Einmal hatte Rosa unsere Herta mit nach Hause genommen. Herta kam ganz begeistert heim von der urtümlichen Sitte, das Mittagessen aus einer gemeinsamen Schüssel zu nehmen und auf einem Holzteller zu verzehren. Das hatte einen unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht. Sie hat dann diese Sitte auch bei uns einführen wollen. Nur noch einmal haben wir in unserem Leben einen Hausgenossen gehabt, der uns ähnlich nahe stand wie Rosa, nämlich unsere gute Maria Pleinen aus Birresbach.
Nur kurze Zeit hatten wir eine stille, etwas gedrückte Person,
die treulich ihre Arbeit schaffte, die wir aber nicht lange halten konnten,
weil sie an Fallsucht litt. Die Kinder begannen, solche Anfälle nachzumachen,
und so mußten wir uns von ihr trennen, was wir sehr bedauerten.
Mit dem Kollegen Winckler hatten wir erst einen Behelfsbienenstand und
späterhin ein richtiges Bienenhaus in das ursprüngliche Gartenstück
zwischen den beiden Gärten erstellt. Außerdem hatte ich von
einem langgestreckten Grundstücke zwischen dem Fußweg, der hinter
den Moselgärten entlang führte und sich bis zur Landstraße
nach Wehlen erstreckte, zu einem Drittel von seinem Eigentümer, einem
vermögenden Winzersmann aus dem Dorfe Graach zu erpachten vermocht.
Im Winter baute dieser Mann uns dieses Gartenstück mit seinem Gespann
um, und vom Frühjahr ab konnten wir es benützen. Wir zogen Gemüse
und Salat von seltener Güte daraus.
Ritschewski, der wohl ursprünglich eine hübsche, zierliche
Handschrift geführt hatte, war mit der Zeit durch das Schnellschreiben
zu einer gerade noch lesbaren und äußerst schludderigen Schrift
gekommen. Seine Ziffern hatten sich zu seltsamen Haken entwickelt, aus
denen man je nach Belieben fast jede der neun Ziffern herauslesen konnte.
Grundbuchsachen verstand er sehr gut. Es entging ihm nie ein Fehler, den
der Richter oder der Grundbuchführer durch Übersehen einer Parzelle
in dem ungeheuer zersplitterten Grundbesitz unterlaufen war. Er machte
stets freundlich darauf aufmerksam und hatte es gern, wenn man sich bei
ihm dafür bedankte.
Je nach dem Wetter draußen blieben die Untersuchungsgefangenen gern eine Zeit lang und machten sich dem Gerichtsdiener oder dem Richter nützlich durch die Anfertigung von brauchbaren Dingen, wie zum Beispiel Kaninchenställe und dergleichen. Ich hatte nur vertretungsweise mit den Strafsachen zu tun und war bereit, eine milde Praxis gegenüber den ewigen Landstreichern zu üben, die von zwei Gendarmen stets neu eingeliefert wurden. In Bernkastel kreuzten sich nämlich zwei große Straßenzüge, von denen die eine die Mosel entlang und die andere quer über Hunsrück und Eifel führte. Das war dann ein ergiebiger Jagdgrund für die unermüdlichen Gendarmen. Am Wochenende war ich häufig der einzige Richter am Platze und mußte mich dann notgedrungen in die jeweilig akut werdenden Strafsachen einarbeiten. Ärgerlich war zum Beispiel, wenn sich jemand gerade samstags aufhing. Er mußte dann erst durch einen Bescheid der Strafbehörde freigegeben werden. Die Formulare dazu lagen in meinem Schrank, der am Samstag meistens verschlossen war. Um dem Massenauftreten von Samstag- und Sonntagsleichen ein Ende zu machen, nahm ich mir einen Packen Formulare mit in die Wohnung. Das half, niemand nahm sich mehr am Wochenende das Leben.
Friedrich war eine sehr sachkundige Hülfe bei zwei Pensionsschweinen,
die Faber und ich uns angeschafft hatten und für ihre Karenzzeit von
sechs Wochen in einen Gewölbekeller des Gerichts brachten und dort
installierten. Trotzdem das Futter von allen Seiten herbeigebracht wurde,
waren die Schweine unheimlich gefräßig und taten sich namentlich
an den justizfiskalischen Kohlen gut. Wenn um diese Zeit Bauern ins Gericht
kamen, so schnupperten sie schon im Flur und hatten es stets sofort heraus,
daß dort ein Schwein sein müsse. Durch seine heimatliche Metzgerei
in Wehlen besorgte Friedrich aber auch sonst für uns ein gutes Stück
Fleisch, selbst als wir schon gar nicht mehr in Bernkastel waren. Später
hörte ich von ihm, daß er mit kluger geschäftlicher Überlegung
den Erwerb und die Einkellerung der guten Jahrgangs 1921 zu großem
Einkauf und erheblichem Gewinn daran benutzt hatte. Weiter habe ich dann
später nichts mehr von ihm gehört.
Der alte v. Hymmen war nur kurze Zeit, bevor ich seinen Sohn kennen lernte, gestorben, nachdem er die letzten Jahrzehnte ein reiches Stänkerleben geführt hatte. Er machte viele Eingesandt im Generalanzeiger und war stets gegen das Wetter. War alle Welt dafür, daß Endenich nicht in Bonn eingemeindet werden sollte, so war er ebenso eifrig dafür, wie er später dagegen war, als man damit ernst machen wollte. Er hatte ein seltsam kluges Testament gemacht, indem er seine beiden verheirateten Kinder, einen Rittmeister v. Hymmen in Bad Godesberg und einer nach Schlesien verheirateten Tochter mit denjenigen Vermögensgegenständen bedacht hatte, die Ertrag brachten. Seinen Sohne Ludwig dagegen, den Junggesellen, hatte er zwar die wertvollsten, aber auch wenigst ertragreichen Gegenstände zugedacht, die allerdings für die Zukunft die größte Möglichkeit besaßen. Hymmen mußte daher fast sein ganzes Gehalt als Amtsrichter an Steuern zuschießen. Er einigte sich mit seinen Geschwistern über einen anderen Verteilungsmodus. Mit großem Eifer betrieb er die Erhaltung und Nutzbarmachung des väterlichen Besitzes in Endenich. Dabei stellte es sich heraus, daß der Alte eine zwar äußerlich korrekte Buchführung gemacht, aber allenthalben betrogen worden war. Zum Beispiel fand sich ein laufender Posten in beträchtlicher Summe für Dachreparaturen, aber das Dach war völlig im Unstande. Für die Waldungen waren Kosten und Aufforstungen gebucht. Sein Freund, der Oberförster Bauer, mußte feststellen, daß wenn man die gebuchten Aufforstungen ausgeführt hätte, man jetzt einen schönen Einschlag hätte machen können. Es war aber nichts geschehen.
Wir kamen durch seine häufigen Fahrten nach Bonn mit ihm näher zusammen und lernten den seltsamen Querkopf in seiner ganzen Glorie kennen. Gegen meine Frau und Schwiegermutter, die er manchmal auf seiner Reise nach und von Bonn begleitete, benahm er sich stets sehr nett und liebenswürdig, war er ein angenehmer Reisebegleiter und erwies ihnen allerhand Aufmerksamkeiten.
Dienstlich hatte es folgende Schwierigkeiten mit ihm: Sein „Notariat“ betrieb er auf folgende einfache Methode: Durch evangelische und katholische Geistliche ließ er auf der Kanzel verkünde, nächsten Sonntag um vier Uhr hält Amtsgerichtsrat v. Hymmen in der Wirtschaft soundso einen Vortrag über das Grundbuchrecht. Erschien dann der Bernkasteler Notar Sieburg, so wurde ihm bedeutet, Herr Notar sei nicht eingeladen und könne auch nicht zugelassen werden. Dann ging die Hetze gegen die Notare los, die darauf hinauslief, daß die Beurkundungen so hoch seien und bei Gericht billiger gemacht werden könnten. Das gefiel den Bauern, und so gingen sie zu dem geliehenen Notar. Ja manche verstanden sich sogar dazu, sich über die Gerichtskostenrechnung zu beklagen, die sie für die Grundbucheintragung bekamen. Notar Ludwig mußte ihnen dann mühsam klar machen, daß dies die Selbstkosten seien und er es auch nicht billiger machen könnte.
