Motto: In emptione, ventio nequem se invicem circumvenire licet.
(Pandekton.)
Blicke ich rückwärts auf die große Lebensabirrung nach Köln, so meine ich, auf einen wildbewegten Ozean hinauszublicken, und ich bin in Verlegenheit, womit ich beginnen soll. Aber frisch gewagt ist halb gewonnen, und so beschäftige ich mich zunächst einmal mit den Säulen der Firma. Die Firma hat derartig viele Säulen, daß man schon von einem Säulenwald sprechen kann und man vor lauter Säulen die einzelnen nicht mehr sieht.
Beginnen wir mit den
Es ist ein eigener Verkehr mit diesen Reisenden. Sie sind leicht zu behandeln. Um so besser verstehen sie es, ihre Kunden zu behandeln. Jeder Kunde will anders behandelt sein, und auf der Fähigkeit, den Kunden nach seiner Art richtig zu behandeln, beruht der Erfolg der Reisevertreter. Denn das Kaufen ist keineswegs eine Angelegenheit, die sich so abspielt, wie man es in der Nationalökonomie lernt. Maßgebend ist vielmehr die psychologische Beeinflussung des Kunden. Ich hatte das schon in meiner frühen Jugend und Kindheit beobachten können. Als meine Mutter das Geschäft in der Bonngasse führte, besuchten sie dort viele Reisevertreter verschiedener Firmen, und ich hatte oft Gelegenheit, derartigen Verhandlungen beizuwohnen. Dem einen wurde nichts bestellt, er mochte sich so viel Mühe geben, wie er wollte. Von einer anderen Firma kommt einer, z. B. ein alter netter Herr Marx von der Firma Friedrich Cleff in Köln. Dieser brauchte nur zu sagen, ich rate ihnen, die Ware steigt. Dann wurden ihm Manufakturstoffe abgekauft, und zwar ohne Rücksicht, ob sie gerade benötigt wurden oder nicht. Dafür sorgte er aber auch dafür, als meine Mutter mich einmal als kleinen Jungen mitnahm, daß wir bei der Firma Cleff mehrere Türe und Tore passierten, die sämtlich mit hellen und langen an einzelnen Federbändern scheppernden Glocken versehen waren. Zum Schluß vollzog sich in einem besonderen Raum eine zeremoniöse Zahlung, wobei so und so viele Prozente in Abzug kamen, wegen Vorzahlungen. Und ganz zuallerletzt wurde der alte Seniorchef, Herr Cleff, ein kleines altes Männchen, auf kurze Zeit zu einer Begrüßung vorgezeigt, es war kaum anders, als ob man den Papst im Vatikan gesehen hätte. Meine Mutter galt eben als eine prima Kundin des alten Reisenden Marx.
So geschickt und vielerfahren Onkel Dietrich Brügelmann, der Seniorchef
der Firma F. W. Brügelmann Söhne, war, in einem hatte er doch
Schiffbruch gelitten, und das gab er unumwunden zu: Es war ihm nicht gelungen,
als Reisevertreter Erfolg für seine Firma zu gewinnen. Er kam von
solchen Kundenreisen zurück und hatte richtige Klinkenangst. Es war
ihm nicht gelungen, z. B. in Bonn neue Kunden für sein Geschäft
zu gewinnen. Seinen älteren Bruder Wilhelm hatte er gebeten, ihn nie
mehr auf Reisen zu schicken, lieber wolle er Steine klopfen. Und dabei
muß er es glänzend verstanden haben, z. B. einen ländlichen
Hausierer zum Einkauf im Hause zu bestimmen und ihm Gott weiß was
alles zu verkaufen, was der Mann anfangs gar nicht hatte kaufen wollen.
