nach allen Himmelsrichtungen hin anbrachten. Ich hätte mir gerne auch einen Roller angeschafft, aber Helene war nicht dafür.

Ritschewski, der wohl ursprünglich eine hübsche, zierliche Handschrift geführt hatte, war mit der Zeit durch das Schnellschreiben zu einer gerade noch lesbaren und äußerst schludderigen Schrift gekommen. Seine Ziffern hatten sich zu seltsamen Haken entwickelt, aus denen man je nach Belieben fast jede der neun Ziffern herauslesen konnte. Grundbuchsachen verstand er sehr gut. Es entging ihm nie ein Fehler, den der Richter oder der Grundbuchführer durch Übersehen einer Parzelle in dem ungeheuer zersplitterten Grundbesitz unterlaufen war. Er machte stets freundlich darauf aufmerksam und hatte es gern, wenn man sich bei ihm dafür bedankte.
 

Gerichtsdiener Friedrich

Es war ein Metzgerssohn aus Wehlen, er war ein langer Schlacks mit schläfrigem Ausdruck für den flüchtigen Beobachter. Wer schärfer zusah, konnte merken, wie unter den herabliegenden Augenlidern sich ein recht helles und munteres Auge verbarg, das bei der sonstigen Unbewegtheit des Gesichtes lustig schimmern konnte. Er war ein ganz durchtriebener Bursche mit gutem Humor und ließ sich selten anmerken, wie er über seine Mitmenschen dachte, insbesondere auch über solche, welche ihn zu kommandieren gedachten. Ich verstand mich gut mit ihm und wir haben oft herzlich miteinander lachen müssen. Nicht weniger gut verstand er sich mit den Gefängnisinsassen, die ihm unterstanden. Es waren dort teils Straf-, teils Untersuchungsgefangene. Das Amtsgericht hatte nämlich eine Unterkunftsmöglichkeit für vierzehn Insassen, und seine Bestände an Socken, Bettwäsche und dergleichen verursachten dem Staat manche Kosten. Das beste aber war Friedrichs Küche. Immer roch es verführerisch daraus und aus seiner Wohnung. Er kochte zwar meistens Eintopf, wußte ihn aber sehr schmackhaft herzurichten, so daß die Gefängnisinsassen den Aufenthalt darin für den Anfang immer sehr angenehm empfanden. Denn sie wurden meist hungrig und müde als Landstreicher eingeliefert und ließen sich gern von Friedrich ein paar Tage gut füttern. Öfters erwachte dann der Drang nach Freiheit in ihnen. Sie entwichen und setzten dadurch den Gefangenenaufseher in die Gefahr, wegen fahrlässiger Gefangenenentweichung bestraft zu werden. In dem Gefängnishof befand sich ein Schuppen mit einem Dach, durch das den turnerisch geübten Gefangenen das Entweichen bequem gemacht worden war. Soviel ich mich erinnere, hat Friedrich öfters ein solches Strafverfahren anhänging gehabt. Er machte sich nicht viel daraus, bestraft wurde er meines Wissens nie.

Je nach dem Wetter draußen blieben die Untersuchungsgefangenen gern eine Zeit lang und machten sich dem Gerichtsdiener oder dem Richter nützlich durch die Anfertigung von brauchbaren Dingen, wie zum Beispiel Kaninchenställe und dergleichen. Ich hatte nur vertretungsweise mit den Strafsachen zu tun und war bereit, eine milde Praxis gegenüber den ewigen Landstreichern zu üben, die von zwei Gendarmen stets neu eingeliefert wurden. In Bernkastel kreuzten sich nämlich zwei große Straßenzüge, von denen die eine die Mosel entlang und die andere quer über Hunsrück und Eifel führte. Das war dann ein ergiebiger Jagdgrund für die unermüdlichen Gendarmen. Am Wochenende war ich häufig der einzige Richter am Platze und mußte mich dann notgedrungen in die jeweilig akut werdenden Strafsachen einarbeiten. Ärgerlich war zum Beispiel, wenn sich jemand gerade samstags aufhing. Er mußte dann erst durch einen Bescheid der Strafbehörde freigegeben werden. Die Formulare dazu lagen in meinem Schrank, der am Samstag meistens verschlossen war. Um dem Massenauftreten von Samstag- und Sonntagsleichen ein Ende zu machen, nahm ich mir einen Packen Formulare mit in die Wohnung. Das half, niemand nahm sich mehr am Wochenende das Leben.

Friedrich war eine sehr sachkundige Hülfe bei zwei Pensionsschweinen, die Faber und ich uns angeschafft hatten und für ihre Karenzzeit von sechs Wochen in einen Gewölbekeller des Gerichts brachten und dort installierten. Trotzdem das Futter von allen Seiten herbeigebracht wurde, waren die Schweine unheimlich gefräßig und taten sich namentlich an den justizfiskalischen Kohlen gut. Wenn um diese Zeit Bauern ins Gericht kamen, so schnupperten sie schon im Flur und hatten es stets sofort heraus, daß dort ein Schwein sein müsse. Durch seine heimatliche Metzgerei in Wehlen besorgte Friedrich aber auch sonst für uns ein gutes Stück Fleisch, selbst als wir schon gar nicht mehr in Bernkastel waren. Später hörte ich von ihm, daß er mit kluger geschäftlicher Überlegung den Erwerb und die Einkellerung der guten Jahrgangs 1921 zu großem Einkauf und erheblichem Gewinn daran benutzt hatte. Weiter habe ich dann später nichts mehr von ihm gehört.
 
 

Notar Ludwig

Ludwig v. Hymmen war der querköpfige Sohn eines querköpfigen Vaters, der ehedem Landrat in Hagen und später Burgherr auf seiner von dem Großvater in der Urzeit ererbten Endenicher Burg. Dieser Großvater war zu seiner Zeit Landrat in Bonn gewesen. Noch vor dem älteren Landrat v. Sandt, zu einer Zeit, da der Landrat notwendigerweise ein Gutsbesitzer sein mußte, und nicht ein Mann ohne Ar und Halm sein konnte. Zu diesem Zwecke mag wohl der Großvater die Klitsche, wie sein Enkel sich ausdrückte, erworben haben. Es war ein weitläufiges altes Gebäude, mit einem tiefen, jetzt trockenen Graben. Vor dem Hofe standen ein paar alte Kiefern. Die Hauptsehenswürdigkeit dieser Burg war das blaue Zimmer, das man mir mal eines Tages zeigte mit der überkommenen Erzählung, daß drei regierende Fürsten mal drin gewesen wären. Das eine war die damals noch jugendliche Königin von England, die vermutlich dort Besuch gemacht hatte, als sie 1835 in Bonn der Enthüllung des Beethovendenkmals auf dem Münsterplatz beiwohnte, wo sie nach dem Fallen der Verhüllung vom Balkon des Fürstenbergischen Palais (heutige Reichspost) die prachtvolle Hintersicht von Beethoven bewunderte, die auch heute noch aus nur drei riesigen geistlosen Mantelquetschfalten besteht. Die Königin wandte sich entrüstet ab, und Alexander v. Humboldt soll sie damit getröstet haben, „er sei auch Zeit seines Lebens stets ein großer Mensch gewesen“. Der zweite mag wohl Friedrich Wilhelm der Vierte und der dritte der alte Kaiser Wilhelm gelegentlich eines Manövers gewesen sein.

Der alte v. Hymmen war nur kurze Zeit, bevor ich seinen Sohn kennen lernte, gestorben, nachdem er die letzten Jahrzehnte ein reiches Stänkerleben geführt hatte. Er machte viele Eingesandt im Generalanzeiger und war stets gegen das Wetter. War alle Welt dafür, daß Endenich nicht in Bonn eingemeindet werden sollte, so war er ebenso eifrig dafür, wie er später dagegen war, als man damit ernst machen wollte. Er hatte ein seltsam kluges Testament gemacht, indem er seine beiden verheirateten Kinder, einen Rittmeister v. Hymmen in Bad Godesberg und einer nach Schlesien verheirateten Tochter mit denjenigen Vermögensgegenständen bedacht hatte, die Ertrag brachten. Seinen Sohne Ludwig dagegen, den Junggesellen, hatte er zwar die wertvollsten, aber auch wenigst ertragreichen Gegenstände zugedacht, die allerdings für die Zukunft die größte Möglichkeit besaßen. Hymmen mußte daher fast sein ganzes Gehalt als Amtsrichter an Steuern zuschießen. Er einigte sich mit seinen Geschwistern über einen anderen Verteilungsmodus. Mit großem Eifer betrieb er die Erhaltung und Nutzbarmachung des väterlichen Besitzes in Endenich. Dabei stellte es sich heraus, daß der Alte eine zwar äußerlich korrekte Buchführung gemacht, aber allenthalben betrogen worden war. Zum Beispiel fand sich ein laufender Posten in beträchtlicher Summe für Dachreparaturen, aber das Dach war völlig im Unstande. Für die Waldungen waren Kosten und Aufforstungen gebucht. Sein Freund, der Oberförster Bauer, mußte feststellen, daß wenn man die gebuchten Aufforstungen ausgeführt hätte, man jetzt einen schönen Einschlag hätte machen können. Es war aber nichts geschehen.

Wir kamen durch seine häufigen Fahrten nach Bonn mit ihm näher zusammen und lernten den seltsamen Querkopf in seiner ganzen Glorie kennen. Gegen meine Frau und Schwiegermutter, die er manchmal auf seiner Reise nach und von Bonn begleitete, benahm er sich stets sehr nett und liebenswürdig, war er ein angenehmer Reisebegleiter und erwies ihnen allerhand Aufmerksamkeiten.

Dienstlich hatte es folgende Schwierigkeiten mit ihm: Sein „Notariat“ betrieb er auf folgende einfache Methode: Durch evangelische und katholische Geistliche ließ er auf der Kanzel verkünde, nächsten Sonntag um vier Uhr hält Amtsgerichtsrat v. Hymmen in der Wirtschaft soundso einen Vortrag über das Grundbuchrecht. Erschien dann der Bernkasteler Notar Sieburg, so wurde ihm bedeutet, Herr Notar sei nicht eingeladen und könne auch nicht zugelassen werden. Dann ging die Hetze gegen die Notare los, die darauf hinauslief, daß die Beurkundungen so hoch seien und bei Gericht billiger gemacht werden könnten. Das gefiel den Bauern, und so gingen sie zu dem geliehenen Notar. Ja manche verstanden sich sogar dazu, sich über die Gerichtskostenrechnung zu beklagen, die sie für die Grundbucheintragung bekamen. Notar Ludwig mußte ihnen dann mühsam klar machen, daß dies die Selbstkosten seien und er es auch nicht billiger machen könnte.

Die Zeitungen brachten damals auch Auszüge aus den Standesregistern über die Geburten, Heiraten und Todesfälle. Nach einer gewissen Zeit lud v. Hymmen die Leidtragenden zu sich aufs Gericht. Er hatte den Grundbesitz der Leute schon festgestellt und drängte ihnen einen billigen Erbscheinsantrag auf. Damals klaffte allerdings eine Lücke im Gesetz, und der Antrag auf Erteilung eines Erbscheines war tatsächlich bei Gericht billiger zu stellen als beim Notar, was Hymmen natürlich weidlich ausnutzte. Damit aber nicht genug, er machte auch Zwangsteilungen, zu denen er nur die Auflassung beurkundete. Den eigentlichen Teilungsakt entwarf er den Beteiligten kostenlos als Privaturkunde. Nachdem ihm seine vorgesetzte Behörde dies verboten und ihn angewiesen hatte, Urkunden in kostenpflichtiger Form herzustellen, gab er sich erst recht daran, diese Privatteilungen zu betreiben; damit diese Teilungen seine Handschrift nicht zeigten, ließ er sie durch den Referendar schreiben, der daran den ganzen Tag sich die Finger schmierig schrieb und oft gänzlich unleserliche Produkte lieferte. Oft genug kam es dabei zu einem herrlichen Durcheinander. Die Moselbauern pflegten bei einer Teilung gewöhnlich einen gewissen Teil des Grundbesitzes öffentlich versteigern. Hymmen hatte auch versucht, diese Versteigerungen auch im Wege seines Notariats den Bauern zu verbilligen, hatte dabei aber Schiffbruch erlitten, denn die Bauern erschienen nachher nicht zu Auflassung vor Gericht. Und die privatschriftlich beurkundeten Versteigerungen waren rechtsungültig. Den übrigen Teil des Grundbesitzes teilten die Bauern unter sich. Es entstand ein schönes Wirrwarr dadurch, daß die beiden Notare die Versteigerungen nach den Angaben der Bauern abhielten und der „Notar“ Ludwig gleichzeitig Teilungen machte, in denen die bereits versteigerten Grundstücke verteilt worden waren. Das alles rührte ihn wenig, und trotz der Verbote seiner Vorgesetzten suchte er das Notariat weiter zu betreiben. Es waren darüber schon dicke Akten entstanden.