Die Zeitungen brachten damals auch Auszüge aus den Standesregistern über die Geburten, Heiraten und Todesfälle. Nach einer gewissen Zeit lud v. Hymmen die Leidtragenden zu sich aufs Gericht. Er hatte den Grundbesitz der Leute schon festgestellt und drängte ihnen einen billigen Erbscheinsantrag auf. Damals klaffte allerdings eine Lücke im Gesetz, und der Antrag auf Erteilung eines Erbscheines war tatsächlich bei Gericht billiger zu stellen als beim Notar, was Hymmen natürlich weidlich ausnutzte. Damit aber nicht genug, er machte auch Zwangsteilungen, zu denen er nur die Auflassung beurkundete. Den eigentlichen Teilungsakt entwarf er den Beteiligten kostenlos als Privaturkunde. Nachdem ihm seine vorgesetzte Behörde dies verboten und ihn angewiesen hatte, Urkunden in kostenpflichtiger Form herzustellen, gab er sich erst recht daran, diese Privatteilungen zu betreiben; damit diese Teilungen seine Handschrift nicht zeigten, ließ er sie durch den Referendar schreiben, der daran den ganzen Tag sich die Finger schmierig schrieb und oft gänzlich unleserliche Produkte lieferte. Oft genug kam es dabei zu einem herrlichen Durcheinander. Die Moselbauern pflegten bei einer Teilung gewöhnlich einen gewissen Teil des Grundbesitzes öffentlich versteigern. Hymmen hatte auch versucht, diese Versteigerungen auch im Wege seines Notariats den Bauern zu verbilligen, hatte dabei aber Schiffbruch erlitten, denn die Bauern erschienen nachher nicht zu Auflassung vor Gericht. Und die privatschriftlich beurkundeten Versteigerungen waren rechtsungültig. Den übrigen Teil des Grundbesitzes teilten die Bauern unter sich. Es entstand ein schönes Wirrwarr dadurch, daß die beiden Notare die Versteigerungen nach den Angaben der Bauern abhielten und der „Notar“ Ludwig gleichzeitig Teilungen machte, in denen die bereits versteigerten Grundstücke verteilt worden waren. Das alles rührte ihn wenig, und trotz der Verbote seiner Vorgesetzten suchte er das Notariat weiter zu betreiben. Es waren darüber schon dicke Akten entstanden.
Die größte Heftigkeit des Kampfes lag bereits vor meiner Zeit. Als ich Anfang Mai 1910 als Assessor nach dorthin kam, war mein Amtsvorgänger Mügel als Notar nach Castellaun anstelle des von dort nach Bernkastel versetzten Dr. Astor versetzt worden. Mügel hatte nie etwas darüber verlauten lassen, daß er Notar werden wollte und empfahl mit dringend die gleiche Schweigsamkeit. Ich verriet ihm lachend, daß ich längst mit Amtsgerichtsrat Winckler mich darüber unterhalten habe, daß ich Notariatskandidat sei und Notar werden wolle und vorher nur die üblichen Assessorjahre abzusitzen gedächte, die man mir im Justizministerium auf zwei Jahre zu beschränken in Aussicht gestellt hatte. Dann sei ich hier in Bernkastel unten durch. Ich meinte darauf, das wollen wir mal sehen. Am Weintisch in der Doktorweinstube hatte sich der schalkhaft lustige „katholische Kreisschulinspektor“ einige Bemerkungen über den „Prädikatsassessor“ gemacht, der anscheinend von der Justiz hierher versetzt sei, „um hier Remedur zu schaffen“. Da ich energisch widersprach, verstärkte sich in manchen das bestimmte Gefühl, daß Fränzchen Müller recht habe, und ich glaube auch, namentlich v. Hymmen und Rothschild haben mir in diesem Punkte nie recht getraut. Im Verkehr blieb ich völlig unbefangen, verkehrte auch familiär freundschaftlich mit beiden Notaren und bedauerte nur, daß die beiden untereinander kein rechtes Verhältnis hatten. Alles schien sich in Wohlgefallen aufzulösen, bis mir in meiner Grundbuchabteilung eines Tages eine Privatteilung mit Auflassung vorgelegt wurde, die v. Hymmen beurkundet hatte, obwohl er nach der Geschäftsverteilung hierfür gar nicht zuständig war. Auflassung und Teilung waren derartig saumäßig geschrieben, daß ich mir vor der Bearbeitung von der Kanzlei eine Reinschrift fertigen ließ. Diese wurde Hymmen zur Unterschrift vorgelegt, und es kam zu einem großen Krach. Ich lehnte das Gerichtskollegium über mein Verhalten ab und blieb auf dem richtigen Standpunkt, daß, wenn Hymmen es schon für notwendig halte, in meine Abteilung hineinzupfuschen, ich alle Verantwortung ablehne und ihm auch die Eintragung überlassen müsse. „Wir versöhnten uns“. Hymmen hatte dann eine Sauwut auf mich, aber es herrschte das Gefühl vor, daß ich auf dem Dienstwege in jedem Falle recht bekommen hätte. Es fiel Hymmen etwas schwer, sich damit abzufinden, später aber vertrugen wir uns wieder auf das Beste. Nach außen hin hat niemand von uns etwas über die Sache verlauten lassen.
Später kam ich in Bonn manchmal mit ihm zusammen und suchte ihn dann so zu bestimmen, die Dinge aus seinem ererbten Besitz, die lokalhistorischen Wert für Bonn hatten, der Sammlung „Alt Bonn“ zu vermachen. Bei einer Unterhaltung mit Professor Knickeberg hierüber erbot ich mich, in juristischer Weise ihm dabei behilflich zu sein. Er starb bald darauf auf eine seltsame Weise. Bei einer Erkrankung lag er ohne rechte Hülfe auf seiner Klitsche und ging infolge mangelhafter Verpflegung bald zu Grunde. Noch im Tode offenbarte sich sein Sinn für Humor und Seltsamkeit. Wer an seinem Begräbnis teilnahm, hatte das Recht, an einem Umtrunk auf sein Wohl und seine Kosten teilzunehmen, wovon ganz ausgiebig Gebrauch gemacht wurde.
Diese Sache erinnert mich an seinen Weggang als Amtsrichter von Bernkastel.
Er feierte diesen durch einen Umtrunk in der Doktorweinstube, zu dem er
die halbe Mittelmosel, natürlich mit Ausnahme der Notare, eingeladen
hatte. Es war ein wahres Bacchanal und dehnte sich bis in den frühen
Morgen. Ich war des Abends vorher bei Landrat v. Nasse, einem Anverwandten
von ihm, mit dem Regierungspräsidenten Baltz zum Abendessen eingeladen,
einem alten Herrn, der an einer kleinen Verwundung litt. Wir machten ihm
graulich, so daß er früh zu Bett ging und wir uns an dem Abschiedstrunk
von v. Hymmen beteiligen konnten. Ich aß ununterbrochen trockenes
Weißbrot und vertrug alles aufs Beste. Es wurden immer bessere Weine
getrunken, und schließlich hatten wir für etwa sechshundert
Mark Wein verbraucht. Hymmen marschierte in aller Frühe mit einigen
Genossen über den Berg nach Traben-Trarbach und ließ sich als
Landgerichtspräsident Collig aus Koblenz einführen, der zu einer
Gerichtsrevision komme. Das gab natürlich allerhand Unfug. Nachmittags
fand im Hause von Rechtsanwalt Schönberg eine Verlängerung der
Sitzung statt, wozu ein Gemisch aus Weißbier mit Apfelsekt vorgesetzt
wurde. Das schäumte und erfrischte ungemein. Abend ging das Zechen
wieder von neuem los, mir aber war es genug, und ich ging zu Bett. Eine
Einladung in die Familie, eine Abendgesellschaft, pflegte Hymmen grundsätzlich
auszuschlagen mit der Begründung, zum Armenrechtessen ginge er nicht.
Als kurze Zeit darauf ein weiterer Trierer Assessor, der dicke Schmitz, ebenfalls an das Bernkasteler Amtsgericht versetzt wurde, mieteten sich diese beiden den alten Brenner mit seinen beiden uralten Rössern und seiner herrlichen Droschke, die mit Hanfschnüren geflickt war. Nur der Oberförster Bauer wagte es aus alter Anhänglichkeit, sich diesen Durchbrennern, wie er sie nannte, auf seinen Dienstreisen anzuvertrauen. Sie setzten sich beiden mit Zylindern bewaffnet und mit Zigarren wohlversorgt in diese Staatskarosse, setzten den Gerichtsdiener Tinner auf den Bock, der früher Schiffssteward gewesen war, und fuhren Besuch machend durch die Stadt. Der Umzug geschah zu allgemeinen Belustigung, Tinner mußte wie ein Affe vom Bock in die Wohnungen springen und die Besuchskarten abgeben. Die Besuchten lagen in den Fenstern und baten die Besucher herein. Diese aber lehnten sich bequem in ihren Sitzen zurück, rauchten und unterhielten sich, dachten aber nicht daran auszusteigen. Auf diese Weise zockelten die Pferde unter allgemeinem Gelächter das ganze Städtchen ab, und diese Besuchsfahrt spielte sich ab wie eine lustige Rundfahrt zu Karneval.
