Teil 9


Steuern und kein Ende

In den Jahren 1921 und den folgenden war ein großes Teil meiner Zeit und der vieler anderer Menschen ausgefüllt durch meine Beschäftigung mit den Steuern. Die Steuern, welche unter anderem auch den Zweck haben sollten, die Währung wieder zu stabilisieren, nahmen einen derartig breiten Raum in der gesamten Wirtschaftsführung und in den Gedankengängen des Volkes ein, daß fast für jeden Juristen die tägliche Beschäftigung damit unausbleiblich war. Tatsächlich lief die Steuererhebung stark hinter der Geldentwertung her, und jeder Versuch, sie einzuholen, schien vergeblich. Der Steuern wurden immer mehr und die Erhebungsformeln immer grotesker. Die Steuerdezernenten gewannen sehr an Ansehen und Einfluß und spielten auch gesellschaftlich eine Rolle. Die einflußreichste Stellung hatte wohl der Vorsitzende des Finanzamtes Köln Altstadt, ein gewandter und soignierter Jude Dr. Hirsch, der es mit seiner gewandten Frau in der Kaufmannschaft natürlich nicht leicht hatte, auch gesellschaftlich eine Rolle zu spielen. Onkel Dietrich, dem an seinem Wohlwollen auch gelegen war, trat auch in gesellschaftliche Beziehungen mit ihm, und so erlebte ich ihn eines Abends bei einem gesellschaftlichen Essen, wobei mir die Frau zwar von Person aus dem Gedächtnis entglitten ist, aber sie hatte eine Eigenschaft, durch die sie sich einprägte, ähnlich wie mein Freund Bretz gelegentlich zu erzählen pflegte, daß gewisse sonst ganz vernünftige Menschen sich z. B. einen grünen Strich durch das Gesicht machen, nur um aufzufallen. Frau Hirschs grüner Strich war die in vielen Varianten oft wiederholte Erzählung, wie sie bei ihren zahlreichen Hochgebirgstouren jede Gelegenheit benutzt hatte, um ein Bad in einem wenn auch noch so kleinen oder  noch so kalten Hochgebirgssee zu nehmen. Sie erzählte dies nicht ohne Geschick und hatte dadurch die Hörer für sich oder auch innerlich gegen sich, welche derartiges nicht erzählen konnten. Ich gab ihr dafür im Stillen die Bezeichnung Pfützenspringerin. In späteren Jahren wurde ich lebhaft an sie erinnert durch die Schilderungen eines süddeutschen Diplomaten, der vor Jahrzehnten häufig hochalpine Jagden im Gefolge des bayerischen Prinzregenten Luitpold mitgemacht hatte. Der alte Prinzregent spürte auch häufig das Gelüste, in irgendeinem kalten Hochgebirgssee ein erfrischendes Bad zu nehmen und setzte die kurzerhand in die Tat um, wobei ihm die Hofschranzen zu ihrem größten Entsetzen folgen mußten.

Ob Dr. Hirsch seine Stellung dem damals allmächtigen Louis Hagen verdankte, ist mir nie recht klar geworden, ich vermutete es aber. Als Onkel Dietrich gar zu gut Freund mit ihm zu werden begann, schob er zu seinem Schutz einen christlichen, sehr gewandten und verbindlichen Dr. Moll als zuständigen Dezernenten vor. Um die Jahreswende 1921/1922 wurde ein älterer, sehr sorgfältiger Steuerinspektor Müllenbruck zur Buchrevision in die Mühlengasse entsandt und von Onkel Dietrich in die Irrgänge seiner krausen Buchführung eingeweiht. Ich sollte dabei unentwegt neben diesem Buchprüfer dabeisitzen, dieser aber schwieg sich aus wie das Grab und erwies sich als jeder Unterhaltung unzugänglich. Ich gab dann meiner Teilhaberschaft an dieser stummen Unterhaltung bald auf, welche mir ein Gefühl tödlich ermüdender Langeweile gab. Herr Müllenbruck war lange Zeit stark erkältet und brauchte sehr geraume Zeit bis in das Jahr 1922 hinein, um die Prüfung durchzuführen. Das Ganze endete dann mit einer Besprechung im Dienstzimmer des Herrn Dr. Hirsch, worauf später eine Veranlagung zur Einkommensteuer erfolgte, über deren Höhe sich dem guten Onkel Dietrich seine wenigen Haare kräftig sträubten. Es war dann meine Aufgabe, durch die Einlegung von Rechtsmitteln aller Art, von Stundungsgesuchen und dergleichen, die effektive Zahlung über möglichst lange Zeit hinzuziehen.

