Abzug vom geliebten Bernkastel

Die Zurüstungen zum Umzug von Bernkastel nach Rheinbach nahmen eine geraume Zeit in Anspruch. Durch den achtjährigen Aufenthalt in Bernkastel waren wir dort doch sehr stark verwurzelt, und die Loslösung konnte nicht erfolgen, ohne daß eine Reihe dieser Wurzeln beim Herausnehmen abgerissen wurden. Mit einer gewissen Wehmut lese ich in meinem damals sehr lesbar mit fester Handschrift geschriebenen Tagebuch, das noch einige Wochen lang mit roter Tinte fest durchstrichen ist, worauf Anfang November 1918 zwei Wochen mit roten Tintenwellenlinien folgen: Ende des Krieges und Friedensschluß.

Mitte Oktober 1918 kamen die Packer ins Haus, und der Umzug begann. Ich erinnere mich, daß an einem der nächsten Tage außer den Möbelwagen am Bahnhof auch ein Güterwagen mit einer seltsamen Last befrachtet wurde: Erst kam eine Reihe Weinkisten, ferner Kisten mit Schnapsflaschen. Dieses wertvollste Gut bedurfte besonderen Schutzes, und so wurden darüber sämtliche Braunkohlebriketts gestülpt. Dann hatte ich von der Familie Thanisch einen riesigen Vorrat an geschnittenen Eichenknüppeln erhalten, Lohestangen, die ich mir selbst hatte zuschneiden lassen. Dieses Brennholz war eine riesige Fülle. Die Bohnengerten wurden mitgenommen. Die in jahrelanger Arbeit erzielte Misterde wurde in alte Heringstonnen verpackt und ebenfalls in dem Waggon mitgenommen. Kurzum, es war ein wunderliches Durcheinander darin. Die seltsame Art der Verpackung hat sich aber gelohnt, denn unterwegs versuchten Diebe eine Wagentür zu öffnen, was ihnen auch trotz des starken Eisendrahtes gelang, aber dann kamen Holz und Braunkohlen herausgepoltert, und die Diebe nahmen von ihrem Vorhaben Abstand. So kam dies alles wohlbehalten nach Rheinbach und erregte dort nicht wenig Aufsehen. Dieser Sendung war eine Eilgutsendung vorausgegangen, mit welcher die Bienen in ihren Kästen als Eilgut zu Frachtsätzen reisten. Im Gartenhäuschen der gemieteten Assistentenwohnung fanden sie ein vorläufiges Unterkommen. Wir hatten außerdem mehrere Möbelwagen mit, und die Möbel mußten in Bernkastel (muß wohl Rheinbach heißen) geschickt verteilt werden zwischen der kleinen Wohnung mit den zum Teil winzigen Wohnzimmern am Zuchthaus, einem geräumigen Platz auf dem Gerichtsspeicher und einer Speicherkammer dort. Dort haben sie dann gestanden bis zu unserem Abzug von Rheinbach nach Bonn im Jahr 1920.

Ich erinnere mich noch, daß wir vom Zuchthause aus ein Kommando bekamen, das den Waggon entladen half, der Anführer war ein robuster Kölner, der, irre ich nicht, wegen Treibriemendiebstahl-Landesverrat saß. Unter anderen muß aber auch ein belgischer General mit bei der Einkellerung geholfen haben, denn diese Sache wurde später einmal festgestellt, als dessen Sohn als Major der belgischen Besatzung sich im Zuchthaus die Zelle ansehen kam, in welcher sein Vater als General gesessen hatte. Der humorvolle Kölner aber hatte als Krafthauptwort den Ausdruck „Lot sause!“ Eine treffliche Hülfe im Hause bei diesem gar nicht leichten Umzuge war uns das Fräulein Ida Menn, der gute Geist unseres Hauses. Die beiden Kinder hatte ich nach Bonn gebracht. Herta sollte bei unseren Freunden Rechtsanwalt Schneiders, Meckenheimer Straße, und unsere Marianne bei Bruder Josef in der Bachstraße übernachten. Beide konnten sich aber nicht trennen, und die kleine Marianne setzte es durch, daß sie auch bei Schneiders zum Übernachten blieb.

In Rheinbach begann dann ein ganz neues Leben und namentlich auch ein neuer Abschnitt für unsere Versorgung. Diese war nämlich denkbar schlecht gewesen, und zu hamstern gab es in Bernkastel so gut wie nichts. Von Rheinbach aber hatten wir es nicht so weit zu den vier Pächtern des Schwiegervaters in Büllesheim, und die Versorgung wurde gleich viel besser, da sich eben damals doch manches hamstern ließ. Auch wurde nicht nur der Garten der Wohnung, sondern auch gleich ein Feldgrundstück in Angriff genommen. Die Kinder waren noch klein, und in der winzigen Wohnung halfen wir uns aufs Beste.
 

Gedanken über die weitere Disposition

Nachdem wir eineinhalb Jahre Zuchthaus abgesessen hatten, kamen zehn weitere Jahre, die ich als seelisches Exil bezeichnen möchte. Die ganze Tätigkeit in der Mühlengasse mit den Großkaufleuten war, wenn ich darauf zurückblicke, doch meinem Wesen nicht angepaßt. Und so war es selbstverständlich für mich, daß ich trotz alles äußeren Wohlergehens den Plan wieder aufgriff, zur Justiz zurückzukehren und Notar zu werden. Zurückblickend muß ich sagen, daß ich in dieser Zeit eine Unmasse Neues gelernt und sehr viel Arbeit geleistet habe. Das reichste war der Schatz an Erfahrungen, den ich sammeln konnte. Aber trotzdem und trotz der Familienzusammengehörigkeit fühlte ich mich in Köln stets in der Fremde, obwohl ich jeden Abend zu meiner Familie nach Bonn zurückkehrte und dort auch wohnte.

Nachdem Onkel Dietrich seine beste Kraft verbraucht hatte und bei mir feststand, daß er nicht mehr lange mitmachen würde, stand es für mich fest, daß ich mich doch loslösen müßte. Glücklich erreichte ich dies im Jahre 1928, auch noch zu seinen Lebzeiten. Dann kommt eine Zeit des Überganges und des Aufbaues in Bonn. 1935 feiern wir silberne Hochzeit, teils in Bonn und teils in Hersel, dann schlägt im Jahre 1936 der Blitz ins Haus ein und erschüttert meine Existenz bis zu den Grundfesten; aber auch das wird überwunden, und dann kommt nach einem tragischen jahrelangen Hinziehen endlich der Schluß: das Alter als Notar. Rückblickend auf die Mühlengasse: Ich verdanke ihr positive und negative Erfahrungen und eine Kunstsammlung.
 