Die größte Heftigkeit des Kampfes lag bereits vor meiner Zeit. Als ich Anfang Mai 1910 als Assessor nach dorthin kam, war mein Amtsvorgänger Mügel als Notar nach Castellaun anstelle des von dort nach Bernkastel versetzten Dr. Astor versetzt worden. Mügel hatte nie etwas darüber verlauten lassen, daß er Notar werden wollte und empfahl mit dringend die gleiche Schweigsamkeit. Ich verriet ihm lachend, daß ich längst mit Amtsgerichtsrat Winckler mich darüber unterhalten habe, daß ich Notariatskandidat sei und Notar werden wolle und vorher nur die üblichen Assessorjahre abzusitzen gedächte, die man mir im Justizministerium auf zwei Jahre zu beschränken in Aussicht gestellt hatte. Dann sei ich hier in Bernkastel unten durch. Ich meinte darauf, das wollen wir mal sehen. Am Weintisch in der Doktorweinstube hatte sich der schalkhaft lustige „katholische Kreisschulinspektor“ einige Bemerkungen über den „Prädikatsassessor“ gemacht, der anscheinend von der Justiz hierher versetzt sei, „um hier Remedur zu schaffen“. Da ich energisch widersprach, verstärkte sich in manchen das bestimmte Gefühl, daß Fränzchen Müller recht habe, und ich glaube auch, namentlich v. Hymmen und Rothschild haben mir in diesem Punkte nie recht getraut. Im Verkehr blieb ich völlig unbefangen, verkehrte auch familiär freundschaftlich mit beiden Notaren und bedauerte nur, daß die beiden untereinander kein rechtes Verhältnis hatten. Alles schien sich in Wohlgefallen aufzulösen, bis mir in meiner Grundbuchabteilung eines Tages eine Privatteilung mit Auflassung vorgelegt wurde, die v. Hymmen beurkundet hatte, obwohl er  nach der Geschäftsverteilung hierfür gar nicht zuständig war. Auflassung und Teilung waren derartig saumäßig geschrieben, daß ich mir vor der Bearbeitung von der Kanzlei eine Reinschrift fertigen ließ. Diese wurde Hymmen zur Unterschrift vorgelegt, und es kam zu einem großen Krach. Ich lehnte das Gerichtskollegium über mein Verhalten ab und blieb auf dem richtigen Standpunkt, daß, wenn Hymmen es schon für notwendig halte, in meine Abteilung hineinzupfuschen, ich alle Verantwortung ablehne und ihm auch die Eintragung überlassen müsse. „Wir versöhnten uns“. Hymmen hatte dann eine Sauwut auf mich, aber es herrschte das Gefühl vor, daß ich auf dem Dienstwege in jedem Falle recht bekommen hätte. Es fiel Hymmen etwas schwer, sich damit abzufinden, später aber vertrugen wir uns wieder auf das Beste. Nach außen hin hat niemand von uns etwas über die Sache verlauten lassen.

Später kam ich in Bonn manchmal mit ihm zusammen und suchte ihn dann so zu bestimmen, die Dinge aus seinem ererbten Besitz, die lokalhistorischen Wert für Bonn hatten, der Sammlung „Alt Bonn“ zu vermachen. Bei einer Unterhaltung mit Professor Knickeberg hierüber erbot ich mich, in juristischer Weise ihm dabei behilflich zu sein. Er starb bald darauf auf eine seltsame Weise. Bei einer Erkrankung lag er ohne rechte Hülfe auf seiner Klitsche und ging infolge mangelhafter Verpflegung bald zu Grunde. Noch im Tode offenbarte sich sein Sinn für Humor und Seltsamkeit. Wer an seinem Begräbnis teilnahm, hatte das Recht, an einem Umtrunk auf sein Wohl und seine Kosten teilzunehmen, wovon ganz ausgiebig Gebrauch gemacht wurde.

Diese Sache erinnert mich an seinen Weggang als Amtsrichter von Bernkastel. Er feierte diesen durch einen Umtrunk in der Doktorweinstube, zu dem er die halbe Mittelmosel, natürlich mit Ausnahme der Notare, eingeladen hatte. Es war ein wahres Bacchanal und dehnte sich bis in den frühen Morgen. Ich war des Abends vorher bei Landrat v. Nasse, einem Anverwandten von ihm, mit dem Regierungspräsidenten Baltz zum Abendessen eingeladen, einem alten Herrn, der an einer kleinen Verwundung litt. Wir machten ihm graulich, so daß er früh zu Bett ging und wir uns an dem Abschiedstrunk von v. Hymmen beteiligen konnten. Ich aß ununterbrochen trockenes Weißbrot und vertrug alles aufs Beste. Es wurden immer bessere Weine getrunken, und schließlich hatten wir für etwa sechshundert Mark Wein verbraucht. Hymmen marschierte in aller Frühe mit einigen Genossen über den Berg nach Traben-Trarbach und ließ sich als Landgerichtspräsident Collig aus Koblenz einführen, der zu einer Gerichtsrevision komme. Das gab natürlich allerhand Unfug. Nachmittags fand im Hause von Rechtsanwalt Schönberg eine Verlängerung der Sitzung statt, wozu ein Gemisch aus Weißbier mit Apfelsekt vorgesetzt wurde. Das schäumte und erfrischte ungemein. Abend ging das Zechen wieder von neuem los, mir aber war es genug, und ich ging zu Bett. Eine Einladung in die Familie, eine Abendgesellschaft, pflegte Hymmen grundsätzlich auszuschlagen mit der Begründung, zum Armenrechtessen ginge er nicht.
 
 

Der letzte Romantiker

Ernst Reinecke entstammte einer alten und nach den verstaubten Photographien seiner Voreltern zu rechnen, einer recht verstaubten und auch wohl eingetrockneten hannöverschen Beamtenfamilie. Als Referendar wird es ihm dort eines Tages zu langweilig, er setzt sich auf die Bahn und fährt nach Trier. Es gelingt ihm wirklich, dorthin versetzt zu werden, und seitdem durchstreift er als rüstiger Fußgänger die Gefilde der Eifel. Zu diesem Zwecke hatte er sich einen besonders großen Regenschirm mit derbem Stock anfertigen lassen, mit dem er sich gegen die Unbilde des Wetters zu schützen pflegte. Regnete und stürmte es gar zu arg, so hockte er sich im Windschutz eines großen Baumes nieder, zog die langen Beine an sich und spannte den Schirm so aus, daß seine Enden im weiten Umkreis den Boden berührten, daß er ziemlich geschützt so hockte. Er hat mir selbst diese Mimik einmal vorgeführt, und ich fand sie seinem Wesen und seiner Figur sehr entsprechend. Durch einen Glücksfall hatte er die Zweite Prüfung bestanden und war jahrelang als Assessor im Trierer Gebiet tätig. Er stand kurz vor dem Blauen Brief, mit dem man die Mitteilung erhielt, daß man im Justizdienst keine Verwendung finden soll und sich um was anderes umsehen soll. Als alter Corpsstudent, als fröhlicher Geselle und als „honoriger“ Mensch erfreute er sich allgemeiner Beliebtheit, und so setzte sich „Papa Wette“, der damalige Gerichtspräsident von Trier vor dieses trübe Schicksal und sorgte dafür, daß er schließlich eine der beiden 1911 frei werdenden Amtsrichterstellen in Bernkastel-Cues erhielt. Wer war froher als Reinecke, der ob seiner Wanderfahrten den Spitznamen „der letzte Romantiker“ bekommen hatte und ihn mit Wonne trug. Seine Genossen hatten ihn vermittels eines Moselkahnes von Trier nach Bernkastel zu verfrachten gedacht. Er hatte aber wohl mit Recht vermutet, eine solche besoffene Fahrt würde schließlich damit enden, daß er als mehr oder weniger fidele Weinleiche vor dem unmittelbar im Moselbett liegenden Amtsgerichtsgebäude ausgebootet worden wäre und einen seltenen Einzug in seiner neuen Dienststelle gemacht hätte.

Als kurze Zeit darauf ein weiterer Trierer Assessor, der dicke Schmitz, ebenfalls an das Bernkasteler Amtsgericht versetzt wurde, mieteten sich diese beiden den alten Brenner mit seinen beiden uralten Rössern und seiner herrlichen Droschke, die mit Hanfschnüren geflickt war. Nur der Oberförster Bauer wagte es aus alter Anhänglichkeit, sich diesen Durchbrennern, wie er sie nannte, auf seinen Dienstreisen anzuvertrauen. Sie setzten sich beiden mit Zylindern bewaffnet und mit Zigarren wohlversorgt in diese Staatskarosse, setzten den Gerichtsdiener Tinner auf den Bock, der früher Schiffssteward gewesen war, und fuhren Besuch machend durch die Stadt. Der Umzug geschah zu allgemeinen Belustigung, Tinner mußte wie ein Affe vom Bock in die Wohnungen springen und die Besuchskarten abgeben. Die Besuchten lagen in den Fenstern und baten die Besucher herein. Diese aber lehnten sich bequem in ihren Sitzen zurück, rauchten und unterhielten sich, dachten aber nicht daran auszusteigen. Auf diese Weise zockelten die Pferde unter allgemeinem Gelächter das ganze Städtchen ab, und diese Besuchsfahrt spielte sich ab wie eine lustige Rundfahrt zu Karneval.

In der Bewältigung seiner Gerichtsarbeit zeigte Reinecke weniger Humor. Im Gegensatz zu dem tüchtigen Schmitz, dem nichts zuviel und der jederzeit bereit war, noch weitere Arbeit zu der seinigen hinzuzunehmen und auch zu erledigen, verbrachte Reinecke viel Zeit damit, aller Welt darüber vorzujammern, daß er mit der vielen Arbeit nicht „zu Pott“ kommen könne. Kein Wunder. Als Richter in bürgerlichen Rechtstreitigkeiten schleppte er die Akten vom Gericht mit auf seinen „Kotten“ und dann wieder zurück, ohne sich dazu entschließen zu können, endlich einmal ein Urteil zu fällen und seine Entscheidung zu Papier zu bringen. Ich war seine ewige Jammerei so satt, daß ich ihm vorschlug, unsere Abteilungen eines Tages mit sofortiger Wirkung zu wechseln. Er war so töricht, darauf hereinzufallen und hatte nunmehr fast doppelt zu tun wie vorher, wobei es kein Verzögern gab und er schon durch die täglich aufgepackten Grundbuchakten und die ordentlich arbeitenden Beamten andauernd in Atem gehalten wurde. Er war mordsfroh, nach kurzer Zeit seine alte Abteilung zurückzuerhalten, und von Überlastung war weiter nicht mehr die Rede. Ich hatte ihm nicht nur gründlich klargemacht, sondern auch bewiesen, daß er ein schlechter und langsamer Arbeiter war.

Um so besser verstand er sich auf das Feiern. Waren wir zu mehreren auf seiner Bude zusammen, so war es stets „ein wirklich gemütlicher Ausschank“, wir unterhielten uns aufs Beste und fühlten  uns in unsere Studentenzeit zurückversetzt. Er besaß ein ungeheuer großes und weiträumiges Biedermeiersofa. Wir setzten uns darauf, Reinecke zupfte die Gitarre und wir sangen mit lauter Stimme:

Kommt mich einmal ein guter Freund besuchen,
so soll er mir willkommen sein.
Ich gebe ihm vom allerbesten Kuchen
und auch ein Glas Champagnerwein.
Die Seele schwinget sich wohl in die Luft - juchhe,
indes der Leib bleibt auf dem Kanapee.

Dabei wurde eine Papierserviette zu einer hohlen Zylindertrommel zusammengeklebt und angezündet. Sie segelte dann zur Decke und kam als Aschenflocken wieder herunter. So kam der alte Corpsstudent bei ihm in schönster Form  zum Vorschein.

So nett er als Mensch war, so konnte er als Beamter mitunter ein etwas hochfahrendes Wesen und eine gute Portion Beamtendünkel  zeigen, der oft genug nur zur Verdeckung seiner inneren Unsicherheit diente. Da er Stock und Stein mit getrennten S und T aussprach, so beriefen sich die Bauern ganz pfiffig darauf, daß sie ihn nicht recht verstanden hätten, eine unangenehme Sache, wenn es sich gerade um den Wortlaut eines Eides handelte. Er hielt natürlich sehr auf die „Würde des Gerichts“. Lang und schlank hatte er einen spärlichen Haarwuchs und listig blinzelnde braune Augen. Obwohl ich ihm oft genug versichert hatte, daß er ganz das Aussehen eines Marabus besäße, hielt er sich selbst für einen schnieken und hübschen Jüngling, in den sich gleich alle jungen Mädchen verlieben müßten. Er dachte sogar daran, Margarethe Thanisch zu umwerben und hatte seine Bedenken nur wegen der Verschiedenheit des Gesangbuches. Ich konnte nur laut lachen und riet ihm in aller Treuherzigkeit, doch einmal sich die Dinge nüchtern anzusehen. Er war mitunter etwas begriffsstutzig. auch war er zu mir häufig etwas zudringlich und pflegte mich zu duzen, wozu ich ihm niemals die geringste Veranlassung gegeben hatte. Er ließ sich aber durchaus nicht aus seiner Rolle bringen.