Genau dasselbe Schauspiel hatten wir, wie die Gewerbesteuer mit dem hierfür zuständigen städtischen Dezernenten Beigeordneten Willi Cleff, mit dem wir viele Sitzungen im sogenannten spanischen Bau des Kölner Rathauses stattfanden. ( Der Satz ist wirklich so formuliert.) Aus dieser Zeit her stammt eine aufrichtige Freundschaft mit diesem Herrn, die bis heute allen Stürmen der Zeit getrotzt hat. Es fand sich, daß wir eine Reihe von ganz gleichartigen Lebensinteressen hatten. Daneben liefen fortgesetzt Steuerveranlagungen und Reklamationen mit den Katasterämtern und den Kirchensteuerveranlagungsbehörden. Onkel Dietrich erzählte allenthalben, was er für einen tüchtigen Steuerdezernenten in der Person seines Neffen und Justitiars seiner Firma hätte, und so bekam ich durch ihn auch noch eine ganze Reihe privater Klienten, die mich ebenfalls mit der Bearbeitung ihrer Steuersachen beauftragten. Daraus entstanden zum Teil Freundschaften, die sich über mehrere Jahrzehnte lang hinzogen.

Von meiner Bernkasteler Zeit her hatte ich noch Beziehungen zu der Witwe meines verstorbenen Bekannten Paul Thanisch, Emmy geborenen Müller. Für sie und ihre Geschwister, welche eine Fabrik in Langenfeld hatten, wurde ich gleichfalls als Steuerberater herangeholt. Ich verfluchte diese Tätigkeit heftig, weil sie mir jede freie Zeit wegnahm, oft wenn ich am Spätnachmittage ziemlich ermüdet von Köln nach Bonn kam, warteten dort schon die Steuerklienten, und die Besprechungen dehnten sich jedesmal endlos aus.

Mit dem damals in vollem Flor stehenden Kinderarzt Dr. Bogen in Bonn hatte ich ein originelles Abkommen : Er behandelte als Mediziner meine häufig erkrankten beiden Kinder ohne Berechnung, während ich hingegen ihm seine Steuersachen ohne Berechnung bearbeitete. Schließlich nahmen diese aber mit Hülfe eines Onkels aus Amerika derartige Formen an, daß ich schließlich dazu übergehen mußte, ein Honorar zu berechnen, was auch willig bezahlt wurde. Ich bin mit ihm stets in Kontakt geblieben. Mit dem Frauenarzt Dr. Trebes hingegen war diese Steuerfreundschaft nicht von langer Dauer. Er fand meine Rechnung zu hoch, ließ mir dies durch meinen Bruder Josef mitteilen, ich zerriß die Rechnung und verzichtete auf Weiteres.

Ein Herr Rolfes wurde ständiger Steuer- und Vermögensrechtsklient, mit dem wir auch einen regelrechten und lebhaften Verkehr unterhielten. Er hatte mit seinen Brüdern und Schwägern eine Weltfirma Rolfes, Nebel und Co. in Pretoria in Südafrika gehabt und saß selbst als Chef der Firma in London. Er konnte riesig interessant erzählen. Ich war sein Berater in allen Dingen und später der Testamentsvollstrecker seines Nachlasses. An der Firma waren außer ihm und zwei Brüdern noch zwei Schwäger namens Nebel und Wippner beteiligt gewesen, mit deren Steuersachen und mit denen ihrer Kinder ich mir auch manche Zeit stark verkürzt habe.

Das war, wie gesagt, eine wilde Zeit, und die Steuermoral hatte einen bedenklichen Tiefstand erreicht. Die Steuerverwaltung erfand  neue Steuern, z. B. eine Umsatzsteuer auf Luxusgegenstände und richtete hierfür einen förmlichen Steuerhäscherdienst ein, der mitunter zu seltsamen und unwürdigen Ergebnissen führte. Jedenfalls stand das eine fest: wer noch etwas zu verlieren hatte, hatte dringend einen Steuerberater nötig und die Steuerberater waren so zahlreich wie der Sand am Meere und fast ebenso leicht beweglich. 