In der Bewältigung seiner Gerichtsarbeit zeigte Reinecke weniger Humor. Im Gegensatz zu dem tüchtigen Schmitz, dem nichts zuviel und der jederzeit bereit war, noch weitere Arbeit zu der seinigen hinzuzunehmen und auch zu erledigen, verbrachte Reinecke viel Zeit damit, aller Welt darüber vorzujammern, daß er mit der vielen Arbeit nicht „zu Pott“ kommen könne. Kein Wunder. Als Richter in bürgerlichen Rechtstreitigkeiten schleppte er die Akten vom Gericht mit auf seinen „Kotten“ und dann wieder zurück, ohne sich dazu entschließen zu können, endlich einmal ein Urteil zu fällen und seine Entscheidung zu Papier zu bringen. Ich war seine ewige Jammerei so satt, daß ich ihm vorschlug, unsere Abteilungen eines Tages mit sofortiger Wirkung zu wechseln. Er war so töricht, darauf hereinzufallen und hatte nunmehr fast doppelt zu tun wie vorher, wobei es kein Verzögern gab und er schon durch die täglich aufgepackten Grundbuchakten und die ordentlich arbeitenden Beamten andauernd in Atem gehalten wurde. Er war mordsfroh, nach kurzer Zeit seine alte Abteilung zurückzuerhalten, und von Überlastung war weiter nicht mehr die Rede. Ich hatte ihm nicht nur gründlich klargemacht, sondern auch bewiesen, daß er ein schlechter und langsamer Arbeiter war.
Um so besser verstand er sich auf das Feiern. Waren wir zu mehreren auf seiner Bude zusammen, so war es stets „ein wirklich gemütlicher Ausschank“, wir unterhielten uns aufs Beste und fühlten uns in unsere Studentenzeit zurückversetzt. Er besaß ein ungeheuer großes und weiträumiges Biedermeiersofa. Wir setzten uns darauf, Reinecke zupfte die Gitarre und wir sangen mit lauter Stimme:
Kommt mich einmal ein guter Freund besuchen,
so soll er mir willkommen sein.
Ich gebe ihm vom allerbesten Kuchen
und auch ein Glas Champagnerwein.
Die Seele schwinget sich wohl in die Luft - juchhe,
indes der Leib bleibt auf dem Kanapee.
Dabei wurde eine Papierserviette zu einer hohlen Zylindertrommel zusammengeklebt und angezündet. Sie segelte dann zur Decke und kam als Aschenflocken wieder herunter. So kam der alte Corpsstudent bei ihm in schönster Form zum Vorschein.
So nett er als Mensch war, so konnte er als Beamter mitunter ein etwas hochfahrendes Wesen und eine gute Portion Beamtendünkel zeigen, der oft genug nur zur Verdeckung seiner inneren Unsicherheit diente. Da er Stock und Stein mit getrennten S und T aussprach, so beriefen sich die Bauern ganz pfiffig darauf, daß sie ihn nicht recht verstanden hätten, eine unangenehme Sache, wenn es sich gerade um den Wortlaut eines Eides handelte. Er hielt natürlich sehr auf die „Würde des Gerichts“. Lang und schlank hatte er einen spärlichen Haarwuchs und listig blinzelnde braune Augen. Obwohl ich ihm oft genug versichert hatte, daß er ganz das Aussehen eines Marabus besäße, hielt er sich selbst für einen schnieken und hübschen Jüngling, in den sich gleich alle jungen Mädchen verlieben müßten. Er dachte sogar daran, Margarethe Thanisch zu umwerben und hatte seine Bedenken nur wegen der Verschiedenheit des Gesangbuches. Ich konnte nur laut lachen und riet ihm in aller Treuherzigkeit, doch einmal sich die Dinge nüchtern anzusehen. Er war mitunter etwas begriffsstutzig. auch war er zu mir häufig etwas zudringlich und pflegte mich zu duzen, wozu ich ihm niemals die geringste Veranlassung gegeben hatte. Er ließ sich aber durchaus nicht aus seiner Rolle bringen.
Eines Tages wurde es offenbar, daß sein Herz anderswo verstrickt war, und bald kam heraus, daß er ein Liebesverhältnis zu einer Näherin in Koblenz unterhielt. Ich hatte ihm mal mit einem Rucksack zu Bahn marschieren sehen, der zu einer vollkommen prallen Kugel aufgeblasen war. Er brachte darin Kissen in das Nest. Nach einiger Zeit hieß es, daß er Vaterfreuden zu erwarten habe. Es war die Zeit des Kriegsausbruchs, und er gedachte, die Mutter nach Bernkastel in seine Wohnung einzuquartieren. Nur mit Mühe konnte ich ihn hiervon zurückhalten. Am zweiten Mobilmachungstage zog er als Freiwilliger ins Feld, wurde aber nach kurzer Zeit Kriegsgerichtsrat. Vor seinem Auszug legte er mir seine Geliebte, die ich nie zu Gesicht bekommen hatte, besonders warm ans Herz. Nach einiger Zeit legte mir mein Sekretär eine Geburtsanzeige vor, nach der unehelich einmännliches Kind mit vollen zweieinhalbe Zeilen von Vornamen, darunter auch Ernst und zum Schluß „Unverzagt“ aufgeführt waren. Es war Reineckes Sprößling. Es dauerte eine lange Zeit, bis dies klar und festgestellt wurde, daß wir gar nicht zuständig, sondern Koblenz zuständig war. Er hatte sich das alles in seinem naiven Sinn ganz einfach gedacht und wollte das Ganze sich in Bernkastel abspielen lassen, was natürlich eine Skandalgeschichte ersten Ranges geworden wäre.
Im Laufe des Krieges wurden wir eines Nachts durch eine Depesche erschreckt, aber was war es? Reinecke hatte das E. K. I bekommen und mußte uns damit nachts in Schrecken versetzen.
Da fällt mir noch eine amüsante Geschichte ein, die sich einige Zeit vor dem Kriege ereignete, als Winckler eine Reserveoffizierübung mitmachte. Cornelius Müller telefonierte aus Traben-Trarbach, daß der Oberlandesgerichtspräsident Mohrkramer im Lande sei und im Laufe des Nachmittags zur Revision zu uns kommen würde. Wir waren dann überraschenderweise trotz des Samstagnachmittags alle vollzählig im Amt, was geradezu als ein Wunder angesehen werden mußte, indem zum Wochenende meist die Herren fehlten. Mohrkramer war sehr wohlwollend und erkundigte sich im Laufe einer Unterhaltung, er hatte uns zu einer schlechten Flasche Wein in den Garten eingeladen, wann montags der erste Zug nach Wittlich führe. Es war klar, wir sollten den Wittlichern einen Wink geben. Leider war das nicht möglich, weder beim Amtsgericht noch bei Anwalt und Notar war irgendjemand zu erreichen. Nach langem Hin und Her beschlossen wir, eine Depesche zu schicken. Was geschieht darauf in Wittlich? Am frühen Morgen steht der aufsichtsführende Amtsrichter pünktlich am Bahnhof und empfängt in Zylinder und Bratenrock der Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten. Mohrkramer war natürlich recht verdrießlich und erfuhr alles von der Depesche. Seine Verdrossenheit zeigte sich in einer sehr ungnädigen Revision. Sie hatte einen sehr merkwürdigen Erfolg: Er war nach Wittlich gekommen in der Absciht, dort ein großzügiges Amtsgericht mit sechs Richtern zu bauen, nun aber fand er alles hinreichend und genügend und war sehr ungnädig. Die Wittlicher haben heute noch keinen Amtsgerichtsbau. Der Gegensatz des Empfanges dort und bei uns war allzu krass. Von seinem Schwiegersohn v. Sobbe war Mohrkramer seiner Zeit in Bernkastel erstmals Großvater geworden. Er hatte es in lieber Erinnerung. Ein Abglanz davon hätte sich gewiß auch auf das wirtschaftlich viel wichtigere Wittlich gesenkt, wenn nicht v. Hagens mit seinem Unglückszylinder alles verdorben hätte. Er war übrigens alter Corpsstudent, und gelegentlich einer Versammlung seiner alten Kommilitonen wurde ihm diese Sache mit dem Zylinder vorgespielt. War das komisch! Übrigens hat er stets behauptet, an der ganzen Sache wären ausschließlich wir schuld gewesen.