 

Erste Erlebnisse in Rheinbach

Kaum hatten wir uns einigermaßen in Rheinbach eingelebt, da überstürzten sich die Ereignisse im Großen wie in Kleinen. Die Front brach zusammen, und das Reich ging in Trümmer. Etwa gegen Ende November erlebten wir die Heimkehr der Truppen, das war ein trauriger Anblick, und das feuchtdunstige Novemberwetter paßte sehr gut zu der verzweifelten Stimmung. Die Truppen hasteten mit aller Gewalt auf den Rhein zu, immer beseelt von dem Gedanken, sie könnten im letzten Augenblick noch in Gefangenschaft geraten. Manche erzählten Übles aus der Eifel, wo manche Bauern sich außerordentlich gewinnsüchtig gezeigt hatten. Wir hatten vor unserem Haus zwei Tischchen aufgestellt und boten stundenlang gekochten Kaffee den verfrorenen Truppen an, die dafür sehr dankbar waren. Mehrere Tage lang dauerte dieser Durchmarsch. Dabei gab es Quartiere, Notquartiere. Manche Mannschaften und Offiziere kamen auch in unsere kleine Behausung. Alle hatten keine Ruhe und drängten nach dem Rhein. Nachdem die letzten abgezogen, war kaum ein Tag Ruhe, und am sechsten Dezember kamen die ersten Engländer, es waren Berittene. Es war ein eigentümliches Gefühl, nach so langen glorreichen Kriegsjahren zum ersten Mal den Feind im Lande zu haben. Dazwischen kamen dann die Referendare aus dem Krieg zurück. Das Gericht wurde zunächst Quartier des Hauptkommandos der kanadischen Truppen. Anfang Dezember mußte Helene sich im Beueler Krankenhaus einer kleinen Operation durch Dr. Trebes unterziehen. Die Verbindungen über Bonn waren so schlecht, daß ich mehrere Tage nicht dahin konnte. Mir selbst war es übel, und ich hatte schon überlegt, wer mich am 18. Dezember bei der Wahrnehmung des Gerichtstages in Münstereifel vertreten sollte. Schließlich aber rappelte ich doch heraus und nahm den Termin am 18. doch wahr. Ich erlebte hierbei einen Anblick, den ich nicht vergessen werde, und wenn ich so alt werde wie Methusalem. In die kleine reizvolle alte Festungsstadt marschierten kanadische Truppen ein, ein seltsamer Anblick. Diese Kanadier waren großgewachsene Leute, glänzend verpflegt, sehr ruhig und sprachen fast kein Wort. In der Molkerei hatten sie ein Nahrungsmitteldepot, und dessen Direktor Zingsheim ließ mich gelegentlich einmal hineingucken und unter anderem zentnerschwere Schweineschinken bewundern. In der damaligen Zeit unserer Aushungerung kam uns das ganz märchenhaft vor. Vor unserem Hause frühstückende Truppen nahmen im nebligen Morgen ein Gemisch von Milch mit heißem Tee zu sich und aßen dazu dicke Weißbrotschnitten, mit Butter und Schinken belegt. Uns lief dabei das Wasser im Munde zusammen.

Am nächsten Tage, so finde ich in meinen Notizen, hatte ich Gelegenheit, um sieben Uhr schon nach Bonn zu fahren und Helene in Beuel zu besuchen. Sie freute sich darüber, und es ging ihr körperlich gut. Sie war dort gut untergebracht. Ihrem Vater, der in Bonn wohnte, war hiervon nichts gesagt worden. Willis neue Braut Frieda wohnte bei ihm, und in seinem Mißtrauen hatte er sich eingebildet, wir hätten ein Komplott geschmiedet, um ihn zu entmündigen. Wir dachten aber gar nicht daran. Es war eine aufgeregte und leidensvolle Zeit. Zwischendurch wurden Hamsterfahrten zu den Bauernpächtern unternommen und auch mancherlei von den Bauern angefahren, so zum Beispiel eine Fuhre Zuckerrüben, die wir gleich auf Kraut bei der Molkerei umtauschten, Weizen, Weißkraut u. s. w. Unsere Ernährung begann sich langsam aber sicher zu bessern. Nachdem wir vergeblich versucht hatten, behelfsweise Sitzungen im Gericht, sogar in der guten Stube des Gerichtsdieners zu halten, kamen wir auf den Gedanken, die Sitzungen im Zuchthaus abzuhalten. Das bewährte sich gut. Die Besatzungstruppen ließen uns dort in Ruhe und fanden selbst Geschmack an diesem Raume, so daß sie ihre Gerichtssitzungen auch hineinverlegten. Dadurch ergaben sich dann Möglichkeiten, daß wir zu Unrecht angeklagten Bauern bei solchen englischen Militärgerichtsverhandlungen helfen konnten.

Unvorsichtigerweise hatte ich eine Truhe mit kostbaren Geräten und Silberzeug sowie einen Schrank und ein Chaiselongue etc. zur Ausmöblierung meines Dienstzimmers verwendet. Dies wurde nun gleichfalls von den Tommys beschlagnahmt, und ich mußte sorgen, diese Sachen bald in Sicherheit zu bringen. Ich muß gestehen, ich kam mit den Engländern ganz gut aus. Sie halfen selbst mit, auch diese Möbelstücke und deren Inhalt auf dem Gerichtsspeicher zu verstauen und das Chaiselongue abzutransportieren, das sie schon zu Schlafzwecken benutzt hatten. Wir vermißten nur ein Kissen und fanden den Verlust nicht schmerzlich. Während der folgenden Zeit der Besatzung, bei der sich die Franzosen mit den Engländern ablösten, geschah mit diesen Möbeln nichts. Nur als wir im Frühjahr 1920 von Rheinbach unseren Wohnsitz nach Bonn in das elterliche Haus von Helene verlegten, passierte etwas seltsames: Die Franzosen waren auf der Suche nach Tischen und Betten, gottlob hatten wir solche nicht auf dem Gerichtsspeicher stehen. Im Übrigen halfen sie uns ganz brav, die Möbel vom Gerichtsspeicher herunterzuholen und in den Möbelwagen von Lingscheidt aus Euskirchen zu verfrachten. Dabei sträubten sich mir die Haare, als unsere Badewanne hineingeschoben wurde, da mir einfiel, daß in derselben unter einigen Decken zwei französische Karabiner lagen. Dies hatte mir mein Bruder Josef im Laufe des Krieges von der Westfront nach Bernkastel geschickt. Sie waren einmal bei der Jagd benutzt worden, und dabei wurde festgestellt, daß sie viel zu weit schossen und mordsgefährlich waren. Hätten die Franzosen sie bei dieser Sache entdeckt, so hätten wir ein übles Schauspiel erleben können.