Einige Daten

1921. Juli und August waren heiß und trocken, ich lag ziemlich lange mit einer leichten Blutung im Bett und fuhr mit Familie am 21.8. in einem Personenwagen der Firma zur Sommerfrische nach Helberhausen, wo uns Frau Horn aus Braunschweig zweimal aufsuchte. Am 8.9. brachte uns das Auto wieder heim.

Am 14.9. zeigte die Taufe bei Werner in der Amsterdamer Straße ein sehr schönes Sommerfest. Am 26.10.1921 wurden zahlreiche voraufgegangene Verhandlungen über zehnjährige Vertragsverlängerung mit Papst, von mir Papstkonklave genannt, durch ein Abendessen der Familie und Firma bei Will in Rodenkirchen abgeschlossen. (Dies bezieht sich auf den 24.4.1922.) Am 26.10.1921 Fahrt mit Werner und Papst im Auto nach Nottuln, Essen bei Strumpfwirker dort, dann nach Münster in Westfalen. Abends von dort nach Arnsberg, bei Fuldas übernachtet.

Am 29.12.1921 erstmals bei Bleisch in der Mühlengasse zu Mittag gegessen. Die Küche in der Mühlengasse hörte mit Jahresschluß auf.

1922

21.4. Walter Ophey in Düsseldorf kennen gelernt.
24.4. Abschluß des Papstkonklaves wie oben.
13.5. und 21.5. Doppelfahrt nach Baden-Baden.

1921 und 1922 Einzelhandelsgeschäfte in Pfriemersheim (Böhme), Ackerstraße Düsseldorf, Firma Breuer (Beys), Mieteinigung dort, Senf und Kunst in Düsseldorf.

Die Mißvergnügten

In demselben Maße, wie es der Firma durch den Fleiß und die Umsicht des Seniorchefs, seines besten Schülers und Neffen Will Brügelmann und der Umsicht und dem Organisationstalent des Prokuristen Josef Papst gelungen war, die Firma ständig zu vergrößern, ebenso waren die Verhältnisse bei anderen größeren Firmen in gleicher Weise zurückgegangen und deren Inhaber hierüber natürlich mißvergnügt, sahen nicht ohne Neid auf Dietrich Brügelmann als den Emporkömmling. Sie wußten diese Gefühle mehr oder weniger gut zu verschleiern, um sich nicht der Vorteile zu berauben, mit der Firma lohnende Geschäftsverbindung aufrecht zu erhalten.

Zu diesen Mißvergnügten gehörte vor allem Herr Konsul Oehme, der mit einem Sozius, einer Firma Lippen und Oehme, Großhandel in seidenen Bändern führte. Ein hochgewachsener Mann mit hängendem Schnurrbart und grauen klugen Augen voll unbändigen Stolzes und Hochmut, seiner geistigen Überlegenheit, sich selbst sehr bewußt und alle Welt möglichst ironisch behandelnd. Ich hatte ihn schon früher in meinem Leben anderswo gesehen, vor langen Jahren hatte er mit seiner Frau, einer geborenen Bleissen, aus der großen Goldleistenfirma, im Heimannschen Hause in Hersel für die Sommermonate seinen Aufenthalt genommen. Die Eheleute Reitmeister hielten sich ängstlich von ihm zurück. Herr Papst arbeitete lieber mit einer Firma Bing, Söhne und hatte einen bedeutenden Umschlag mit ihr in seidenen Bändern. Das fuchste den alten Oehme nicht wenig und er mußte sich häufig zu großer Süße und Schläue gegenüber Dietrich zwingen, um gelegentlich gegen einen sonstigen Gefallen ein gutes Geschäft in seidenen Bändern in der Mühlengasse zum Abschluß zu bringen. Dabei verkehrten die Familien sonst freundschaftlich miteinander und irre ich nicht, so hatte er auch mit D. B. engere Beziehungen in der Liberalen Partei.