Über Reinecke habe ich noch nachzutragen: Daß er nach seiner gesunden Rückkehr aus dem Kriege die Tochter eines Bürgermeisters von Hagen in Kempfeld geheiratet hatte. Diese war zwar Doktor der Chemie, verstand sich aber nicht auf die Kochkünste. Fräulein Schönberg gegenüber schilderte Reinecke, der später in unserem Hause bei Leistners, aber auf dem zweiten Stockwerk wohnte, es wäre doch viel praktischer, wenn der Magen eine eigene Klappe besäße, durch die man die Speisen einführen könnte, um den Weg durch den Mund und den Schlund zu ersparen. Es müssen sich noch seltsame Sachen mit Reinecke in Bernkastel abgespielt haben. Zum Beispiel, daß er eines Tages seine frühere Geliebte mit ihrem mittlerweile großen und kräftigen Sohne (herangewachsenen Kegel) nach Bernkastel kommen ließ und mit beiden Frauen in Begleitung dieses Jungen an der Mosel spazieren ging. Der Junge mußte ihm ganz fabelhaft ähnlich gesehen haben.
Später besuchte mich Reinecke noch einmal in Bonn. Er war von der
französischen Besatzung vertrieben worden und Amtsgerichtsrat in Einbeck
bei Hannover geworden. Ich nahm ihn auf seinen Wunsch mit zum Kaufhaus
Tietz, und er benahm sich dort wie ein großes Kind, so daß
die Geheimdetektive auf ihn aufmerksam wurden und ich ihn hierauf aufmerksam
machen mußte. So wird er vermutlich auch noch heute sein.
Er erzählte mir, daß er sich oft morgens auf dem Bettvorleger seines Bettes schlafend fand. Er war dann etwas spät und weinbeladen nach Hause gekommen, hatte sich in der Dunkelheit ausgezogen und seine Kleider in bester Ordnung hingelegt, war aber nicht mehr bis ins Bett gekommen, sondern hatte sich vor demselben hingelegt. Das hinderte ihn aber keineswegs, andern Tages fleißig und tüchtig im Gericht seine Pflicht zu tun. Ich erinnere mich einer Schilderung über die körperliche Wirkung des Genusses einer größeren Menge Federweißer auf das Herz des Trinkers: „Ich wurde plötzlich nachts im Bette wach, mein Herz schlug im wilden Takt, ich setzte mich voller Schrecken aufrecht ins Bett und dachte jeden Augenblick, jetzt kommt der Tod. Es war ein schreckliches Hämmern in der Brust.“
Gelegentlich einer Verlosung von Gegenständen kurz vor Weihnachten
in einer lustigen Sitzung des Bernkasteler Abends in der Doktorweinstube
hatte jeder Mensch ein Spielzeug für die Kinder gestiftet, Schmitz
einen flauschigen Seidenaffen. Es wurde gewürfelt, und Schmitz hatte
sechs, sechs, vier und gedachte ihn schon für die Kinder Sieburg zurückerobert
zu haben. Ich aber warf sechs, sechs, fünf, und der Affe erfreute
jahrelang unsere Kinder.
Als alter Zigarrenfabrikant bestätigte er mir meine Vermutung,
daß in der vorderen Hälfte der Zigarre der Tabak besser sei
als in der zweiten Hälfte. Mir schmeckte nämlich damals stets
nur die erste Hälfte einer Zigarre. Außerdem lernte ich von
ihm die Bedeutung des Trauerrandes zwischen der brennenden Zigarre und
dem weißen Aschenkranz kennen. Der Trauerrand sei nicht zu finden
bei Zigarren aus solchen Tabak, der erstmals auf jungfräulichem Boden
gewachsen sei, das heißt auf einem Boden, wo es vorher noch keinen
Tabak gegeben hatte. Schmidtchen ist mir als ein ruhiger und besinnlicher
Mann noch in guter Erinnerung.
Frau Köns hatte sich das von ihrem Manne versäumte Ränzlein
zugelegt. Sie war allerseits so gut gepolstert, daß sie kühn
vom Dache des kleinen Konditorhäuschens auf die gepflasterte Straße
stürzen konnte, ohne sich einer anderen Gefahr auszusetzen, als daß
sie wieder bis zum ersten Stockwerk zurückgefedert wurde.
Am 28. August nahm ich nachmittags in Wehlen bei einer Witwe Zacharias Dietz-Friedrich eine längere Schenkungsurkunde mit Auflassung vor, zu der ich die verschiedenen Familienzweige im Laufe etwa eines Halbjahres nach und nach im Vergleichswege zu einer „Vereinigung“ gebracht hatte. Die fünfzehn Anwesenden hatten eben ihre vielfachen Unterschriften umständlich erledigt, von einer Frau als letzter gezeichnet, da brach einer mit dem Schreckruf „Es brennt“ in das schwül überfüllte Zimmer, und sofort stob alles auseinander. Ich packte in Ruhe die Papiere zusammen und ging auch hinaus. Wenige Häuser weiter, so stand ich vor einem Hause, das gegen seine Nachbarn stark nach der Straße zu vorsprang und nach seinem Schilde einem Sattler Friedrich gehörte. Der Anblick war zunächst so überwältigend, daß es einem den Atem versetzte. Aus der rückwärts dicht am Hause gelegenen Scheune schlug die Flamme mit unwiderstehlicher Gewalt. Da war nichts zu retten, die eingelagerte Frucht der neuen Ernte gab dem Feuer eine unerhörte Wucht, und die roten Flammen fackelten in hellem Schwung und prächtigem Bogen in den sommerlich hellen Spätnachmittag, obenauf von schwärzlichem Rauchgekringel übersäumt. Das Ganze wirkte mit der Wucht des Einfachen wie ein alter, grob illuminierter klarer Holzschnitt. Ich fühlte mich einer stürmenden Reihe von seltsamen Empfindungen ausgesetzt, mußte bald an eine der aus tausend Bildern bekannten Brand- und Plünderungsszenen des dreißigjährigen Krieges, bald an eine Dorferstürmung an der Westfront denken. Aus den Fenstern fielen brockenweise alle möglichen Stücke Hausrat, die vorab noch von wenigen Händen aufgerafft und in die nächsten Häuser geschafft wurden. In diesen standen zunächst einige Weibspersonen eine Zeit lang wie halb versteinert, schrieen heftig und wußten nicht, womit beginnen. Aus dem dahinter liegenden Stall wurden zwei Ziegen und ein prächtiges fettes Schwein von einem Manne mit derben Scheltworten und Schlägen herausgetrieben. Nach einigen Minuten füllte sich die anfänglich fast leere Dorfstraße mit Leuten, unter denen etliche Männer kurze Befehle gaben. Sobald die tüchtigen Spritzen kamen und hanfene Schläuche von verschiedenen Seiten herankrochen, ihre trockenen Schlangenbäuche prall aufbliesen und die blasse Farbe ihres trockenen Daseins mit einem dunkelgrauen nassen Aussehen vertauschten, und die Fülle ihres gepreßten Leibesinhaltes hier und da an etwas schadhaften Stellen in dünnem Strahl hochaufspritzen ließen, ging alles seinen ruhigen Gang. Das Feuer griff auf das Wohnhaus über. Die Leute wurden aus ihm herausgeholt, die Dachfirsten der unmittelbar benachbarten Häuser unter die Spritze genommen, denn sie wollten stets mit aufflammen. Über dem Hausgiebel schwang die Lohe ihre riesige Brandfackel drohend nah in die Straße hinein und nach dem gegenüberliegenden Hause zu, dessen Bewohner schon ängstlich mit dem Plündern ihres Hausrats beginnen wollten. Ich konnte sie davon zurückhalten, denn kein Lüftchen regte sich, und es war unverkennbar, in wenigen Minuten mußte sich das Feuer des Dachstuhles in seiner tollsten Wildheit ausgerast haben, und damit war die Hauptgefahr für die Nachbarn vorüber. Schließlich langten von allen Seiten gewaltige Haken an schweren Bäumen an, Dutzende von derben Fäusten stemmten und hoben hieran. Kreuzweise von starken Stützbäumen unterstemmt, stiegen die eisernen Haken langsam bis zum brennenden Dachgebälk empor, legten sich schwerfällig darauf und hakten sich langsam und behutsam ein. Dann ein ruckweises und kurzes Ziehen und mit lautem Krachen stürzten ganze Teile des Daches mit glühenden Schiefern, verkohlten Balken und schwelenden Latten in hellem blauem Rauchdunst am Hause herunter. Der lose obere Hausgiebel wurde eingestoßen, und dann kletterten einige beherzte Russen auf leichten Fenstern zur Vorderseite hinein und brachten alles und jedes heraus, was nur irgend zu erreichen war. Ganze Möbelstücke wanderten da aus den Fenstern über die besetzten Leitern auf die vielen erhobenen Hände und verschwanden in der Nachbarschaft. Die Fülle des Hausrats, der Kleidungsstücke, des tausendfach angehäuften Krimskrams, das alles hübsch nacheinander zu öffentlicher Schau erschien und unten wieder verschwand, wollte gar kein Ende nehmen. Der Eigentümer, der im Geruche wucherischen Fleisch- und Schleichhandels stand und während des Brandes auswärts abwesend war, muß sich abends nicht wenig gewundert haben. Endlich war aller Hausrat – es kamen Betten zutage, die wohl seit Menschengedenken nicht auseinandergenommen waren – heraus, das Dachgebälk ineinandergestürzt und die Gefahr fürdie Nachbarhäuser durch eifriges Spritzen abgewendet. Ein Feuerwehrmann ging daran, eine vorn auf dem glimmenden Dachspeicher stehende alte Eichenkiste, deren derber Eisenbeschlag sich verbogen hatte und deren dicke Wände noch brannten, seitlich zu öffnen und mit einer eisernen Schaufel daraus Eimer auf Eimer voll schönen goldgelben Weizens herauszuholen, der als Hamstergut allerseits einem verständnisinnigen Schmunzeln begegnete. Später wurden dann noch kräftig die Mauern des rauchenden Trümmerhaufens eingerissen, damit für die Feuerversicherung nicht noch etwa abzugsfähige Reste übrig blieben.