In Bonn habe ich sie schleunigst an Bruder Josef zurückgegeben. Recht töricht benahmen sich in Rheinbach die Jäger, die alle Jagdflinten abgeben mußten. Ich hatte vergeblich angeregt, die sämtlichen Jagdwaffen mittels eines Sammeltransportes durch den Gerichtsdiener nach Hennef auf das Gericht zur Aufbewahrung in das unbesetzte Gebiet zu verschicken. Statt dessen konnte man sich hierzu nicht entschließen und mußte sie schließlich in einen Turm in Rheinbach in offizielle Verwahrung bringen, aus welcher sich die Offiziere der Besatzungstruppen später welche nach ihrem Gutdünken und Belieben heausholten. Dies wäre mir nicht passiert.

Mit den Angestellten und dem Direktor des Zuchthauses vertrug ich mich sehr gut. Wir bekamen bereitwillig Gefangene gestellt zur Bearbeitung des Gartens und zweier Grundstücke. Die Gefangenen waren sehr verschiedener Art. Die alten Zuchthausgefangenen, die lebenslänglichen u. s. w. waren schon zu Beginn des Krieges nach dem Osten weggebracht worden. Im Lauf der Kriegsjahre hatte sich das Zuchthaus mit In- und Ausländern gefüllt, die nach den Kriegsgesetzen zu Zuchthausstrafen verurteilt worden waren. Eine Zeitlang z. B. waren so viele katholische belgische Geistliche darin, daß der Verbrauch von Meßwein eine enorme Steigerung erfuhr. Unter den Belgiern, welche mir meinen Garten bearbeiteten, waren z. B. Flamen, die wegen Überschreitung einer Demarkationslinie mehrere Jahre Zuchthaus bekommen hatten. Unter den Deutschen waren welche, die in ihrem Leben sonst mit der Strafjustiz überhaupt nicht in Berührung gekommen waren, diesmal aber einen Treibriemen gestohlen hatten und deswegen wegen Landesverrats ins Zuchthaus kamen. Es waren zum Teil geschickte Handwerker darunter, die uns viel halfen, zum Beispiel ein Kölner Nix, bei dem sich herausstellte, daß er und seine Vorfahren bereits bei der Großmutter Brügelmann in Köln als Handwerker tätig gewesen waren. Es waren teilweise ganz prächtige Burschen.



 
 

Revolution und Kriegsschlußzeit

Nachstehend einige Bilder aus der Revolution und der Kriegsschlußzeit.

 

Roter Mob

Am 31. Oktober hatte ich mich in Bonn beim Landgerichtspräsidenten gemeldet und nachmittags mit Vater Reitmeister das Grab der Mutter Reitmeister besucht und einen Blumentopf eingegraben. Vom Nordfriedhof aus beobachteten wir einen starken Fliegerangriff auf Bonn. Der Himmel bedeckte sich mit den weißen Wölkchen der Abwehrgeschütze. Man sprach von einer Reihe von Toten, auch in der Meckenheimer Straße. Ich veranlaßte, die Leute, die zu einem großen Klumpen sich in die Bahnstation Nordfriedhof gesammelt hatten, auseinanderzugehen, weil diese Ansammlung die Flieger anlocken konnte. Wir gingen dann noch zu Fuß nach Hersel. Wir tranken dort Kaffee. Abends fuhr ich wieder über Bonn zur Familie nach Rheinbach zurück. Nach einer Notiz, die ich unter dem 5.11. finde, soll dieser Fliegerangriff in Bonn 27 Tote gekostet haben.

Am 7. November 1918 stürmte der rote Mob das Kölner Gefängnis Klingelpütz, und es ging wild dabei her. Ohne jede Ordnung wurde das ganze Gefängnis geleert. Am nächsten Tag erschien der aufständische Soldatenrat abends spät bei uns im Zuchthaus und beriet sich mit Direktor Trautmann. Wie ich erwartet hatte, war in der Nacht Alarm; gegen halb vier Uhr ertönte auch an unserem Häuschen die schrille Doppelklingel und zwang mich zum Aufstehen. Ich zog mich sofort an und bekleidete mich mit zwei hohen Reitstiefeln, die mir Kollege Reinecke verehrt hatte. Es war eine dunkle Nacht und alles voller Aufregung und Spannung. Zehn Mann vom Soldatenrat in Köln erschienen, um die im Zuchthaus festsitzenden Strafgefangenen zu befreien, soweit Militärstrafen in Frage kamen. Die Erschienenen waren alles junge Burschen, zum Teil in Marineuniform. Sie hatten sich zur größeren Bequemlichkeit den Wagen der Prinzessin Schaumburg in Bonn requiriert, waren alle mit Gewehren behängt und taten sich sehr revolutionär. Der Anstaltsgeistliche Rath glaubte einige alte Fürsorgezöglinge unter ihnen zu erkennen. Es war eine eigene Stimmung. Die Lellbecken benahmen sich ziemlich anständig, in den Gärten standen die Frauen der Beamten und zitterten vor Furcht und Aufregung. Ich war von vier bis sieben Uhr morgens fleißig mit dabei in der Anstalt, setzte vor allem durch, daß ein gemeiner Raubmörder, ein baumlanger Kerl, der sich zwischen die Soldatensträflinge gemischt hatte, wieder in seine Zelle eingesperrt wurde. Die einzelnen Sträflinge wurden mit Formularen entlassen und auf meine Veranlassung hin wurde der Abordnung, dem Direktor und schließlich auch noch den Befreiten ein Frühstück mit Kaffee gekocht. Endlich gegen sieben Uhr war der Zug zum Abmarsch fertig, es ging unter Gesang zur Bahn, dort sollte ein Extrawagen an einem Zuge die Befreiten aufnehmen. Dieser Wagen kam natürlich nicht, und wir standen recht lange Zeit auf dem Bahnhof. Aus der Unterhaltung mit den jungen Revolutionären ergab sich, daß diese voll der törichsten und naivsten Ideen waren. Zum Beispiel glaubten sie steif und fest, die deutsche Flotte träfe sich mit der englischen auf hoher See um sich gegenseitig zu verprügeln und dergleichen Torheiten mehr. Jede Belehrungsmöglichkeit war ausgeschlossen. Endlich kam der Personenzug, natürlich ohne Anhängewagen, und nahm die Befreiten mit, die geschlossen nach Bonn fuhren, um sich beim dortigen Soldatenrat in Feldgrau einkleiden zu lassen. Viele verkrümelten sich auch vorher und verschwanden. Einige wenige kamen tags darauf, wirklich in neue Uniformen gesteckt, und holten sich im Zuchthaus noch einige Groschen, die sie mittlerweile durch fleißige Arbeit dort verdient hatten.

