Teil 6


Zweites Buch

Das Mannesalter


Motto: In emptione, ventio nequem se invicem circumvenire licet. (Pandekton.)

Blicke ich rückwärts auf die große Lebensabirrung nach Köln, so meine ich, auf einen wildbewegten Ozean hinauszublicken, und ich bin in Verlegenheit, womit ich beginnen soll. Aber frisch gewagt ist halb gewonnen, und so beschäftige ich mich zunächst einmal mit den Säulen der Firma. Die Firma hat derartig viele Säulen, daß man schon von einem Säulenwald sprechen kann und man vor lauter Säulen die einzelnen nicht mehr sieht.

Beginnen wir mit den

Reisenden.

Die Firma hat eine Menge Reisevertreter, die zum Teil mit eigenem Wagen, zum Teil nur mit Koffern und Handtaschen bewaffnet, Woche für Woche in das Rheinland hinausziehen und die Einzelhändler aufsuchen. Gegen Ende der Woche kommen sie zurück, und jeden Samstag ist eine große Konferenz der Reisenden, zu deren Anführer sich allmählich Otto Brügelmann durchgearbeitet hatte.

Es ist ein eigener Verkehr mit diesen Reisenden. Sie sind leicht zu behandeln. Um so besser verstehen sie es, ihre Kunden zu behandeln. Jeder Kunde will anders behandelt sein, und auf der Fähigkeit, den Kunden nach seiner Art richtig zu behandeln, beruht der Erfolg der Reisevertreter. Denn das Kaufen ist keineswegs eine Angelegenheit, die sich so abspielt, wie man es in der Nationalökonomie lernt. Maßgebend ist vielmehr die psychologische Beeinflussung des Kunden. Ich hatte das schon in meiner frühen Jugend und Kindheit beobachten können. Als meine Mutter das Geschäft in der Bonngasse führte, besuchten sie dort viele Reisevertreter verschiedener Firmen, und ich hatte oft Gelegenheit, derartigen Verhandlungen beizuwohnen. Dem einen wurde nichts bestellt, er mochte sich so viel Mühe geben, wie er wollte. Von einer anderen Firma kommt einer, z. B. ein alter netter Herr Marx von der Firma Friedrich Cleff in Köln. Dieser brauchte nur zu sagen, ich rate ihnen, die Ware steigt. Dann wurden ihm Manufakturstoffe abgekauft, und zwar ohne Rücksicht, ob sie gerade benötigt wurden oder nicht. Dafür sorgte er aber auch dafür, als meine Mutter mich einmal als kleinen Jungen mitnahm, daß wir bei der Firma Cleff mehrere Türe und Tore passierten, die sämtlich mit hellen und langen an einzelnen Federbändern scheppernden Glocken versehen waren. Zum Schluß vollzog sich in einem besonderen Raum eine zeremoniöse Zahlung, wobei so und so viele Prozente in Abzug kamen, wegen Vorzahlungen. Und ganz zuallerletzt wurde der alte Seniorchef, Herr Cleff, ein kleines altes Männchen, auf kurze Zeit zu einer Begrüßung vorgezeigt, es war kaum anders, als ob man den Papst im Vatikan gesehen hätte. Meine Mutter galt eben als eine prima Kundin des alten Reisenden Marx.

So geschickt und vielerfahren Onkel Dietrich Brügelmann, der Seniorchef der Firma F. W. Brügelmann Söhne, war, in einem hatte er doch Schiffbruch gelitten, und das gab er unumwunden zu: Es war ihm nicht gelungen, als Reisevertreter Erfolg für seine Firma zu gewinnen. Er kam von solchen Kundenreisen zurück und hatte richtige Klinkenangst. Es war ihm nicht gelungen, z. B. in Bonn neue Kunden für sein Geschäft zu gewinnen. Seinen älteren Bruder Wilhelm hatte er gebeten, ihn nie mehr auf Reisen zu schicken, lieber wolle er Steine klopfen. Und dabei muß er es glänzend verstanden haben, z. B. einen ländlichen Hausierer zum Einkauf im Hause zu bestimmen und ihm Gott weiß was alles zu verkaufen, was der Mann anfangs gar nicht hatte kaufen wollen.
Vor den Reisenden und deren Erfolgen hatte der Seniorchef aber allen Respekt und behandelte sie mit größter Liebe und Vorsicht. Trotzdem verstand er es ausgezeichnet, den einen gegen den anderen auszuspielen, und die Höhe seiner diplomatischen Kunst war es, den einen Reisevertreter im vollständigen Dunkel darüber zu belassen, zu welchem Provisionssatz ein anderer, gegen ihn gerechnet, arbeitete. Diese Verhandlungen mit den einzelnen Reisenden waren eine Spezialaufgabe des Seniorchefs, der er sich mit größter Sorgfalt unterzog und sie möglichst mit jedem einzelnen bei verschlossener Tür führte. Es war dies eine der wenigen Verhandlungen, zu denen ich niemals zugezogen wurde. Ich kann mir ihren Inhalt aber sehr gut vorstellen. Mit der Zeit lernte ich die auch kennen und lernte genau erfahren, wie weit ihre Fähigkeiten gingen und was man nicht von ihnen verlangen konnte. Gänzlich unzuverlässig waren sie z. B. in allen Rechtssachen. Wenn man sich auf die Aussage des Reisenden verlassen wollte, so konnte man jeden Prozeß glatt verlieren. Denn alles, was sie daherredeten, hatte, sobald es aufs Schwören kam, keinen Stich. Sobald überhaupt die Sache ernsthaft wurde, fielen die Reisenden um. Und darin war der eine genau wie der andere.

Soviel ich mich erinnere, arbeiteten in der Mühlengasse etwa zwei Dutzend solcher Reisevertreter. Und da lohnte es sich schon, viele von ihnen kennen zu lernen. Jeder hatte einen anderen Vorzug. Und alle waren meist sehr bewegliche und interessante Leute. Das Reden war ihnen natürlich Bedürfnis. Und je nach ihrem Temperament entwickelten sie darin riesige Fähigkeiten. Unübertroffen, aber auch als Vortragskünstler, galt unter ihnen der Kölner Platzvertreter Martin Remagen. Er war ein hochgewachsener großer Mann voller Humor und Schlagfertigkeit. Er entstammte einer alten Kölner Metzgerfamilie, und Fastnacht stand er vor allen Dingen auf der Höhe der Situation. Er hatte eine Art und Weise, im kleinen wie im großen Kreis humoristische Vorträge zu halten, bei denen man sich halbtot lachen konnte. Die Stimmung zum Lachen war immer schon da, ehe er überhaupt mit Reden begann. Im Verkehr mit Kunden des Kölner Stadtbezirks muß er geradezu glänzend gewesen sein. Bei öffentlichen Veranstaltungen er Firma parodierte er als Vortragskünstler stets an der Spitze. Ein Auftreten von ihm in der Kölner Oper werde ich nie vergessen. Im Jahr 1921 feierte die Firma ihr hundertjähriges Bestehen. Die gesamte Firma war mit allen Familien, Freunden und Bekannten abends zu einer Festaufführung der Fledermaus in der Kölner Oper eingeladen. In der Szene, wo der Fürst sich über die Künstlerinnen unterhält, wurde eine Einlage gemacht. Herr Remagen trat auf und trug ein langes, stark gepfeffertes Gedicht auf die Firma und ihre Teilhaber vor. Es war zum Schießen. Zwischendurch ließ er sich höchst unbefangen Sekt einschenken und frischte stets von neuem auf mit freundlichen Verbeugungen gegen das gesamte Publikum, das hoch amüsiert war. Ich meine, niemals einen so tosenden Beifall je einen Opernsänger ernten gesehen zu haben.