Sofort trat die Fama ihren Weg an: ganze Zentner Fett und Speck sollten
rückwärts herausgeschafft worden sein, desgleichen beträchtliche
Ledervorräte, während noch Bütten voll Häute in Lohgerberbeize
im Keller stünden und so fort. Durch derlei Reden gewann ich aus dem
merkwürdig entrückenden Gesamteindruck wieder Anschluß
an die alltägliche Umwelt. ––––
Gestern begruben wir (4. Januar 1918) in Traben-Trarbach den herzensguten
edlen Cornelius Müller, der seit 1889 dort Richter war. Seit 1894
hatte er mit seinem Kollegen Gescher in treuer Freundschaft gelebt und
ein gastfreundliches Haus geführt, das moselauf, moselab und durchs
ganze Rheinland allenthalben berühmt war. Es stimmte sehr wehmütig,
daß ich zusammen mit der Kunde seines Todes die Ernennung Geschers
zum Geheimrat erfuhr, und so ich schrieb diesem meine Empfindungen in einem
herzlichen Briefe. Er erwiderte diesen sofort und lud mich zum Mittag ein.
Ich kam dem gern nach, warf mich morgens in schwarze Kleider, erledigte
bei Gericht einen ansehnlichen Stapel Akten und fuhr anderen Tages nach
dort, wohl versehen mit Schirm, denn es stöberte von Schnee, und mit
einem Pelzfußsack, der mir die Beine wärmte. Zwischen Lösnich
und Kröv war die Mosel zugefroren. Das Treibeis hatte sich schon weit
unterhalb gesetzt und staut sich von dort an dauernd zurück. Vor Traben
hatten heftige Pressungen im Eis stattgefunden. Es dehnten sich im Flußbett
weite Felder mit wildgetürmten Schollen und kleinen Gebirgen von zusammengepreßten
und dann regelmäßig auseinandergeborstenen Eismassen. Dazwischen
dehnten sich große blanke Wasserspiegel, unbeweglich und schwärzlich,
in denen sich das Saumeis und jene Packmassen schauerlich wiederspiegelten.
Darüber eine blitzende Wintersonne, die mir um die Mittagsstunde so
gehörig auf Pelz und Mantel brannte, daß ich ernstlich daran
dachte, mich ein wenig auszupellen. Ich kehrte zunächst bei Gescher
ein. In dem sonnenbestrahlten Hause empfing mich die liebenswürdige
Hausfrau, die einen recht gesunden und blühenden Eindruck machte.
Was hatte sie aber auch in langen Jahren des Leidens alles ausgestanden
und durchgehalten, und wie elend war sie noch, als ich mit Helene im Sommer
1913 dort war. Sie erkundigte sich sehr nach Helene, erzählte manches
von ihren Kuren und war lebhaft interessiert für die hohe Rhön
und Frankenheim. Kurz vor Tisch kam dann auch der neue Geheimrat, noch
feiner und zarter als früher, und wir unterhielten uns über mancherlei.
Weinkäufe interessierten ihn auch besonders. Zu Tisch erschien auch
der Sohn, der in zwei Monaten Abiturient zu sein hofft und bereits in Frankreich
Erntearbeit mit gutem Erfolg verrichtet hatte. Wir aßen und unterhielten
uns aufs beste, ich hatte eine prächtigen Aussicht auf die Landschaft
von meinem Platz aus. Nur allzu bald war die Zeit da, daß wir zum
Begräbnis hinüber mußten. Wir stiegen zum Schlößchen
hinauf. Im Hause herrschte im Treppenflur große Hitze und Enge, der
Tote lag links. Paul Thanisch und ich gingen bald hinaus auf die Terrasse,
um eine Überhitzung und nachfolgende Erkältung zu vermeiden.
Da bot sich dem Blick ein reiches Landschaftsbild dar. Ringsum die verschneite
Landschaft, im Tal der vereiste Fluß, in dem sich mitten zwischen
den wüsten Schollentrümmern eine der Flußkrümmung
sich nachschlängelnde Rinne mit fließendem Wasser gebildet hatte.
Die Talmündungen rechts, die Gräfinburg gegenüber und über
dem Kautenbachtal, alles stand unter einer großen grauen und finsteren
Wolke, die Wind und Schneeflocken in nahe Aussicht stellte. Über die
vielfach über die Gartenterrasse sich hin- und herwindenden Wege kamen
unaufhörlich lange Züge von Frauen und Kindern, darunter ein
Kirchenschweizer in neuem leuchtend rotem neuen Tuchrock, Chorknaben mit
Kreuzen, Fahnen und dazwischen ein mit durchdringender Stimme unermüdlich
beflissener Vorbeter, der den schmerzhaften Rosenkranz anführte. Von
Zeit zu Zeit stets neue Herrn in blanken Zylindern und endlich auch drei
Geistliche, ein kleiner schmächtiger wachsgelber im Pluviale, rechts
und links flankiert von zwei auffallend stattlichen hohen Geistlichen im
langen Chorhemd und übergeworfen schwarzgoldenen Kaseln. Bald kam
der schwere dunkle Eichensarg, von einem ganzen Rudel von Männern
getragen aus dem Hause, und der Hausherr hielt dort seinen letzten Auszug,
wo er als 29jähriger vor etwa 29 Jahren erstmals eingetreten war.
Er hatte dort also fast die Hälfte seines Lebens zugebracht. Welche
Gastfreundschaft hat er dort ausgeübt und wie viele sind dort ein-
und ausgegangen. Dem Sarge folgten die beiden Töchter, deren Männer,
sein Bruder und etliche Angehörige, dann sein Freund Gescher und andere
mehr, darunter auch wir beide. Es ging den steilen beschwerlichen Weg gerade
herunter. Ich selbst war zum zweiten Male dort; damals hatte ich mit Helene
einen Besuch gemacht, wir hatten aber nur seine Hausdame angetroffen. Im
Kriege hat er den Besuch erwidert und sich mit Helene lange unterhalten,
während ich auf dem Amte war. So war ich mit ihm nie in seinem Hause
zusammen gewesen. Ich hatte ihn etwa vor einem Jahr zuletzt gesehen, als
er mit Gescher ihren gemeinsamen Freund, unsern Oberförster Bauer
in Bernkastel aufsuchte. Unter diesen Gedanken waren wir zur letzten Kehrwende
gekommen, wo ein Wagen den schweren Sarg aufnahm. Dann wand sich der lange
Trauerzug quer durch die Stadt, über enge schmale Gäßchen,
bis an einen schmalen steil aufsteigenden Weg, über den der Sarg wieder
getragen werden mußte. Durch eine alte malerisch verfallene Mauer
mit altem verwittertem Steinbogen, dann über eine lange schmale Brücke,
von der man links und rechts auf verschneite Rebstöcke hinuntersah.
Dann auf den engen und jäh abfallenden Kirchhof, in dessen Mitte sich
ein kuppelbedeckter kleiner Bau mit weiter romanischer Bogenöffnung
erhob. Dort wurde der Sarg unter dem rituellen Gesang der Geistlichen feierlich
versenkt. Am offenen Grab sang ein Chor, und nachdem einige Vaterunser
in die rauhe Winterluft mit krächzend umherfliegenden Raben und drohender
Schneeschauer gesprochen waren, flutete die Menge der Leidtragenden langsam
wieder ins Städtchen hinab und zerteilte sich in den verschiedenen
Gassen. Manche folgten den Kellereinladungen, andere gingen auf das weithin
sichtbare Trauerhaus zurück, wo der Kaffeetisch gedeckt stand. Wir
trafen uns mit etlichen Bernkastelern, darunter Collegen Remy und Bürgermeister
Simonis im „Wamsch“, wo der Verewigte manches Schöppchen geleert hatte.