Dazwischen finde ich eine Notiz, daß unsere Regierung um Milderung der Waffenstillstandsbedingungen bittet!! Es war eine schmachvolle Zeit.

Wohl im Zusammenhang mit der Aufregung, die dieser nächtliche Einbruch in unserer Zuchthausruhe verursacht hatte, starb am 17.11.1918 der Direktor Trautmann und wurde am 21. begraben. Auf diesem Begräbnis hatte ich eine interessante Unterredung mit einem Vertreter der Oberstaatsanwaltschaft in Köln, Dr. Neumann. Dieser sah sehr schwarz und war der Ansicht, daß man bald dafür sorgen sollte, ins Innere von Deutschland zu kommen, er selbst habe vor, nach Leipzig zu gehen. Mir war das unfaßbar, und ich erklärte rundweg, daß ich im Rheinlande bleiben würde, selbst wenn das Rheinland japanisch würde. Er war natürlich ein hergelaufener Jude und hatte für ein Heimatgefühl überhaupt kein Verständnis. Ob er heute noch irgendwo existieren mag?

Am 28. Januar 1919 hatten wir in Rheinbach Besuch von Oberlandgerichtsrat Kuttenkeuler, der im Auftrage des Oberlandesgerichtspräsidenten sich in Rheinbach die Gerichtsverhältnisse ansehen wollte. Es müssen tolle Gerüchte über unser Amtsgericht bis Köln gedrungen sein. Kuttenkeuler war ehrlich erstaunt zu sehen, daß der Gerichtsbetrieb überhaupt noch im Gange war und daß wir trotz fast vollständiger Besetzung der Gerichts durch die Besatzungstruppen den Betrieb des Gerichts aufrecht erhalten hatten. Ich selbst hatte Sprechstunde in Vormundschaftssachen in einem der winzigen Zimmer unseres Häuschens am Zuchthause eingerichtet, die Sitzungen fanden allerdings unter ziemlichem Ausschluß der Öffentlichkeit in einem Sitzungszimmer des Zuchthauses statt u. s. w. u. s. w. Kuttenkeuler lobte uns sehr, daß wir nicht verzweifelt, sondern weitergearbeitet hatten. Ich lud ihn zum Mittagessen in unserem winzigen Eßzimmer ein. Wir hatten gerade irgend etwas gutes zu essen, und er konnte ein kleines Päckchen mitgebrachter Butterbrote wieder mit nach Hause nehmen. Wir hatten mit ihm auch eine Unterredung mit der britischen Besatzung. Kuttenkeuler fuhr ziemlich befriedigt nach Tisch wieder heim. Ich notierte: Ein bewegter Tag.
 

Ohm Johann Rech †

Wenige Tage darauf, am 31. Januar 1919 starb im Krankenhaus in Kessenich mein Ohm Johann aus Olsdorf, der letzte Bruder meines Vaters, im Alter von 78 Jahren. Es war mir eine rechte Befriedigung, daß ich trotz der Differenzen, die ich mit ihm hatte, ihn noch wenige Tage vor seinem Tode besucht, mich mit ihm gut unterhalten und ihn durch ein mitgebrachtes Glas Honig erfreut hatte. Trotz seiner guten Kost war er zum Schluß an einer Alterstuberkulose gestorben. In dem bald nach seinem Tode eröffneten Testamente hatte er diejenigen seiner Neffen, welche nicht katholische Damen geheiratet hatten, von seiner Erbschaft ausgeschlossen. Zu diesen Enterbten gehörten auch ich und meine Brüder Josef und Johannes. Es berührte uns aber gar nicht, denn er hinterließ nicht viel. Er hatte früher einmal auf die Erbschaft nach seinem Bruder Matthias und auf die Erbschaft nach seinem Vater zu Gunsten unseres Vaters, seines Bruders, verzichtet, und so war der ganze Grundbesitz ohnehin an uns gefallen. Zu bedauern war nur, daß Fräulein Tina Krings, die Schwester meiner Schwägerin in allzu großem Eifer den schriftlichen Nachlaß des Onkels aus Gesundheitsgründen verbrannte. Darunter leider auch zwei alte Familienbücher, darinnen sich unsere Vorfahren Notizen Ihrer Familienereignisse, absonderliche Wetterverhältnisse, Wein- und Getreideernten, auch hier und da über politische Ereignisse, gemacht hatten. Es hatte immer einer aus der Bauernfamilie schreiben gelernt. Und so waren die Bücher mehrere Jahrhunderte geführt worden. Das älteste davon war in ein Pergamentblatt aus einer alten Evangelienhandschrift gebunden. Ich hatte in meiner Jugend oft in diesen Büchern geschmökert, und ich kann mit bis heute noch nicht recht vorstellen, daß sie gar nicht mehr vorhanden sind. Glücklicherweise fand ich einen Teil des Inhaltes in Abschrift in einer alten Handschrift meines Großonkels Heribert Rech, ehedem Bahnhofsgastwirt in Roisdorf, in der Wolfsburg zu Roisdorf und machte mir eine Abschrift davon.

Am 4.2.1919 wurde Ohm in Alfter begraben. Ich ging zu Fuß mit dem früheren Diener Wilhelm May nach Alfter. Es war schönes Wetter, und ein großer schöner Trauerzug brachte den Toten von seinem Hause zum Friedhof. Die Roisdorfer Verwandten waren fast alle da. Dagegen von unserer und von Lisbeths Familie war ich als einziger erschienen. Nach dem Begräbnis frühstückten wir bei Lisbeth, dann marschierten wir wieder durch Endenich zurück, von wo wir mit einem Wagen nach Hause kamen. Ich habe dann mittags bei meiner Mutter gegessen und bin nach Tisch zu Vater Reitmeister gegangen. Mit ihm, Willi und Frieda gingen wir dann auf den Nordfriedhof zu Mamas Grab und von dort zu Fuß nach Hersel. Um 5.20 Uhr ging es dann wieder zurück nach Bonn. Wir tranken eine Flasche Wein. Ich besuchte dann noch meine Mutter eine halbe Stunde und marschierte um sieben Uhr zur Bahn. Abends kam ich dann frisch wieder nach Hause in Rheinbach an. Ich muß damals doch noch sehr rüstig gewesen sein, um einen solch anstrengenden Tag gut und frisch zu überstehen.
 