Vor den Reisenden und deren Erfolgen hatte der Seniorchef aber allen
Respekt und behandelte sie mit größter Liebe und Vorsicht. Trotzdem
verstand er es ausgezeichnet, den einen gegen den anderen auszuspielen,
und die Höhe seiner diplomatischen Kunst war es, den einen Reisevertreter
im vollständigen Dunkel darüber zu belassen, zu welchem Provisionssatz
ein anderer, gegen ihn gerechnet, arbeitete. Diese Verhandlungen mit den
einzelnen Reisenden waren eine Spezialaufgabe des Seniorchefs, der er sich
mit größter Sorgfalt unterzog und sie möglichst mit jedem
einzelnen bei verschlossener Tür führte. Es war dies eine der
wenigen Verhandlungen, zu denen ich niemals zugezogen wurde. Ich kann mir
ihren Inhalt aber sehr gut vorstellen. Mit der Zeit lernte ich die auch
kennen und lernte genau erfahren, wie weit ihre Fähigkeiten gingen
und was man nicht von ihnen verlangen konnte. Gänzlich unzuverlässig
waren sie z. B. in allen Rechtssachen. Wenn man sich auf die Aussage des
Reisenden verlassen wollte, so konnte man jeden Prozeß glatt verlieren.
Denn alles, was sie daherredeten, hatte, sobald es aufs Schwören kam,
keinen Stich. Sobald überhaupt die Sache ernsthaft wurde, fielen die
Reisenden um. Und darin war der eine genau wie der andere.
Soviel ich mich erinnere, arbeiteten in der Mühlengasse etwa zwei Dutzend solcher Reisevertreter. Und da lohnte es sich schon, viele von ihnen kennen zu lernen. Jeder hatte einen anderen Vorzug. Und alle waren meist sehr bewegliche und interessante Leute. Das Reden war ihnen natürlich Bedürfnis. Und je nach ihrem Temperament entwickelten sie darin riesige Fähigkeiten. Unübertroffen, aber auch als Vortragskünstler, galt unter ihnen der Kölner Platzvertreter Martin Remagen. Er war ein hochgewachsener großer Mann voller Humor und Schlagfertigkeit. Er entstammte einer alten Kölner Metzgerfamilie, und Fastnacht stand er vor allen Dingen auf der Höhe der Situation. Er hatte eine Art und Weise, im kleinen wie im großen Kreis humoristische Vorträge zu halten, bei denen man sich halbtot lachen konnte. Die Stimmung zum Lachen war immer schon da, ehe er überhaupt mit Reden begann. Im Verkehr mit Kunden des Kölner Stadtbezirks muß er geradezu glänzend gewesen sein. Bei öffentlichen Veranstaltungen er Firma parodierte er als Vortragskünstler stets an der Spitze. Ein Auftreten von ihm in der Kölner Oper werde ich nie vergessen. Im Jahr 1921 feierte die Firma ihr hundertjähriges Bestehen. Die gesamte Firma war mit allen Familien, Freunden und Bekannten abends zu einer Festaufführung der Fledermaus in der Kölner Oper eingeladen. In der Szene, wo der Fürst sich über die Künstlerinnen unterhält, wurde eine Einlage gemacht. Herr Remagen trat auf und trug ein langes, stark gepfeffertes Gedicht auf die Firma und ihre Teilhaber vor. Es war zum Schießen. Zwischendurch ließ er sich höchst unbefangen Sekt einschenken und frischte stets von neuem auf mit freundlichen Verbeugungen gegen das gesamte Publikum, das hoch amüsiert war. Ich meine, niemals einen so tosenden Beifall je einen Opernsänger ernten gesehen zu haben.
An kaufmännischen Erfolgen, das heißt an der Höhe der Umsatzziffer gemessen, wurde er aber übertroffen von seinem Kollegen Moll. Moll war das gerade Gegenteil von Remagen. Ein schmales, listiges Gesicht mit freundlichen Augen, etwa der Typus eines wohlwollenden höheren Beamten, wohlgenährt, stets tadellos in Toilette, mit verbindlichem Lächeln. Er bereiste einen ansehnlichen Bezirk und verstand es glänzend, diesen großen und ausgedehnten Bezirk sich ausschließlich zu erhalten. Im ganzen ein kluger und sympathischer Mensch, der darauf aus war, möglichst alle Reibungsflächen zu vermeiden. Ich werde gelegentlich noch auf ihn zurückkommen.