Zu diesen Mißvergnügten gehörte insbesondere auch ein Versicherungsdirektor der Vaterländischen und Rhenania namens Sternberg. Bei ihm war eine besondere Veranlassung des Mißvergnügens gegeben: Er hatte persönlich seinem damaligen guten Freunde Dietrich Brügelmann eine größere Hypothek auf dessen Neubau an der Münze gegeben in der Hoffnung, ihn dadurch dauernd persönlich und für die Firma an seine Versicherungsgesellschaft zu verpflichten. Diese Hypothek durchlief wie alle anderen auch die Entwertungszeit und bei der Aufwertung kam natürlich nicht viel über die günstige Aufwertungsquote hinaus zur Aufwertung. Dies verdroß den früheren Bekannten nicht wenig, die Freundschaft war gründlich aus, und in einer wenig angenehmen persönlichen Unterhandlung im Gebäude der Versicherungsgesellschaft mußte ich manches bittere Wort über D. B. und seine Manieren hören. Dazu kam, daß die Sage ging, der Sohn Werner B. habe eine Tochter von Sternberg heiraten sollen, wozu es aber nicht gekommen sei.

Schöne Sommertage im Jahre 1922

An einem dunklen kalten Maitage fuhr ich morgens nach Köln und es erreichte mich dort ein Brief von Onkel Dietrich aus Baden-Baden. Ich sollte dorthin kommen. Ich hatte verdammt wenig Lust. Das Wetter drückte gewaltig und der Eindruck eines großen Hauses von Götz am Sachsenring, das ich mir mit Will angesehen hatte, das einen recht düsteren Eindruck machte, vermochte die Stimmung nicht zu heben. Nachdem ich bei Bleisch zu Mittag gegessen und geruht hatte, fuhr ich um fünf Uhr heim bei abscheulichem Regen. Anderntags am Samstag, den 13.5.22, war alles anders. Das Barometer stieg und ich stand früh auf und beschloß zu fahren. Ich setzte mich 8.55 Uhr auf den D-Zug und traf darin den Fabrikanten Rudolf Steiner in Köln, mit dem ich mich lange und angelegentlich im Flur unterhielt. Er mußte wohl ein besonderes Vertrauen zu mir gefaßt haben, denn ich erinnere mich genau, daß er mir auch seinen religiösen Werdegang genauestens erzählte. Er machte mir einen recht sympathischen Eindruck. Zum Mittagessen trafen wir uns im Speisewagen mit dem Landrat Lukas aus Opladen zusammen, und so verging uns die Zeit bei der schönen Fahrt durch den Rheingau sehr schnell. In Baden-Baden wurde ich von Dietrich Brügelmann und Adolf Hill abgeholt und wir gingen zum Kaffee zu Tante Emma. Es war ein genußreicher Tag, der abends mit einem Schlemmeressen auf Hills Einladung im Gasthaus zu den drei Königen beschlossen wurde. Erst spät wurde das Bett aufgesucht. Ich übernachtete im neuen Kurhof und war sonntags früh auf. Ich machte für mich allein einen herrlichen Waldspaziergang nach Friedrichshöhe. Um halb zehn war dann mit Emma das gemeinsame Frühstück auf Onkel Dietrichs Zimmer. Anschließend wurde mit ihm den ganzen Morgen im Garten stramm gearbeitet, so daß ich mich nach dem Mittagessen zu Bett legte. Abends wurde dann, und zwar damals mit Herrn Steiner zusammen am Tische im Kurhaus zu Abend gegessen und später auf dem Zimmer noch von elf bis zwölfeinhalb Uhr zwei Flaschen köstlichen französischen Champagner zum Geburtstag von Tante Emma getrunken. Ich notierte in meinem Tagebuch: Würdiger Anfang. Nach einem festen Schlafe stand ich erst später auf, und nach dem gemeinsamen Frühstück wurde ein Marsch nach dem Jägerhaus unternommen. Dabei war ein unvergleichlicher Blick auf die in vollem Frühlingslicht prangende Rheinebene. Das Mittagessen wurde im Hotel Kurhof, der Kaffee im Hotel Atlantik eingenommen, und nachdem ich mittags einige Kindergeschenke in der Stadt eingekauft hatte, fanden wir uns abends im Smoking zu einem feierlichen Geburtstagsessen von Tante Emma zusammen, zu dem Herr und Frau Oehme aus Köln eingeladen waren, so daß wir zu sechs am Tische saßen. Bis gegen Mitternacht hielten wir uns noch in der Bar auf. Am nächsten Morgen war ich wieder zeitig auf und besorgte mir gleich eine Fahrkarte. Nach dem Frühstück verabschiedete ich mich von Tante Emma und spazierte mit Willi und D. B. noch durch die Stadt über das neue und das alte Schloß. Wir haben dort herrlich im Freien gesessen und noch einen Frühschoppen gemacht. Um ein Uhr elf fuhr ich mittags mit der Bahn heim und war acht  einhalb Uhr zu Hause. Unterwegs hatte ich den holländischen Maler Wiegmann kennen gelernt. Aus der Bekanntschaft schloß sich später ein Graphikaustausch an. Ich erinnere mich nicht mehr, um was es sich bei einem Vorschlage handelte, den mir D. B. und Adolf Hill gemacht hatten. Ich notierte aber andern Tages, daß ich ihn ablehnte. Den übernächsten Tag ging es dann mit Otto und dessen Wagen nach Neuß zur Besichtigung eines Geschäftslokales der Firma Gebr. Hirsch. Einer von der Familie