Am 19. Februar starb in Rheinbach der ältere Junge des Kreisarztes Dr. Kessel, namens Hermann Kessel. Er war lungenleidend, und ich hatte ihn häufig besucht und kennen und schätzen gelernt. Er war ein stiller, netter Mensch. Ich fand ihn recht friedlich, als er gestorben war und notierte mir: „Er hat es gut, ja wahrhaftig“, nämlich, daß er diese schlimme Zeit nicht mehr mitzumachen brauchte. Vor kurzem hörte ich, daß sein jüngerer Bruder inzwischen Arzt an einem Krankenhaus in Euskirchen geworden ist.

Am 20.2.1919 fuhr ich mittags nach Bonn, besuchte meine Mutter und fuhr um 3.10 Uhr mit Vater Reitmeister nach Hersel. Fabrik und Wohnhaus waren von britischen Truppen belegt. In der Fabrik war die Ortsbadestelle und im Garten eine riesige Grube zur Kleiderentlausung. Es lagen etwa fünfzig Mann in den Fabrikräumen und auch welche in den Wohnzimmern. Wir fuhren um fünf Uhr wieder nach Bonn, ich saß abends bei Papa und kam um neun Uhr wieder heim nach Rheinbach.
 

Dienstreise und Verhaftung

Am 21. Februar hatte ich einen Gerichtstermin wahrzunehmen in der Heil- und Pflegeanstalt in Ahrweiler. Es handelte sich um die Entmündigung einer alten Dame, Gutsbesitzerin auf Hossbeld in der Eifel. Unterwegs hatte ich ein seltsames Erlebnis. Von den britischen Besatzungstruppen hatte ich auf rotem Papier einen Paß ausgestellt bekommen. Auf diesem Paß war eine Verbesserung vorgenommen und diese wohl nicht neu unterschrieben worden, das war mir selbst gar nicht aufgefallen. In Rolandseck wurde der Zug revidiert von amerikanischen Militärs. Mein Paß wurde beanstandet und ich selbst festgenommen. Kein Offizier zeigte sich, die Sache dehnte sich in die Länge, und ich wurde immer frecher. Ich radebrechte in meinem schlechten Englisch, ich sei ein hoher Richter und habe einen dringenden Termin in Ahrweiler. Der zuversichtliche Ton der jungen Unteroffiziere wurde allmählich unsicher, schließlich bat man mich, ich möchte telefonieren, man gab mich frei und setzte auf den Paß: „Dieser Paß ist gut.“ (Sis Pass is good). „De Name is changed by british.“ Mit diesem verbesserten Paß durfte ich den nächsten Personenzug besteigen, und alles wickelte sich programmmäßig ab. Bei der Rückfahrt kam ich auf den Gedanken, in Mehlem auszusteigen und die hochbetagte Tante Sophie, die am Eingang von Bad Godesberg wohnte, zu besuchen. Der Besuch war sehr lehnend (?), und ich habe die alte Tante, die nur noch wie ein Vögelchen war, noch einmal kurz vor ihrem Tode gesehen. Sie freute sich darüber mächtig. Auf dem Landwege zwischen Mehlem und Godesberg saß plötzlich auf dem Grabenrand ein amerikanischer Besatzungsposten bei einem offenen Feuer. Es war ein wunderschönes landschaftliches Bild bei schwerverhangenem und doch glänzend klarem Winterhimmel. Die Wache hielt mich an und unterwarf mich einem scharfen Examen. Ich gab auf Englisch, so gut ich konnte, Auskunft darüber, wo ich geboren war u. s. w., die Verbesserung in dem Paß war wieder Gegenstand des Argwohns, und ich verbrach folgendes Englisch: „Look in de back!“ Man sah mich erstaunt an, ich blieb ernst, und dann wurde das Papier umgedreht und die Erklärung gefunden. Ich durfte weitermarschieren. So kam ich über Godesberg glücklich wieder heim. Ich habe dieses Ereignis nie vergessen und gelernt, daß auch die Briten und Amerikaner im Beurkundungswesen peinlich sind. Ich sehe noch die traurigen Blicke meiner Mitreisenden, die mich in Rolandseck begleiteten, als ich von den fröhlichen Amerikanern abgeführt wurde.
 
 

Bienenhaus

Mitte März hatte ich mich mit Hülfe eines jungen Schreiners, der Zuchthausgefangener war, daran gemacht, ein neues Bienenhaus zu bauen. Wir gingen zu Schreiner Müllenbruck und faßten Holz und Balken, und nach einer Reihe von Zwischenfällen war das Bienenhaus glücklich am 2. April 1919 aufgestellt. Die Bienen fanden darin Platz. Das Bienenhaus wanderte später bei unserem Umzug nach Bonn mit und fand Aufstellung für einige kurze Zeit im Garten meines elterlichen Hauses bei meiner Mutter in der Bachstraße. In der dann hereinbrechenden Entwertungszeit, als ich die Bienen nicht mehr betreuen konnte, da ich täglich nach Köln fuhr und mittags nie daheim war, veräußerte ich das Bienenhaus. Auf eine Anzeige in der Rheinischen Bienenzeitung meldete sich ein Juwelenschieber (Pfalz) aus dem Idarer Gebiet. Er hatte es durchgesetzt, in der Zeit der amerikanischen Besatzung in Trier an einer Hauptstraße ein Geschäftslokal zu ermieten und sich dort ein Vermögen erworben durch einen schwunghaften Handel mit Pretiosen aller Art, meist Halbedelsteine oder Fälschungen mit den kaufsüchtigen Amerikanern, die voller Geld schwommen. Es war ihm gelungen, für seinen Sohn seinen Raub in Form eines Gutes in der Eifel anzulegen, und zur Vervollständigung benötigte er auch ein Bienenhaus. Nachdem er zunächst versucht hatte, mich mit allerhand Kuriosen und seltsamen Edelsteinen abzufinden, kam ein Tausch zustande, der für mich ganz erfreuliche Folgen hatte. Ich hatte mich von Herrn Dr. Krantz in Bonn beraten lassen, und er muß dies wohl gehört haben und bot mir eine ganze Reihe Halbedelsteine, die später auch ihren Wert behielten, während der aufgeblasene Wert des Bienenhauses in späteren Jahren arg zusammenfiel. Ich habe dann mit dem Erwerber im Laufe der nächsten Jahre noch manche Geschäfte gemacht. Er war Spezialist in indischen Zirkonen, auch guter Kenner von schlesischem Chrysopras usw. Meine Frau und unsere Töchter haben für eine Reihe von Jahren einen unerschöpflichen Schatz an Halbedelsteinen für Schmucksachen, kleiner Geschenke und Tauschzwecke gehabt. Ich besitze heute noch einige Stücke davon. Tante Maria Brügelmann habe ich durch Herrn Pfalz, der später in Stuttgart wohnte, eine riesige Hals- und Leibkette aus kleinen Amethystkugeln fertigen lassen, ein Stück, was ganz außergewöhnlich war. Leider kam es nicht dazu, daß die Kölner Verwandten das nötige Vertrauen aufbrachten, um durch mich von ihm auch möglichst gute echte Perlen zu kaufen. Sie ließen sich lieber solche durch ihren jüdischen Juwelier in Köln zum dreifachen Preis anhängen und waren fest davon überzeugt, daß ihre Perlen nicht echt seien, wenn sie nicht einen so hohen Preis hätten.