An kaufmännischen Erfolgen, das heißt an der Höhe der Umsatzziffer gemessen, wurde er aber übertroffen von seinem Kollegen Moll. Moll war das gerade Gegenteil von Remagen. Ein schmales, listiges Gesicht mit freundlichen Augen, etwa der Typus eines wohlwollenden höheren Beamten, wohlgenährt, stets tadellos in Toilette, mit verbindlichem Lächeln. Er bereiste einen ansehnlichen Bezirk und verstand es glänzend, diesen großen und ausgedehnten Bezirk sich ausschließlich zu erhalten. Im ganzen ein kluger und sympathischer Mensch, der darauf aus war, möglichst alle Reibungsflächen zu vermeiden. Ich werde gelegentlich noch auf ihn zurückkommen.

Meine persönlichen Erfahrungen im ersten Jahr in der Mühlengasse: Sie waren zum großen Teil wenig erfreulicher Natur, aber aller Anfang ist schwer, und ich habe mich auch mit zusammengebissenen Zähnen gegen mich selbst durchsetzen müssen. Unangenehm war schon die tägliche Fahrt nach Köln und zurück. Auf der Rheinuferbahn, deren Wagenpark sich in einem schrecklichen Zustand befand. Ich hatte versucht, mir einen Dauerplatz zu erobern, und dies gelang auch ziemlich gut deshalb, weil ich stets eine viertel Stunde vor Abfahrt des Zuges meinen Platz besetzte. Allmählich gewöhnte ich mich daran, die wackelige Fahrt möglichst durch Schlaf oder Halbschlaf abzukürzen. Auf den Winter zu wurde es kalt, und die Bahn blieb ungeheizt. Tante Maria schenkte mir einen Thermophor, in dem eine leimartige Masse durch Erhitzen flüssig wurde. Das hielt dann vor. Ich schob mir das Instrument, das bald den Spitznamen Hauptbuch der Firma Brügelmann Söhne bei den Mitfahrern erhielt, unter die Füße, und diese blieben hübsch warm. Für die Rückfahrt wurde es dann wieder angewärmt, und so schleppte ich es während der kalten Wintermonate hin und her.

Mittags aß ich in der Mühlengasse, das Essen war denkbar einfach und bescheiden, ich legte auch keinen großen Wert darauf, aber betrüblich war mir, daß ich es meistens alleine einnahm. Ich hatte nie in meinem ganzen Leben mittags allein gegessen, und so kam mir das Alleinsein ungewöhnlich widerwärtig vor. Ich war froh, wenn dann und wann Fräulein Nettchen Schnorrenberg das Mittagessen mit mir teilte. Es gab meistens eine einfache Suppe, Kartoffeln und Gemüse, seltener auch Fleisch mit Soße oder einen Hering als Delikatesse. Im Gegensatz dazu war dann das Essen Montag mittags bei Tante Maria und Mittwoch mittags bei Onkel Dietrich und Tante Emma desto besser. Auch konnte ich mich dort vorzüglich unterhalten gegen die Verpflichtung, alles Wissenswerte aus der Firma zu berichten und den mit Liebe bereiteten Speisen alle Ehre zu erweisen.

Weniger angenehm waren die anfangs recht häufigen Zusammenstöße mit Otto, der mir über alles Mögliche Belehrungen erteilen wollte und den ich häufig recht häufig recht derb anfaßte. Gleichwohl sind wir mit der Zeit ganz gute Freunde geworden. Anfangs glaubte er wohl mit seiner Jurisprudenz etwas ausrichten zu können, aber dies war viel zu bescheiden, und in Rechtssachen besaß er wenig Erfahrung.

Im Ganzen war alles anfangs recht bescheiden, fast täglich arbeitete ich nachmittags bis sechs und sieben Uhr und kam abends müde und gerädert nach Hause. Dort war ich dann für die Familie auch die erste Zeit kein angenehmer Gast. Allmählich wurde es besser, ich gewann die Fähigkeit, die Bahnfahrt durch Schlaf zu überwinden und habe es jedenfalls abgelehnt, während der Bahnfahrt eine Zeitung zu lesen. Lieber duselte ich so hin und zitierte mir z. B. bei melancholischem Regenwetter die schönen Verse aus Goethes Westöstlichem Diwan, worin es (übrigens ein Gedicht der Marianne von Willemer) so schön heißt: Ach um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide usw.“ Dies Gedicht, das ich damals auswendig konnte, verhalf mir oft zu einem angenehmen Halbschlaf, während der Schnellzug durch den Regen peitschte und die Rinnsale an den Scheiben nur so herunterliefen.

Das Firmenfest am 1. Juli 1920

Lange Monate, ja wohl über ein Jahr lang, war gearbeitet worden an den Vorbereitungen zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Firma. Fräulein Nettchen Schnorrenberg, die Vorsteherin des Privatsekretariats von F. Brügelmann, hatte mit unendlicher Sorgfalt alle Einzelheiten vorbereitet, und die Sache war auch Anfang Juli festgesetzt worden. Einige Zeit vorher kam ein böser Rückschlag, der die schon sehr weit getriebenen Vorbereitungen eine Zeit lang in Frage zu stellen schien. Es war nämlich in der beginnenden Geldentwertung, die sich zu Anfang nicht so glatt vollzog wie später, eine rückläufige Bewegung eingetreten, und es hatte den Anschein, als ob gegen Frühsommer 1920 die alte Mark sich noch einmal erholen wollte. Sofort hatte dies einen sehr weitgehenden Einfluß auf die Warenmärkte. Die Preissteigerung, an die man sich allmählich schon gewöhnt hatte, erfuhr plötzlich eine Rückbildung, und die Folge war eine große Rückwärtsbewegung im Kaufen. Die Firma war mit frischem Mut ans Zeug gegangen und hatte namentlich riesige Abschlüsse in Rohnessel bei allen möglichen bedeutenden Firmen in Nord- und Süddeutschland gemacht. Jetzt schienen diese Abschlüsse Gefahr zu bringen. Man sah schon voraus, daß die gelieferte Ware alle Läger zu überschwemmen drohte und die Verpflichtungen der Firma sich in gefahrbringender Weise antürmten. Da galt es kurzentschlossen zu handeln, und so wurde beschlossen, auf dem Verhandlungswege möglichst zu erreichen, daß man von den gefährlichsten Abschlüssen befreit würde. Es spitzte sich dies unmittelbar vor dem Firmenfeste zu. Die ältesten Teilhaber verteilten diese Sache unter sich, und Onkel Dietrich als der Seniorchef übernahm es persönlich, am 21.6.20 selbst nach Rheine in Westfalen zu fahren, um dort mit Kümpers zu verhandeln, bei dessen Firma ein über mehrere Millionen lautender Webauftrag lief.