Richen, Verwandter von Bürgermeister Klein aus Hersel, hatte das Haus in Verwaltung. Nach Besichtigung von St. Quirin fuhr ich um halb eins mit dem Schnellzug nach Köln, aß bei Bleisch, hatte eine Besprechung mit Will und ging zu Notar Schmidt, bei welchen eine Verkäuferversammlung war. Wir beurkundeten den Ankauf eines größeren Grundstückes, von einem Landrat Minten verhandelt, der Kauf gelang ebenfalls. An diesem Tage kam ich recht müde nach Hause. Ich hatte das Gefühl, daß meine Lunge nicht recht in Ordnung sei. Am anderen wurde in Köln beschlossen, daß wir am nächstkommenden Sonntag e alle zusammen zu einer Besprechung nach Baden-Baden fahren wollten, um die Sache (vermutlich handelte es sich um die Gründung von Dortmund) zu regeln. Ich packte daheim meine Sachen und gab andern Samstags morgens eine Schachtel mit Anzug in Köln ab. Ich war schon um zwölf Uhr wieder zu Hause, machte nach Tisch mit Helene und den Kindern einen Ausflug ins Siebengebirge. Wir marschierten hinter Heisterbach nach der Rosenau, später dann nach Königswinter und Mehlem und mit der Straßenbahn heim. Selbigen Abend wurde mir noch das Frühstück für den anderen Morgen mit Thermosflasche zurechtgemacht. Ich war zeitig auf und konnte bequem frühstücken. Bereits um zehn Uhr kam das Auto, ein neuer Sechssitzerwagen, offen, für Onkel Dietrich. Will und Otto und deren Vetter Werner waren darin. Dazu zwei Kraftfahrer, die sich miteinander ablösten. Es ging schnell in den herrlichen Morgen hinein rheinaufwärts. In Boppard wurde bereits gefrühstückt und ich sehe noch in Spay die Leute zur Kirche gehen. Es war ein ganz unvergleichlicher Morgen und eine herrlich Fahrt. Es wurde immer äußerstes Tempo genommen und die Fahrer waren immer frisch. Zum Mittagessen waren wir bereits in Heidelberg am Schloßhotel und machten nach Tisch einen Verdauungsbummel zum Scheffeldenkmal. Auf den Bänken dort wurde Mittagsrast gehalten und Otto schlief fest ein. Einmal kam uns der Gedanke, wir sollten ihn doch ruhig schlafen lassen und weiterfahren. Das hätte aber den Plan gestört und so mußten wir ihn wecken und mitnehmen. Die Fahrt durch Baden-Baden werde ich nie vergessen. Endlose, meist schnurgerade Straßen , dabei Wettrennen mit einem Auto des alten Kommerzienrates Lindges, das wir aber schließlich überholten und siegreich schlugen, nachdem es sich ein wenig verfahren hatte. Die Geschwindigkeit war derartig, daß die Luft wie eine eherne Säule vor einem stand und man Mühe hatte zu atmen. Otto, der noch nicht ausgeschlafen war, blieb trotz der heftigen Bewegung aufrecht sitzen und wackelte dabei gewaltig mit dem Kopf, was einen beängstigenden Eindruck machte. Bereits um fünf einviertel waren wir in Baden-Baden und erregten im Hotel allgemeines Aufsehen durch den großen gemeinsamen Tisch beim Abendessen. Allerhand Vermutungen wurden an diese Konferenz geknüpft. Alle logierten im Kurhof und wir kamen erst spät zu Bett. Ich schlief mit Will zusammen. Trotzdem war ich des Morgens sehr früh auf, brauchte allerdings längere Zeit zur Toilette. Das Frühstück nahmen wir zu vier auf der Veranda ein, daran schloß sich wieder eine Konferenz mit D. B. Vor Tisch wurde noch ein Vertrag mit Adolf Hill und Briefen dazu entworfen. Nachdem wir im Hotel zu Mittag gegessen und nachmittags im Hotel Atlantik den Kaffee genommen hatten, fanden wir uns zum Abendessen im Kursaal. Otto fuhr mit dem Nachtzug heim. Zu vieren ging es dann noch in ein Bierrestaurant. Den nächsten Tag, es war der 23. Mai, war ich zeitig auf, packte und verabschiedete mich beim Frühstücken. Um halb neun wurden dann Vetter Werner und ich in der alten Limousine abgefahren, und wir besuchten unterwegs unseren gemeinsamen Vetter Max Forstmann in Zwingenberg an der Bergstraße. Die Fahrt werde ich nie vergessen. Es war ein knuffig heißer Tag und wir trafen gegen halb eins bei Max ein. Es waren gut 36 Grad im Schatten. Ich weiß noch, daß wir aus einer großen Schüssel reichlich Spargelgemüse aßen und uns nach Tisch in Maxens Zimmer es etwas bequem machten. Nachher wurde dann noch der Garten besichtigt und wir hatten einen Einblick darin, mit welchem Fleiße Max, seine gute Frau Luise und seine Kinder dort das Anwesen bearbeiteten. Es war kein leichtes Leben da. Gut hatte es nur das kleinste Kind, der Wilhelm, er lief barfuß, nur mit einem Höschen und Hemdchen bekleidet, umher und wurde ob seiner Toilette und seiner sonstigen Sorglosigkeit allgemein beneidet. Um drei Uhr ging es dann wieder weiter. In Sankt Goarshausen machten wir eine Pause, um uns etwas an Eis zu erfrischen. Um acht Uhr abends konnte ich in Bonn aussteigen. Gleichzeitig mußte ein Reifen gewechselt werden.