Eine einfache anheimelnde Kneipe, in der es aus richtigen Viertellitergläsern,
fest und mit kleinen Knuppen verzehrt ein prächtiges Schöppchen
neuer 1917er zu 1,20 M gab, das wir dem Verstorbenen weihten. Um viertel
vor fünf kam pünktlich der Zug, und während die winterliche
Abendsonne hinter der malerischen Burg von Wolf stand, wurde im Zuge die
letzte Flasche, edler 1915er Trittenheimer geleert mit Bürgermeister
Simonis, Paul Thanisch, Remy, Rechtsanwalt Theisen, Bürgermeister
Falz und Gastwirt Popp. Ein eindrucksvoller Tag.
Gegen Ende seines Lebens erfuhr er noch unangenehme Erlebnisse, indem
man ihm anläßlich der Verlobung seiner Tochter diese nicht nur
aus dem Hause zog, sondern gegen ihn auch Gerichtsschritte unternahm wegen
Entmündigung und Entziehung der väterlichen Fürsorge für
dieses Kind. Ich bin aus der Sache nie recht klug geworden und konnte auch
nicht verstehen, wie Gescher sich in dieser Sache anscheinend etwas allzusehr
zurückgehalten hat. Später aber muß alles wieder in Ordnung
gebracht worden sein.
Er stammte aus Hildesheim und hatte selbst Theologie studieren wollen und war dann Philologe geworden. Münster war seine Universitätsstadt gewesen. Von seiner Familie habe ich ihn nie ein Wort reden hören. Jedenfalls war ihm ein weniges von der Würde eines behäbigen katholischen Geistlichen geblieben, und soviel ich beobachten konnte, verkehrte er äußerlich ausgezeichnet mit ihnen. Es war uns allen aber nicht im mindesten zweifelhaft, daß er sich innerlich gerade ihnen gegenüber durchaus ablehnend verhielt, vielleicht gerade wegen seines Umsattelns oder dessen Ursache, obschon er dies in lächelnder Weise sehr geschickt unerörtert zu lassen pflegte. Scherzhafter Weise wurde er als Vertreter des Zentrums angesprochen und wußte ebenso ironisch dessen Grundsätze gegenüber allen liberal Angefärbten zu verfechten. Ich selbst habe über vielerlei von ihm wertvolle Aufschlüsse erhalten. Jedenfalls verstand er es ganz vorzüglich zu schweigen und in höchst selbstsicherer Weise alle Klippen seines oft nicht unebenen Amtes spielend zu umschiffen.
Mancherlei Angriffe mußte er erdulden. So ob seiner stattlichen Leibesfülle, seiner großen Eßlust und seiner geschickt durch „Sardellenanleihen“ verdeckten dichten Haarwuchs. Die beiden Präsidenten des WABC trugen nämlich breite glänzende Glatzen. Im Essen leistete er tatsächlich Erstaunliches. Er blieb darin unbestrittener Meister, obschon ihm eine Zeit lang dieKollegen Reinecke und Felix Schmitz ernsthafte Konkurrenz machten. Er liebte vorzugsweise reichliche und derbe Gerichte. Bereits vor meiner Zeit war ihm das Mittagessen im Hotel Gassen zu den drei Königen zu wenig und zu fade geworden, und er hatte sich die kleine Bahnhofskneipe, nach ihrer Inhaberin, einer früheren Köchin bei Gassen, Lenchen Liell, kurzweg „Bei der Lenchen“ genannt, zum Stammlokal für seine Hauptmahlzeiten mit viel Geschick und Erfolg herangezogen. Sie lag seiner Wohnung gegenüber. Er wohnte bei einer Frau Witwe Dr. Licht im Erdgeschoß, benützte dort einige Zimmer, nachdem er vorher einmal bei unserer Hauswirtin in einigen Räumen gehaust, es aber bei ihrem schwer verträglichen Wesen nicht lange ausgehalten und mit ziemlichem Krach ausgezogen war. Trotz verschiedenen Anbohrens wollte er mit Einzelheiten hierüber nie herausrücken.
Jenes Lenchen aber und deren Personal hatte er zu seiner wahren Hof- und Leibküche herangezogen. Sie war stets darauf bedacht, zur Abwechslung irgendwelche Leckerbissen von auswärts kommen zu lassen, die dann zu besonderen Schmäusen Veranlassung waren. Der Ruhm der guten Küche war eine Zeit lang so stark, daß das kleine Weinstübchen der Gastwirtschaft die Gäste kaum alle auf einmal fassen konnte und mittags in zwei oder mehreren Partien gegessen werden mußte. In den zwei Monaten meiner Junggesellenzeit habe ich selbst dort oft gegessen und als Ehemann bin ich hin und wieder mal zu Metzelsuppe mit Blut- und Leberwurst dort, wenn „wir nämlich hausgeschlachtet“ hatten, und „wir schlachten öfters mal ein Schwein“, pflegte Müller mit lustigem Augenzwinkern zu bemerken. Dazu gab es aus spitzen hohen Kelchgläsern ein dünnes helles und stets frisches Bier zu trinken, ein guter Weinschoppen fehlte ebensowenig.
Im Sommer war der Kreisschulinspektor oft wochenlang kaum zu sehen. Dann erledigte er seine Dienstreisen auf dem Hunsrück, wo er eine Unmenge von Schulen nachzuprüfen hatte. Ich meine mich zu erinnern, daß er mir gelegentlich von 211 Reisetagen im Jahr sprach. Dort wußte er seine Reisen, die ihn tagelang weitab und fern über Land führten, immer möglichst so einzurichten, daß er irgendwo für reiche Atzung seines Leibes Gelegenheit fand. Häufig fuhr er zusammen mit dem Oberförster Bauer, entweder mit dem alten Brenner, in dessen wunderbarer alter Kutsche mit den unvordenklichen Rössern oder in Wilbertz Halbverdeck mit den drallen wohlgeschonten Braunen – seinen Ferienurlaub nahm er stets im Winter und pflegte dann in irgendeine Großstadt zu verschwinden. Gelegentlich wurde er hierbei von Bekannten in Berlin aufgestöbert, und dann gab’s dort einen Bernkasteler Abend.
Sommer und Winter fehlte es nicht an abwechselnden Kneipenbesuchen. Da war Sonntag abends nach Tisch oft bis spät in die Nacht hinein ein Zusammensitzen bei Gassen, winters am runden Tisch im kleinen Zimmer, sommers auf der Terrasse links in der Ecke am reservierten Tisch. Montag abends in der Doktorweinstube. An den übrigen Abenden in der Post, bei der Lenchen und namentlich auch bei Lauers zum Bier. Am gesellschaftlichen Verkehr nahm er regen Anteil und war in allen uns bekannten Familien ein stets gern gesehener unterhaltsamer Gast bei den Abendtischgesellschaften, die in den Wintern der Jahre 1910/14 hier sehr im Flor waren. Seit dem Wegzuge einer Familie Haye (1911) hatte er keinen solchen intimen Familienverkehr mehr, wie er ihn dort im Hause gehabt hatte, wo er sich auch mit der Frau gut verstand. Ich glaube, das vermißte er später doch ein wenig. Die Damen schätzten ihn insgemein sehr. Heiratsgedanken hatte er wohl nicht und galt als hieb- und stichfester Junggeselle.