Eines Tages wurde es offenbar, daß sein Herz anderswo verstrickt war, und bald kam heraus, daß er ein Liebesverhältnis zu einer Näherin in Koblenz unterhielt. Ich hatte ihm mal mit einem Rucksack zu Bahn marschieren sehen, der zu einer vollkommen prallen Kugel aufgeblasen war. Er brachte darin Kissen in das Nest. Nach einiger Zeit hieß es, daß er Vaterfreuden zu erwarten habe. Es war die Zeit des Kriegsausbruchs, und er gedachte, die Mutter nach Bernkastel in seine Wohnung einzuquartieren. Nur mit Mühe konnte ich ihn hiervon zurückhalten. Am zweiten Mobilmachungstage zog er als Freiwilliger ins Feld, wurde aber nach kurzer Zeit Kriegsgerichtsrat. Vor seinem Auszug legte er mir seine Geliebte, die ich nie zu Gesicht bekommen hatte, besonders warm ans Herz. Nach einiger Zeit legte mir mein Sekretär eine Geburtsanzeige vor, nach der unehelich einmännliches Kind mit vollen zweieinhalbe Zeilen von Vornamen, darunter auch Ernst und zum Schluß „Unverzagt“ aufgeführt waren. Es war Reineckes Sprößling. Es dauerte eine lange Zeit, bis dies klar und festgestellt wurde, daß wir gar nicht zuständig, sondern Koblenz zuständig war. Er hatte sich das alles in seinem naiven Sinn ganz einfach gedacht und wollte das Ganze sich in Bernkastel abspielen lassen, was natürlich eine Skandalgeschichte ersten Ranges geworden wäre.

Im Laufe des Krieges wurden wir eines Nachts durch eine Depesche erschreckt, aber was war es? Reinecke hatte das E. K. I bekommen und mußte uns damit nachts in Schrecken versetzen.

Da fällt mir noch eine amüsante Geschichte ein, die sich einige Zeit vor dem Kriege ereignete, als Winckler eine Reserveoffizierübung mitmachte. Cornelius Müller telefonierte aus Traben-Trarbach, daß der Oberlandesgerichtspräsident Mohrkramer im Lande sei und im Laufe des Nachmittags zur Revision zu uns kommen würde. Wir waren dann überraschenderweise trotz des Samstagnachmittags alle vollzählig im Amt, was geradezu als ein Wunder angesehen werden mußte, indem zum Wochenende meist die Herren fehlten. Mohrkramer war sehr wohlwollend und erkundigte sich im Laufe einer Unterhaltung, er hatte uns zu einer schlechten Flasche Wein in den Garten eingeladen, wann montags der erste Zug nach Wittlich führe. Es war klar, wir sollten den Wittlichern einen Wink geben. Leider war das nicht möglich, weder beim Amtsgericht noch bei Anwalt und Notar war irgendjemand zu erreichen. Nach langem Hin und Her beschlossen wir, eine Depesche zu schicken. Was geschieht darauf in Wittlich? Am frühen Morgen steht der aufsichtsführende Amtsrichter pünktlich am Bahnhof und empfängt in Zylinder und Bratenrock der Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten. Mohrkramer war natürlich recht verdrießlich und erfuhr alles von der Depesche. Seine Verdrossenheit zeigte sich in einer sehr ungnädigen Revision. Sie hatte einen sehr merkwürdigen Erfolg: Er war nach Wittlich gekommen in der Absciht, dort ein großzügiges Amtsgericht mit sechs Richtern zu bauen, nun aber fand er alles hinreichend und genügend und war sehr ungnädig. Die Wittlicher haben heute noch keinen Amtsgerichtsbau. Der Gegensatz des Empfanges dort und bei uns war allzu krass. Von seinem Schwiegersohn v. Sobbe war Mohrkramer seiner Zeit in Bernkastel erstmals Großvater geworden. Er hatte es in lieber Erinnerung. Ein Abglanz davon hätte sich gewiß auch auf das wirtschaftlich viel wichtigere Wittlich gesenkt, wenn nicht v. Hagens mit seinem Unglückszylinder alles verdorben hätte. Er war übrigens alter Corpsstudent, und gelegentlich einer Versammlung seiner alten Kommilitonen wurde ihm diese Sache mit dem Zylinder vorgespielt. War das komisch! Übrigens hat er stets behauptet, an der ganzen Sache wären ausschließlich wir schuld gewesen.

Über Reinecke habe ich noch nachzutragen: Daß er nach seiner gesunden Rückkehr aus dem Kriege die Tochter eines Bürgermeisters von Hagen in Kempfeld geheiratet hatte. Diese war zwar Doktor der Chemie, verstand sich aber nicht auf die Kochkünste. Fräulein Schönberg gegenüber schilderte Reinecke, der später in unserem Hause bei Leistners, aber auf dem zweiten Stockwerk wohnte, es wäre doch viel praktischer, wenn der Magen eine eigene Klappe besäße, durch die man die Speisen einführen könnte, um den Weg durch den Mund und den Schlund zu ersparen. Es müssen sich noch seltsame Sachen mit Reinecke in Bernkastel abgespielt haben. Zum Beispiel, daß er eines Tages seine frühere Geliebte mit ihrem mittlerweile großen und kräftigen Sohne (herangewachsenen Kegel) nach Bernkastel kommen ließ und mit beiden Frauen in Begleitung dieses Jungen an der Mosel spazieren ging. Der Junge mußte ihm ganz fabelhaft ähnlich gesehen haben.

Später besuchte mich Reinecke noch einmal in Bonn. Er war von der französischen Besatzung vertrieben worden und Amtsgerichtsrat in Einbeck bei Hannover geworden. Ich nahm ihn auf seinen Wunsch mit zum Kaufhaus Tietz, und er benahm sich dort wie ein großes Kind, so daß die Geheimdetektive auf ihn aufmerksam wurden und ich ihn hierauf aufmerksam machen mußte. So wird er vermutlich auch noch heute sein.
 
 

Assessor Schmitz

Er stammte aus Trier. Sein Vater war Oberförster und seine Frau die Tochter eines altadeligen Geschlechtes auf der Burg Vianden. Er war ein gedrungener Mensch, Schwarzkopf mit einem riesigen, etwas schiefstehenden Auge. Schmitz sieht aus wie ein Menschenfresser, pflegte Reinecke zu sagen. Er war ein gutmütiger und kluger Mensch, ein unverdrossen arbeitender Kollege, mit hellem Kopf und gesundem Blick, ein eifriger Jäger und großer Potator vor dem Herrn. „Eich han glaubt, in Trür wird viel gesoff, aber in Bernkastel wird nochmal viel mehr gesoff!“ Das war ein Kernwort von ihm. Er war sehr befreundet mit dem Kollegen Sieburg und verkehrte sehr nett mit dessen Kindern. Er hatte nur den einen Wunsch, Amtsrichter und Jäger in Bitburg in der Eifel zu werden. Dieser Wunsch ging ihm auch in Erfüllung, nachdem er im Anfang des Weltkrieges eine Zeit lang eingezogen und als Wachmann an der Brücke hatte stehen müssen. Nachdem er seine Jagd vollständig ausgeschossen hatte, traf er ein Abkommen mit einem Trierer Pferdemetzger auf Lieferung von wöchentlich drei Pfund Fleisch, „denn ohne Fleisch kann ich nicht leben“, erzählte er mir. Von Sieburg hörte ich später zu meiner großen Betrübnis, daß er infolge einer Kehlkopferkrankung einen langen und qualvollen Tod sehr tapfer hat sterben müssen. Er war ein wackerer Mensch.

Er erzählte mir, daß er sich oft morgens auf dem Bettvorleger seines Bettes schlafend fand. Er war dann etwas spät und weinbeladen nach Hause gekommen, hatte sich in der Dunkelheit ausgezogen und seine Kleider in bester Ordnung hingelegt, war aber nicht mehr bis ins Bett gekommen, sondern hatte sich vor demselben hingelegt. Das hinderte ihn aber keineswegs, andern Tages fleißig und tüchtig im Gericht seine Pflicht zu tun. Ich erinnere mich einer Schilderung über die körperliche Wirkung des Genusses einer größeren Menge Federweißer auf das Herz des Trinkers: „Ich wurde plötzlich nachts im Bette wach, mein Herz schlug im wilden Takt, ich setzte mich voller Schrecken aufrecht ins Bett und dachte jeden Augenblick, jetzt kommt der Tod. Es war ein schreckliches Hämmern in der Brust.“

Gelegentlich einer Verlosung von Gegenständen kurz vor Weihnachten in einer lustigen Sitzung des Bernkasteler Abends in der Doktorweinstube hatte jeder Mensch ein Spielzeug für die Kinder gestiftet, Schmitz einen flauschigen Seidenaffen. Es wurde gewürfelt, und Schmitz hatte sechs, sechs, vier und gedachte ihn schon für die Kinder Sieburg zurückerobert zu haben. Ich aber warf sechs, sechs, fünf, und der Affe erfreute jahrelang unsere Kinder.
 
 

Bernkasteler Köpfe III

Schmidtchen

Eine liebenswürdige Erscheinung war trotz seines rauhen männlichen Aussehens der frühere Zigarrenfabrikant Schmidtchen, der Besitzer des Hauses, in dem Notar Sieburg Wohnung und Büro hatte. Dieser alte Junggeselle hatte stets die Taschen voll mit Augen von Rosen, die er unterwegs auf seinen Spaziergängen vermittels eines Okuliermessers auf zahlreiche wilde Rosenstöcke zu okulieren pflegte, und zwar meist an entlegenen und wenig zugänglichen Stellen, vielfach an Feldüberhängen in den Bergkämmen oberhalb der Weinberge. Vielfach entwickelten sich solche Augen, und es blühten wundervolle gefüllte Rosen mitten in wilden Hängen. Oft mußte er  natürlich zu seinem Verdrusse erleben, daß wilde Jungens nicht nur diese edlen Triebe, sondern die ganzen Rosen abrissen und verdarben. Oft aber fand der besinnliche Wanderer an einem sonnigen und schlecht erreichbaren Plätzchen eine voll blühende und wundervoll duftende Rose edler Herkunft. – Er machte allerhand Naturbeobachtungen, so zum Beispiel dass sich der Samen der Mistel auf keine Weise künstlich auf einen anderen Baum einpflanzen läßt. Er war zu der Überzeugung gekommen, daß der Mistelsamen erst den Darmkanal der Amsel oder eines anderen Vogels passiert haben müßte, um selbst an einem anderen Baume aufzukeimen.

Als alter Zigarrenfabrikant bestätigte er mir meine Vermutung, daß in der vorderen Hälfte der Zigarre der Tabak besser sei als in der zweiten Hälfte. Mir schmeckte nämlich damals stets nur die erste Hälfte einer Zigarre. Außerdem lernte ich von ihm die Bedeutung des Trauerrandes zwischen der brennenden Zigarre und dem weißen Aschenkranz kennen. Der Trauerrand sei nicht zu finden bei Zigarren aus solchen Tabak, der erstmals auf jungfräulichem Boden gewachsen sei, das heißt auf einem Boden, wo es vorher noch keinen Tabak gegeben hatte. Schmidtchen ist mir als ein ruhiger und besinnlicher Mann noch in guter Erinnerung.
 

Dr. Ludwig – Physiker und Naturkundiger

Bei einem gemeinsamen Besuche mit Rechtsanwalt Schönberg lernte ich Dr. Ludwig in Dusemond kennen. Weit abgelegen vom Ort in der Nähe des Waldes und am Rand eines Feldes hatte er seine sehr einfache Behausung, wenn ich nicht irre, gemeinsam mit einer Schwester. Der schmale und durchgeistigte Kopf eines Denkers und Erfinders. Er hatte schon bei Edison in New York gearbeitet, namentlich auch an der Herstellung künstlicher Diamanten. Dies war ihm auch theoretisch gelungen, und er hoffte mit der Zeit den Herstellungspreis derselben auf fünf Mark pro Kilo zu drücken. Damit hatte es aber noch gute Wege. Hörte man seine einfachen und völlig schwulstlosen Darlegungen an, so war man von ihm überzeugt. Damals ging es ihm nicht besonders gut. Die Banken hatten die Mittel zu weiteren Experimenten, die natürlich Geld kosteten, nicht mehr oder nicht mehr so reichlich geben wollen, obwohl noch vor nicht langer Zeit die den Diamanthandel vollkommen beherrschende De-Beers-Kompagnie vor ihm und seinen Ideen gezittert hatte, weil sie wohl mit Recht eine gänzliche Entwertung ihrer wertvollen Diamamtfelder und der darin gesteckten Kapitalien fürchteten, wenn diese einmal für fünf Mark das Kilogramm herzustellen waren. Vor seiner halb im Felsen hingehauenen Offizin sieht man eine kleine Bahn, die in einen Bergtunnel hineinführt, der im rechten Winkel abbog und sich dann ganz in den Bauch des Berges hineinzog. Auf einem kleinen Eisenbahnwagen konnte man einen riesigen Bombenträger liegen sehen, der bei Experimenten in den Berg hineingeschoben wurde. Mitunter gab es dann eine schwere dumpfe Explosion, die den ganzen Berg erschüttern ließ. Das Volk nannte ihn den Goldmacher, und es wurde die Ansicht wieder lebendig, er stehe mit dem Teufel in Verbindung. Bei den Gebildeten galt er als verrückt. Oberförster Bauer lehnte ihn als den unverständigen Sohn eines verständigen Kollegen als gänzlich mißraten ab. Eine natürliche Erscheinung: denn keiner ist Prophet in seiner Vaterstadt. Sein schlankes Äußere und sein jugendliches Gesicht ließen auf einen Mann von vierzig bis fünfzig Jahren schließen, das Haupthaar war allerdings weiß gebleicht. Jedenfalls ein ungemein sympathischer Mensch. Später besuchte ich ihn nochmals auf kurze Dauer. Da ging es ihm besser. Er hatte Soldaten aus dem Weltkriege zur Verfügung, die ihm beim Transport von großen und ungemein gewichtigen Eisengußteilen halfen. Die Stücke hatten je ein Gewicht von bis zu zwanzig Zentnern und wiesen in der Mitte ein kreisrundes Loch auf von etwa einem halben Meter Durchmesser. Diese Teile sollten auf einer riesigen Säule aufgereiht und so angebracht werden, daß sie einen riesigen Druck ausüben konnten, von dem aber plötzlich eine völlige Entlastung herbeigeführt werden konnte. Nach Schönbergs Bekundungen waren den Banken Gutachten von bedeutenden Physikern vorgelegt worden, und es hatten sich daher Kapitalisten und Mittel gefunden, um ihn in seinen Bestrebungen zu unterstützen. Er leuchtete damals ordentlich vor Freude, war aber sonst ganz derselbe ruhige und bescheidene Mensch wie früher. Er war damit zufrieden, seiner Sache langsam immer näher zu kommen und wurde darin angeblich auch von Staat und Wehrmacht unterstützt. Irre ich nicht, so wurde mir beiläufig erzählt, daß es ihm zwar nicht gelungen sei. Gold zu machen, wohl aber solches zu zerlegen, nämlich in Kupfer und Blei. Im Januar 1942 habe ich mich bei Schönberg nach ihm erkundigt und erhielt die Antwort, er lebe noch und experimentiere auch noch.
 