Derselbe Tag war für mich denkwürdig dadurch, daß ich meine Austrittserklärung aus der Justizverwaltung absandte und den Tag über durch die Aufdeckung eines Bandendiebstahls in der Strumpfstrickerei durch Vernehmungen usw. stark in Anspruch genommen war. Anderntags ging es nachmittags in einer Konferenz der Firma sehr bewegt her, bei der namentlich Otto sich sehr heftig gebärdete. Bei Kümpers hatte D. B. nicht mehr erreicht, als daß diese eine Vergütung auf den laufenden Abschluß anboten. Diese wurde dann angenommen, und ich erinnere mich, daß sie etwa drei Vierteljahre später die gleiche Summe durch einen besonderen Boten nach Rheine zurückzahlten, was die Firma ohne weiteres annahm.

Ich erhielt abends daheim den Bescheid, daß ich am 23. mit Will nach Süddeutschland zum Besuche der Rohweber fahren sollte. Wir fuhren nachmittags von Deutz ab, fanden leider keinen Platz im Schlafwagen und pennten uns so durch Baden. Morgens in Basel hatten wir sofort Anschluß nach Lörrach, dort besuchten wir bereits in aller Frühe eine Weberei und hatten Glück. Der Auftrag wurde nach Wunsch gestrichen. Wir fuhren nach Fahrenau und besuchten in der Mittagshitze den Kommerzienrat Horn. Nach Verhandlungen ging es zurück durch Sonne, Tunnel, Marsch und Fahrt nach Thingen und von dort nach Laufenmühle. Nach Verhandlungen wieder Fahrt durch den Schwarzwald, kamen wir abends spät nach Immendingen. Anderntags fuhren wir früh nach Konstanz und besuchten dort bei großer Hitze das Strohmeyerdorf, wo wir interessante Verhandlungen vor und nach Tisch mit dem alten Geheimen Kommerzienrat Strohmeyer hatten, einem sehr prägnanten und merkwürdigen Herrn und Persönlichkeit. Am See aßen wir in dem zum Dorfe gehörigen Dorfkruge zu Mittag. Nach befriedigender Verhandlung nachmittags ging es über heißen Weg zurück nach Konstanz. Will war dabei stets am Umdisponieren, er konnte diese Reise nicht schnell genug erledigen, weil es ihn nach Hause trieb. Und so bestellten wir die schon belegten Zimmer im Insel-Hotel wieder ab, zu meinem großen Verdrusse, denn ich hatte mich auf diese Ruhe schon gefreut. Nachmittags von drei bis fünf Uhr ging die Fahrt über den Bodensee nach Friedrichshafen, und abends waren wir im Russischen Hof in Ulm. Anderen Morgen trennten wir uns. Will ging zu den großen Webern nach Augsburg, und ich fuhr nach Schelklingen, wo ich allein mit Erfolg bei einer Firma Urspring verhandelte. Ein Gasthaus zum Rösel (Rössel?) ist mir noch in Erinnerung, auch ein Spaziergang zum Kloster Urspring mit seiner Klosterschänke. Mittags war ich dann wieder in Ulm, nachmittags in Neu-Ulm, und abends traf ich Will wieder in Stuttgart, wo wir im Hotel Marquard abstiegen. Der nächste Tag, ein Sonntag, war Ruhetag. Will benutzte ihn zur Ausarbeitung seiner Festrede, die er am nächsten Donnerstag zu halten gedachte. Ich verabredete mich einem Klaus Hoffmann und war mit ihm nachmittags im Restaurant des Künstlerhauses zusammen. Hernach zeigte mir Will den Neubau des großen Stuttgarter Hauptbahnhofes, der eben im Rohbau neu fertig geworden war und ganz bedeutende Formen und Raumverhältnisse aufwies. Hoffmann selbst war ein Schüler des Erbauers Bonnartz. Die Besichtigung dieses Bahnhofs blieb mir in dauernder Erinnerung. Am anderen Morgen ging es wieder in aller Frühe nach Ebersbach an der Fils, dort wurde so gut wie nichts erreicht, in einem ländlichen Gasthaus aber gut zu Mittag gegessen. Bei großer Hitze nachmittags wieder in Stuttgart, wobei ich nachmittags Will abholte, der in Reutlingen gewesen war. Wir tranken zusammen noch Kaffee und fuhren noch bis Mühlacker zusammen, von wo er nach Karlsruhe und ich nach Frankfurt fuhr. Ich war ordentlich froh, als ich ihn los war, denn er hatte mir ein bißchen reichlich disponiert. Abends besuchte ich Bruhns in Frankfurt, bei denen ich die Nacht logierte und den anderen Tag zusammen verbrachte. Wir aßen mittags auf meine Einladung gut im Theaterrestaurant und waren nachmittags im Zoologischen Garten zusammen. Im Abendzug traf ich wieder Will, so daß wir zusammen, ich nach Bonn und er nach Köln fuhren. Das war am Vorabend des Firmenfestes.
 

Der Festtag

Morgens erhielt ich meine Entlassung aus dem Justizdienst. Im Gehrock und Zylinder fuhr ich bereits um halb acht Uhr nach Köln. Dort wurde bei Onkel Dietrich nochmals gefrühstückt. Dann versammelte sich alles beim Registerrichter, wo ich die nötigen Beurkundungen schon vorbereitet hatte. Ottos Eintritt als Gesellschafter, sowie meine Prokura wurden angemeldet. Dann ging es in D. B.’s neuem Auto zur Mühlengasse. Zu der großen Feier im Gürzenich marschierte ich von dort aus mit Tante Maria. Es wurden viele Reden geredet, und Will begann seine mit der ewig denkwürdigen Feststellung: „Im Anfang war die Tat.“ (Wir parodierten dies später, indem wir ein Doppel-aa einzogen.) !! Sogar die Konkurrenz in Gestalt des Herrn Pröhnen von der Fa. Bierbaum & Pröhnen konnte sich nicht enthalten, auch den Rednerstuhl zu besteigen und ein Loblied auf seine Firma zu singen, die auch aus der Mühlengasse stammte. Mein Name wurde auch kurz als der des neuen Prokuristen erwähnt, und ich dankte durch ein einfaches Aufstehen. Zum Mittagessen waren dann nach wohlüberlegtem Plan die verschiedenen Firmen- und Familienherden getrennt aufgetrieben worden. Ich als jüngster Prokurist nahm an dem Spitzenessen an der Münze in Onkel Dietrichs Hause teil. Unter anderen hielt der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer eine Rede. Helene und Vater Reitmeister waren mit den meisten anderen Verwandten auf einem anderen Essen, das unter dem Vorsitz von Vetter Dr. Max Brügelmann stattfand. Sie hatten sich natürlich viel besser amüsiert, wenn wir vielleicht auch das bessere Essen gegessen hatten. Abends fand sich dann alles, Krethi und Plethi, in der Festvorstellung im Opernhaus, wo alles bis auf den letzten Platz in monatelanger Arbeit von Nettchen Schnorrenberg disponiert war. Alles klappte vorzüglich. Und Martin Remagen hielt mittendrin seine fulminante gereimte Rede von der Bühne aus. Es war ein würdiger Abschluß des Tages, und wir fuhren alle, wenn auch sehr erschlagen, nachts wieder heim. Ein denkwürdiger Tag.

