Mitte Oktober 1918 kamen die Packer ins Haus, und der Umzug begann. Ich erinnere mich, daß an einem der nächsten Tage außer den Möbelwagen am Bahnhof auch ein Güterwagen mit einer seltsamen Last befrachtet wurde: Erst kam eine Reihe Weinkisten, ferner Kisten mit Schnapsflaschen. Dieses wertvollste Gut bedurfte besonderen Schutzes, und so wurden darüber sämtliche Braunkohlebriketts gestülpt. Dann hatte ich von der Familie Thanisch einen riesigen Vorrat an geschnittenen Eichenknüppeln erhalten, Lohestangen, die ich mir selbst hatte zuschneiden lassen. Dieses Brennholz war eine riesige Fülle. Die Bohnengerten wurden mitgenommen. Die in jahrelanger Arbeit erzielte Misterde wurde in alte Heringstonnen verpackt und ebenfalls in dem Waggon mitgenommen. Kurzum, es war ein wunderliches Durcheinander darin. Die seltsame Art der Verpackung hat sich aber gelohnt, denn unterwegs versuchten Diebe eine Wagentür zu öffnen, was ihnen auch trotz des starken Eisendrahtes gelang, aber dann kamen Holz und Braunkohlen herausgepoltert, und die Diebe nahmen von ihrem Vorhaben Abstand. So kam dies alles wohlbehalten nach Rheinbach und erregte dort nicht wenig Aufsehen. Dieser Sendung war eine Eilgutsendung vorausgegangen, mit welcher die Bienen in ihren Kästen als Eilgut zu Frachtsätzen reisten. Im Gartenhäuschen der gemieteten Assistentenwohnung fanden sie ein vorläufiges Unterkommen. Wir hatten außerdem mehrere Möbelwagen mit, und die Möbel mußten in Bernkastel (muß wohl Rheinbach heißen) geschickt verteilt werden zwischen der kleinen Wohnung mit den zum Teil winzigen Wohnzimmern am Zuchthaus, einem geräumigen Platz auf dem Gerichtsspeicher und einer Speicherkammer dort. Dort haben sie dann gestanden bis zu unserem Abzug von Rheinbach nach Bonn im Jahr 1920.
Ich erinnere mich noch, daß wir vom Zuchthause aus ein Kommando bekamen, das den Waggon entladen half, der Anführer war ein robuster Kölner, der, irre ich nicht, wegen Treibriemendiebstahl-Landesverrat saß. Unter anderen muß aber auch ein belgischer General mit bei der Einkellerung geholfen haben, denn diese Sache wurde später einmal festgestellt, als dessen Sohn als Major der belgischen Besatzung sich im Zuchthaus die Zelle ansehen kam, in welcher sein Vater als General gesessen hatte. Der humorvolle Kölner aber hatte als Krafthauptwort den Ausdruck „Lot sause!“ Eine treffliche Hülfe im Hause bei diesem gar nicht leichten Umzuge war uns das Fräulein Ida Menn, der gute Geist unseres Hauses. Die beiden Kinder hatte ich nach Bonn gebracht. Herta sollte bei unseren Freunden Rechtsanwalt Schneiders, Meckenheimer Straße, und unsere Marianne bei Bruder Josef in der Bachstraße übernachten. Beide konnten sich aber nicht trennen, und die kleine Marianne setzte es durch, daß sie auch bei Schneiders zum Übernachten blieb.
In Rheinbach begann dann ein ganz neues Leben und namentlich auch ein
neuer Abschnitt für unsere Versorgung. Diese war nämlich denkbar
schlecht gewesen, und zu hamstern gab es in Bernkastel so gut wie nichts.
Von Rheinbach aber hatten wir es nicht so weit zu den vier Pächtern
des Schwiegervaters in Büllesheim, und die Versorgung wurde gleich
viel besser, da sich eben damals doch manches hamstern ließ. Auch
wurde nicht nur der Garten der Wohnung, sondern auch gleich ein Feldgrundstück
in Angriff genommen. Die Kinder waren noch klein, und in der winzigen Wohnung
halfen wir uns aufs Beste.