 

Aus meinem Bernkasteler Tagebuch

Köns, der Zuckerbäcker

Konditoren und Zuckerbäcker müssen einen ordentlichen Schmerbauch und ein freundlich grinsendes und speckig glänzendes Angesicht haben, während der Brotbäcker meist hager, knochig und mehlwurmig aussieht, mit einem deutlich sauren Ausdruck im Gesicht von all dem gesäuerten Brot, das er tagaus, tagein Zeit seines Lebens backen muß. Köns machte eine Ausnahme, ohne sauertöpfischen Ausdruck, stets ein Lächeln in den runzligen Gesichtszügen aber von einem Bauchansatz war auch nicht die geringste Spur zu sehen. Er war vielmehr ein hageres, kregeles Männchen mit goldener Brille auf der Nase, das mit weit ausholenden Schritten über die Brücke marschierte und seinen Hut in weitem Bogen mit genauen Abmessungen für jede Art von Gruß je nach der Person des Begrüßten zu schwenken verstand. Ein Allerweltskerl, der alles kann. Im Kriege hatte er es fertiggebracht, einen Kuchen ohne Mehl zu backen. Aber schon früher hatte er, voller Mißtrauen in die allzulang geschüttelte Milch der benachbarten Gutshöfe, schon seit Jahren mit einem aus weißer Trockensubstanz von ihm selbst aus Milch hergestellten Pulver gebacken und sogar die feinste Schlagsahne daraus zu machen verstanden. Er verstand sein Handwerk gründlich. In diesem Lande der Phäaken selbstverständlich. Wenn aber bei ganz großen Kaffeekränzchen die Damen der Honoratioren noch besondere Torten aus der Bezirksstadt kommen lassen mußten, so war dies nach Köns Ansicht alles weggeworfenes Geld. Mit seiner Zuckerbäckerei war er keineswegs befriedigt, sondern hielt sich zu Höherem geboren. So hatte er sich eine Lieblingsbeschäftigung zugelegt: die Anlage elektrischer Klingelleitungen. Allzu große Fachkenntnisse plagten ihn dabei keineswegs, und so ersetzte er diese Mängel durch jugendliche Behendigkeit, mit der er wie ein Affe die Leitern erkletterte, große Drahtverschwendungen und eifriges Reden. Jahrelang hatte er auf diesem Felde keine Konkurrenz und war ein kluger Mann. Die Schellen erwiesen sich dabei aber oft von seltenstem Eigensinn, einmal streikten sie schlechthin und ein anderes Mal gab sich eine ans Lärmen und hörte nicht eher auf zu lamentieren, bis man ihr den Draht aus den Elementen riß. Fand Köns sich dann zur Reparatur ein, so schnitt er flugs mit seinem Taschenmesser die verschiedenen Drähte an, machte geheimnisvolle Verbindungen, kurz, die Leitungen erkannten ihn als Herrn und Meister an und verhielten sich, solange er im Hause war, ganz ordentlich und läuteten nur auf Knopfdruck. Kaum aber war der Meister einige Zeit aus dem Hause, so begann der Unfug von Neuem.

Frau Köns hatte sich das von ihrem Manne versäumte Ränzlein zugelegt. Sie war allerseits so gut gepolstert, daß sie kühn vom Dache des kleinen Konditorhäuschens auf die gepflasterte Straße stürzen konnte, ohne sich einer anderen Gefahr auszusetzen, als daß sie wieder bis zum ersten Stockwerk zurückgefedert wurde.
 

Die Feuersbrunst

Aus meinem Tagebuch von Bernkastel, 6. September 1918: Langsam komme ich in diesen Ferientagen wieder zu mir selber und beginne nach einigen Tagen äußerlichen Ordnens der Dinge im Wohnzimmer, Bücherschrank u. s. w. (zwei Kisten Bücher wurden bereits umzugsfertig gepackt) jetzt damit, die Eindrücke der letzten Zeit auch innerlich ein wenig zu ordnen und zu verarbeiten. Zwei Monate Erholungsurlaub werden mich auch darin wieder auf einen vernünftigen Stand zurückbringen. Leider ist die Wohnungsfrage immer noch ungelöst. Das Gesuch wegen der bescheidenen Dienstwohnung ist nun schon einen Monat lang unterwegs.

Am 28. August nahm ich nachmittags in Wehlen bei einer Witwe Zacharias Dietz-Friedrich eine längere Schenkungsurkunde mit Auflassung vor, zu der ich die verschiedenen Familienzweige im Laufe etwa eines Halbjahres nach und nach im Vergleichswege zu einer „Vereinigung“ gebracht hatte. Die fünfzehn Anwesenden hatten eben ihre vielfachen Unterschriften umständlich erledigt, von einer Frau als letzter gezeichnet, da brach einer mit dem Schreckruf „Es brennt“ in das schwül überfüllte Zimmer, und sofort stob alles auseinander. Ich packte in Ruhe die Papiere zusammen und ging auch hinaus. Wenige Häuser weiter, so stand ich vor einem Hause, das gegen seine Nachbarn stark nach der Straße zu vorsprang und nach seinem Schilde einem Sattler Friedrich gehörte. Der Anblick war zunächst so überwältigend, daß es einem den Atem versetzte. Aus der rückwärts dicht am Hause gelegenen Scheune schlug die Flamme mit unwiderstehlicher Gewalt. Da war nichts zu retten, die eingelagerte Frucht der neuen Ernte gab dem Feuer eine unerhörte Wucht, und die roten Flammen fackelten in hellem Schwung und prächtigem Bogen in den sommerlich hellen Spätnachmittag, obenauf von schwärzlichem Rauchgekringel übersäumt. Das Ganze wirkte mit der Wucht des Einfachen wie ein alter, grob illuminierter klarer Holzschnitt. Ich fühlte mich einer stürmenden Reihe von seltsamen Empfindungen ausgesetzt, mußte bald an eine der aus tausend Bildern bekannten Brand- und Plünderungsszenen des dreißigjährigen Krieges, bald an eine Dorferstürmung an der Westfront denken. Aus den Fenstern fielen brockenweise alle möglichen Stücke Hausrat, die vorab noch von wenigen Händen aufgerafft und in die nächsten Häuser geschafft wurden. In diesen standen zunächst einige Weibspersonen eine Zeit lang wie halb versteinert, schrieen heftig und wußten nicht, womit beginnen. Aus dem dahinter liegenden Stall wurden zwei Ziegen und ein prächtiges fettes Schwein von einem Manne mit derben Scheltworten und Schlägen herausgetrieben. Nach einigen Minuten füllte sich die anfänglich fast leere Dorfstraße mit Leuten, unter denen etliche Männer kurze Befehle gaben. Sobald die tüchtigen Spritzen kamen und hanfene Schläuche von verschiedenen Seiten herankrochen, ihre trockenen Schlangenbäuche prall aufbliesen und die blasse Farbe ihres trockenen Daseins mit einem dunkelgrauen nassen Aussehen vertauschten, und die Fülle ihres gepreßten Leibesinhaltes hier und da an etwas schadhaften Stellen in dünnem Strahl hochaufspritzen ließen, ging alles seinen ruhigen Gang. Das Feuer griff auf das Wohnhaus über. Die Leute wurden aus ihm herausgeholt, die Dachfirsten der unmittelbar benachbarten Häuser unter die Spritze genommen, denn sie wollten stets mit aufflammen. Über dem Hausgiebel schwang die Lohe ihre riesige Brandfackel drohend nah in die Straße hinein und nach dem gegenüberliegenden Hause zu, dessen Bewohner schon ängstlich mit dem Plündern ihres Hausrats beginnen wollten. Ich konnte sie davon zurückhalten, denn kein Lüftchen regte sich, und es war unverkennbar, in wenigen Minuten mußte sich das Feuer des Dachstuhles in seiner tollsten Wildheit ausgerast haben, und damit war die Hauptgefahr für die Nachbarn vorüber. Schließlich langten von allen Seiten gewaltige Haken an schweren Bäumen an, Dutzende von derben Fäusten stemmten und hoben hieran. Kreuzweise von starken Stützbäumen unterstemmt, stiegen die eisernen Haken langsam bis zum brennenden Dachgebälk empor, legten sich schwerfällig darauf und hakten sich langsam und behutsam ein. Dann ein ruckweises und kurzes Ziehen und mit lautem Krachen stürzten ganze Teile des Daches mit glühenden Schiefern, verkohlten Balken und schwelenden Latten in hellem blauem Rauchdunst am Hause herunter. Der lose obere Hausgiebel wurde eingestoßen, und dann kletterten einige beherzte Russen auf leichten Fenstern zur Vorderseite hinein und brachten alles und jedes heraus, was nur irgend zu erreichen war. Ganze Möbelstücke wanderten da aus den Fenstern über die besetzten Leitern auf die vielen erhobenen Hände und verschwanden in der Nachbarschaft. Die Fülle des Hausrats, der Kleidungsstücke, des tausendfach angehäuften Krimskrams, das alles hübsch nacheinander zu öffentlicher Schau erschien und unten wieder verschwand, wollte gar kein Ende nehmen. Der Eigentümer, der im Geruche wucherischen Fleisch- und Schleichhandels stand und während des Brandes auswärts abwesend war, muß sich abends nicht wenig gewundert haben. Endlich war aller Hausrat – es kamen Betten zutage, die wohl seit Menschengedenken nicht auseinandergenommen waren – heraus, das Dachgebälk ineinandergestürzt und die Gefahr fürdie Nachbarhäuser durch eifriges Spritzen abgewendet. Ein Feuerwehrmann ging daran, eine vorn auf dem glimmenden Dachspeicher stehende alte Eichenkiste, deren derber Eisenbeschlag sich verbogen hatte und deren dicke Wände noch brannten, seitlich zu öffnen und mit einer eisernen Schaufel daraus Eimer auf Eimer voll schönen goldgelben Weizens herauszuholen, der als Hamstergut allerseits einem verständnisinnigen Schmunzeln begegnete. Später wurden dann noch kräftig die Mauern des rauchenden Trümmerhaufens eingerissen, damit für die Feuerversicherung nicht noch etwa abzugsfähige Reste übrig blieben.