Andern Morgen ging es dann wieder frisch in Köln an die Arbeit, und ein Amtsgerichtsrat Klein, der sich bei mir nach Rheinbach hatte erkundigen wollen, traf mich in Bonn schon nicht mehr an. Nachdem man meine schriftstellerische Begabung beobachtet hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß ich der Historiograph der Firma wurde, und als solcher schrieb ich dem Onkel DB zu Weihnachten einen Panegyrikus über das wohlgelungen Firmenfest, dessen Abschrift ich noch aufbewahre. Unter den vielen Reden, die im Gürzenich morgens gehalten wurden, ist mir eine im Gedächtnis geblieben: die von Tripp aus Elberfeld, dem geistvollen Vertreter der großen Thüringer Wollspinnerei in Leipzig. Das Auf und Ab eines Handelshauses an Hand der schönen Verse

„peper pepperit pecuniam“
(siehe gelbe Anlage [verloren]) war unvergleichlich geschildert.
 

Aufzeichnungen in Helberhausen August 1920

Aus der Firma

Alles darin zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Beweglichkeit aus und durch eine hohe Fähigkeit, sich den veränderten Umständen sofort anzupassen. In das geradezu wilde Verkaufsgeschäft, bei welchen die Preise stets emporgeschnellt waren, brach etwa Mitte April der Käuferstreik ein. Ein großer Rückschlag, der auf allen wirtschaftlichen Gebieten sich sofort mit kaum gekannter Heftigkeit auswirkte, zu riesigen Preisstürze führte und alles durcheinander brachte. Ich lernte den drohenden Pleitegeier kennen und hatte in der Zeit meines Eintritts bald genug damit zu tun, völlig festgefahrene Abnehmer zu verarzten.

Daneben liefen damals noch Pläne, die Deutzer Fabrik von der englischen Besatzung freizubekommen oder ein sonstiges passendes Fabrikgebäude für die Strumpfstrickerei zu kaufen oder zu mieten. Mit Vetter Werner und Hans Pabst fuhr ich mehrfach mit dem Auto tief ins Bergische Land. Ich sah viel Neues und manche prächtige Landschaft. Gottlob führten die meisten Bemühungen zu nichts. War es heute ein mit mäßiger Wasserkraft arbeitender Fabrikbau in Bruchermühle bei Engelskirchen, für welchen dessen Besitzer vergnügt eine runde Million forderte, so war morgen die Idee, die in Sachsen lagernden sehr wertvollen Maschinen in eine Gesellschaft einzubringen oder zu verkaufen. Mit zur Zeit noch laufenden Lohnstrickereien hatte man auch bereits üble Erfahrungen gemacht. Ein tüchtiger Strickermeister Lingemann wurde zur Zeit fast als überflüssiger Mitesser empfunden. Alle diese Pläne führten später zum Neubau der Strickerei in Deutz.
 

Eine Reise nach Berlin

Nachdem ich erstmals zu einer Geschäftsreise nach Leipzig gefahren war und dort ein paar echte Ostjuden kennen und behandeln gelernt hatte, fuhr ich im Juni mit Herrn Pabst nach Berlin im Schlafwagen, in dessen Flur ich mich kurze Zeit mit dem früheren Rechtsanwalt und jetzigen Dr. Flechtheim in Berlin gut unterhielt. Frage: Wo mag dieser jüdische Schwiegersohn heute dran sein? Wir waren um sieben Uhr morgens schon am Zoo und fuhren mit der Untergrundbahn zum Hotel Fürstenhof. Dort hatte ich eine Telefonunterhaltung mit Karl Trimborn, der mich nach dem Frühstück zum Reichstag bestellte. Ich traf ihn dort an, als er gerade das neue Kabinett zu bilden begann. Einen Ministerposten bot er mir trotz dieser schönen Gelegenheit nicht an. Er schrieb mir schließlich eine mich befürwortende Karte an seinen Freund und Justizminister Amzehnhoff, und im Justizministerium erhielt ich daraufhin den Bescheid, daß ich den Minister am andern Tag schon früh sprechen könnte. Im Hotel Kaiserhof nahm ich dann an einer Sitzung des Garnenverbandes teil, in der viel geredet und wenig Einigkeit bekundet wurde. Ich lernte einige markante Köpfe aus Kaufmannskreisen kennen, Arthur Königs, den jüngsten Bruder der Tante Maria (der heute noch lebt und den ich im Januar 1942 in Oberstdorf), Herrn Böhmer von der Firma Braubach und einen tüchtigen Herrn Cordes aus Hagen usw. Ich hatte nachmittags versucht, die Museen zu besuchen. Diese waren aber um drei Uhr pünktlich geschlossen, da die Museumsaufseher auch nur noch wenige Stunden arbeiteten. Das Schloß war eingerüstet, um die Schäden einer unsinnigen Schießerei bei dem Rummel der Spartakisten und der Marinebrigade zu flicken. Im Hotel Bristol war ich mit Papst nochmals bei einer Sitzung, und abends aßen wir wirklich fürstlich im Fürstenhof. (Die Reise zu zwei erster Klasse mit Schlafwagen und Hotel etc. kostete ca. 1.500 Mark). Zu gleicher Zeit gab ich in Helberhausen mit Frau und zwei Kindern für dreieinhalb Wochen etwa 1.700 Mark aus.
 