Nachdem Onkel Dietrich seine beste Kraft verbraucht hatte und bei mir
feststand, daß er nicht mehr lange mitmachen würde, stand es
für mich fest, daß ich mich doch loslösen müßte.
Glücklich erreichte ich dies im Jahre 1928, auch noch zu seinen Lebzeiten.
Dann kommt eine Zeit des Überganges und des Aufbaues in Bonn. 1935
feiern wir silberne Hochzeit, teils in Bonn und teils in Hersel, dann schlägt
im Jahre 1936 der Blitz ins Haus ein und erschüttert meine Existenz
bis zu den Grundfesten; aber auch das wird überwunden, und dann kommt
nach einem tragischen jahrelangen Hinziehen endlich der Schluß: das
Alter als Notar. Rückblickend auf die Mühlengasse: Ich verdanke
ihr positive und negative Erfahrungen und eine Kunstsammlung.
Am nächsten Tage, so finde ich in meinen Notizen, hatte ich Gelegenheit, um sieben Uhr schon nach Bonn zu fahren und Helene in Beuel zu besuchen. Sie freute sich darüber, und es ging ihr körperlich gut. Sie war dort gut untergebracht. Ihrem Vater, der in Bonn wohnte, war hiervon nichts gesagt worden. Willis neue Braut Frieda wohnte bei ihm, und in seinem Mißtrauen hatte er sich eingebildet, wir hätten ein Komplott geschmiedet, um ihn zu entmündigen. Wir dachten aber gar nicht daran. Es war eine aufgeregte und leidensvolle Zeit. Zwischendurch wurden Hamsterfahrten zu den Bauernpächtern unternommen und auch mancherlei von den Bauern angefahren, so zum Beispiel eine Fuhre Zuckerrüben, die wir gleich auf Kraut bei der Molkerei umtauschten, Weizen, Weißkraut u. s. w. Unsere Ernährung begann sich langsam aber sicher zu bessern. Nachdem wir vergeblich versucht hatten, behelfsweise Sitzungen im Gericht, sogar in der guten Stube des Gerichtsdieners zu halten, kamen wir auf den Gedanken, die Sitzungen im Zuchthaus abzuhalten. Das bewährte sich gut. Die Besatzungstruppen ließen uns dort in Ruhe und fanden selbst Geschmack an diesem Raume, so daß sie ihre Gerichtssitzungen auch hineinverlegten. Dadurch ergaben sich dann Möglichkeiten, daß wir zu Unrecht angeklagten Bauern bei solchen englischen Militärgerichtsverhandlungen helfen konnten.
Unvorsichtigerweise hatte ich eine Truhe mit kostbaren Geräten und Silberzeug sowie einen Schrank und ein Chaiselongue etc. zur Ausmöblierung meines Dienstzimmers verwendet. Dies wurde nun gleichfalls von den Tommys beschlagnahmt, und ich mußte sorgen, diese Sachen bald in Sicherheit zu bringen. Ich muß gestehen, ich kam mit den Engländern ganz gut aus. Sie halfen selbst mit, auch diese Möbelstücke und deren Inhalt auf dem Gerichtsspeicher zu verstauen und das Chaiselongue abzutransportieren, das sie schon zu Schlafzwecken benutzt hatten. Wir vermißten nur ein Kissen und fanden den Verlust nicht schmerzlich. Während der folgenden Zeit der Besatzung, bei der sich die Franzosen mit den Engländern ablösten, geschah mit diesen Möbeln nichts. Nur als wir im Frühjahr 1920 von Rheinbach unseren Wohnsitz nach Bonn in das elterliche Haus von Helene verlegten, passierte etwas seltsames: Die Franzosen waren auf der Suche nach Tischen und Betten, gottlob hatten wir solche nicht auf dem Gerichtsspeicher stehen. Im Übrigen halfen sie uns ganz brav, die Möbel vom Gerichtsspeicher herunterzuholen und in den Möbelwagen von Lingscheidt aus Euskirchen zu verfrachten. Dabei sträubten sich mir die Haare, als unsere Badewanne hineingeschoben wurde, da mir einfiel, daß in derselben unter einigen Decken zwei französische Karabiner lagen. Dies hatte mir mein Bruder Josef im Laufe des Krieges von der Westfront nach Bernkastel geschickt. Sie waren einmal bei der Jagd benutzt worden, und dabei wurde festgestellt, daß sie viel zu weit schossen und mordsgefährlich waren. Hätten die Franzosen sie bei dieser Sache entdeckt, so hätten wir ein übles Schauspiel erleben können.