Sofort trat die Fama ihren Weg an: ganze Zentner Fett und Speck sollten rückwärts herausgeschafft worden sein, desgleichen beträchtliche Ledervorräte, während noch Bütten voll Häute in Lohgerberbeize im Keller stünden und so fort. Durch derlei Reden gewann ich aus dem merkwürdig entrückenden Gesamteindruck wieder Anschluß an die alltägliche Umwelt. ––––
 
 

Traben-Trarbach – Cornelius Müller

Er verstarb mit 59 Jahren am 29.12.1917. Über dieses Begräbnis finde ich folgendes in meinem Tagebuch:

Gestern begruben wir (4. Januar 1918) in Traben-Trarbach den herzensguten edlen Cornelius Müller, der seit 1889 dort Richter war. Seit 1894 hatte er mit seinem Kollegen Gescher in treuer Freundschaft gelebt und ein gastfreundliches Haus geführt, das moselauf, moselab und durchs ganze Rheinland allenthalben berühmt war. Es stimmte sehr wehmütig, daß ich zusammen mit der Kunde seines Todes die Ernennung Geschers zum Geheimrat erfuhr, und so ich schrieb diesem meine Empfindungen in einem herzlichen Briefe. Er erwiderte diesen sofort und lud mich zum Mittag ein. Ich kam dem gern nach, warf mich morgens in schwarze Kleider, erledigte bei Gericht einen ansehnlichen Stapel Akten und fuhr anderen Tages nach dort, wohl versehen mit Schirm, denn es stöberte von Schnee, und mit einem Pelzfußsack, der mir die Beine wärmte. Zwischen Lösnich und Kröv war die Mosel zugefroren. Das Treibeis hatte sich schon weit unterhalb gesetzt und staut sich von dort an dauernd zurück. Vor Traben hatten heftige Pressungen im Eis stattgefunden. Es dehnten sich im Flußbett weite Felder mit wildgetürmten Schollen und kleinen Gebirgen von zusammengepreßten und dann regelmäßig auseinandergeborstenen Eismassen. Dazwischen dehnten sich große blanke Wasserspiegel, unbeweglich und schwärzlich, in denen sich das Saumeis und jene Packmassen schauerlich wiederspiegelten. Darüber eine blitzende Wintersonne, die mir um die Mittagsstunde so gehörig auf Pelz und Mantel brannte, daß ich ernstlich daran dachte, mich ein wenig auszupellen. Ich kehrte zunächst bei Gescher ein. In dem sonnenbestrahlten Hause empfing mich die liebenswürdige Hausfrau, die einen recht gesunden und blühenden Eindruck machte. Was hatte sie aber auch in langen Jahren des Leidens alles ausgestanden und durchgehalten, und wie elend war sie noch, als ich mit Helene im Sommer 1913 dort war. Sie erkundigte sich sehr nach Helene, erzählte manches von ihren Kuren und war lebhaft interessiert für die hohe Rhön und Frankenheim. Kurz vor Tisch kam dann auch der neue Geheimrat, noch feiner und zarter als früher, und wir unterhielten uns über mancherlei. Weinkäufe interessierten ihn auch besonders. Zu Tisch erschien auch der Sohn, der in zwei Monaten Abiturient zu sein hofft und bereits in Frankreich Erntearbeit mit gutem Erfolg verrichtet hatte. Wir aßen und unterhielten uns aufs beste, ich hatte eine prächtigen Aussicht auf die Landschaft von meinem Platz aus. Nur allzu bald war die Zeit da, daß wir zum Begräbnis hinüber mußten. Wir stiegen zum Schlößchen hinauf. Im Hause herrschte im Treppenflur große Hitze und Enge, der Tote lag links. Paul Thanisch und ich gingen bald hinaus auf die Terrasse, um eine Überhitzung und nachfolgende Erkältung zu vermeiden. Da bot sich dem Blick ein reiches Landschaftsbild dar. Ringsum die verschneite Landschaft, im Tal der vereiste Fluß, in dem sich mitten zwischen den wüsten Schollentrümmern eine der Flußkrümmung sich nachschlängelnde Rinne mit fließendem Wasser gebildet hatte. Die Talmündungen rechts, die Gräfinburg gegenüber und über dem Kautenbachtal, alles stand unter einer großen grauen und finsteren Wolke, die Wind und Schneeflocken in nahe Aussicht stellte. Über die vielfach über die Gartenterrasse sich hin- und herwindenden Wege kamen unaufhörlich lange Züge von Frauen und Kindern, darunter ein Kirchenschweizer in neuem leuchtend rotem neuen Tuchrock, Chorknaben mit Kreuzen, Fahnen und dazwischen ein mit durchdringender Stimme unermüdlich beflissener Vorbeter, der den schmerzhaften Rosenkranz anführte. Von Zeit zu Zeit stets neue Herrn in blanken Zylindern und endlich auch drei Geistliche, ein kleiner schmächtiger wachsgelber im Pluviale, rechts und links flankiert von zwei auffallend stattlichen hohen Geistlichen im langen Chorhemd und übergeworfen schwarzgoldenen Kaseln. Bald kam der schwere dunkle Eichensarg, von einem ganzen Rudel von Männern getragen aus dem Hause, und der Hausherr hielt dort seinen letzten Auszug, wo er als 29jähriger vor etwa 29 Jahren erstmals eingetreten war. Er hatte dort also fast die Hälfte seines Lebens zugebracht. Welche Gastfreundschaft hat er dort ausgeübt und wie viele sind dort ein- und ausgegangen. Dem Sarge folgten die beiden Töchter, deren Männer, sein Bruder und etliche Angehörige, dann sein Freund Gescher und andere mehr, darunter auch wir beide. Es ging den steilen beschwerlichen Weg gerade herunter. Ich selbst war zum zweiten Male dort; damals hatte ich mit Helene einen Besuch gemacht, wir hatten aber nur seine Hausdame angetroffen. Im Kriege hat er den Besuch erwidert und sich mit Helene lange unterhalten, während ich auf dem Amte war. So war ich mit ihm nie in seinem Hause zusammen gewesen. Ich hatte ihn etwa vor einem Jahr zuletzt gesehen, als er mit Gescher ihren gemeinsamen Freund, unsern Oberförster Bauer in Bernkastel aufsuchte. Unter diesen Gedanken waren wir zur letzten Kehrwende gekommen, wo ein Wagen den schweren Sarg aufnahm. Dann wand sich der lange Trauerzug quer durch die Stadt, über enge schmale Gäßchen, bis an einen schmalen steil aufsteigenden Weg, über den der Sarg wieder getragen werden mußte. Durch eine alte malerisch verfallene Mauer mit altem verwittertem Steinbogen, dann über eine lange schmale Brücke, von der man links und rechts auf verschneite Rebstöcke hinuntersah. Dann auf den engen und jäh abfallenden Kirchhof, in dessen Mitte sich ein kuppelbedeckter kleiner Bau mit weiter romanischer Bogenöffnung erhob. Dort wurde der Sarg unter dem rituellen Gesang der Geistlichen feierlich versenkt. Am offenen Grab sang ein Chor, und nachdem einige Vaterunser in die rauhe Winterluft mit krächzend umherfliegenden Raben und drohender Schneeschauer gesprochen waren, flutete die Menge der Leidtragenden langsam wieder ins Städtchen hinab und zerteilte sich in den verschiedenen Gassen. Manche folgten den Kellereinladungen, andere gingen auf das weithin sichtbare Trauerhaus zurück, wo der Kaffeetisch gedeckt stand. Wir trafen uns mit etlichen Bernkastelern, darunter Collegen Remy und Bürgermeister Simonis im „Wamsch“, wo der Verewigte manches Schöppchen geleert hatte. Eine einfache anheimelnde Kneipe, in der es aus richtigen Viertellitergläsern, fest und mit kleinen Knuppen verzehrt ein prächtiges Schöppchen neuer 1917er zu 1,20 M gab, das wir dem Verstorbenen weihten. Um viertel vor fünf kam pünktlich der Zug, und während die winterliche Abendsonne hinter der malerischen Burg von Wolf stand, wurde im Zuge die letzte Flasche, edler 1915er Trittenheimer geleert mit Bürgermeister Simonis, Paul Thanisch, Remy, Rechtsanwalt Theisen, Bürgermeister Falz und Gastwirt Popp. Ein eindrucksvoller Tag.
 

Einiges von Müller

Als Assessor hatte er die einzige Tochter und Erbin eines mexikanischen Minenbesitzers kennen gelernt und geheiratet und war dann so lange Assessor beim Amtsgericht Traben-Trarbach geblieben, bis er dort auch gleich zum Amtsgerichtsrat gemacht wurde. Daß er sich mit der Bevölkerung ausgezeichnet verstand, wurde dadurch bewiesen, daß die Einwohner seine Ernennung zum dortigen Amtsgerichtsrat mit allgemeiner Beflaggung begrüßten. Er muß ungeheuer viel Wohltaten erwiesen haben. Als ich ihn kennen lernte, war er schon ein gereifter Mann und hatte wenig Glück mit seinen Töchtern. Für seinen Gerichtsbetrieb ist folgende Erzählung charakteristisch: Eines Tages kommt der Landgerichtspräsident von Koblenz zur Gerichtsrevision. Es ist Dienstag, und es soll Zivilsitzung sein. Er findet das Gebäude mit Sitzungssaal usw. völlig leer. Keine Katze ist aufzutreiben. In der Privatwohnung des Gerictsdieners findet er endlich einen jungen Mann, der damit beschäftigt ist, Reibekuchen zu backen. Auf sein Befragen erklärt der junge Mann, er sei der Schwager des Gerichtsvollziehers. Der Präsident erkennt aber sofort, daß es der Referendar ist. Es stellt sich folgender Sachverhalt heraus: Um die Sitzung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten etwas schmackhafter zu gestalten, ließ Cornelius Müller für diesen in einer benachbarten Wirtschaft ein Fäßchen Kölsch auflegen und ausschenken. Gegen zehn Uhr wurde eine Pause eingelegt, und es begaben sich der Richter, der Gerichtsschreiber und Gerichtsdiener, ebenso die Anwälte mit den Parteien zusammen zu einer Stärkung und zu einem Glas Kölsch in diese Wirtschaft. Einem alten Brauch folgend, lag dem jüngsten Referendar die Pflicht ob, hierzu knusprige Reibekuchen zu backen. Nach erfolgter Stärkung wurde dann die Zivilsitzung beendet und meist sämtliche Sachen durch Vergleich erledigt. Der Präsident fand Geschmack an dieser Art Rechtsprechung und beteiligte sich eifrig an ihr.

Gegen Ende seines Lebens erfuhr er noch unangenehme Erlebnisse, indem man ihm anläßlich der Verlobung seiner Tochter diese nicht nur aus dem Hause zog, sondern gegen ihn auch Gerichtsschritte unternahm wegen Entmündigung und Entziehung der väterlichen Fürsorge für dieses Kind. Ich bin aus der Sache nie recht klug geworden und konnte auch nicht verstehen, wie Gescher sich in dieser Sache anscheinend etwas allzusehr zurückgehalten hat. Später aber muß alles wieder in Ordnung gebracht worden sein.
 
 

Unser Kreisschulinspektor

In meinen Bernkasteler Aufzeichnungen finde ich noch folgendes über ihn: Als ich ihn im Mai 1910 kennen lernte, stand der „Wissenschaftliche Abend Bernkastel-Cues“ (WABC) in voller Blüte. Es versammelten sich da jeden Montagabend nach Tisch eine Reihe Beamte und andere Bürger in der Doktorweinstube, wo über alles Mögliche in höchst ernstem wissenschaftlichem Ton, aber in nicht minder lustigem ironischem Sinne geplaudert, guter Wein dazu getrunken und Nüsse geknackt wurden. Das Nüsseknacken war ganz und gar obligatorisch und jeder Gast zahlte hierfür ein Pausquantum nach Maßgabe der auf seinem Papptellerchen sich ansammelnden Nußschalen. Scherzhafter Weise wurden diese stets gern auf die Schale des Nachbarn geschoben. Bei der Neuaufnahme von Gästen oder neuankommenden Mitgliedern wurde eine wissenschaftliche Prüfung mit Aufnahme gemacht, die nichts als eine scherzhafte Maskerade war, oft aber mit großem Ernst und Erfolg eine Zeit lang aufrecht erhalten wurde. Manche unerfahrene Referendar wurde da regelrecht geleimt, indem man ihm ein besonderes Thema zur Bearbeitung gab, das er dann eines Abends nach erfolgter Absprache seines Referenten ernsthaft vortrug, wobei ein Coreferent eine Kritik abhielt und schließlich der Vorsitzende über seine Aufnahme abstimmen ließ. Mitunter wurde sogar ein Orden verliehen. Der Vorsitzende war der vortreffliche Oberstabsarzt Düblin, der, obschon Jude, ebenso wie sein Vater, aktiver preußischer Stabsarzt gewesen war. Sein ständiger Vertreter war Oberförster Heinrich Baum, mitunter aber auch Franz Müller, der Kreisschulinspektor. Dieser pflegte durchweg am oberen Ende der Tafel zu sitzen, was abgesehen von seinem würdigen Aussehen, namentlich im Winter von Bedeutung war, indem es ihm einen besonderen Anteil an der Ofenwärme sicherte, denn hierfür war er sehr empfänglich und konnte vor allem keinen Zug vertragen. Die geringste Luftbewegung konnte ihn in Unruhe und schließlich in Verzweiflung bringen, und alles war stets darauf aus, irgendeinen tückischen und schwer zu aufzufindenden Spalt zu öffnen, der frische Luft hereinbrachte. Er war von großer stattlicher Figur und trug seinen recht umfänglichen und gewichtigen Leib mit vieler Würde. Obgleich er in dem farblosen Gesicht oft den Ausdruck einer mürrischen Bulldogge trug, bedurfte es doch nur kurzer Bekanntschaft, um seine gute Laune, seinen Witz und sein gutes Herz kennen und schätzen zu lernen. So ging es auch mir, und ich war bald recht bekannt und vertraut mit ihm. Und obwohl wir uns persönlich nie besonders näher getreten sind, hatten wir stets einen recht unbefangenen und vertrauten Ron miteinander. Später hat er mich auch des öfteren in rechtlichen Dingen um Rat gefragt und wir haben manchen Spaziergang lange hin und her überlegt, wie er auf geschickte Weise einem Lehrer gegen bald diesen, bald jenen meist lächerlichen Übergriff des Ortsschulinspektors helfen konnte. Letztere waren damals fast ausnahmslos noch die katholischen Pfarrer. Müllers Amt erstreckte sich damals auf die katholischen Schulen des Kreises.