So weit Herr Pfalz mit seinen Bienen. Ob das Bienenhaus wohl heute noch besteht? Ich wurde vor einiger Zeit lebhaft daran erinnert, als ich mich an meinen alten Bienenzuchtlehrer, Bürgermeistereisekretär a. D. Kuntz in Bernkastel wandte, der mir aus seiner diesjährigen Ernte im Angedenken an die schönen alten Zeiten auch wirklich zehn Pfund Honig abließ, obwohl er schon fast alles im Sommer 1942 hatte abgeben müssen. Für nächstes Jahr aber hoffe ich auf mehr.
 
 

Erstes Zusammentreffen mit Brügelmanns

Ich hatte mich mit Onkel Dietrich Brügelmann in Köln mitunter schriftlich benommen in etwelchen kaufmännischen Fragen oder für eine bessere Versorgung seiner Schwester, meiner guten Schwiegermutter. Man kannte mich allgemein in der Familie, und am 6. März 1919 hatte ich ein Treffen mit fast allen Mitgliedern in Köln, wobei ich zu Mittag bei Onkel Dietrich aß. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie alle mich einmal besehen wollten und mit mir irgend etwas vorhatten, worüber es aber damals noch nicht zur Aussprache kam. Ich notierte mir unter dem 6.: Nachdem ich St. Cäcilien mir besehen hatte, traf ich später in der Mühlengasse die Vettern Willi, Otto, Max, Werner und dessen Frau Erna sowie Onkel Dietrich. Bei diesem blieb ich über Mittag und zum Kaffee. Ich war dann nochmals nachmittags in der Mühlengasse und konnte unter anderem noch zehn Pfund Zucker als Beute mitnehmen. Bei heftigem Regen und einer scheußlich schaukelnden Fahrt mit der Rheinuferbahn wurde es mir so schlecht, daß ich das Erbrechen eben noch anhalten konnte. In Bonn begab ich mich sofort zu Bett und schlief mich erst einmal aus. Ich besprach mich morgens mit Josef, war in der Stadt und auf dem Land gewesen. Mittags und nachmittags nochmals bei meinem Schwiegervater und um fünf Uhr nochmals zu einer Tasse Kaffee bei ihm, wobei auch Willi mit seiner neuen Braut Frieda war. Gegen sechs Uhr fuhr ich dann nach Rheinbach zurück, traf dort alles wohl an, hatte viel zu erzählen und konnte abends noch einen Stoß Akten abarbeiten. Das war das erste Vorspiel mit Brügelmann.
 

Ein Tag aus dem Leben des Rheinbacher Amtsrichters

Am 26. April 1919 stand ich um fünf Uhr auf und marschierte durch eisigen Regen und Schlackerschnee um fünf Uhr dreißig zum Bahnhof. Um sieben Uhr zwanzig war ich bereits in Münstereifel über Euskirchen. Dort wurde gewöhnlich zunächst einmal ordentlich geheizt, bis das Sitzungszimmer im Rathaus warm wurde. Dann wurden die Gerichtssachen bis elf Uhr bequem erledigt, und die Bauern konnten nach einer Erfrischung in ihre fern gelegenen Walddörfer zurückmarschieren und selbigen Tages noch nach Hause kommen, nachdem sie auch morgens in aller Frühe noch bei nachtschlafender Zeit ihren Marsch auf den Gerichtstag in Münstereifel angetreten hatten. Um zwölf Uhr war ich bereits wieder in Euskirchen und nach einem Frühstück dort um 12.45 Uhr in Großbüllesheim bei Pächter Mirbach, wo es Eier und Butter gab. Zu Weinschnaps gab es einen vorzüglichen Kaffee, dann marschierte ich nach Kleinbüllesheim zu Pächter Kröger, wo es noch Speck und Mehl gab. Dort war ... kam Weinbrand auch gelegen. Um sechs Uhr fuhr ich von Kuchenheim aus heim.

Daheim war der in der Nachbarschaft in Quartieren untergebrachte Mister Biggs von der englischen Expeditionsarmee als Sergeantmajor bei den Kindern gewesen, um Abschied zu nehmen. Er kam abends nochmals zu mir und war sehr gerührt. er marschiert mit seiner Truppe am Freitagmorgen nach Arloff. Helene, die auf Reise war, schrieb ich abends noch eine Karte. So verlief ein Tag in Rheinbach mit Besuch bei den Pächtern.
 

Die Revolte im Zuchthaus

Im meinem Tagebuch habe ich mir den 10. Januar 1920 als einen schwarzen Tag besonders vermerkt. Es war der Tag des Friedensschlusses und der Tag des Beginnes der großen Volksnot. Ich war schon früh um acht Uhr zu Vernehmungen in der Strafanstalt gewesen und hatte dadurch die allgemeine Vereidigung auf die neue Reichsverfassung versäumt, so daß ich im Laufe des Vormittags noch nachvereidigt werden mußte. Ich notierte mir: „schwunglose Sache“. Die Folgen dieses furchtbaren Friedensschlusses ließen nicht lange auf sich warten: Allenthalben in Deutschland kam es zu Aufständen, blutigen Auseinandersetzungen, Bürgerkriegen usw. Es reifte der Entschluß in mir, der Justiz den Rücken zu kehren und zu den Verwandten in Köln zur Industrie zu gehen. Dieser war schon gefaßt und die nötigen Schritte getan zur Herbeiführung eines längeren Urlaubs bzw. zur Entlassung aus dem Justizdienst. Im zeitigen Frühjahr hatte Helene eine sehr schwächende Grippe mit heftigen Hustenanfällen. Am Montag, den 22. März 1920 hatte ich vom Kreisarzt ein Attest für zwei Monate Krankenurlaub erhalten.