Meine persönlichen Erfahrungen im ersten Jahr in der Mühlengasse: Sie waren zum großen Teil wenig erfreulicher Natur, aber aller Anfang ist schwer, und ich habe mich auch mit zusammengebissenen Zähnen gegen mich selbst durchsetzen müssen. Unangenehm war schon die tägliche Fahrt nach Köln und zurück. Auf der Rheinuferbahn, deren Wagenpark sich in einem schrecklichen Zustand befand. Ich hatte versucht, mir einen Dauerplatz zu erobern, und dies gelang auch ziemlich gut deshalb, weil ich stets eine viertel Stunde vor Abfahrt des Zuges meinen Platz besetzte. Allmählich gewöhnte ich mich daran, die wackelige Fahrt möglichst durch Schlaf oder Halbschlaf abzukürzen. Auf den Winter zu wurde es kalt, und die Bahn blieb ungeheizt. Tante Maria schenkte mir einen Thermophor, in dem eine leimartige Masse durch Erhitzen flüssig wurde. Das hielt dann vor. Ich schob mir das Instrument, das bald den Spitznamen Hauptbuch der Firma Brügelmann Söhne bei den Mitfahrern erhielt, unter die Füße, und diese blieben hübsch warm. Für die Rückfahrt wurde es dann wieder angewärmt, und so schleppte ich es während der kalten Wintermonate hin und her.
Mittags aß ich in der Mühlengasse, das Essen war denkbar einfach und bescheiden, ich legte auch keinen großen Wert darauf, aber betrüblich war mir, daß ich es meistens alleine einnahm. Ich hatte nie in meinem ganzen Leben mittags allein gegessen, und so kam mir das Alleinsein ungewöhnlich widerwärtig vor. Ich war froh, wenn dann und wann Fräulein Nettchen Schnorrenberg das Mittagessen mit mir teilte. Es gab meistens eine einfache Suppe, Kartoffeln und Gemüse, seltener auch Fleisch mit Soße oder einen Hering als Delikatesse. Im Gegensatz dazu war dann das Essen Montag mittags bei Tante Maria und Mittwoch mittags bei Onkel Dietrich und Tante Emma desto besser. Auch konnte ich mich dort vorzüglich unterhalten gegen die Verpflichtung, alles Wissenswerte aus der Firma zu berichten und den mit Liebe bereiteten Speisen alle Ehre zu erweisen.
Weniger angenehm waren die anfangs recht häufigen Zusammenstöße mit Otto, der mir über alles Mögliche Belehrungen erteilen wollte und den ich häufig recht häufig recht derb anfaßte. Gleichwohl sind wir mit der Zeit ganz gute Freunde geworden. Anfangs glaubte er wohl mit seiner Jurisprudenz etwas ausrichten zu können, aber dies war viel zu bescheiden, und in Rechtssachen besaß er wenig Erfahrung.
Im Ganzen war alles anfangs recht bescheiden, fast täglich arbeitete ich nachmittags bis sechs und sieben Uhr und kam abends müde und gerädert nach Hause. Dort war ich dann für die Familie auch die erste Zeit kein angenehmer Gast. Allmählich wurde es besser, ich gewann die Fähigkeit, die Bahnfahrt durch Schlaf zu überwinden und habe es jedenfalls abgelehnt, während der Bahnfahrt eine Zeitung zu lesen. Lieber duselte ich so hin und zitierte mir z. B. bei melancholischem Regenwetter die schönen Verse aus Goethes Westöstlichem Diwan, worin es (übrigens ein Gedicht der Marianne von Willemer) so schön heißt: Ach um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide usw.“ Dies Gedicht, das ich damals auswendig konnte, verhalf mir oft zu einem angenehmen Halbschlaf, während der Schnellzug durch den Regen peitschte und die Rinnsale an den Scheiben nur so herunterliefen.