Wie auf alle Menschen, so hatte auch auf ihn der Krieg einen großen Einfluß. Ich habe es nicht vergessen, wie er mir in den ersten Augusttagen 1914 auf der Brücke begegnete und mit Rücksicht auf die bevorstehende Kriegserklärung Englands mit großer Bestimmtheit und einer Art lächelnder Sicherheit sagte: „Dann ist der Krieg in vier Wochen zu Ende.“ So fest war er davon überzeugt, daß wir gegen England nichts ausrichten würden. Es kam bekanntlich sehr anders. Leider erlebte er nur noch den Anfang unseres ernstlichen und weitaus reichenden Angriffs auf Englands Weltmacht im Februar 1917. Bei der ersten recht summarischen Musterung des Landsturms – Müller war bedeutend jünger als man nach seinem Aussehen und seinem ganzen Gehabe wissen konnte – wurde er, wenn ich mich recht erinnere, für felddienstfähig befunden, und es ging die Rede davon, der Arzt habe bei ihm von selten schönen Beinen gesprochen, als er außer anderen Krankheiten auch seine geringe Marschfähigkeit betont hatte. Sehr viel später wurde er zwar nur für garnisonsdiensttauglich befunden, doch blieb die Sache stets ein Gegenstand ernster Sorge für ihn. Im Winter 1915/1916 oder im Frühjahr 1916, ich muß damals zur Kur in Leysin gewesen sein, wurde er auch tatsächlich eingezogen und verlebte einige Tage in einer Kölner Kaserne. Hierüber sprach er nicht gern, behauptete aber, das Essen sein gut gewesen. Schließlich reklamierte ihn seine Behörde, und fortab hatte er noch weniger Bedenken. In den ersten Kriegsjahren trafen wir uns hin und wieder abends nach Tisch mit verschiedenen Leuten bei ihm bei der Lenchen zu einem Bierstrategenabend zusammen. Da sah man noch den Pfarrer Kramm als Marinesachverständigen, Kreisarzt Dr. Knoll war noch nicht im Felde und vertrat den Militärsachverständigen, Bürgermeister Reidenbach, Oberlandmesser Schulz, auch Oberschulz genannt, da er großen Wert auf seinen Amtstitel legte, ich und andere Helden. Die Kämpfe in Polen 1915 wurden dort an Hand großer Karten genau erörtert. Nicht minder die Panzerkreuzerschlacht, bei der unsere Blücher verloren ging, während die Engländer viel größere Verluste hatten. Allmählich aber lichteten sich die Reihen der wenigen Männer, die der Krieg noch in der Heimat ließ, und Franz Müller war schließlich ausschließlich auf den vorgenannten Schulz als treu gebliebenen Tischgenossen bei der Lenchen angewiesen. Diese hatte sich übrigens seit mehr als Jahresfrist zur Ruhe gesetzt, und der frühere Hausknecht von Gassen, allenthalben als der Schorsch bekannt (daß er Geiß hieß, erfuhr ich erst durch Zufall später), hatte die Wirtschaft übernommen, und Franz Müller hatte dafür gesorgt, daß auch die guten Überlieferungen möglichst treu gewahrt blieben. Auch Schorsch zog in den Krieg, und seine Frau führte die Wirtschaft weiter. Gelegentlich eines Urlaubs des Kreisarztes Dr. Knoll habe ich dort im Dezember 1916 nochmals mit Franz Müller bei einem Strategenabend zusammengesessen und ihn wohl zum letzten Mal in einer Kneipe gesprochen. Mit dem Jahre 1916 setzten allgemeine Nahrungssorgen ein, die sich gegen Ende des Jahres auch allmählich recht fühlbar bis zu uns auf dem Lande verbreiteten. Hieran trug Müller schließlich auch seinen Teil. Immerhin war er redlich bemüht, seine amtlichen Beziehungen zu Fouragierungen aller Art gründlich auszunutzen, wie er selbst betonte. Sein überraschender plötzlicher Tod machte auf seine sämtlichen Bekannten einen tiefen Eindruck. Er war in letzter Zeit regelmäßig täglich auf der Landstraße nach Lieser zu spazieren gegangen. Und dort fand man ihn am Ende des Cueser Hafens, aufs Gesicht gestürzt und tot liegend. Er war vom Schlag gerührt und vermutlich sofort gestorben. Alle Wiederbelebungsversuche, die man im Krankenhaus mit ihm anstellte, waren erfolglos. Ich hatte mir gedacht, die katholische Geistlichkeit würde ihn in aller Form bestatten, aber es kam ganz anders. Abgesehen von dem alten Oberförster Bauer verschwand mit ihm der markanteste aller Beamten von Bernkastel, die ich seit v. Hymmens Versetzung kannte. Zu dem ihm jüngst verliehenen Titel eines Schulrats und zu der damit verbundenen Rangwürde eines höheren Provinzialbeamten vierter Klasse, ihm zu gratulieren, bin ich nicht mehr gekommen. Nachdem am 19. Februar 1917 die Bernkasteler Zeitung einen ehrenden Nachruf, vermutlich von Schönberg, über ihn gebracht hatte, ergoß sich über ihn aus kleinen Seelen eine Flut schlammigen Geredes. Eines Tages hatte meine Frau mit Frau Krings gesprochen, die allerdings eine trübe Quelle für ihn war. Müller hatte mir nämlich gelegentlich ihrer Verlobung mit dem Witwer Krings davon gesprochen, daß die Braut eine intrigante Person sei und daß sie ihn nicht schätze, weil er ihr einen Wunsch auf Versetzung als Lehrerin nicht habe erfüllen können. In diesem Gerede hieß es also, er stamme von ganz kleinen Leuten, habe seine Familie stets verleugnet, sei in der Jugend evangelisch gewesen, habe mit fremdem Geld studiert, könne keinesfalls kirchlich beerdigt werden u. s. w. Kurz, wir erhielten ein schönes Spiegelbild all der kleinlichen Hetzereien, die einem Manne nachzugehen pflegen, der Theologie studiert und dann eingesehen hatte, daß ihm hierzu der Beruf fehlte. Aus einem Nachruf des Landrats war zu ersehen, daß er schon zwölf Jahre in Bernkastel Kreisschulinspektor war. Also nach dem alten Oberförster der bei weitem am längsten im Nest ansässige höhere Beamte.
Nach allerhand unerquicklichen Auseinandersetzungen wurde er auf dem evangelischen Friedhof durch einen evangelischen Pfarrer Jaenecke beerdigt, der auch am Grabe redete. Trotzdem ich nach einer leichten Blutung erst seit zwei Tagen wieder auf den Beinen war, hatte ich versucht, das Begräbnis mitzumachen, den Versuch aber wegen des überaus dicken und feuchten Nebels wieder aufgeben müssen. Erfreulicher Weise war die Beteiligung sehr groß, und es war eines der größten Begräbnisse, die ich in Bernkastel erlebt habe. Allen geistlichen Ortschulinspektoren war die Beteiligung abgepfiffen worden, und es wirkte daher etwas demonstrativ, daß der auch sonst recht unabhängig gesinnte Dechant von Bischofsthron gleichfalls mitging. Am liebsten hätte man ihn sang- und klanglos verscharrt, doch hatte Rechtsanwalt Schönberg für diesen Fall mit Krach gedroht. Ein Wittlicher Kollege hatte die Regierung in Bewegung gesetzt, und daraufhin kam wohl das evangelische Begräbnis zustande. Ob der Klerus, der dem guten Müller wegen seiner Amtsführung gewiß nicht sehr grün war, aus persönlicher Verstimmung ihm die letzte Ehre verweigerte, oder ob er ein Exempel statuieren wollte und zugleich einen streng kirchlichen Nachfolger für ihn zu erzwingen oder was sonst dahinter steckte, ist mir nicht klar geworden. Formell war der zuständige Pfarrer Schmidt natürlich gewandt genug, sich angeblich hinter einen Bescheid seines Bischofs zu verschanzen, der aber nur auf seinem Bericht beruhen konnte. Lediglich die etwa sechs Jahre ausgesetzte Nichterfüllung der kirchlichen Pflichten kann aber nicht der Grund der Weigerung gewesen sein, denn sonst hätte man meinen Mitschüler, den Landrichter Dr. Anton Thanisch, auch nicht kirchlich beerdigen dürfen. Aber – er war der Sohn einer ersten Besitzerfamilie. – So unerfreulich noch allerlei sonstige Roheiten vor dem Begräbnis waren, Heiden hatte kein Auto, um den Toten zu holen, Bauern brachten ihn auf einer Mistkarre und verweigerten eine Decke für ihn, später lag er im Krankenhaus, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte, eine Zeit lang allen Neugierigen zur Schau u. s. w., so fehlte doch auch etwas Spaßiges nicht: Der klumpfüßige Metzgerbursche Engel, vermutlich seit Jahren ein lauer Christ, erklärte, so etwas solle ihm nicht passieren und ging seitdem wieder fleißig zur Kirche. Onkel Jakob Thanisch hat mehrfach ausdrücklich bekräftigt, ihm sollten alle Pfaffen, auch die Blauen, im Tod fern bleiben.
Wegen der Amtspapiere war der Nachlaß anfänglich gerichtlich versiegelt worden. Assessor Scherer berichtete mir, welche fürchterliche Unordnung er in all seinen Sachen, ganz wie ein Student, gehabt habe. Darin war er also ein echter Junggeselle. Nichts durfte geputzt und geordnet werden, und jede Drucksache wurde bestens aufgehoben und verwahrt. Dabei hatte er natürlich sein leibliches Wohl nicht vernachlässigt, und einen recht stattlichen Vorrat von Würsten, Konserven, der zum Teil mit prächtigem Schimmel überwuchert war, fand sich. Es fand sich ein Sparbuch über viertausend Mark, das er, völlig verschwitzt, stets in einer Westentasche mit sich führte, selbst auf Reisen. Auch besaß er noch einige Kriegsanleihen.