In Bonn habe ich sie schleunigst an Bruder Josef zurückgegeben. Recht töricht benahmen sich in Rheinbach die Jäger, die alle Jagdflinten abgeben mußten. Ich hatte vergeblich angeregt, die sämtlichen Jagdwaffen mittels eines Sammeltransportes durch den Gerichtsdiener nach Hennef auf das Gericht zur Aufbewahrung in das unbesetzte Gebiet zu verschicken. Statt dessen konnte man sich hierzu nicht entschließen und mußte sie schließlich in einen Turm in Rheinbach in offizielle Verwahrung bringen, aus welcher sich die Offiziere der Besatzungstruppen später welche nach ihrem Gutdünken und Belieben heausholten. Dies wäre mir nicht passiert.
Mit den Angestellten und dem Direktor des Zuchthauses vertrug ich mich
sehr gut. Wir bekamen bereitwillig Gefangene gestellt zur Bearbeitung des
Gartens und zweier Grundstücke. Die Gefangenen waren sehr verschiedener
Art. Die alten Zuchthausgefangenen, die lebenslänglichen u. s. w.
waren schon zu Beginn des Krieges nach dem Osten weggebracht worden. Im
Lauf der Kriegsjahre hatte sich das Zuchthaus mit In- und Ausländern
gefüllt, die nach den Kriegsgesetzen zu Zuchthausstrafen verurteilt
worden waren. Eine Zeitlang z. B. waren so viele katholische belgische
Geistliche darin, daß der Verbrauch von Meßwein eine enorme
Steigerung erfuhr. Unter den Belgiern, welche mir meinen Garten bearbeiteten,
waren z. B. Flamen, die wegen Überschreitung einer Demarkationslinie
mehrere Jahre Zuchthaus bekommen hatten. Unter den Deutschen waren welche,
die in ihrem Leben sonst mit der Strafjustiz überhaupt nicht in Berührung
gekommen waren, diesmal aber einen Treibriemen gestohlen hatten und deswegen
wegen Landesverrats ins Zuchthaus kamen. Es waren zum Teil geschickte Handwerker
darunter, die uns viel halfen, zum Beispiel ein Kölner Nix, bei dem
sich herausstellte, daß er und seine Vorfahren bereits bei der Großmutter
Brügelmann in Köln als Handwerker tätig gewesen waren. Es
waren teilweise ganz prächtige Burschen.