Derselbe Tag war für mich denkwürdig dadurch, daß ich meine Austrittserklärung aus der Justizverwaltung absandte und den Tag über durch die Aufdeckung eines Bandendiebstahls in der Strumpfstrickerei durch Vernehmungen usw. stark in Anspruch genommen war. Anderntags ging es nachmittags in einer Konferenz der Firma sehr bewegt her, bei der namentlich Otto sich sehr heftig gebärdete. Bei Kümpers hatte D. B. nicht mehr erreicht, als daß diese eine Vergütung auf den laufenden Abschluß anboten. Diese wurde dann angenommen, und ich erinnere mich, daß sie etwa drei Vierteljahre später die gleiche Summe durch einen besonderen Boten nach Rheine zurückzahlten, was die Firma ohne weiteres annahm.
Ich erhielt abends daheim den Bescheid, daß ich am 23. mit Will
nach Süddeutschland zum Besuche der Rohweber fahren sollte. Wir fuhren
nachmittags von Deutz ab, fanden leider keinen Platz im Schlafwagen und
pennten uns so durch Baden. Morgens in Basel hatten wir sofort Anschluß
nach Lörrach, dort besuchten wir bereits in aller Frühe eine
Weberei und hatten Glück. Der Auftrag wurde nach Wunsch gestrichen.
Wir fuhren nach Fahrenau und besuchten in der Mittagshitze den Kommerzienrat
Horn. Nach Verhandlungen ging es zurück durch Sonne, Tunnel, Marsch
und Fahrt nach Thingen und von dort nach Laufenmühle. Nach Verhandlungen
wieder Fahrt durch den Schwarzwald, kamen wir abends spät nach Immendingen.
Anderntags fuhren wir früh nach Konstanz und besuchten dort bei großer
Hitze das Strohmeyerdorf, wo wir interessante Verhandlungen vor und nach
Tisch mit dem alten Geheimen Kommerzienrat Strohmeyer hatten, einem sehr
prägnanten und merkwürdigen Herrn und Persönlichkeit. Am
See aßen wir in dem zum Dorfe gehörigen Dorfkruge zu Mittag.
Nach befriedigender Verhandlung nachmittags ging es über heißen
Weg zurück nach Konstanz. Will war dabei stets am Umdisponieren, er
konnte diese Reise nicht schnell genug erledigen, weil es ihn nach Hause
trieb. Und so bestellten wir die schon belegten Zimmer im Insel-Hotel wieder
ab, zu meinem großen Verdrusse, denn ich hatte mich auf diese Ruhe
schon gefreut. Nachmittags von drei bis fünf Uhr ging die Fahrt über
den Bodensee nach Friedrichshafen, und abends waren wir im Russischen Hof
in Ulm. Anderen Morgen trennten wir uns. Will ging zu den großen
Webern nach Augsburg, und ich fuhr nach Schelklingen, wo ich allein mit
Erfolg bei einer Firma Urspring verhandelte. Ein Gasthaus zum Rösel
(Rössel?) ist mir noch in Erinnerung, auch ein Spaziergang zum Kloster
Urspring mit seiner Klosterschänke. Mittags war ich dann wieder in
Ulm, nachmittags in Neu-Ulm, und abends traf ich Will wieder in Stuttgart,
wo wir im Hotel Marquard abstiegen. Der nächste Tag, ein Sonntag,
war Ruhetag. Will benutzte ihn zur Ausarbeitung seiner Festrede, die er
am nächsten Donnerstag zu halten gedachte. Ich verabredete mich einem
Klaus Hoffmann und war mit ihm nachmittags im Restaurant des Künstlerhauses
zusammen. Hernach zeigte mir Will den Neubau des großen Stuttgarter
Hauptbahnhofes, der eben im Rohbau neu fertig geworden war und ganz bedeutende
Formen und Raumverhältnisse aufwies. Hoffmann selbst war ein Schüler
des Erbauers Bonnartz. Die Besichtigung dieses Bahnhofs blieb mir in dauernder
Erinnerung. Am anderen Morgen ging es wieder in aller Frühe nach Ebersbach
an der Fils, dort wurde so gut wie nichts erreicht, in einem ländlichen
Gasthaus aber gut zu Mittag gegessen. Bei großer Hitze nachmittags
wieder in Stuttgart, wobei ich nachmittags Will abholte, der in Reutlingen
gewesen war. Wir tranken zusammen noch Kaffee und fuhren noch bis Mühlacker
zusammen, von wo er nach Karlsruhe und ich nach Frankfurt fuhr. Ich war
ordentlich froh, als ich ihn los war, denn er hatte mir ein bißchen
reichlich disponiert. Abends besuchte ich Bruhns in Frankfurt, bei denen
ich die Nacht logierte und den anderen Tag zusammen verbrachte. Wir aßen
mittags auf meine Einladung gut im Theaterrestaurant und waren nachmittags
im Zoologischen Garten zusammen. Im Abendzug traf ich wieder Will, so daß
wir zusammen, ich nach Bonn und er nach Köln fuhren. Das war am Vorabend
des Firmenfestes.