Er stammte aus Hildesheim und hatte selbst Theologie studieren wollen und war dann Philologe geworden. Münster war seine Universitätsstadt gewesen. Von seiner Familie habe ich ihn nie ein Wort reden hören. Jedenfalls war ihm ein weniges von der Würde eines behäbigen katholischen Geistlichen geblieben, und soviel ich beobachten konnte, verkehrte er äußerlich ausgezeichnet mit ihnen. Es war uns allen aber nicht im mindesten zweifelhaft, daß er sich innerlich gerade ihnen gegenüber durchaus ablehnend verhielt, vielleicht gerade wegen seines Umsattelns oder dessen Ursache, obschon er dies in lächelnder Weise sehr geschickt unerörtert zu lassen pflegte. Scherzhafter Weise wurde er als Vertreter des Zentrums angesprochen und wußte ebenso ironisch dessen Grundsätze gegenüber allen liberal Angefärbten zu verfechten. Ich selbst habe über vielerlei von ihm wertvolle Aufschlüsse erhalten. Jedenfalls verstand er es ganz vorzüglich zu schweigen und in höchst selbstsicherer Weise alle Klippen seines oft nicht unebenen Amtes spielend zu umschiffen.

Mancherlei Angriffe mußte er erdulden. So ob seiner stattlichen Leibesfülle, seiner großen Eßlust und seiner geschickt durch „Sardellenanleihen“ verdeckten dichten Haarwuchs. Die beiden Präsidenten des WABC trugen nämlich breite glänzende Glatzen. Im Essen leistete er tatsächlich Erstaunliches. Er blieb darin unbestrittener Meister, obschon ihm eine Zeit lang dieKollegen Reinecke und Felix Schmitz ernsthafte Konkurrenz machten. Er liebte vorzugsweise reichliche und derbe Gerichte. Bereits vor meiner Zeit war ihm das Mittagessen im Hotel Gassen zu den drei Königen zu wenig und zu fade geworden, und er hatte sich die kleine Bahnhofskneipe, nach ihrer Inhaberin, einer früheren Köchin bei Gassen, Lenchen Liell, kurzweg „Bei der Lenchen“ genannt, zum Stammlokal für seine Hauptmahlzeiten mit viel Geschick und Erfolg herangezogen. Sie lag seiner Wohnung gegenüber. Er wohnte bei einer Frau Witwe Dr. Licht im Erdgeschoß, benützte dort einige Zimmer, nachdem er vorher einmal bei unserer Hauswirtin in einigen Räumen gehaust, es aber bei ihrem schwer verträglichen Wesen nicht lange ausgehalten und mit ziemlichem Krach ausgezogen war. Trotz verschiedenen Anbohrens wollte er mit Einzelheiten hierüber nie herausrücken.

Jenes Lenchen aber und deren Personal hatte er zu seiner wahren Hof- und Leibküche herangezogen. Sie war stets darauf bedacht, zur Abwechslung irgendwelche Leckerbissen von auswärts kommen zu lassen, die dann zu besonderen Schmäusen Veranlassung waren. Der Ruhm der guten Küche war eine Zeit lang so stark, daß das kleine Weinstübchen der Gastwirtschaft die Gäste kaum alle auf einmal fassen konnte und mittags in zwei oder mehreren Partien gegessen werden mußte. In den zwei Monaten meiner Junggesellenzeit habe ich selbst dort oft gegessen und als Ehemann bin ich hin und wieder mal zu Metzelsuppe mit Blut- und Leberwurst dort, wenn „wir nämlich hausgeschlachtet“ hatten, und „wir schlachten öfters mal ein Schwein“, pflegte Müller mit lustigem Augenzwinkern zu bemerken. Dazu gab es aus spitzen hohen Kelchgläsern ein dünnes helles und stets frisches Bier zu trinken, ein guter Weinschoppen fehlte ebensowenig.

Im Sommer war der Kreisschulinspektor oft wochenlang kaum zu sehen. Dann erledigte er seine Dienstreisen auf dem Hunsrück, wo er eine Unmenge von Schulen nachzuprüfen hatte. Ich meine mich zu erinnern, daß er mir gelegentlich von 211 Reisetagen im Jahr sprach. Dort wußte er seine Reisen, die ihn tagelang weitab und fern über Land führten, immer möglichst so einzurichten, daß er irgendwo für reiche Atzung seines Leibes Gelegenheit fand. Häufig fuhr er zusammen mit dem Oberförster Bauer, entweder mit dem alten Brenner, in dessen wunderbarer alter Kutsche mit den unvordenklichen Rössern oder in Wilbertz Halbverdeck mit den drallen wohlgeschonten Braunen – seinen Ferienurlaub nahm er stets im Winter und pflegte dann in irgendeine Großstadt zu verschwinden. Gelegentlich wurde er hierbei von Bekannten in Berlin aufgestöbert, und dann gab’s dort einen Bernkasteler Abend.

Sommer und Winter fehlte es nicht an abwechselnden Kneipenbesuchen. Da war Sonntag abends nach Tisch oft bis spät in die Nacht hinein ein Zusammensitzen bei Gassen, winters am runden Tisch im kleinen Zimmer, sommers auf der Terrasse links in der Ecke am reservierten Tisch. Montag abends in der Doktorweinstube. An den übrigen Abenden in der Post, bei der Lenchen und namentlich auch bei Lauers zum Bier. Am gesellschaftlichen Verkehr nahm er regen Anteil und war in allen uns bekannten Familien ein stets gern gesehener unterhaltsamer Gast bei den Abendtischgesellschaften, die in den Wintern der Jahre 1910/14 hier sehr im Flor waren. Seit dem Wegzuge einer Familie Haye (1911) hatte er keinen solchen intimen Familienverkehr mehr, wie er ihn dort im Hause gehabt hatte, wo er sich auch mit der Frau gut verstand. Ich glaube, das vermißte er später doch ein wenig. Die Damen schätzten ihn insgemein sehr. Heiratsgedanken hatte er wohl nicht und galt als hieb- und stichfester Junggeselle.

Wie auf alle Menschen, so hatte auch auf ihn der Krieg einen großen Einfluß. Ich habe es nicht vergessen, wie er mir in den ersten Augusttagen 1914 auf der Brücke begegnete und mit Rücksicht auf die bevorstehende Kriegserklärung Englands mit großer Bestimmtheit und einer Art lächelnder Sicherheit sagte: „Dann ist der Krieg in vier Wochen zu Ende.“ So fest war er davon überzeugt, daß wir gegen England nichts ausrichten würden. Es kam bekanntlich sehr anders. Leider erlebte er nur noch den Anfang unseres ernstlichen und weitaus reichenden Angriffs auf Englands Weltmacht im Februar 1917. Bei der ersten recht summarischen Musterung des Landsturms – Müller war bedeutend jünger als man nach seinem Aussehen und seinem ganzen Gehabe wissen konnte – wurde er, wenn ich mich recht erinnere, für felddienstfähig befunden, und es ging die Rede davon, der Arzt habe bei ihm von selten schönen Beinen gesprochen, als er außer anderen Krankheiten auch seine geringe Marschfähigkeit betont hatte. Sehr viel später wurde er zwar nur für garnisonsdiensttauglich befunden, doch blieb die Sache stets ein Gegenstand ernster Sorge für ihn. Im Winter 1915/1916 oder im Frühjahr 1916, ich muß damals zur Kur in Leysin gewesen sein, wurde er auch tatsächlich eingezogen und verlebte einige Tage in einer Kölner Kaserne. Hierüber sprach er nicht gern, behauptete aber, das Essen sein gut gewesen. Schließlich reklamierte ihn seine Behörde, und fortab hatte er noch weniger Bedenken. In den ersten Kriegsjahren trafen wir uns hin und wieder abends nach Tisch mit verschiedenen Leuten bei ihm bei der Lenchen zu einem Bierstrategenabend zusammen. Da sah man noch den Pfarrer Kramm als Marinesachverständigen, Kreisarzt Dr. Knoll war noch nicht im Felde und vertrat den Militärsachverständigen, Bürgermeister Reidenbach, Oberlandmesser Schulz, auch  Oberschulz genannt, da er großen Wert auf seinen Amtstitel legte, ich und andere Helden. Die Kämpfe in Polen 1915 wurden dort an Hand großer Karten genau erörtert. Nicht minder die Panzerkreuzerschlacht, bei der unsere Blücher verloren ging, während die Engländer viel größere Verluste hatten. Allmählich aber lichteten sich die Reihen der wenigen Männer, die der Krieg noch in der Heimat ließ, und Franz Müller war schließlich ausschließlich auf den vorgenannten Schulz als treu gebliebenen Tischgenossen bei der Lenchen angewiesen. Diese hatte sich übrigens seit mehr als Jahresfrist zur Ruhe gesetzt, und der frühere Hausknecht von Gassen, allenthalben als der Schorsch bekannt (daß er Geiß hieß, erfuhr ich erst durch Zufall später), hatte die Wirtschaft übernommen, und Franz Müller hatte dafür gesorgt, daß auch die guten Überlieferungen möglichst treu gewahrt blieben. Auch Schorsch zog in den Krieg, und seine Frau führte die Wirtschaft weiter. Gelegentlich eines Urlaubs des Kreisarztes Dr. Knoll habe ich dort im Dezember 1916 nochmals mit Franz Müller bei einem Strategenabend zusammengesessen und ihn wohl zum letzten Mal in einer Kneipe gesprochen. Mit dem Jahre 1916 setzten allgemeine Nahrungssorgen ein, die sich gegen Ende des Jahres auch allmählich recht fühlbar bis zu uns auf dem Lande verbreiteten. Hieran trug Müller schließlich auch seinen Teil. Immerhin war er redlich bemüht, seine amtlichen Beziehungen zu Fouragierungen aller Art gründlich auszunutzen, wie er selbst betonte. Sein überraschender plötzlicher Tod machte auf seine sämtlichen Bekannten einen tiefen Eindruck. Er war in letzter Zeit regelmäßig täglich auf der Landstraße nach Lieser zu spazieren gegangen. Und dort fand man ihn am Ende des Cueser Hafens, aufs Gesicht gestürzt und tot liegend. Er war vom Schlag gerührt und vermutlich sofort gestorben. Alle Wiederbelebungsversuche, die man im Krankenhaus mit ihm anstellte, waren erfolglos. Ich hatte mir gedacht, die katholische Geistlichkeit würde ihn in aller Form bestatten, aber es kam ganz anders. Abgesehen von dem alten Oberförster Bauer verschwand mit ihm der markanteste aller Beamten von Bernkastel, die ich seit v. Hymmens Versetzung kannte. Zu dem ihm jüngst verliehenen Titel eines Schulrats und zu der damit verbundenen Rangwürde eines höheren Provinzialbeamten vierter Klasse, ihm zu gratulieren, bin ich nicht mehr gekommen. Nachdem am 19. Februar 1917 die Bernkasteler Zeitung einen ehrenden Nachruf, vermutlich von Schönberg, über ihn gebracht hatte, ergoß sich über ihn aus kleinen Seelen eine Flut schlammigen Geredes. Eines Tages hatte meine Frau mit Frau Krings gesprochen, die allerdings eine trübe Quelle für ihn war. Müller hatte  mir nämlich gelegentlich ihrer Verlobung mit dem Witwer Krings davon gesprochen, daß die Braut eine intrigante Person sei und daß sie ihn nicht schätze, weil er ihr einen Wunsch auf Versetzung als Lehrerin nicht habe erfüllen können. In diesem Gerede hieß es also, er stamme von ganz kleinen Leuten, habe seine Familie stets verleugnet, sei in der Jugend evangelisch gewesen, habe mit fremdem Geld studiert, könne keinesfalls kirchlich beerdigt werden u. s. w. Kurz, wir erhielten ein schönes Spiegelbild all der kleinlichen Hetzereien, die einem Manne nachzugehen pflegen, der Theologie studiert und dann eingesehen hatte, daß ihm hierzu der Beruf fehlte. Aus einem Nachruf des Landrats war zu ersehen, daß er schon zwölf Jahre in Bernkastel Kreisschulinspektor war. Also nach dem alten Oberförster der bei weitem am längsten im Nest ansässige höhere Beamte.