Besuch beim Minister

Den nächsten Tag, Donnerstag den 17.6.20, hatte ich dann morgens von acht bis neun Uhr dreißig eine denkwürdige Unterredung mit dem derzeitigen preußischen Justizminister, Justizrat Amzehnhoff, seines Zeichens Rechtsanwalt in Düsseldorf. Der Diener meldete mir, Sr. Exc. sei noch beim Kaffeetrinken. Ich bat ihn, ihn so lange in Ruhe zu lassen. Er empfing mich dann mit ärgerlichen Redensarten und versuchte es auch, sich über einen Brief von Julius Trimborn aufzuregen, der einige burschikose Ausdrücke enthielt. (Der Brief war übrigens nicht an ihn, sondern an Karl Trimborn gerichtet.) Er beruhigte sich bald, als er sah, daß ich mit dem Briefe nichts zu tun hatte. Bald unterhielten wir uns auf das Beste. Um den langfristigen Urlaub gingen wir beide mit äußerster Zähigkeit herum, nach langem Hin- und Herzerren wurden mir drei bis vier Monate Urlaub für den Winter in Aussicht gestellt. Der ihm selbst in seinen Ursachen nicht völlig erklärliche Richtermangel ließ, wie er mir darlegte, eine andere Möglichkeit nicht zu. Übrigens meinte er ganz trocken, ich brauchte doch nur drei bis vier Tage nach Rheinbach zu fahren und für die übrige Zeit stehe nichts im Wege, daß ich privatim den Justitiar in Köln mache. Ich war doch ordentlich überrascht und erstaunt, aus dem Munde des höchsten preußischen Justizbeamten einen solchen Vorschlag zu hören, wie ihn mir Julius Trimborn etliche Wochen zuvor in Köln halb scherzweise mit den Worten gemacht hatte: Na, das schmeißen Sie doch mit Leichtigkeit, drei Tage in der Woche nach Rheinbach als Amtsrichter und drei Tage als Justitiar in Köln! – Ich erklärte recht deutlich und nachdrücklich, daß mir das nicht paßte. Im übrigen behielt Karl Trimborn recht, der mir vorhergesagt hatte wenn der Minister meine rheinische Sprechweise höre, werde er schon gemütlich mit mir verhandeln. Dem war in der Tat so. Er erkundigte sich dauernd nach der Firma, dem Geschäftshaus, den Bedingungen meines Vertrages und gab mir eine Reihe guter Ratschläge hierzu, so daß ich von seiner wahrhaft väterlichen Fürsorge geradezu gerührt wurde und ihm dies auch zum Schlusse unserer Unterredung voller Dankbarkeit versicherte. Zwischendurch hatte er, als die Sprache darauf kam, durch Fernsprecher festgestellt, das ich – wie übrigens alle Amtsrichter damals – Amtsgerichtsrat geworden sei. Wir kamen überein, daß ich bereits zum 1. Juli 1920 den Abschied haben solle und um Entlassung bitten sollte für den Fall, daß man mir einen langfristigen Urlaub nicht bewilligen könne. Er schlug die Redensart vor: Ich solle um Entlassung bitten, wenn auch blutenden Herzens, ich schrieb aber, wenn auch schweren Herzens. Wir schieden mit Handdruck und den Gefühl gegenseitiger Hochachtung. Ich mußte mir gestehen, daß der etwas kurzatmige dicke Herr mit den klugen grauen Augen (Junggeselle mit schmalen Händen) schließlich doch ein ganz erträglicher Vertreter der herrschenden Demokratie sei, jedenfalls ein Mann mit Herz und Verstand. Er hatte mir bereits verraten, daß die derzeit in Bonn erledigte Notarstelle der Notar Richter aus Dormagen und die Richterstelle des verbrauchten Geheimrats Riefenstahl ein Amtsgerichtsrat Klostermann bekommen würde. Ich solle in meinem Gesuch ausdrücklich erklären, daß ich später hoffte, in die Justiz zurückkehren zu können. In der Tat erhielt ich am 1. Juli 1920 mit dem Entlassungsschein ein offizielles Begleitschreiben, in dem mir für den Fall einer späteren Bewerbung um eine Richter- oder Notarstelle eine wohlwollende Behandlung zugesagt wurde. Dies sollte sich später sehr bewähren.
 

Besuch bei der Göttin und im Lunapark

Da ich nun wußte, was ich zu tun hatte, so ging ich mit dem Bewußtsein weg, mit vierzig Jahren einen völlig neuen Abschnitt meines Lebens zu beginnen. Ich besuchte im Museum die wundervolle archaische Göttin und entdeckte eine leere Marmorbildsäule, mit der ich mich dreiviertel Stunde lang in voller Andacht und Liebe unterhielt. Das leise und liebliche Lächeln auf dem reinen Antlitz ist über alle Beschreibung erquickend. Der schwere Marmorblock, eine griechische Originalarbeit aus der Zeit etwa des Aeginetenfrieses aber voll von süßer junger Reife, wurde während des gewaltigen Krieges in Paris erworben und über die Schweiz nach Berlin gebracht. Von wem? Von den Hunnen und Barbaren.

In der Handelskammer traf ich Papst und ging mit ihm auf seinen Rat zu einer Reichsstelle für Ein- und Ausfuhr in der Hermannstraße. Es war ein schreckliches unaufhörliches Türengeklapper dort. In einem Raum arbeiteten wohl an vierzig Menschen. Ein Zerrbild auf die Folgen und die Reste des Krieges. Ein tolles Durcheinander von Kriegsbeschädigten, ehemaligen Offizieren, Judenbengels, Tippmamsells usw. In einem düster graugrünen Saal der Handelskammer langweilten wir uns bis gegen fünf Uhr in einer so gut wir ergebnislosen Verbandssitzung und marschierten dann in einer geschlossenen Rheinländergruppe in ein Schlemmerlokal Töpfer, wo wir ganz vorzüglich aßen. Cordes und ich waren vorausgegangen und hatten bestellt. Trotz großer Hitze hatten wir gegen Abend noch eben Zeit, uns eine Stunde bei Wertheim mit kaufmannskundigen Augen umzusehen. Ich machte Papst auf den Teppichraum aufmerksam, der ihm noch nicht bekannt war und der vielleicht den schönsten deutschen Verkaufsraum darstellt. Wir berechneten, daß nach dem heutigen Preissturz sich an den darin aufgestapelten Waren allein schon eine Million Verlust ergeben müsse. Nachdem wir das Gepäck auf den Bahnhof Zoo gebracht und uns an einem Glase Bier erquickt hatten, fuhren wir nach dem Lunapark hinaus, einem tollen Rummelpark, wo wir uns bei einem leckeren Böwlchen zur Feier meines Amtsgerichtsrats zusammenfanden.

Nachts brachte uns der Schlafwagen wieder nach Köln, und schlief feste durch.

Den nächsten Tag in Köln überraschte uns die Verhaftung Werners durch die Briten, für die sich aber bald eine Lösung fand. Andern abends saß ich bei meiner Mutter im Garten und aß leckere schwarze Kirschen.
 