Andern Morgen ging es dann wieder frisch in Köln an die Arbeit, und ein Amtsgerichtsrat Klein, der sich bei mir nach Rheinbach hatte erkundigen wollen, traf mich in Bonn schon nicht mehr an. Nachdem man meine schriftstellerische Begabung beobachtet hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß ich der Historiograph der Firma wurde, und als solcher schrieb ich dem Onkel DB zu Weihnachten einen Panegyrikus über das wohlgelungen Firmenfest, dessen Abschrift ich noch aufbewahre. Unter den vielen Reden, die im Gürzenich morgens gehalten wurden, ist mir eine im Gedächtnis geblieben: die von Tripp aus Elberfeld, dem geistvollen Vertreter der großen Thüringer Wollspinnerei in Leipzig. Das Auf und Ab eines Handelshauses an Hand der schönen Verse
Daneben liefen damals noch Pläne, die Deutzer
Fabrik von der englischen Besatzung freizubekommen oder ein sonstiges passendes
Fabrikgebäude für die Strumpfstrickerei zu kaufen oder zu mieten.
Mit Vetter Werner und Hans Pabst fuhr ich mehrfach mit dem Auto tief ins
Bergische Land. Ich sah viel Neues und manche prächtige Landschaft.
Gottlob führten die meisten Bemühungen zu nichts. War es heute
ein mit mäßiger Wasserkraft arbeitender Fabrikbau in Bruchermühle
bei Engelskirchen, für welchen dessen Besitzer vergnügt eine
runde Million forderte, so war morgen die Idee, die in Sachsen lagernden
sehr wertvollen Maschinen in eine Gesellschaft einzubringen oder zu verkaufen.
Mit zur Zeit noch laufenden Lohnstrickereien hatte man auch bereits üble
Erfahrungen gemacht. Ein tüchtiger Strickermeister Lingemann wurde
zur Zeit fast als überflüssiger Mitesser empfunden. Alle diese
Pläne führten später zum Neubau der Strickerei in Deutz.
In der Handelskammer traf ich Papst und ging mit ihm auf seinen Rat zu einer Reichsstelle für Ein- und Ausfuhr in der Hermannstraße. Es war ein schreckliches unaufhörliches Türengeklapper dort. In einem Raum arbeiteten wohl an vierzig Menschen. Ein Zerrbild auf die Folgen und die Reste des Krieges. Ein tolles Durcheinander von Kriegsbeschädigten, ehemaligen Offizieren, Judenbengels, Tippmamsells usw. In einem düster graugrünen Saal der Handelskammer langweilten wir uns bis gegen fünf Uhr in einer so gut wir ergebnislosen Verbandssitzung und marschierten dann in einer geschlossenen Rheinländergruppe in ein Schlemmerlokal Töpfer, wo wir ganz vorzüglich aßen. Cordes und ich waren vorausgegangen und hatten bestellt. Trotz großer Hitze hatten wir gegen Abend noch eben Zeit, uns eine Stunde bei Wertheim mit kaufmannskundigen Augen umzusehen. Ich machte Papst auf den Teppichraum aufmerksam, der ihm noch nicht bekannt war und der vielleicht den schönsten deutschen Verkaufsraum darstellt. Wir berechneten, daß nach dem heutigen Preissturz sich an den darin aufgestapelten Waren allein schon eine Million Verlust ergeben müsse. Nachdem wir das Gepäck auf den Bahnhof Zoo gebracht und uns an einem Glase Bier erquickt hatten, fuhren wir nach dem Lunapark hinaus, einem tollen Rummelpark, wo wir uns bei einem leckeren Böwlchen zur Feier meines Amtsgerichtsrats zusammenfanden.