Am 7. November 1918 stürmte der rote Mob das Kölner Gefängnis Klingelpütz, und es ging wild dabei her. Ohne jede Ordnung wurde das ganze Gefängnis geleert. Am nächsten Tag erschien der aufständische Soldatenrat abends spät bei uns im Zuchthaus und beriet sich mit Direktor Trautmann. Wie ich erwartet hatte, war in der Nacht Alarm; gegen halb vier Uhr ertönte auch an unserem Häuschen die schrille Doppelklingel und zwang mich zum Aufstehen. Ich zog mich sofort an und bekleidete mich mit zwei hohen Reitstiefeln, die mir Kollege Reinecke verehrt hatte. Es war eine dunkle Nacht und alles voller Aufregung und Spannung. Zehn Mann vom Soldatenrat in Köln erschienen, um die im Zuchthaus festsitzenden Strafgefangenen zu befreien, soweit Militärstrafen in Frage kamen. Die Erschienenen waren alles junge Burschen, zum Teil in Marineuniform. Sie hatten sich zur größeren Bequemlichkeit den Wagen der Prinzessin Schaumburg in Bonn requiriert, waren alle mit Gewehren behängt und taten sich sehr revolutionär. Der Anstaltsgeistliche Rath glaubte einige alte Fürsorgezöglinge unter ihnen zu erkennen. Es war eine eigene Stimmung. Die Lellbecken benahmen sich ziemlich anständig, in den Gärten standen die Frauen der Beamten und zitterten vor Furcht und Aufregung. Ich war von vier bis sieben Uhr morgens fleißig mit dabei in der Anstalt, setzte vor allem durch, daß ein gemeiner Raubmörder, ein baumlanger Kerl, der sich zwischen die Soldatensträflinge gemischt hatte, wieder in seine Zelle eingesperrt wurde. Die einzelnen Sträflinge wurden mit Formularen entlassen und auf meine Veranlassung hin wurde der Abordnung, dem Direktor und schließlich auch noch den Befreiten ein Frühstück mit Kaffee gekocht. Endlich gegen sieben Uhr war der Zug zum Abmarsch fertig, es ging unter Gesang zur Bahn, dort sollte ein Extrawagen an einem Zuge die Befreiten aufnehmen. Dieser Wagen kam natürlich nicht, und wir standen recht lange Zeit auf dem Bahnhof. Aus der Unterhaltung mit den jungen Revolutionären ergab sich, daß diese voll der törichsten und naivsten Ideen waren. Zum Beispiel glaubten sie steif und fest, die deutsche Flotte träfe sich mit der englischen auf hoher See um sich gegenseitig zu verprügeln und dergleichen Torheiten mehr. Jede Belehrungsmöglichkeit war ausgeschlossen. Endlich kam der Personenzug, natürlich ohne Anhängewagen, und nahm die Befreiten mit, die geschlossen nach Bonn fuhren, um sich beim dortigen Soldatenrat in Feldgrau einkleiden zu lassen. Viele verkrümelten sich auch vorher und verschwanden. Einige wenige kamen tags darauf, wirklich in neue Uniformen gesteckt, und holten sich im Zuchthaus noch einige Groschen, die sie mittlerweile durch fleißige Arbeit dort verdient hatten.
Dazwischen finde ich eine Notiz, daß unsere Regierung um Milderung der Waffenstillstandsbedingungen bittet!! Es war eine schmachvolle Zeit.
Wohl im Zusammenhang mit der Aufregung, die dieser nächtliche Einbruch in unserer Zuchthausruhe verursacht hatte, starb am 17.11.1918 der Direktor Trautmann und wurde am 21. begraben. Auf diesem Begräbnis hatte ich eine interessante Unterredung mit einem Vertreter der Oberstaatsanwaltschaft in Köln, Dr. Neumann. Dieser sah sehr schwarz und war der Ansicht, daß man bald dafür sorgen sollte, ins Innere von Deutschland zu kommen, er selbst habe vor, nach Leipzig zu gehen. Mir war das unfaßbar, und ich erklärte rundweg, daß ich im Rheinlande bleiben würde, selbst wenn das Rheinland japanisch würde. Er war natürlich ein hergelaufener Jude und hatte für ein Heimatgefühl überhaupt kein Verständnis. Ob er heute noch irgendwo existieren mag?