Ein seltsamer Tag. Oktober 1920

Unter vielerlei Aufzeichnungen aus 1920 finde ich einen Besuch von Onkel Dietrich und Tante Emma bei uns in Bonn zum Mittagessen verzeichnet. Mit meinem Schwiegervater kam es zu einem gerührten, wenn auch äußerlich gefaßten Wiedersehen. Dann hatte man keine Ruhe im Zimmer, sondern das ganze Haus mußte besehen werden. In Papas Zimmer hing ein Bild von Onkel Wilhelms Silberner Hochzeit, was Onkel Dietrich lange interessierte. Wir aßen vortrefflich zu Mittag und tranken einen vorzüglichen 1917er Bernkasteler Steinkaul und später köstlichen 1915er Brauneberger Juffer Auslese. Das beste Wachstum unseres alten Bernkasteler Hauswirts Leistner. Dann legte sich jeder getrennt zur Ruhe bis zum Kaffee. Der Sohn Kurt kam von Godesberg, mein Bruder Josef erschien mit seiner Frau Emma, und meine Mutter kam ebenfalls zum Kaffee. Es war ein recht festliches Zusammensein in unserem Eßzimmer, und die draußen in brennend buntem Laub spielende Herbstsonne warf einen strahlenden Schein in das Zimmer hinein. Es schmeckte uns wieder vorzüglich, und wir unterhielten uns aufs beste. Meine Verwandten waren in Köln bisher noch ganz unbekannt, und so gab es viel Neues zu bereden. Papa saß bei allen recht gedrückt und kopfhängerisch dabei, was Onkel Dietrich besonders auffiel. Um viertel nach sechs begleitete ich die Kölner zum Zug. Mein Onkel in Köln gestand mir andern Tages, daß bei aller vorzüglichen Aufnahme durch uns und wie sehr er sich darauf gefreut hatte, einmal bei uns zu sein, so habe ihn das Ganze doch stark angegriffen. Es war klar, daß die Erinnerung an seine liebste Schwester, unsere unvergeßliche Mutter Reitmeister, ihn allzu stark übermannt hatte, wo ihn alles und jedes nur an sie, und Papas trübseliges Verhalten ihn erst recht an die Jahre ihres starken Duldens erinnerte. Vermutlich wird es Papa auch nicht anders gegangen sein. Er ging nach Tisch aus, kam erst zum Kaffee wieder heim. Wir hatten es aus naheliegenden Gründen vermieden, irgend etwas von Mama zu reden. Ich notierte: Ein seltsamer Tag, der zu mancherlei Nachdenken Veranlassung gibt.
 

Bewegtes Leben in der Mühlengasse

Nicht nur gibt es täglich im Geschäft alle Tage etwas Neues, auch die Familie hält mich stets in Bewegung. Max und Leni luden mich zum Essen auf den Hohenzollernring ein. Er hat sich sein Haus recht schön und geschmackvoll eingerichtet. Samstag darauf vermochte ich kaum, den Ansturm von Will und Änne abzuschlagen, auch dort möchte ich einmal ein jour fix zum Mittagessen bestimmen. Ich habe das als Fütterung im Armenrecht energisch ablehnen müssen, denn es hätte mich zu sehr von der Arbeit abgezogen. Außerdem sah ich deutlich den Zusammenhang dieser Einladungen mit dem für nächstes Jahr bevorstehenden Kampf um den neuen Gesellschaftsvertrag, der  zu einem Kampfe aller gegen alle führen wird. Die Zeit im Herbst 1920 brachte eine solche Fülle der Arbeit, daß sie mir wie im Traume vergangen ist. Tatsächlich träumte ich trotz der recht viel bewegten Tätigkeit regelmäßig. Schon auf der Hinfahrt in der Rheinuferbahn habe ich meinen geschickten Fensterplatz, kuschele mich in die Polsterecke ein, stütze den Kopf in die linke Hand und den Ellenbogen auf den Fensterrahmen und pflege die Fahrt in einer Art Halbschlaf abzumachen, in dem ich mitunter seltsame Träume erlebe. Allerlei sich überstürzende Tageseindrücke und Gedanken verbrämen sich mit wunderlichen Phantasiegewändern, und es kostet mich mitunter einige Mühe, dem Schaffner meine Monatskarte vorzuweisen, wenn er mich durch sanften Schultergriff in die Wirklichkeit zurückbringt. Dazwischen liegen dann die Geschäftsstunden in der Firma, dicht angefüllt mit einem Berg von sich drängenden Tatsachen und voller treibender Gedanken, durch die ich mir mit Gewalt einen Weg bahnen muß, um täglich reinen Tisch zu machen.

Ein Spiegelbild dieses geistigen Exerzierens bildet mein großer Schreibtisch: komme ich morgens in mein Arbeitszimmer, so liegt zunächst noch still und unverdächtig ein kleines Häufchen Papiere auf meiner grünen Mappe, bald fliegt es auseinander, von allen Seiten regnen Aktenstücke auf den Schreibtisch, und bald ist die Arbeit des Sichtens, Ordnens und Abfertigens und dann die Briefansagerei im Gange, und so geht es durch die Stunden, daß diese im Handumdrehen entschwinden. Oft genug ist die Mittagsstunde so überraschend schnell da, daß ich nicht Zeit finde, Steuern- und sonstige Geheimakten in den besonderen Schrank zu schließen, den Tisch aufzuräumen und die große Rollschiebe an der Aktenregistratur herabzuziehen. Dann wird die Tür abgeschlossen, der Schlüssel in die Tasche gesteckt, um vor jedem Überfall der Scheuerweiber sicher zu sein. Mit dem Glockenschlag des Geschäftsschlusses erscheinen diese nämlich, kaum daß das kaufmännische Personal abgerückt ist, fangen sofort an zu räumen, Staub zu wischen, den Boden zu putzen. Ununterbrochen sind ihrer drei bis vier im Hause beschäftigt und das alles mit genauer Stundenarbeitseinteilung. Auch sie könnten als Symbol der nachputzenden ewigen geistigen Aufräumungsarbeit gelten.

Das Geschäft arbeitet, wie Will mir neulich erzählte, mit der Präzision eines Uhrwerks. Bis Beginn Oktober 1920 sind seit Mai rund zwanzig Millionen Mark liquidiert worden. Trotz des großen Preissturzes und der lange anhaltenden Stockung des Absatzes eine ganz erstaunliche Leistung, die ich zur Zeit weder in ihrer Ursache noch in ihre vollen Bedeutung zu überschauen vermochte. Dabei sind die Bankverbindlichkeiten wieder auf ein normales Maß heruntergedrückt und sogar schon bedeutende Außenstände bei der Kundschaft vorhanden. Es ist eine allgemeine Lohnbewegung im Gange. Das geradezu ungeheuerlich gestiegene Einkommen der Reisenden hat eine kleine Palastrevolution im Hause der Firma ausgelöst. Ich selbst habe es verstanden, mein Gehalt von fünfundzwanzig- auf sechsunddreißigtausend Mark zu erhöhen. Die Folgen sind offenbar. Schon sind unsere Handwerker dabei, im Hause Bachstraße eine elektrische Lichtleitung zu schaffen. Eine Notwendigkeit, denn der ewige Kämpf mit der Dunkelheit wurde von uns bisher mit Streichhölzern, kleinen Petroleumlämpchen und einigen wenigen Gasflammen geradezu kümmerlich geführt. Leider haben wir es verabsäumt, uns rechtzeitig mit Braunkohlenbriketts einzudecken, und wir sind derartig knapp mit Kohlen, daß wir trotz der empfindlichen Herbstkälte keinen Ofen brennen und frieren, wenn uns die Sonne im Stich läßt.

Es hat sich allmählich der Brauch herausgebildet, daß ich zweimal in der Woche mittags bei den Kölner Verwandten esse, nämliche Montags bei Tante Maria und Mittwochs bei Onkel Dietrich und Tante Emma. Bei beiden schließt sich eine kurze Rast nach Tisch und eine Tasse Kaffee an. Während ich bei Tante Maria häufig geistige Erquickung durch angenehme Gespräche über gemeinsame Lektüre usw. finde, wird bei Onkel Dietrich meistens Geschäftliches und nur selten Familiäres besprochen.
 