Ich hatte den ganzen Morgen Vernehmungen in der Anstalt. Als jüngstem der dortigen Richter lag es mir nämlich ob, die Rechtshülfegesuche der auswärtigen Gerichte und der Staatsanwaltschaften mit den Insassen des Zuchthauses zu erledigen, eine Tätigkeit, die  sehr ermüdend und stumpfsinnig war. Mit der Zeit wurde mir der Geruch der Strafgefangenen ganz widerwärtig. Trotz Ermüdung hatte ich mich nach Tisch nicht hingelegt, als sich um zwei Uhr ein entsetzlicher Lärm in der Anstalt erhob:

Ich muß nämlich vorausschicken, daß wie überall, so auch in den Zuchthäusern die Moral schwer gesunken und die Disziplin schwer erschüttert war. Die Strafgefangenen durften Zeitung lesen und rauchen. Sie lasen, daß in Essen und anderswo der rote Krieg tobte und dieser mir Maschinengewehren, Granatwerfern, Handgranaten und selbst mir Geschützen geführt wurde. Da sehnte man sich natürlich als Strafgefangener aus den Gefängnisanstalten des besetzten Gebietes hinaus, wo noch einigermaßen Ordnung herrschte. Das Herz trieb einen, über den Rhein in das unbesetzte Deutschland zu kommen, wo alles in herrlicher Freiheit durcheinanderwuselte. Mein Bruder, Arzt in Halle, hat mir später erzählt, daß er sich im Kriege selten in solcher Lebensgefahr befunden habe, wie als Arzt im roten Krieg in Halle/Saale. Dazu kam, daß unsere Strafanstalt in Rheinbach von Zuchthäuslern größtenteils entleert und dafür mit einer Überfülle von Gefängnisgefangenen überbevölkert war. Zwei Leute sollten nicht auf der Einzelzelle sitzen, und so waren die meisten Zellen mit drei Leuten belegt, über achthundert Mann in der Strafanstalt, die nach ihrem Bau nur drei- bis vierhundert faßte. Einige treibende Leute in der Anstalt hatten einen Komplott mit den Kalfaktoren gemacht, d. h. mit den gehobenen Gefangenen, welche Wärterdienste taten. Diese hatten sich der Schlüssel bemächtigt, in den Mittagsstunden die wenigen Aufseher im Innern überwältigt und eingesperrt und dann alle Einzelzellen aufgesperrt. Anstatt nun still und ruhig zu Werke zu gehen, brüllten plötzlich alle wie die wilden Tiere los, es war markerschütternd zu hören. Die Nähe eines zoologischen Gartens ist geradezu harmlos dagegen.

Infolge eines unsinnigen Befehles der Besatzungsbehörde hatten die Aufseher ihre Dienstgewehre, die sie sonst in ihre Wohnungen mitnahmen, in einem besonderen Warteraum abliefern müssen. Dieses war den Gefangenen bekannt, und es galt, die Waffenkammer zu stürmen, wobei zunächst eine Gittertür nach innen geöffnet werden mußte.

In Ahnung einer solchen Revolte hatte man das Schloß an dieser Tür geändert, so daß der normale Schlüssel nicht paßte. Dies war ein wahres Glück. Während fixe Burschen in die benachbarte Schmiede eindrangen und einen schweren Zuschlaghammer holten, mit dem sie die hölzerne Türfüllung des großen Zuchthaustores herausschlugen, hatte sich mein Nachbar, Oberaufseher Lillig, seinen Dienstrevolver umgeschlungen. Ich sehe ihn noch, wie er mit aller Hast auf das Tor zulief und zugleich durch die Luke hineinfeuerte. Der Haupträdelsführer wälzte sich, sofort mit Bauchschuß schwer getroffen, am Boden. Wir wußten genau, was uns bevorstand, denn das erste, was ausbrechende Verbrecher brauchen, ist Kleidung. Ich schloß die Läden an unserem Hause, schickte meine Frau zu Justizrat Schneider, und das Kinderfräulein mit den Kindern zum Gericht. Ein lebhaftes Schießen begann wie ein Infanteriegefecht. Ich begab mich mehrmals zur Stadt und zur Anstalt wieder zurück. Meinen Bemühungen gelang es, die französische Besatzungsbehörde auf die Beine zu bringen, endlich kamen zwei französische Militärgendarmen, die, mit Gewehren bewaffnet, gegenüber dem Zuchthaus im Grabenrande der Straße Platz nahmen. Mittlerweile hatten die Aufseher ihre Waffen geholt und trieben die Meute in den großen Kreuzbau zurück. Dreimal mußte hierbei die Zentrale erstürmt werden, von der aus man das Gebäude mit allen Korridoren übersehen kann. Bis halb vier dauerten der Kampf und das fortgesetzte Schießen; dann wurde es unheimlich still. Von der Zentrale aus, an der sich alle Flure kreuzten, hatten die Aufseher nach und nach sämtliche Insassen durch Gewehrschüsse wieder in die Zellen getrieben und die Zellen abgeschlossen. Vorher hatte alles wie die Wahnsinnigen getobt und alle erreichbaren Möbelstücke zerschmettert. Im Laufe der Nacht starben noch einige an ihren Wunden, und viele meldeten sich nicht krank, obwohl sie ernstlich verletzt waren. Ich sandte noch abends eine Depesche mit einer längeren Schilderung an die Kölnische Zeitung ab und hob darin rühmend das Verhalten unserer Beamten hervor. Es war nämlich früher oft die Rede davon, daß auf diese im Ernstfall wenig Verlaß sei. In der Praxis erwies sich das Gegenteil. Dreißig Insassen waren über die hohe Mauer gekommen und hatten sich dabei meist die Knochen verstaucht. Eine ganze Reihe wurde im Laufe des Abends wieder eingefangen. Viele waren nicht weit gekommen. Andere, die man nach dem Walde zu hatte entweichen sehen, konnten in den nächsten Tagen von den Bauern und Förstern gejagt und erwischt werden. Manche wurden der Jagd auch müde und meldeten sich freiwillig. Einige wenige hat man erst gefaßt, als sie zwischen Wesseling und Urfeld den Rhein zu überqueren versuchten. In das gelobte Land, das unbesetzte Deutschland, ist keiner von ihnen entwichen.

Bei den Ansammlungen der Strafgefangenen, welche nur während des Gottesdienstes in der Anstaltskirche stattfanden, war es schon wiederholt zu Unruhen gekommen. Die Strafgefangenen, die zwar in einzelnen Kabinen, aber beieinandersitzen, hatten Tumulte angefangen, gebrüllt, mit den Schuhen geworfen und dergleichen mehr. Der Anstaltsdirektor, der frühere katholische Geistliche der Anstalt Dr. Rath, hatte dann einmal einen Zug britischer Soldaten mit geladenen Gewehren vortreten lassen. Die Drohung, man werde sofort scharf schießen, hatte doch etwas genützt. Das waren schöne Zeiten!
 