Am 28. Januar 1919 hatten wir in Rheinbach Besuch von Oberlandgerichtsrat
Kuttenkeuler, der im Auftrage des Oberlandesgerichtspräsidenten
sich in Rheinbach die Gerichtsverhältnisse ansehen wollte. Es müssen
tolle Gerüchte über unser Amtsgericht bis Köln gedrungen
sein. Kuttenkeuler war ehrlich erstaunt zu sehen, daß der Gerichtsbetrieb
überhaupt noch im Gange war und daß wir trotz fast vollständiger
Besetzung der Gerichts durch die Besatzungstruppen den Betrieb des Gerichts
aufrecht erhalten hatten. Ich selbst hatte Sprechstunde in Vormundschaftssachen
in einem der winzigen Zimmer unseres Häuschens am Zuchthause eingerichtet,
die Sitzungen fanden allerdings unter ziemlichem Ausschluß der Öffentlichkeit
in einem Sitzungszimmer des Zuchthauses statt u. s. w. u. s. w. Kuttenkeuler
lobte uns sehr, daß wir nicht verzweifelt, sondern weitergearbeitet
hatten. Ich lud ihn zum Mittagessen in unserem winzigen Eßzimmer
ein. Wir hatten gerade irgend etwas gutes zu essen, und er konnte ein kleines
Päckchen mitgebrachter Butterbrote wieder mit nach Hause nehmen. Wir
hatten mit ihm auch eine Unterredung mit der britischen Besatzung. Kuttenkeuler
fuhr ziemlich befriedigt nach Tisch wieder heim. Ich notierte: Ein bewegter
Tag.
Am 4.2.1919 wurde Ohm in Alfter begraben. Ich ging zu Fuß mit
dem früheren Diener Wilhelm May nach Alfter. Es war schönes Wetter,
und ein großer schöner Trauerzug brachte den Toten von seinem
Hause zum Friedhof. Die Roisdorfer Verwandten waren fast alle da. Dagegen
von unserer und von Lisbeths Familie war ich als einziger erschienen. Nach
dem Begräbnis frühstückten wir bei Lisbeth, dann marschierten
wir wieder durch Endenich zurück, von wo wir mit einem Wagen nach
Hause kamen. Ich habe dann mittags bei meiner Mutter gegessen und bin nach
Tisch zu Vater Reitmeister gegangen. Mit ihm, Willi und Frieda gingen wir
dann auf den Nordfriedhof zu Mamas Grab und von dort zu Fuß nach
Hersel. Um 5.20 Uhr ging es dann wieder zurück nach Bonn. Wir tranken
eine Flasche Wein. Ich besuchte dann noch meine Mutter eine halbe Stunde
und marschierte um sieben Uhr zur Bahn. Abends kam ich dann frisch wieder
nach Hause in Rheinbach an. Ich muß damals doch noch sehr rüstig
gewesen sein, um einen solch anstrengenden Tag gut und frisch zu überstehen.
Am 19. Februar starb in Rheinbach der ältere Junge des Kreisarztes Dr. Kessel, namens Hermann Kessel. Er war lungenleidend, und ich hatte ihn häufig besucht und kennen und schätzen gelernt. Er war ein stiller, netter Mensch. Ich fand ihn recht friedlich, als er gestorben war und notierte mir: „Er hat es gut, ja wahrhaftig“, nämlich, daß er diese schlimme Zeit nicht mehr mitzumachen brauchte. Vor kurzem hörte ich, daß sein jüngerer Bruder inzwischen Arzt an einem Krankenhaus in Euskirchen geworden ist.
Am 20.2.1919 fuhr ich mittags nach Bonn, besuchte meine Mutter und fuhr
um 3.10 Uhr mit Vater Reitmeister nach Hersel. Fabrik und Wohnhaus waren
von britischen Truppen belegt. In der Fabrik war die Ortsbadestelle und
im Garten eine riesige Grube zur Kleiderentlausung. Es lagen etwa fünfzig
Mann in den Fabrikräumen und auch welche in den Wohnzimmern. Wir fuhren
um fünf Uhr wieder nach Bonn, ich saß abends bei Papa und kam
um neun Uhr wieder heim nach Rheinbach.
So weit Herr Pfalz mit seinen Bienen. Ob das Bienenhaus wohl heute noch
besteht? Ich wurde vor einiger Zeit lebhaft daran erinnert, als ich mich
an meinen alten Bienenzuchtlehrer, Bürgermeistereisekretär a.
D. Kuntz in Bernkastel wandte, der mir aus seiner diesjährigen Ernte
im Angedenken an die schönen alten Zeiten auch wirklich zehn Pfund
Honig abließ, obwohl er schon fast alles im Sommer 1942 hatte abgeben
müssen. Für nächstes Jahr aber hoffe ich auf mehr.