Groß Sankt Martin (Januar 1921)

Komme ich morgens bei grauendem Tageslicht im hilligen Kölle an, so erwache ich aus meinem Dusel erst, nachdem ich einige Schritte von der Bahn den Frankenturm entlang getrabt bin. Dort begrüßt mich dann ein hochgemuter stolzer alter Freund, der schon seit einer Reihe von Jahrhunderten festen Fuß gefaßt hat und das ganze Mittelalter über der Beherrscher des Stadtbildes war, lange ehe in der Biedermeierzeit ihm die beiden Domköpfe über den Helm wuchsen. Immer steht er da in alter Kraft und Herrlichkeit, wohl geformt und trotzig aufragend, in gelassener Ruhe, stets eng verwachsen mit seinen vier Kindern, zwei Söhnen und zwei Töchtern, von denen je eines nach Osten über den Rhein, eines nach Süden gegen Italien, eines nach Norden zum Meere und eines nach Westen über Frankreich hinschaut. Um seinen gewaltigen Fuß mit den drei im Halbrund sich schwingenden Vorbauten brandet ein Gewirr kleiner krummer Gassen voller Winkel und Höhlen. Die enggepreßten Häuser recken ihre Dächer hoch zu ihm hinauf, kommen ihm aber kaum über die Stiefelränder. Mitunter redet sein eherner Mund in dröhnendem Wohllaut, so daß weit über Stadt und Land, Fluß und Hafen sein Ruf dahin klingt und sich am Himmelsgewölbe bricht. Brausen die regenschweren Wolken an trüben Wintertagen unaufhörlich vom Westen her, so steht sein Haupt hoch im Nebel, und um seine Schultern jagen die Gestalten der grauen Jäger aus der wilden Jagd. Leuchtet die Sonne am blauen Himmel, so strahlen seine Glieder im funkelnden Goldbraun, und netzt der feuchte Regenatem die Luft, so schimmert sein Helm in tief leuchtendem Blau und seine großen Formen umspielt durchsichtig graubläuliche Luft. Ihn selbst berührt das nicht. Unerschüttert steht er da in allen Stürmen wie im blaulichten Sonnenschein. Stets auf der Hut, ein Beherrscher und Beschützer seiner Stadt, der herrlichste der deutschen Turmfürsten: Groß Sankt Martin. –

Durch ein schmales Gäßchen werfe ich allmorgendlich einen Blick auf einen Ahornbaum, der da schlank und rank an seines Fußes Wurzel steht. Wie lange hat er bis in den Winter hinein auf seinem zu höchst emporgereckten Finger an den Astspitzen drei goldene Blättlein festgehalten, die im Herbst die Frühsonne stets in leuchtendem Gold aufblitzen ließ, als ringsum noch alles in schläfrigem Schummer lag. Selbst der Frost im November - Dezember, der den Baum durch Stein und Bein fror, vermochte ihm nicht jene goldenen Blättchen aus den verkrampften Spitzen zu reißen, und erst das lauliche Wetter um Weihnachten löste dem Baum die Finger und die letzten Blättchen wirbelten weg. Jetzt steht der Baum mit seinen Ästen in einem schwellenden Licht, die lange Feuchte und Wärme täuschen ihm den Frühling vor, und gar zu gern möchte er losbrechen und seine Knospen vorzeitig öffnen. Wie ein Graspflock oder eine kleine Krautstaude steht er unten am Fuß des Riesen, der ihn gar wohl kennt und gegen wütenden West- und Südwind schützend deckt. –

Eines morgens war ich im Winter in einer Seelenmesse in der alten Abteikirche. Draußen dunkle Nacht, drinnen strahlendes Licht elektrischer Lampen. Die wohlige Weite und Größe des Raumes kam mir ganz anders als bei Tage zum Bewußtsein und mit einem Schlage erkannte ich, daß diese altdeutschen romanischen Kirchen bei Innenbeleuchtung genommen werden müssen. Tatsächlich wurden die großen Gottesfeiern in ihnen bei Fackel und sonstiger Kunstbeleuchtung abgehalten, wodurch mancher Brand entstanden sein mochte. Geraume Zeit später war ich mittags im Dom, er kam mir beängstigend eng und schmalbrüstig im Innern vor und ich mußte so weit vorgehen, daß ich einen Blick ins Querschiff gewann um erst recht wieder Luft schnappen zu können. Dort freilich war der hochstrebende Chor erhebend, und ich konnte glauben, mit einem Engel an der Hand wie der Baumeister auf Schwinds Märchenbild längst den Streben durch den Raum zu schweben. – Aber die ewige Wiederholung des Chores im Langschiff ist ermüdend; ich hätte das Langhaus kühn als riesigen Hallenbau mit 3 oder 5 Schiffen gebaut, unbekümmert darum, ob das Äußere denn so mathematisch korrekt sich hätte lösen lassen. ––
 

Einige Notizen

Am 14. Januar 1921 besuchte ich das Krefelder Museum und dessen Direktor Dr. Deneken. Ich kaufte ihm den Wandteppich von Thorn-Prikker für fünf Mille ab, nahm ihn aus dem Rahmen und machte damit meine erste Erwerbung der Kunstsammlung. Helene war ganz entzückt davon.

Im Kölner Rathaus lernte ich am 22.1.1921 den Beigeordneten Willi Cleff bei einer Dienstbesprechung kennen.

Am 31. Januar 1921 hatten Will und Änne ihren großen Schrecken mit Ilses Erkrankung an Kinderlähmung? Anschließend daran offenbarte mir Will am 28.2.21 einen tiefen Einblick in seine Familienverhältnisse.

Am 22.2.21 wurde die Sanierung der Fa. Friedrich Cleff erwogen. Weihnachten 1921 feierten wir in der Bachstraße in bedeutend verbessertem Hause.

Im Juni 1921 brachte ich den Geschäftsvertrag für die nächsten zehn Jahre zustande, in dem sich Otto für seinen Sohn die Anwartschaft auf Nachfolger der Firma erkämpft hatte. Zu seiner Freude wurde ihm zu seinem 35. Geburtstag ein Söhnchen geboren, über dessen Vornamen es nicht ohne heftige Auseinandersetzung in der Mühlengasse herging. Denn Wills älterer Sohn, der zwar Friedrich Wilhelm heißt, führt unvorsichtigerweise den Moderufnamen Gerd, so daß Otto sich für berechtigt hielt, seinen Sohn Friedrich Wilhelm, genannt Fritz, zu nennen. Man einigte sich dann auf Johann Wilhelm, genannt Jean.

Werner B. bekam einen zweiten Sohn Claus, dessen Taufe Helene und ich an einem herrlichen Sommertage mitmachten. Grete Riesen bekam ebenfalls einen zweiten Jungen namens Wolfgang. Sie wohnten von da ab bei der Großmutter in der Wörthstraße. Heute muß ich zu meiner Betrübnis berichten, daß die Eltern sich auseinandergelebt und getrennt haben und der junge Wolfgang in Stalingrad fiel.
 