Nach allerhand unerquicklichen Auseinandersetzungen wurde er auf dem evangelischen Friedhof durch einen evangelischen Pfarrer Jaenecke beerdigt, der auch am Grabe redete. Trotzdem ich nach einer leichten Blutung erst seit zwei Tagen wieder auf den Beinen war, hatte ich versucht, das Begräbnis mitzumachen, den Versuch aber wegen des überaus dicken und feuchten Nebels wieder aufgeben müssen. Erfreulicher Weise war die Beteiligung sehr groß, und es war eines der größten Begräbnisse, die ich in Bernkastel erlebt habe. Allen geistlichen Ortschulinspektoren war die Beteiligung abgepfiffen worden, und es wirkte daher etwas demonstrativ, daß der auch sonst recht unabhängig gesinnte Dechant von Bischofsthron gleichfalls mitging. Am liebsten hätte man ihn sang- und klanglos verscharrt, doch hatte Rechtsanwalt Schönberg für diesen Fall mit Krach gedroht. Ein Wittlicher Kollege hatte die Regierung in Bewegung gesetzt, und daraufhin kam wohl das evangelische Begräbnis zustande. Ob der Klerus, der dem guten Müller wegen seiner Amtsführung gewiß nicht sehr grün war, aus persönlicher Verstimmung ihm die letzte Ehre verweigerte, oder ob er ein Exempel statuieren wollte und zugleich einen streng kirchlichen Nachfolger für ihn zu erzwingen oder was sonst dahinter steckte, ist mir nicht klar geworden. Formell war der zuständige Pfarrer Schmidt natürlich gewandt genug, sich angeblich hinter einen Bescheid seines Bischofs zu verschanzen, der aber nur auf seinem Bericht beruhen konnte. Lediglich die etwa sechs Jahre ausgesetzte Nichterfüllung der kirchlichen Pflichten kann aber nicht der Grund der Weigerung gewesen sein, denn sonst hätte man meinen Mitschüler, den Landrichter Dr. Anton Thanisch, auch nicht kirchlich beerdigen dürfen. Aber – er war der Sohn einer ersten Besitzerfamilie. – So unerfreulich noch allerlei sonstige Roheiten vor dem Begräbnis waren, Heiden hatte kein Auto, um den Toten zu holen, Bauern brachten ihn auf einer Mistkarre und verweigerten eine Decke für ihn, später lag er im Krankenhaus, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte, eine Zeit lang allen Neugierigen zur Schau u. s. w., so fehlte doch auch etwas Spaßiges nicht: Der klumpfüßige Metzgerbursche Engel, vermutlich seit Jahren ein lauer Christ, erklärte, so etwas solle ihm nicht passieren und ging seitdem wieder fleißig zur Kirche. Onkel Jakob Thanisch hat mehrfach ausdrücklich bekräftigt, ihm sollten alle Pfaffen, auch die Blauen, im Tod fern bleiben.

Wegen der Amtspapiere war der Nachlaß anfänglich gerichtlich versiegelt worden. Assessor Scherer berichtete mir, welche fürchterliche Unordnung er in all seinen Sachen, ganz wie ein Student, gehabt habe. Darin war er also ein echter Junggeselle. Nichts durfte geputzt und geordnet werden, und jede Drucksache wurde bestens aufgehoben und verwahrt. Dabei hatte er natürlich sein leibliches Wohl nicht vernachlässigt, und einen recht stattlichen Vorrat von Würsten, Konserven, der zum Teil mit prächtigem Schimmel überwuchert war, fand sich. Es fand sich ein Sparbuch über viertausend Mark, das er, völlig verschwitzt, stets in einer Westentasche mit sich führte, selbst auf Reisen. Auch besaß  er noch einige Kriegsanleihen.

Schönberg wußte aus seinem eigenen Munde, daß er als Kind zweiter Ehe seines evangelischen Vaters bis zum vierzehnten Lebensjahre offiziell in dessen Konfession, vonder Mutter aber heimlich in katholischer Konfession erzogen worden und dann später katholisch geworden war. Er habe dann – „zum Dank hierfür?“ später mit Unterstützung ein katholisches Theologiestudium betrieben, habe aber nach dem Empfang der niederen Weihen den Mangel seiner Berufung hierzu eingesehen und sei Philologe geworden. Diese Umkehr wurde ihm natürlich in allen klerikalen Kreisen nicht nur nicht nur für sein Leben, sondern auch noch etwas nach dem Tode ins Debet gebucht. Nach seinem Tode erschien eine der beiden Stiefschwestern , packte alles ein und verschwand wieder. Nachdem er bereits drei Jahre als Oberlehrer in Duisburg gewirkt hatte, war er mit neunundzwanzig nach Bernkastel gekommen. Etwa 1902 mußte er sein Staatsexamen in Münster repetiert haben, ich erinnere mich auch, daß er auf Gespräche über Sonnenburg nie hatte reagieren wollen.
 

Das besoffene Mündel

V. Hymmen hatte einen verlotterten Weinbergsbesitzer aus der Talveldenzer Gegend mit Namen Knier entmündigt, glücklicherweise, ehe er sein ganzes Vermögen versoffen hatte. Ich hatte ihn später als Vormundschaftsrichter unter meinen Mündeln und finde folgende Aufzeichnung über ihn in meinem Tagebuch: Wie ich mich heute vom Burgweg aus von hinten ins Amtsgebäude schlängele, sehe ich von oben schon in dem schmalen Wartezimmer meinen Freund Knier sitzen. Er hat sein Geld auf ein für ihn gesperrtes Sparbuch angelegt, und des Mannes ganzes Sehnen und Trachten ist nun ausschließlich darauf gerichtet, wie kann ich an das Geld kommen? Arbeiten ist ihm zu lästig und zu zeitraubend. Alle möglichen Schliche, um auf Umwegen etwas von seinem Geld herauszubekommen, hat er meist ohne Erfolg versucht. Eine Zeit lang ist er in seinem kindischen Trotz auf den Gedanken verfallen, seine Kleider dadurch vollkommen zu ruinieren, indem er sich in einer Kalkspiespfanne herumwälzte. Sein Vormund mußte ihm einen neuen Anzug kaufen. Er wohnt bei seiner Schwester. Ein Mittagbrot für ihn ist bei einem Metzgermeister in seinem Dorfe für sechzig Pfennige pro Tag ausgemacht. Regelmäßigkeit ist ihm verhaßt, und so nimmt er am liebsten für den Betrag Wurst und beschäftigt sich mit ihr den Tag über. Auch für freiwillig versäumte Mahlzeiten kriegte er kein Bargeld von dem Metzger heraus, und ich habe ihn im Verdacht, daß er die Wurst häufig verkauft, um nur an Schnaps zu kommen. Nun will er seit einiger Zeit täglich eine Mark für Tabak und sonstige angebliche Bedürfnisse. Das geht nun nicht, und deshalb kommt er  mich aufsuchen. Das alles geht mir durch den Kopf, während ich die einfachen Sachen erledige und zu dem Schlusse komme, ich kann es mit ihm ohne seine Akten abmachen. Er klopft an und tritt ein. Setzen sie sich, na, was gibt es denn? Ja, ich muß eine Mark haben usw. Ich lasse ihn nicht lange reden und unterbreche ihn mit einem längeren Register seiner Sünden. Das bringt ihn auf, aber in Zorn gerät er über den Vorwurf, er habe sich in der Kalkpfanne herumgewälzt. Wer hat Ihnen das heruntergeschrieben? Das geht Sie nichts an. Er beginnt laut zu schreien. Ich höre seine Worte gar nicht und blicke nur in das schwammig-rote Gesicht mit dem weitaufgerissenen Mund, in dessen Höhle einige schwarze Zahnstümpfe hervorstehen. Ruhe, Ruhe! Er schreit noch mehr. Heraus, donnere ich und stehe schon an der Türe, die schon offen steht. Das bringt ihn schließlich auf die Beine. Er brüllt noch draußen, und ich höre, wie im Nebenzimmer der Sekretär ob des Gebrülls zusammenschreckt, wie die Türe wieder ins Schloß fällt und wie er über den Flur gezerrt und zur Gerichtstüre hinausbefördert wurde. Es tut mir leid um den unverbesserlichen Alten, dem nicht zu helfen ist. Mein Zorn war nur geheuchelt, und ich überlegte kühl, was ich mit ihm anfangen sollte. In drei Tagen oder spätestens einer Woche kommt er wieder.

Ein Gegenstück ist eine Entmündigungssache, die ich im Herbst 1919 beim Amtsgericht Rheinbach als Richter erlebte:
 

Et jeckig Griet

In meiner Abteilung spielt gegenwärtig eine Entmündigungssache, die ein Gegenstück bildet zur Entmündigung der Witwe Schön aus Commen, die ich als lustige Witwe aus dem Hunsrück behandelte. In Ellerheim in der Mutscheid lebte der alte Honert. Er hatte ein Weibsbild geheiratet, das in seiner Jugend wohl aufgeputzt auf allen Festlichkeiten herumflatterte, in der Ehe sich aber bald als eine Schlange herausstellte, die ebenso fähig wie gewillt war, den Haushalt vollkommen im Dreck verkommen zu lassen. Die Kinder verkamen im Schmutz und Unrat, sie selbst ging dabei zugrunde. Freilich hatte sie auch etwas abgekriegt, was ihr fürs Leben blieb. Der Alte, mürrisch und verschlossen, dabei eigenwillig und störrisch, lebte das Leben eines einsamen alten einpässigen Bullen. Das Mädchen war während der Schuljahre bei Verwandten, die sich vergeblich bemühten, ihm die allerelementarsten Regeln der Reinlichkeit beizubringen. Kaum schulentlassen, kehrte sie zu dem Alten zurück, erhielt täglich ihre Schelte und wohl ab und zu Hiebe, gleichviel für das, was sie getan oder was sie nicht getan hatte. Bei ihr war stets alles verkehrt, nichts konnte sie, sie tat auch am liebsten nichts und wuchs heran mit ungekämmten Haaren, zerfetzten und schmutzigen Kleidern, die sie jahraus, jahrein nicht wechselte. Auc als sie bereits erwachsen war, gab sie so wenig auf ordentliche und reinliche Kleidung, daß ihr ein gelegentlicher Windstoß der kräftigen Eifelluft die zerrissenen Streifen ihres Rockes wie zerfetzte Fahnenbänder um den Leib flattern ließ. In einem Punkte war sie nicht faul, im Essen und Trinken. Erhielt sie als Erwachsene einen Groschen in die Hände, so kaufte sie sich alsbald einen Hering und verzehrte ihn aus der Faust, indem sie im Dorfe auf und ab lief. Mit einem Butterbrot herumzubummeln und dies nach Kinderart zu verzehren, war ihr besonderer Genuß. Benutzung eines Klosetts und Stubenreinheit waren ihr unbekannte Dinge. Konnte sie eine Mannsperson ansprechen oder wurde sie von einer solchen angesprochen, so wachte ihre schlafende Natur plötzlich auf. Die heiße Freude in ihr äußerte sich durch große körperliche Unruhe, ja durch allerhand wunderliches Umherspringen. Sie zeigte ein so mannstolles Benehmen, daß sie bald den Namen „et jeckig Griet“ erhielt und so allenthalben in der ganzen Möschtert und Umgebung benannt wurde. Allerhand Mannsleute sah man durch den Busch herankommen und um das Haus herumlungern. Sie sprang heraus, ging mit ihnen in den Wald, und das Treiben wurde allmählich so toll, daß der Pastor der entfernten Pfarrkirche sich einmischen mußte. Der Vater starb, und man brachte das Mädchen in ein Kloster in Bödingen an der Sieg, wo sie unter der strammen Fuchtel einer Schwester Oberin zur Arbeit angehalten und von jedem Mannsverkehr abgesperrt wurde. Dort erlebte sie trübe Tage der Entsagung. Der in ihr gleich einem Stück Wild lebende Drang zur ungefesselten Freiheit erlitt zwar eine starke Prüfung, blieb aber frisch und ungebrochen. Sobald sie heraus war, kam er ungezügelt zum Vorschein. In Stotzheim fand sich ein Rattenfänger, der dieses Menschenwild anzulocken und festzuködern verstand. Ein alter Hausierer und Bettelbruder, dessen grobschlächtiger Sohn an Fallsucht litt und sich als Orgeldreher durch die nahe Umgebung herumtrieb, waren ihre Freunde. Der Alte verlobte sie seinem Sohne Franz, und das junge Paar suchte zu heiraten. Am Eingange vor dem Tempel standen aber mit dräuenden Gebärden etwelche grobe und borstige Amtspersonen und verwehrten den Eintritt. Der Bürgermeister machte allerhand Ausflüchte, wußte sich schließlich nicht mehr zu helfen und beantragte das Eingreifen des Vormundschaftsgerichtes. Beide Brautleute waren großjährig und hartnäckig, und so mußte schließlich grobes Geschütz aufgefahren werden: Der Staatsanwalt beantragte Entmündigung der Braut wegen Geisteskrankheit. Es begann ein gründliches Verfahren. Die Hinterwäldler wanderten stundenlang zur Kreisstadt und gaben ihre Kenntnisse zu Besten. Die Braut und namentlich ihr künftiger Schwiegervater überliefen den Amtsrichter so heftig, daß dieser das Griet zunächst  unter vorläufige Vormundschaft stellte. Der künftige Schwiegervater zeigte nämlich eine etwas zu heftige Fürsorge für das Vermögen seiner Schnurch. Er wollte von Stotzheim hinaufziehen nach dem Walde in Ellersheim, um dort seine Bettlerlaufbahn als Großgrundbesitzer zu beschließen. Ehe es zum Eheabschluß kam, machte der orgeldrehende Bräutigam die Dummheit und starb. Jetzt war guter Rat teuer. Der Schwiegervater konnte das Griet nicht heiraten, weil er zufällig selbst noch eine Frau hatte. Der vorläufige Vormund hielt mit eisernem Daumen den mageren Geldbeutel zusammen und schaffte ihr nur das Allernotwendigste an. Griet aber beschaffte sich einen neuen Bräutigam, und es begann ein allgemeines Sturmrennen gegen die Schutzbehörden. Es ließ sich schließlich nicht vermeiden, daß der Richter, Kreisarzt und der Oberstaatsanwalt sich zusammensetzten und über das Griet ein Examen hielten. Nach langen Verhandlungen mußte übereinstimmend mit dem wohlwollenden Urteil des Richters festgestellt werden, daß Griet ihr Examen mit gut bestanden hatte. Strahlend zog sie ab und heiratete irgendeinen Kesselflicker und Wännlepper. Ob sie ihr Glück mit ihm gefunden, weiß ich nicht.
 