Auch freundlichere Bilder

bieten sich uns in Rheinbach für die Zeit unseres einjährigen Zuchthausaufenthaltes. Wir hatten uns durchaus landwirtschaftlich eingestellt. Wir ernteten auch schon im ersten Jahr reichlich Früchte. Nachdem wir auf Abraten von Architekt Böhm, dem Freund und Berater unseres Schwiegervaters, davon abgesehen hatten, uns dort ein Haus für etwa 24 bis 26 Tausend Mark zu kaufen, das einen sehr netten Garten hatte (Onkel Dietrich in Köln wollte uns das Geld vorschießen, und in der Entwertungszeit hätte ich es ihm mit einigen Pfennigen zurückbezahlt), waren wir entschlossen, uns dort ein Haus zu bauen, und in diesem Entschlusse ersteigerte ich mir am 13. Januar 1920 in einer öffentlichen notariellen Versteigerung eine Baustelle am Tomberger  Weg, die ich später noch durch Zukauf auf rund einen Morgen Größe abrundete. Nach unserem Wegzug fand diese Parzelle miserable Pächter, aber tüchtige Liebhaber, und unerachtet der übrigens recht geringen Wertzuwachssteuer habe ich sie vor etwa Jahresfrist ganz günstig an einen nach Rheinbach gezogenen Alfterer Gottfried Langen verkauft und den Erlös in das neue Haus Meckenheimer Straße 62 verwendet. Es war der einzige Inflationsgewinn, den ich gemacht habe. Während im übrigen unsere 35.000 Mark Vermögen und Erspartes zum Teufel gingen.

Außer dem Bienenhaus hatten wir uns auch umfangreiche Kaninchenställe zugelegt. Diese Tiere wurden mit Unkraut, aber auch mit Hafer fleißig gefüttert, und alle Augenblicke lese ich in meinen Aufzeichnungen, daß unser Nachbar und Gefängnisaufseher Kornetzky, seines Zeichens Bürstenmacher – und so sah er auch aus – ein fettes Kaninchen für uns schlachtet. Dafür erhielt er gelegentlich ein Feldbett oder andere Kostbarkeiten. Leider habe ich ohne Erfolg versucht, ihn zum Gerichtsdiener bzw. Justizwachtmeister heranzuziehen. Er war im übrigen sehr erbötig und hat uns im Stillen viele Dienste getan. Die Hühner hatten sich vermehrt, und der Vorgarten war in ein regelrechtes Hühnergehege umgewandelt worden. Der Stall desselben befand sich in einem Kellerraum an der Decke, in welches die Hühner als Strauchvölker durch ein Kellerfenster einwechselten und fleißig ihre Eier legten. Aus einer Aufrechnung ersehe ich, daß wir bis Jahresschluß 1919 dreihundertachtzig Eier erzielt hatten. Diesen folgten noch zahlreiche in Rheinbach, etwas spärlicher wurde der Ertrag, als sie beim Umzug nach Bonn im Keller von Mama untergebracht waren, von wo sie sich ebenfalls durch ein Kellerloch in deren Garten verbreiteten und ihn prächtig verwüsteten. Trotzdem der Hinterladen abgeschlossen war, fand Mama doch Mittel und Wege, um sich als Vermieterin und stille Teilhaberin der Hühnergenossenschaft ihr Quantum Eier zu verschaffen. Wie sagt Shakespeare: „Zum Raube lächeln, heißt den Dieb bestehlen.“ Wir amüsierten uns köstlich, wie Mama die Hühner an sehr versteckte Nester im Garten zur Eiablage gewöhnt hatte.

Reiche Früchte brachte uns das Garten- und Feldgrundstück an Gemüse usw. Durch fortgesetztes Aufsuchen der Pächter waren wir auch mit Butter, Speck, Geflügel und Eiern gut versorgt. In der Beziehung war das damalige lose System jedenfalls für uns viel ergiebiger als die heutige scharfe Bewirtschaftung, die uns freilich nach der anderen Seite wieder mehr bringt. Den Bauern half ich häufig bei ihren Steuern und sonstigen Schmerzen, und das brachte jedesmal etwas ein.

Alle diese ländlichen Interessen verblaßten sehr schnell und nachdrücklich, als wir kurz nach Ostern 1920 nach Bonn umzogen. Wir hatten es durchgesetzt, daß Papa aus der Erbschaft seiner verstorbenen Frau das Haus in der Bachstraße abtrat und grundbuchlich auf Helene umschreiben ließ. Willi hatte sich erst gesträubt, war aber nachher entsprechend mit Aktien der Köln-Düsseldorfer Dampfschiffahrtsgesellschaft abgefunden worden.

Im ganzen gesehen, kommt es mir hinterher so vor, als ob wir das Schifflein unseres Lebens in dem damaligen allgemeinen Zusammenbruch nach Rheinbach in eine stillere Flußbucht hatten retten wollen. Es trieb dort zwar sehr gemächlich im Kreise, und die Wellen des großen Stromes schlugen dort etwas sanfter, aber im ganzen bestand doch die Gefahr, daß wir dort allmählich in ein Brackwasser gerieten und nicht recht vorwärts kamen. Das Schiff wurde daher gründlich überholt, ein neues Segel aufgesetzt, und mit frischem Mut fuhren wir wieder auf den großen Strom des Lebens hinaus aus der stillen Bucht und gerieten dort sofort in ein sehr lebendiges Fahrwasser. Es begann für mich die Zeit in Köln. Diese brachte insofern eine Verbesserung für die ganze Familie, als diese schon vom 9. August bis 30. September 1920 zum ersten Mal in Sommerfrische fuhr, und zwar nach Helberhausen hinter Hilchenbach in das stille und nahrhafte Siegerland, wo wir im Hause Menn bei den Eltern unserer trefflichen Ida Menn eine zweite Heimat fanden.
 

Nachklänge von Rheinbach

Zu erwähnen ist noch unser Umzug von Rheinbach nach Bonn, den wir den Burentreck nannten. Hatte uns bei Kriegsende der Justizfiskus für den damaligen Umzug die effektiv entstandenen Kosten mit 1.700 Mark bezahlt, so übernahm diesmal die Firma Brügelmann Söhne die gesamten Kosten des Umzuges. Wir ließen uns dies nicht zweimal sagen und nahmen außer den Möbeln einen derartigen Krempel mit, den wir größtenteils bei der Mutter in der Bachstraße unterbrachten, so daß sich dort die Nachbarn darüber aufregten. Außer den Bienenvölkern, Kaninchen- und Hühnerställen wurden alte Bretter aller Art, Dachpappen, Drahtgitter und was weiß ich noch alles mitgebracht. Es dauerte eine geraume Zeit, bis alles seinen Platz gefunden hatte und verstaut war.


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