Rückblick auf die Richtertätigkeit

Neben eigener Auffassung verdanke ich meinem praktischen Lehrer, Landgerichtsdirektor Schüller, die Fähigkeit, mich als Richter über dem Gesetz und nicht unter demselben zu fühlen. Das Recht ist ein Roß, das der Richter reiten muß. Oder ein Stab, den er schwingt, und der nicht ihn schwingt. „Steht das wirklich in dem neuen Gesetzbuch?“ war eine oft wiederholte erstaunte Frage jenes erprobten Praktikers. „Na, und wenn es darin steht, dann ist es Unsinn. Will man zu einer vernünftigen Entscheidung kommen, dann muß man usw.“  Und dann kamen höchst vernünftige, allgemein-menschliche Erwägungen.

Ich war schon acht Jahre lang Richter, als ich erstmals in Rheinbach eine Abteilung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zu bearbeiten bekam (1918). Krieg und zahlreiche Vertretungen hatten diese Abteilung stark verwüstet. Sie lag noch voller alter Schinken, die ewig mit matten Beweisbeschlüssen und ähnlichen untauglichen Mitteln am Leben gehalten , anstatt mit einem kurzen scharfen Schnitt zur Ruhe gebracht waren. Aus dem Felde heimkehrende schon ältere und lebenserfahrene Referendare halfen mit frischem Eifer den Stall auszufegen, und ich lehrte sie die Sache stets zunächst vom rein menschlichen und praktischen Standpunkt anzufassen und eine Entscheidung ohne Paragraphen kurz und knapp so zu fassen, daß ein Bauer des Kreises sie verstehen konnte. Mein Leitmotiv war: Versteht er es nicht, so schimpft er mit Recht, und der Richter ist im Unrecht. Besonders aber arbeitete ich auf eine vergleichsweise Erledigung alter verjährter Rechtsstreitigkeiten hin. Die Kollegen staunten, daß die Höchstzahl von siebenundvierzig Vergleichen in einem Jahr von mir in zehn Monaten um das Doppelte überholt wurde, und dabei machte ich die Erfahrung, daß es nicht schwierig ist, einen Vergleich zu schließen, wenn man den eigentlichen, familiären oder wirtschaftlichen Streitpunkten auf den Kern geht, unbekümmert um die rechtliche Verbrämung, die ihm gewisse Parteien und Sachwalter geben. Die Rücksprache mit der Partei, bald schonend und humorvoll, bald auch mitunter scharf und in öffentlicher Verhandlung, gibt uns bald alle nötigen Aufschlüsse. Wird um eine Strohlieferung prozessiert, so hatte ich bald heraus, daß ein entliehener Hamen die Ursache dieses vom Zaune gerissenen Rechtsstreits war. Der nicht zurückgegebene Hamen aber stand im Zusammenhang mit einer früheren Freundschaft oder einem Liebesverhältnis der beiderseitigen Kinder der Parteien. Eine gründliche Aussprache über alle diese prächtigen alten Sachen schafft dann stets eine neue Luft, in der richtig angebrachte Vergleichsvorschläge auf fruchtbaren Boden fallen. Nur eines ist nicht zu vergessen: Dem im Prozeß formell nicht, in der Sache aber um so mehr beteiligten Frauen muß ausgiebig Gelegenheit geboten werden, sich gegenseitig ihr Herz vor dem Richter und dem Publikum gründlich auszuschütten. So war ich stets bestrebt, diese seelische Ausmistung sich möglichst gründlich vollziehen zu lassen, wozu allerdings außer Zeit und Geduld auch gelegentlich ein bald geringeres, bald stärkeres Anfeuern nötig ist. Plötzlich ergreife ich dann als Prozeßrichter wieder die Führung, und schon fährt der Karren aus dem holprigen und jeden Augenblick mit Umsturz drohenden Prozeßweg in die glatte Vergleichsstraße ab.
 

Das Bienenhaus – ein Prozeßvergleich

Über eine an sich geringfügige Grenzüberschreitung durch den Vorbau eines Bienenhauses waren in Dingenshoven zwei alte Bauernfamilien sich in die Haare geraten. Der Prozeß hatte mit seinen Beweiserhebungen, Beschuldigungen, Ortsterminen usw. usw. den üblichen Gang genommen, Entscheidungen waren gefallen, angegriffen, wieder aufgehoben, kurz es war ein wirrer Knäuel geworden und die Sache längst gegenstandslos. Die Kosten waren angewachsen wie ein Nilpferd, und die Frage der Kostentragung brachte allen alten Streitmist immer wieder vors Gericht. Schon vor Jahren war die Sache Gegenstand eines Festwagens in einem bäuerlichen Fastnachtszuge im Dorfe gewesen, wobei es an derbsten Anspielungen auf die verbissene Streitwut der Parteien nicht gemangelt hatte. Ich vermaß mich, auch diese Sache, die schon zweimal in zweiter Instanz gehangen hatte und wieder zurückgekommen war, durch einen Vergleich zu erledigen. Kollege Simons, ein äußerst bedächtiger Richter, bestritt lebhaft die Möglichkeit einer solchen Lösung, und ich wettete um einige Flaschen, daß ich sie in zwei Monaten verglichen hätte. Ich gewann die Wette, wenn auch nicht gerade leicht. Ich hatte vor allem für eine gute Regie gesorgt. Wiederholt hatte ich die Leute zu mir kommen lassen und mich über den Sachverhalt bis ins Einzelne orientiert. Zum Schluß gab es dann die große Verhandlung, wobei ich Sorge dafür getragen hatte, daß so ziemlich das halbe Dorf im Zuschauerraum war. Ich hatte herausbekommen, daß der Streit sich hauptsächlich zwischen den beiden schon bejahrten Frauen abspielte. Beide wurden zugezogen, wovor sich die eine heftig sträubte. Sie fuhren aufeinander los wie erfahrene Kampfhähne, und es mußte eine Pause eingelegt werden, Stühle wurden herbeigeschafft, um den Erschöpften Gelegenheit zu geben, sich ein wenig zu verschnaufen. Ich gab bald der einen, bald der anderen zu verstehen, daß noch dieses und noch jenes vorgekommen sei und wie der eine und der andere noch diesen oder jenen Tort angetan hatte. Nach reichlich zweistündigem Kampf trat eine allgemeine endgültige Ermattung ein, und ich hielt den Moment für gekommen, den etwas beiseite stehenden Ehemännern ihre Pflicht vorzuhalten, gegenüber derartig unüberlegten Weiberfeindschaften die Vernünftigen zu spielen und sich als Eheherren zu zeigen. Beide waren erst noch ängstlich und suchten hinter ihren abgekämpften Weibern Deckung zu nehmen. Diese aber waren es selbst satt und trieben die Männer vor. In zwanzig Minuten hatte ich , den richtigen Moment der allgemeinen Erlahmung wahrnehmend, den die Sache endgültig und unwiderruflich schlichtenden Vergleich fertig, und alles nahm ihn als Erlösung an. Natürlich empfanden später beide Parteien diese Lösung als eine halbe Übertölpelung durch den Richter. Aber alle Beschwerde blieb vergebens. Die Sache war und blieb erledigt. 
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