 

Vom Schwänzen

Von frühester Kindheit an galt ich für einen schwächlichen Knaben, einen rechten Spinnenflicker. Ich kam daher ein Jahr zu spät zur Volksschule und besuchte von 1886 bis 1890 die Stifts- und Münsterschule in Bonn. Da ich hierbei spielend lernte, versäumte ich nichts, wenn ich ab und zu in der Schule fehlte. Ich litt dauernd an heftigen Kopfschmerzen (Kopping) und saß oft stundenlang, den Kopf in die Hände gepreßt, in einem Winkel oder auch auf der Treppe. Mitunter wurde es mir auch schlecht in der Schule, und ich wurde nach Hause geschickt. So wenig Freude mir die oft quälenden Kopfschmerzen machten, nicht weniger Vergnügen fand ich bald am Schwänzen. Ich erinnere mich, daß ich oft einen Tag lang ins Bett gesteckt wurde und mit einer Apfelsine oder einem Cremeschnittchen geheilt wurde. Letzteres galt mir als höchster Leckerbissen. Etwa noch einen halben Tag hatte ich Stubenarrest, und dann erst durfte ich wieder heraus. Es lag mir nicht viel daran herauszukommen. Ich war vielmehr leider einhartnäckiger Stubenhocker. Namentlich war ich aufs Lesen versessen. Jedenfalls erinnere ich mich nicht, je durch Schwänzen Langeweile gehabt zu haben. Der Lehrer schickte mich als bevorzugten Schüler oft mit Vertrauensaufträgen, und so las ich denn in der Schulübersicht, daß ich wegen Schwäche gefehlt hatte. Diese Schwäche kam mir sehr gelegen. Fand ich einen alten Schmöker, so stellte sich bald die Schwäche ein, an ihrer Echtheit konnte man nicht zweifeln, bei meiner dürftigen Figur und meinem schmalen, blassen Gesicht. Mitunter wurde ich sogar auf Anraten des Arztes oder eines Bekannten auf eine oder auch auf etliche Wochen nach Olsdorf zum Großvater aufs Land geschickt. Das war jedesmal eine besondere Freude. Denn dort gab es den ländlichen Ergötzlichkeiten auch Bücher zum Lesen. Der Großvater hielt zwar seine wenigen Bücher in einem kleinen Wandschrank in der Stube gut verschlossen, so daß ich niemals das tierärztliche Arzneibuch in zwei Bänden in die Hände bekam. Dagegen gab es in der guten Stube auf dem alten Sekretär eine 1. Ausgabe von Brockhaus Konversationslexikon für die Gebildeten Stände von ca. 1830. Davon holte ich mir oft mit großer Mühe einen Band heraus und stellte vor die Lücke einen ausgestopften Kuckuck, so daß man das Fahlen des Bandes nicht bemerkte. Auch ein alter Wanderfalke, den der Großvater trotz seines Alterszitterns von der Stube aus vom alten Mertesbirnbaum, einem trockenen Martin, dessen Frühstück wir nur als Wurfgeschosse benutzten, geschossen hatte, war hierfür gut geeignet. Der Falke litt leider an starkem Federschwund, und später wurde er so kahl, daß er schließlich uns Buben ausgeliefert wurde und als Zielscheibe für unser Pfeilschießen ein unrühmliches Ende fand. Der Kuckuck aber spreizt noch heute seine Flügel. Ihn hatte Ohm, ohne ihn zu kennen, im Weinberg geschossen.

Als ich 1890 aufs Königliche Gymnasium kam, war es mit dem Schwänzen viel schlechter bestellt, denn im letzten der vier Schuljahre hatte ich durch Lehrer Eschweiler  auf der Stiftsschule als künftiger Gymnasiast eine beonders nachdrückliche Ausbildung erhalten, gleichzeitig aber auch die größten Schwänzereien getrieben. Auf dem Gymnasium, dessen Aufnahmeprüfung mir nicht schwer fiel, war die Disziplin strenger, und bevorzugte Schüler gab es dort nicht mehr. Immerhin gab es viel Gelegenheit zu schwänzen, und keine ging vorüber, ohne benutzt zu werden. Auf der Volksschule hatte ich den Spitznamen „die Geiß“ und auf dem Pennal, wo wir untereinander Bönnsch sprachen, hieß ich der Mattes oder Mättes. Die Ferien wurden zwar nach wie vor in Olsdorf, mitunter auch bei der mütterlichen Großmutter in Heimerzheim verbracht, aber Schwänzferien nach dort gab es fernerhin nicht mehr.

Als Student lag zum Schwänzen wenig Veranlassung vor. Hin und wieder blieb ich aus einer Vorlesung weg, die mich langweilte. Aus einer allerdings aus einem ganz albernen Grunde: In einem der letzten Semester hatte ich hatte ich bei Professor Bergboohm Preußisches Verwaltungsrecht belegt. Ich ging einige Stunden hin, und obschon mir der Vortrag des Professors schon seines trockenen Humors wegen recht gut gefiel, mußte ich aussetzen, weil ich stets Lachkrämpfe bekam, und zwar wegen des grotesken Gegensatzes zwischen dem riesigen Schnauzbart und den buschigen Augenbrauen des Vortragenden, unter denen tief versteckt liegende kluge Augen hervorblinzelten, zu der hohen Stimmlage, der brüchigen Fistelstimme. Ich dachte zunächst, es sei eine vorübergehende Heierkeit bei ihm, die Sache blieb aber so, und ich brachte es trotz der größten Mühe, mein albernes Lachen zu unterdrücken, nicht fertig. Schließlich schmerzten mich meine Leibmuskeln so, daß ich schwänzen mußte. Ähnliches passierte mir in der gerichtlichen Medizin von Professor Ungar. Die eindringliche Vorführung der körperlichen Funktionen und Einrichtungen brachten meinen Magen in Aufruhr, so daß ich totenbleich das Lokal verlassen mußte. Noch im August 1916 geschah mir ein Gleiches bei einem medizinischen Lichtbildvortrag über Kriegsbeschädigungen. Es war im Gürzenich in Köln. Ich zwang mich doch, irgendwie hineinzugehen und konnte tags darauf die vorgeführten Beschädigten trotz ihrer gräßlichen Verstümmelungen mit sachlichem Interesse und ohne innere Revolution besehen.

Als Student war ich durchweg fleißig gewesen, als Referendar habe ich wenig getan. Nach wohlbestandenem Richterexamen im Dezember 1906 begann ein wahres Haupt- und Generalschwänzen. Diesmal war die Ursache bedenklicher. Kurz vor der Staatsprüfung bedenklicher war ein langverstecktes Lungenleiden in Erscheinung getreten und hatte mir zwar zum Examen die nötige Bierruhe und Wurstigkeit gegeben, um es mit gutem Erfolg zu bestehen, aber dann hieß es Kur machen. Und das wurde mit kurzen Unterbrechungen vom Januar 1907 bis April 1909 besorgt, wobei ich nicht weniger als zweiundzwanzig Monate insgesamt im Sanatorium in Arosa zugebracht habe. Die übrige Zeit war ich zu Hause oder in Hersel, stets eifrig den Gerichtsdienst schwänzend. Erst im Jahre 1909/1910 arbeitete ich als „Unbesoldeter“ am Amtsgericht Bonn, nachdem ich vorher meist bei einem Notar gearbeitet und noch mehr geschwänzt hatte. Als Assessor habe ich dann in dem einen Jahr meiner Hilfsrichterstelle und in Bernkastel abermals im September/Oktober 1910 etliche Wochen schwänzen müssen. Desgleichen als Amtsrichter mehrere Male (1914 und 1916). Nach Blutungen im Januar schwänzte ich dann mit drei Monaten Hochgebirgskur in Leysin. An Zeitvertreib fehlte es auch hierbei nicht. Die Lesewut ist immer dieselbe. Diese Aufzeichnungen machte ich Ende Februar 1917, als ich von der Trierer Stadtbibliothek ausgezeichnete Reisewerke über arktische Forschungsreisen von Nansen und Amundsen erhielt und deren Inhalt mir mit demselben Behagen einverleibte, wie ich in meiner Knabenzeit Beschreibungen über die verunglückte Franklinexpedition als Lieblingsstoff gelesen hatte. Der Winter schien mir bei Eis und Schnee als ein wahres Paradies, weil es für mich dann keine Kopfschmerzen gab.
 
 

Schlimmer Kriegstage an der Mosel

Unter dem 18. Januar 1918 finde ich folgende Aufzeichnung: Es liegen schwere Tage für die Mosel hinter uns. Von Montag bis Mittwochabend tobte ein tolles Unwetter mit warmen Sturmwind und Regen bei einer Temperatur von plus zwölf Grad Celsius. Das brachte allenthalben gewaltige Schneemassen zu jäher Schmelze. Es ließ sich voraussehen, daß Hochwasser kommen sollte, doch überstieg dies aller Erwartung. Ohne daß ich den schon stark ausgetretenen Strom gesehen hätte, wurde ich Mittwoch nachmittags heftig beunruhigt über unsere Kartoffel- und Gemüsevorräte in dem Kellerraum des Wolff’schen Gartens. Ich lag krank zu Bett, Helene war auch nicht ganz wohl, ging aber doch mit Maria zum Garten, um den Keller zu räumen. Die Arbeit lohnte sich sehr, denn kaum hatten sie alles oben bis auf einen geringen Rest von Kartoffeln, als das Wasser schon auf der Kellersohle erschien. Als ich andern Morgens dorthin kam, stand der Keller bereits gut eineinhalb Meter unter Wasser. Mittwochabend versuchten wir noch einen Besuch bei Thanisch zu machen, es war aber schon nicht mehr möglich, da hinter der Post die Straße überschwemmt war. Über Nacht stieg das Wasser gewaltig. Wohl in sämtlichen Kellern der Kaiserallee stand das Wasser, und bei uns spülte es im vorderen Weinkeller im Ausguß der Entwässerungsgosse. Ich war schon früh auf, Herr Leistner hatte aber noch früher schon festgestellt, daß der Fluß stehe. Von da ab stieg er nicht mehr, war freilich auch hoch genug. Auf der Schanze stand das Wasser bis zur Ecke des Landratsamtes, das Amtsgericht war trockenen Fußes nicht zu erreichen. Das Wasser stand bis zur untersten Stufe der Eingangstreppe. Ich hatte Wasserstiefel an und gab ein eiliges Aktenstück an den Gerichtsdiener Friedrich durchs Fenster. Ihm waren vier Hühner ertrunken. Nachmittags fuhren Helene und ich mit einem Nachen vom Steg aus, der das Postamt mit dem Anwesen Liell gegenüber verband, mit einem Dreibord über die Straße durch Thanischs Gartentörchen zu diesen und besahen uns dort den Graus (das bereits fallende Wasser hatte das niedrige Erdgeschoß fast bis zur Decke gefüllt). Wir fuhren dann mit ihnen zusammen zurück, tranken bei der Mutter, Witwe Anton Thanisch einen soliden Familienkaffee mit echten Waffeln. Später beriet ich noch Hugo und feierte dann mit ihm und seinem Vetter Viktor Thanisch, der zum Monatsschluß auf Urlaub aus Flandern gekommen war, den historischen Tag bei einem Glas Wein.

Über Nacht fiel das Wasser wieder gewaltig, allenthalben dicken rotbraunen Schlamm zurücklassend. Der wird jetzt eifrig weggeräumt. Noch aber tobt der Strom mit lautem Gebrause unter den Brückenpfeilern weg. Die fast wie in den Boden versunkenen Villenhäuser, Hospital u. s. w. stehen langsam wieder aus dem Wasser auf, und das Moselbahnhöfchen, das wie auf die Knie gesunken aussah, steht wieder ordentlich auf den Beinen. Freilich stehen noch viele Keller unter Wasser. Assessor Servais, der als Ulanenleutnant gut aussah, hatte Bernkastel aus lobenswerter Anhänglichkeit noch einmal besucht. Post und Bahn blieben aus, erst heute kam wieder die Kölnische Zeitung.

Für Schweine werden jetzt Phantasiepreise bis zu zweitausend Mark geboten, und jeder schlachtet, was er kriegen kann. Es ist ein ziemlicher Gerichtsstillstand eingetreten. Unter dem 19.1.1918 habe ich mir notiert, daß die Briefpost und die Zeitung mit einem kleinen Pferdefuhrwerk von Maintzers in Wengerohr abgeholt wird. Die Lieser war durch einen Wolkenbruch in einen rasenden See verwandelt, der Brücken und Dämme wegriß. Auf einen Kaffee, den Helene gestern mit drei Damen hatte, erzählte Frau Hauth aus Wehlen, es sein in der stürmischen Regennacht mit geschlachteten Schwarzschweinen im Werte von fast zehntausend Mark aus der Wittlicher Eifelgegend unterwegs gewesen und habe erst die eine, dann die zweite Brücke über die Lieser zerstört vorgefunden und sei endlich weit in die Berge und stundenlang in die Irre gefahren. Die den Bauer begleitende Frau habe vor Angst und Aufregung auf dieser doppelt unheimlichen Nachtfahrt greises Haar bekommen.


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