Nachts brachte uns der Schlafwagen wieder nach Köln, und schlief feste durch.
Den nächsten Tag in Köln überraschte
uns die Verhaftung Werners durch die Briten, für die sich aber bald
eine Lösung fand. Andern abends saß ich bei meiner Mutter im
Garten und aß leckere schwarze Kirschen.
Ein Spiegelbild dieses geistigen Exerzierens bildet mein großer Schreibtisch: komme ich morgens in mein Arbeitszimmer, so liegt zunächst noch still und unverdächtig ein kleines Häufchen Papiere auf meiner grünen Mappe, bald fliegt es auseinander, von allen Seiten regnen Aktenstücke auf den Schreibtisch, und bald ist die Arbeit des Sichtens, Ordnens und Abfertigens und dann die Briefansagerei im Gange, und so geht es durch die Stunden, daß diese im Handumdrehen entschwinden. Oft genug ist die Mittagsstunde so überraschend schnell da, daß ich nicht Zeit finde, Steuern- und sonstige Geheimakten in den besonderen Schrank zu schließen, den Tisch aufzuräumen und die große Rollschiebe an der Aktenregistratur herabzuziehen. Dann wird die Tür abgeschlossen, der Schlüssel in die Tasche gesteckt, um vor jedem Überfall der Scheuerweiber sicher zu sein. Mit dem Glockenschlag des Geschäftsschlusses erscheinen diese nämlich, kaum daß das kaufmännische Personal abgerückt ist, fangen sofort an zu räumen, Staub zu wischen, den Boden zu putzen. Ununterbrochen sind ihrer drei bis vier im Hause beschäftigt und das alles mit genauer Stundenarbeitseinteilung. Auch sie könnten als Symbol der nachputzenden ewigen geistigen Aufräumungsarbeit gelten.
Das Geschäft arbeitet, wie Will mir neulich erzählte, mit der Präzision eines Uhrwerks. Bis Beginn Oktober 1920 sind seit Mai rund zwanzig Millionen Mark liquidiert worden. Trotz des großen Preissturzes und der lange anhaltenden Stockung des Absatzes eine ganz erstaunliche Leistung, die ich zur Zeit weder in ihrer Ursache noch in ihre vollen Bedeutung zu überschauen vermochte. Dabei sind die Bankverbindlichkeiten wieder auf ein normales Maß heruntergedrückt und sogar schon bedeutende Außenstände bei der Kundschaft vorhanden. Es ist eine allgemeine Lohnbewegung im Gange. Das geradezu ungeheuerlich gestiegene Einkommen der Reisenden hat eine kleine Palastrevolution im Hause der Firma ausgelöst. Ich selbst habe es verstanden, mein Gehalt von fünfundzwanzig- auf sechsunddreißigtausend Mark zu erhöhen. Die Folgen sind offenbar. Schon sind unsere Handwerker dabei, im Hause Bachstraße eine elektrische Lichtleitung zu schaffen. Eine Notwendigkeit, denn der ewige Kämpf mit der Dunkelheit wurde von uns bisher mit Streichhölzern, kleinen Petroleumlämpchen und einigen wenigen Gasflammen geradezu kümmerlich geführt. Leider haben wir es verabsäumt, uns rechtzeitig mit Braunkohlenbriketts einzudecken, und wir sind derartig knapp mit Kohlen, daß wir trotz der empfindlichen Herbstkälte keinen Ofen brennen und frieren, wenn uns die Sonne im Stich läßt.