Daheim war der in der Nachbarschaft in Quartieren untergebrachte Mister
Biggs von der englischen Expeditionsarmee als Sergeantmajor bei den Kindern
gewesen, um Abschied zu nehmen. Er kam abends nochmals zu mir und war sehr
gerührt. er marschiert mit seiner Truppe am Freitagmorgen nach Arloff.
Helene, die auf Reise war, schrieb ich abends noch eine Karte. So verlief
ein Tag in Rheinbach mit Besuch bei den Pächtern.
Ich hatte den ganzen Morgen Vernehmungen in der Anstalt. Als jüngstem der dortigen Richter lag es mir nämlich ob, die Rechtshülfegesuche der auswärtigen Gerichte und der Staatsanwaltschaften mit den Insassen des Zuchthauses zu erledigen, eine Tätigkeit, die sehr ermüdend und stumpfsinnig war. Mit der Zeit wurde mir der Geruch der Strafgefangenen ganz widerwärtig. Trotz Ermüdung hatte ich mich nach Tisch nicht hingelegt, als sich um zwei Uhr ein entsetzlicher Lärm in der Anstalt erhob:
Ich muß nämlich vorausschicken, daß wie überall, so auch in den Zuchthäusern die Moral schwer gesunken und die Disziplin schwer erschüttert war. Die Strafgefangenen durften Zeitung lesen und rauchen. Sie lasen, daß in Essen und anderswo der rote Krieg tobte und dieser mir Maschinengewehren, Granatwerfern, Handgranaten und selbst mir Geschützen geführt wurde. Da sehnte man sich natürlich als Strafgefangener aus den Gefängnisanstalten des besetzten Gebietes hinaus, wo noch einigermaßen Ordnung herrschte. Das Herz trieb einen, über den Rhein in das unbesetzte Deutschland zu kommen, wo alles in herrlicher Freiheit durcheinanderwuselte. Mein Bruder, Arzt in Halle, hat mir später erzählt, daß er sich im Kriege selten in solcher Lebensgefahr befunden habe, wie als Arzt im roten Krieg in Halle/Saale. Dazu kam, daß unsere Strafanstalt in Rheinbach von Zuchthäuslern größtenteils entleert und dafür mit einer Überfülle von Gefängnisgefangenen überbevölkert war. Zwei Leute sollten nicht auf der Einzelzelle sitzen, und so waren die meisten Zellen mit drei Leuten belegt, über achthundert Mann in der Strafanstalt, die nach ihrem Bau nur drei- bis vierhundert faßte. Einige treibende Leute in der Anstalt hatten einen Komplott mit den Kalfaktoren gemacht, d. h. mit den gehobenen Gefangenen, welche Wärterdienste taten. Diese hatten sich der Schlüssel bemächtigt, in den Mittagsstunden die wenigen Aufseher im Innern überwältigt und eingesperrt und dann alle Einzelzellen aufgesperrt. Anstatt nun still und ruhig zu Werke zu gehen, brüllten plötzlich alle wie die wilden Tiere los, es war markerschütternd zu hören. Die Nähe eines zoologischen Gartens ist geradezu harmlos dagegen.
Infolge eines unsinnigen Befehles der Besatzungsbehörde hatten die Aufseher ihre Dienstgewehre, die sie sonst in ihre Wohnungen mitnahmen, in einem besonderen Warteraum abliefern müssen. Dieses war den Gefangenen bekannt, und es galt, die Waffenkammer zu stürmen, wobei zunächst eine Gittertür nach innen geöffnet werden mußte.