Schönberg wußte aus seinem eigenen Munde, daß er als
Kind zweiter Ehe seines evangelischen Vaters bis zum vierzehnten Lebensjahre
offiziell in dessen Konfession, vonder Mutter aber heimlich in katholischer
Konfession erzogen worden und dann später katholisch geworden war.
Er habe dann – „zum Dank hierfür?“ später mit Unterstützung
ein katholisches Theologiestudium betrieben, habe aber nach dem Empfang
der niederen Weihen den Mangel seiner Berufung hierzu eingesehen und sei
Philologe geworden. Diese Umkehr wurde ihm natürlich in allen klerikalen
Kreisen nicht nur nicht nur für sein Leben, sondern auch noch etwas
nach dem Tode ins Debet gebucht. Nach seinem Tode erschien eine der beiden
Stiefschwestern , packte alles ein und verschwand wieder. Nachdem er bereits
drei Jahre als Oberlehrer in Duisburg gewirkt hatte, war er mit neunundzwanzig
nach Bernkastel gekommen. Etwa 1902 mußte er sein Staatsexamen in
Münster repetiert haben, ich erinnere mich auch, daß er auf
Gespräche über Sonnenburg nie hatte reagieren wollen.
Ein Gegenstück ist eine Entmündigungssache, die ich im Herbst
1919 beim Amtsgericht Rheinbach als Richter erlebte:
Als ich 1890 aufs Königliche Gymnasium kam, war es mit dem Schwänzen viel schlechter bestellt, denn im letzten der vier Schuljahre hatte ich durch Lehrer Eschweiler auf der Stiftsschule als künftiger Gymnasiast eine beonders nachdrückliche Ausbildung erhalten, gleichzeitig aber auch die größten Schwänzereien getrieben. Auf dem Gymnasium, dessen Aufnahmeprüfung mir nicht schwer fiel, war die Disziplin strenger, und bevorzugte Schüler gab es dort nicht mehr. Immerhin gab es viel Gelegenheit zu schwänzen, und keine ging vorüber, ohne benutzt zu werden. Auf der Volksschule hatte ich den Spitznamen „die Geiß“ und auf dem Pennal, wo wir untereinander Bönnsch sprachen, hieß ich der Mattes oder Mättes. Die Ferien wurden zwar nach wie vor in Olsdorf, mitunter auch bei der mütterlichen Großmutter in Heimerzheim verbracht, aber Schwänzferien nach dort gab es fernerhin nicht mehr.
Als Student lag zum Schwänzen wenig Veranlassung vor. Hin und wieder blieb ich aus einer Vorlesung weg, die mich langweilte. Aus einer allerdings aus einem ganz albernen Grunde: In einem der letzten Semester hatte ich hatte ich bei Professor Bergboohm Preußisches Verwaltungsrecht belegt. Ich ging einige Stunden hin, und obschon mir der Vortrag des Professors schon seines trockenen Humors wegen recht gut gefiel, mußte ich aussetzen, weil ich stets Lachkrämpfe bekam, und zwar wegen des grotesken Gegensatzes zwischen dem riesigen Schnauzbart und den buschigen Augenbrauen des Vortragenden, unter denen tief versteckt liegende kluge Augen hervorblinzelten, zu der hohen Stimmlage, der brüchigen Fistelstimme. Ich dachte zunächst, es sei eine vorübergehende Heierkeit bei ihm, die Sache blieb aber so, und ich brachte es trotz der größten Mühe, mein albernes Lachen zu unterdrücken, nicht fertig. Schließlich schmerzten mich meine Leibmuskeln so, daß ich schwänzen mußte. Ähnliches passierte mir in der gerichtlichen Medizin von Professor Ungar. Die eindringliche Vorführung der körperlichen Funktionen und Einrichtungen brachten meinen Magen in Aufruhr, so daß ich totenbleich das Lokal verlassen mußte. Noch im August 1916 geschah mir ein Gleiches bei einem medizinischen Lichtbildvortrag über Kriegsbeschädigungen. Es war im Gürzenich in Köln. Ich zwang mich doch, irgendwie hineinzugehen und konnte tags darauf die vorgeführten Beschädigten trotz ihrer gräßlichen Verstümmelungen mit sachlichem Interesse und ohne innere Revolution besehen.
Als Student war ich durchweg fleißig gewesen, als Referendar habe
ich wenig getan. Nach wohlbestandenem Richterexamen im Dezember 1906 begann
ein wahres Haupt- und Generalschwänzen. Diesmal war die Ursache bedenklicher.
Kurz vor der Staatsprüfung bedenklicher war ein langverstecktes Lungenleiden
in Erscheinung getreten und hatte mir zwar zum Examen die nötige Bierruhe
und Wurstigkeit gegeben, um es mit gutem Erfolg zu bestehen, aber dann
hieß es Kur machen. Und das wurde mit kurzen Unterbrechungen vom
Januar 1907 bis April 1909 besorgt, wobei ich nicht weniger als zweiundzwanzig
Monate insgesamt im Sanatorium in Arosa zugebracht habe. Die übrige
Zeit war ich zu Hause oder in Hersel, stets eifrig den Gerichtsdienst schwänzend.
Erst im Jahre 1909/1910 arbeitete ich als „Unbesoldeter“ am Amtsgericht
Bonn, nachdem ich vorher meist bei einem Notar gearbeitet und noch mehr
geschwänzt hatte. Als Assessor habe ich dann in dem einen Jahr meiner
Hilfsrichterstelle und in Bernkastel abermals im September/Oktober 1910
etliche Wochen schwänzen müssen. Desgleichen als Amtsrichter
mehrere Male (1914 und 1916). Nach Blutungen im Januar schwänzte ich
dann mit drei Monaten Hochgebirgskur in Leysin. An Zeitvertreib fehlte
es auch hierbei nicht. Die Lesewut ist immer dieselbe. Diese Aufzeichnungen
machte ich Ende Februar 1917, als ich von der Trierer Stadtbibliothek ausgezeichnete
Reisewerke über arktische Forschungsreisen von Nansen und Amundsen
erhielt und deren Inhalt mir mit demselben Behagen einverleibte, wie ich
in meiner Knabenzeit Beschreibungen über die verunglückte Franklinexpedition
als Lieblingsstoff gelesen hatte. Der Winter schien mir bei Eis und Schnee
als ein wahres Paradies, weil es für mich dann keine Kopfschmerzen
gab.
Über Nacht fiel das Wasser wieder gewaltig, allenthalben dicken rotbraunen Schlamm zurücklassend. Der wird jetzt eifrig weggeräumt. Noch aber tobt der Strom mit lautem Gebrause unter den Brückenpfeilern weg. Die fast wie in den Boden versunkenen Villenhäuser, Hospital u. s. w. stehen langsam wieder aus dem Wasser auf, und das Moselbahnhöfchen, das wie auf die Knie gesunken aussah, steht wieder ordentlich auf den Beinen. Freilich stehen noch viele Keller unter Wasser. Assessor Servais, der als Ulanenleutnant gut aussah, hatte Bernkastel aus lobenswerter Anhänglichkeit noch einmal besucht. Post und Bahn blieben aus, erst heute kam wieder die Kölnische Zeitung.
Für Schweine werden jetzt Phantasiepreise bis zu zweitausend Mark geboten, und jeder schlachtet, was er kriegen kann. Es ist ein ziemlicher Gerichtsstillstand eingetreten. Unter dem 19.1.1918 habe ich mir notiert, daß die Briefpost und die Zeitung mit einem kleinen Pferdefuhrwerk von Maintzers in Wengerohr abgeholt wird. Die Lieser war durch einen Wolkenbruch in einen rasenden See verwandelt, der Brücken und Dämme wegriß. Auf einen Kaffee, den Helene gestern mit drei Damen hatte, erzählte Frau Hauth aus Wehlen, es sein in der stürmischen Regennacht mit geschlachteten Schwarzschweinen im Werte von fast zehntausend Mark aus der Wittlicher Eifelgegend unterwegs gewesen und habe erst die eine, dann die zweite Brücke über die Lieser zerstört vorgefunden und sei endlich weit in die Berge und stundenlang in die Irre gefahren. Die den Bauer begleitende Frau habe vor Angst und Aufregung auf dieser doppelt unheimlichen Nachtfahrt greises Haar bekommen.