Es hat sich allmählich der Brauch herausgebildet,
daß ich zweimal in der Woche mittags bei den Kölner Verwandten
esse, nämliche Montags bei Tante Maria und Mittwochs bei Onkel Dietrich
und Tante Emma. Bei beiden schließt sich eine kurze Rast nach Tisch
und eine Tasse Kaffee an. Während ich bei Tante Maria häufig
geistige Erquickung durch angenehme Gespräche über gemeinsame
Lektüre usw. finde, wird bei Onkel Dietrich meistens Geschäftliches
und nur selten Familiäres besprochen.
Durch ein schmales Gäßchen werfe ich allmorgendlich einen Blick auf einen Ahornbaum, der da schlank und rank an seines Fußes Wurzel steht. Wie lange hat er bis in den Winter hinein auf seinem zu höchst emporgereckten Finger an den Astspitzen drei goldene Blättlein festgehalten, die im Herbst die Frühsonne stets in leuchtendem Gold aufblitzen ließ, als ringsum noch alles in schläfrigem Schummer lag. Selbst der Frost im November - Dezember, der den Baum durch Stein und Bein fror, vermochte ihm nicht jene goldenen Blättchen aus den verkrampften Spitzen zu reißen, und erst das lauliche Wetter um Weihnachten löste dem Baum die Finger und die letzten Blättchen wirbelten weg. Jetzt steht der Baum mit seinen Ästen in einem schwellenden Licht, die lange Feuchte und Wärme täuschen ihm den Frühling vor, und gar zu gern möchte er losbrechen und seine Knospen vorzeitig öffnen. Wie ein Graspflock oder eine kleine Krautstaude steht er unten am Fuß des Riesen, der ihn gar wohl kennt und gegen wütenden West- und Südwind schützend deckt. –
Eines morgens war ich im Winter in einer Seelenmesse in der alten Abteikirche.
Draußen dunkle Nacht, drinnen strahlendes Licht elektrischer Lampen.
Die wohlige Weite und Größe des Raumes kam mir ganz anders als
bei Tage zum Bewußtsein und mit einem Schlage erkannte ich, daß
diese altdeutschen romanischen Kirchen bei Innenbeleuchtung genommen werden
müssen. Tatsächlich wurden die großen Gottesfeiern in ihnen
bei Fackel und sonstiger Kunstbeleuchtung abgehalten, wodurch mancher Brand
entstanden sein mochte. Geraume Zeit später war ich mittags im Dom,
er kam mir beängstigend eng und schmalbrüstig im Innern vor und
ich mußte so weit vorgehen, daß ich einen Blick ins Querschiff
gewann um erst recht wieder Luft schnappen zu können. Dort freilich
war der hochstrebende Chor erhebend, und ich konnte glauben, mit einem
Engel an der Hand wie der Baumeister auf Schwinds Märchenbild längst
den Streben durch den Raum zu schweben. – Aber die ewige Wiederholung des
Chores im Langschiff ist ermüdend; ich hätte das Langhaus kühn
als riesigen Hallenbau mit 3 oder 5 Schiffen gebaut, unbekümmert darum,
ob das Äußere denn so mathematisch korrekt sich hätte lösen
lassen. ––
Im Kölner Rathaus lernte ich am 22.1.1921 den Beigeordneten Willi Cleff bei einer Dienstbesprechung kennen.
Am 31. Januar 1921 hatten Will und Änne ihren großen Schrecken mit Ilses Erkrankung an Kinderlähmung? Anschließend daran offenbarte mir Will am 28.2.21 einen tiefen Einblick in seine Familienverhältnisse.
Am 22.2.21 wurde die Sanierung der Fa. Friedrich Cleff erwogen. Weihnachten 1921 feierten wir in der Bachstraße in bedeutend verbessertem Hause.
Im Juni 1921 brachte ich den Geschäftsvertrag für die nächsten zehn Jahre zustande, in dem sich Otto für seinen Sohn die Anwartschaft auf Nachfolger der Firma erkämpft hatte. Zu seiner Freude wurde ihm zu seinem 35. Geburtstag ein Söhnchen geboren, über dessen Vornamen es nicht ohne heftige Auseinandersetzung in der Mühlengasse herging. Denn Wills älterer Sohn, der zwar Friedrich Wilhelm heißt, führt unvorsichtigerweise den Moderufnamen Gerd, so daß Otto sich für berechtigt hielt, seinen Sohn Friedrich Wilhelm, genannt Fritz, zu nennen. Man einigte sich dann auf Johann Wilhelm, genannt Jean.