In Ahnung einer solchen Revolte hatte man das Schloß an dieser Tür geändert, so daß der normale Schlüssel nicht paßte. Dies war ein wahres Glück. Während fixe Burschen in die benachbarte Schmiede eindrangen und einen schweren Zuschlaghammer holten, mit dem sie die hölzerne Türfüllung des großen Zuchthaustores herausschlugen, hatte sich mein Nachbar, Oberaufseher Lillig, seinen Dienstrevolver umgeschlungen. Ich sehe ihn noch, wie er mit aller Hast auf das Tor zulief und zugleich durch die Luke hineinfeuerte. Der Haupträdelsführer wälzte sich, sofort mit Bauchschuß schwer getroffen, am Boden. Wir wußten genau, was uns bevorstand, denn das erste, was ausbrechende Verbrecher brauchen, ist Kleidung. Ich schloß die Läden an unserem Hause, schickte meine Frau zu Justizrat Schneider, und das Kinderfräulein mit den Kindern zum Gericht. Ein lebhaftes Schießen begann wie ein Infanteriegefecht. Ich begab mich mehrmals zur Stadt und zur Anstalt wieder zurück. Meinen Bemühungen gelang es, die französische Besatzungsbehörde auf die Beine zu bringen, endlich kamen zwei französische Militärgendarmen, die, mit Gewehren bewaffnet, gegenüber dem Zuchthaus im Grabenrande der Straße Platz nahmen. Mittlerweile hatten die Aufseher ihre Waffen geholt und trieben die Meute in den großen Kreuzbau zurück. Dreimal mußte hierbei die Zentrale erstürmt werden, von der aus man das Gebäude mit allen Korridoren übersehen kann. Bis halb vier dauerten der Kampf und das fortgesetzte Schießen; dann wurde es unheimlich still. Von der Zentrale aus, an der sich alle Flure kreuzten, hatten die Aufseher nach und nach sämtliche Insassen durch Gewehrschüsse wieder in die Zellen getrieben und die Zellen abgeschlossen. Vorher hatte alles wie die Wahnsinnigen getobt und alle erreichbaren Möbelstücke zerschmettert. Im Laufe der Nacht starben noch einige an ihren Wunden, und viele meldeten sich nicht krank, obwohl sie ernstlich verletzt waren. Ich sandte noch abends eine Depesche mit einer längeren Schilderung an die Kölnische Zeitung ab und hob darin rühmend das Verhalten unserer Beamten hervor. Es war nämlich früher oft die Rede davon, daß auf diese im Ernstfall wenig Verlaß sei. In der Praxis erwies sich das Gegenteil. Dreißig Insassen waren über die hohe Mauer gekommen und hatten sich dabei meist die Knochen verstaucht. Eine ganze Reihe wurde im Laufe des Abends wieder eingefangen. Viele waren nicht weit gekommen. Andere, die man nach dem Walde zu hatte entweichen sehen, konnten in den nächsten Tagen von den Bauern und Förstern gejagt und erwischt werden. Manche wurden der Jagd auch müde und meldeten sich freiwillig. Einige wenige hat man erst gefaßt, als sie zwischen Wesseling und Urfeld den Rhein zu überqueren versuchten. In das gelobte Land, das unbesetzte Deutschland, ist keiner von ihnen entwichen.
Bei den Ansammlungen der Strafgefangenen, welche nur während des
Gottesdienstes in der Anstaltskirche stattfanden, war es schon wiederholt
zu Unruhen gekommen. Die Strafgefangenen, die zwar in einzelnen Kabinen,
aber beieinandersitzen, hatten Tumulte angefangen, gebrüllt, mit den
Schuhen geworfen und dergleichen mehr. Der Anstaltsdirektor, der frühere
katholische Geistliche der Anstalt Dr. Rath, hatte dann einmal einen Zug
britischer Soldaten mit geladenen Gewehren vortreten lassen. Die Drohung,
man werde sofort scharf schießen, hatte doch etwas genützt.
Das waren schöne Zeiten!