Andern Tags war ich in Köln und aß etwas zeitig bei Tante Maria, wo ich anschließend eine Besprechung mit Günther und Grete wegen der Korsettfabrik von Steiner hatte. Bei einer wahren Bruthitze traf ich mich um zwei Uhr am Rhein auf dem Schiff mit Werner und der ganzen Familie Lukas. Ich fuhr bis Bonn mit, es war eine herrlich Fahrt, und abends war ich mit Helene auf der Lese, wo wir den Herrn Richel aus Neuß trafen. Wir kamen erst gegen Mitternacht heim, nachdem wir uns an gutem Rotwein gelabt hatten. Andern Tags ging es nicht nach Köln, es war mir ordentlich schlecht vor lauter Hitze und wir gingen nachmittags nach Hersel, wo etwas mehr Luft war. Endlich kam es zu einem Gewitter und zu einer ersehnten Abkühlung. Anderntags war es im Wagen Kühl. Ich hatte zwei Unterredungen mit Bell und notierte: Er versuchte mich zu lausen. Zu Mittag wurde bei Bleisch gegessen, nach kurzer Ruhe nach Düsseldorf gefahren, wo ein Mietstermin stattfand. Abends war ich dann müde zu Hause. Den nächsten Samstagmorgen waren Onkel Dietrich und Adolf Hill bereits wieder in Köln und es erledigte sich alles. Ich konnte so zeitig nach Hause kommen, daß wir nachmittags einen Ausflug nach Kottenforst und Schönwaldhaus zu Fuß nach Godesberg machen konnten. Dies wären einige angenehme Tage aus meiner damaligen Beschäftigung bei Brügelmanns.