Werner B. bekam einen zweiten Sohn Claus, dessen Taufe Helene und ich
an einem herrlichen Sommertage mitmachten. Grete Riesen bekam ebenfalls
einen zweiten Jungen namens Wolfgang. Sie wohnten von da ab bei der Großmutter
in der Wörthstraße. Heute muß ich zu meiner Betrübnis
berichten, daß die Eltern sich auseinandergelebt und getrennt haben
und der junge Wolfgang in Stalingrad fiel.
Ich war schon acht Jahre lang Richter, als ich erstmals in Rheinbach
eine Abteilung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zu bearbeiten bekam
(1918). Krieg und zahlreiche Vertretungen hatten diese Abteilung stark
verwüstet. Sie lag noch voller alter Schinken, die ewig mit matten
Beweisbeschlüssen und ähnlichen untauglichen Mitteln am Leben
gehalten , anstatt mit einem kurzen scharfen Schnitt zur Ruhe gebracht
waren. Aus dem Felde heimkehrende schon ältere und lebenserfahrene
Referendare halfen mit frischem Eifer den Stall auszufegen, und ich lehrte
sie die Sache stets zunächst vom rein menschlichen und praktischen
Standpunkt anzufassen und eine Entscheidung ohne Paragraphen kurz und knapp
so zu fassen, daß ein Bauer des Kreises sie verstehen konnte. Mein
Leitmotiv war: Versteht er es nicht, so schimpft er mit Recht, und der
Richter ist im Unrecht. Besonders aber arbeitete ich auf eine vergleichsweise
Erledigung alter verjährter Rechtsstreitigkeiten hin. Die Kollegen
staunten, daß die Höchstzahl von siebenundvierzig Vergleichen
in einem Jahr von mir in zehn Monaten um das Doppelte überholt wurde,
und dabei machte ich die Erfahrung, daß es nicht schwierig ist, einen
Vergleich zu schließen, wenn man den eigentlichen, familiären
oder wirtschaftlichen Streitpunkten auf den Kern geht, unbekümmert
um die rechtliche Verbrämung, die ihm gewisse Parteien und Sachwalter
geben. Die Rücksprache mit der Partei, bald schonend und humorvoll,
bald auch mitunter scharf und in öffentlicher Verhandlung, gibt uns
bald alle nötigen Aufschlüsse. Wird um eine Strohlieferung prozessiert,
so hatte ich bald heraus, daß ein entliehener Hamen die Ursache dieses
vom Zaune gerissenen Rechtsstreits war. Der nicht zurückgegebene Hamen
aber stand im Zusammenhang mit einer früheren Freundschaft oder einem
Liebesverhältnis der beiderseitigen Kinder der Parteien. Eine gründliche
Aussprache über alle diese prächtigen alten Sachen schafft dann
stets eine neue Luft, in der richtig angebrachte Vergleichsvorschläge
auf fruchtbaren Boden fallen. Nur eines ist nicht zu vergessen: Dem im
Prozeß formell nicht, in der Sache aber um so mehr beteiligten Frauen
muß ausgiebig Gelegenheit geboten werden, sich gegenseitig ihr Herz
vor dem Richter und dem Publikum gründlich auszuschütten. So
war ich stets bestrebt, diese seelische Ausmistung sich möglichst
gründlich vollziehen zu lassen, wozu allerdings außer Zeit und
Geduld auch gelegentlich ein bald geringeres, bald stärkeres Anfeuern
nötig ist. Plötzlich ergreife ich dann als Prozeßrichter
wieder die Führung, und schon fährt der Karren aus dem holprigen
und jeden Augenblick mit Umsturz drohenden Prozeßweg in die glatte
Vergleichsstraße ab.