Außer dem Bienenhaus hatten wir uns auch umfangreiche Kaninchenställe zugelegt. Diese Tiere wurden mit Unkraut, aber auch mit Hafer fleißig gefüttert, und alle Augenblicke lese ich in meinen Aufzeichnungen, daß unser Nachbar und Gefängnisaufseher Kornetzky, seines Zeichens Bürstenmacher – und so sah er auch aus – ein fettes Kaninchen für uns schlachtet. Dafür erhielt er gelegentlich ein Feldbett oder andere Kostbarkeiten. Leider habe ich ohne Erfolg versucht, ihn zum Gerichtsdiener bzw. Justizwachtmeister heranzuziehen. Er war im übrigen sehr erbötig und hat uns im Stillen viele Dienste getan. Die Hühner hatten sich vermehrt, und der Vorgarten war in ein regelrechtes Hühnergehege umgewandelt worden. Der Stall desselben befand sich in einem Kellerraum an der Decke, in welches die Hühner als Strauchvölker durch ein Kellerfenster einwechselten und fleißig ihre Eier legten. Aus einer Aufrechnung ersehe ich, daß wir bis Jahresschluß 1919 dreihundertachtzig Eier erzielt hatten. Diesen folgten noch zahlreiche in Rheinbach, etwas spärlicher wurde der Ertrag, als sie beim Umzug nach Bonn im Keller von Mama untergebracht waren, von wo sie sich ebenfalls durch ein Kellerloch in deren Garten verbreiteten und ihn prächtig verwüsteten. Trotzdem der Hinterladen abgeschlossen war, fand Mama doch Mittel und Wege, um sich als Vermieterin und stille Teilhaberin der Hühnergenossenschaft ihr Quantum Eier zu verschaffen. Wie sagt Shakespeare: „Zum Raube lächeln, heißt den Dieb bestehlen.“ Wir amüsierten uns köstlich, wie Mama die Hühner an sehr versteckte Nester im Garten zur Eiablage gewöhnt hatte.
Reiche Früchte brachte uns das Garten- und Feldgrundstück an Gemüse usw. Durch fortgesetztes Aufsuchen der Pächter waren wir auch mit Butter, Speck, Geflügel und Eiern gut versorgt. In der Beziehung war das damalige lose System jedenfalls für uns viel ergiebiger als die heutige scharfe Bewirtschaftung, die uns freilich nach der anderen Seite wieder mehr bringt. Den Bauern half ich häufig bei ihren Steuern und sonstigen Schmerzen, und das brachte jedesmal etwas ein.
Alle diese ländlichen Interessen verblaßten sehr schnell und nachdrücklich, als wir kurz nach Ostern 1920 nach Bonn umzogen. Wir hatten es durchgesetzt, daß Papa aus der Erbschaft seiner verstorbenen Frau das Haus in der Bachstraße abtrat und grundbuchlich auf Helene umschreiben ließ. Willi hatte sich erst gesträubt, war aber nachher entsprechend mit Aktien der Köln-Düsseldorfer Dampfschiffahrtsgesellschaft abgefunden worden.
Im ganzen gesehen, kommt es mir hinterher so vor,
als ob wir das Schifflein unseres Lebens in dem damaligen allgemeinen Zusammenbruch
nach Rheinbach in eine stillere Flußbucht hatten retten wollen. Es
trieb dort zwar sehr gemächlich im Kreise, und die Wellen des großen
Stromes schlugen dort etwas sanfter, aber im ganzen bestand doch die Gefahr,
daß wir dort allmählich in ein Brackwasser gerieten und nicht
recht vorwärts kamen. Das Schiff wurde daher gründlich überholt,
ein neues Segel aufgesetzt, und mit frischem Mut fuhren wir wieder auf
den großen Strom des Lebens hinaus aus der stillen Bucht und gerieten
dort sofort in ein sehr lebendiges Fahrwasser. Es begann für mich
die Zeit in Köln. Diese brachte insofern eine Verbesserung für
die ganze Familie, als diese schon vom 9. August bis 30. September 1920
zum ersten Mal in Sommerfrische fuhr, und zwar nach Helberhausen hinter
Hilchenbach in das stille und nahrhafte Siegerland, wo wir im Hause Menn
bei den Eltern unserer trefflichen Ida Menn eine zweite Heimat fanden.