Grundstückgeschäfte

Vorspiel. Ich war  noch nicht in der Firma, als ich den Inhabern zum Ankauf eines größeren Gutes riet. Es handelte sich um Müttinghoven, ein Reutersches Familiengut unweit Morenhoven gelegen. Es gehörte dazu ein verfallenes Schloß, in dessen weitläufigen Räumen die englische Besatzung Radsport betrieb. Zu Beginn der Entwertungszeit war es zum Preise von vier mal hunderttausend Mark käuflich zu erwerben und wurde dafür später auch versteigert. Ich malte ihnen vergeblich die Gewinnmöglichkeiten für den Erwerb eines derartigen Grundstückes aus. Auch die Möglichkeit des künftigen Erwerb eines Erbadels usw. Man hatte dafür nur ein fröhliches Schmunzeln. Tatsächlich ließ sich dieses Gut auch durch Aufteilung an die benachbarten Bauerndörfer gut verwerten, gut parzellieren und auch zu mehreren kleineren Höfen umgestalten. Über den Verkauf von Wolle und Baumwolle hinaus aber ging es damals noch nicht. Und so war keine Meinung dafür.

In der Firma

Meine Erfahrungen in Grundbuchsachen sollte ich aber bald in der Firma auf anderem Gebiete fruchtbar machen können. Es handelte sich einmal um die Ausdehnung des Deutzer Fabrikgebäudes durch die Anlage einer Strickerei und eines Eisenbahnanschlusses. Für beides wurden größere Grundstücke benötigt. Zugleich auch wurde der Sinn dafür geweckt, daß es sich empfähle, möglichst alles Terrain zu erwerben, was rechts der Wermelskirchener Straße lag. In jahrelangen Bemühungen ist dies tatsächlich gelungen bis auf ein nach Kalk zu gelegenes Grundstück der Erben Schäfer, an welchem ein Amtsgerichtsrat Rheindorf in Cleve beteiligt war.

Bei den Grundstücksverhandlungen für das Fabrikgelände wurde ich auch bekannt mit einem Staatsanwalt außer Diensten Windhorst, dem Justitiar der Vereinigten Stahlwerke van der Zypen und Charlier. Er vertrat auf Anweisung seines Generaldirektors Grosse den Standpunkt: Nicht verkaufen, sondern tauschen. Um nun zu erfahren, welche Grundstücke er für tauschenswert hielt, legte er mir ausführliche Pläne von allen möglichen Grundstücken vor, an deren Erwerb die Stahlwerke ein direktes oder indirektes Interesse in der Form hatten, daß sie dieselben wieder mit der Stadt Köln tauschen konnten. Alle diese Grundstücke merkte ich mir sehr genau und wir kamen bald auf den Gedanken, solche Grundstücke nicht nur zum Tausch mit den Stahlwerken, sondern auch zum direkten Tausche mit der Stadt Köln zu erwerben. Der Vetter Werner Brügelmann hatte nämlich vor, sich später einmal ein größeres Haus mit Garten, und zwar ganz im Norden der Stadt zu bauen. Als Gegenstück zum Neubau seines Vetters Will Brügelmann in Rodenkirchen. Auch die Stadt war zur Hergabe der hierzu erforderlichen Geländestreifen eher im Wege des Tausches als des Kaufes zu bewegen. Infolgedessen eröffnete ich eine rege Kauftätigkeit und es gelang mir, eine ganze Reihe Grundbesitz zusammenzukaufen. Dieser wurde teilweise an die Stahlwerke vertauscht, teilweise aber in Reserve gehalten für den Neubau Werners. Nach dessen plötzlichem Tode fielen die Baupläne von ihm weg und es zeigte sich, daß die Firma eine ganze Menge Grundbesitz übrig hatte, welcher bei der Fabrik nicht mehr zu verwerten war. Dieser wurde dann später zu ordentlichem Preis der Stadt Köln verkauft, wobei diese die Zahlung der Wertzuwachsteuer übernahm, was sehr wesentlich für das Zustandekommen dieser Verkäufe war. Es gelang mir, hierbei eine ganz schöne Summe als Gewinn zu erzielen, von dem ich selbst eine hübsche Summe als Tantieme erhielt.

Nicht nur das Gelände für den Eisenbahnanschluß und die Strickerei, sondern auch noch reichlich Gemüseland, Fußballplatz und Erholungsterrain und noch eine ganze Menge von Schrebergärten konnte die Firma als endgültigen Gewinn für sich aus dieser Grundbuchabteilung buchen, trotzdem daß Will häufig hieran seine Kritik zu üben versuchte. Ich hielt ihm jedesmal entgegen, daß Grundbesitz das einzige Monopol auf Erden sei und daß notorisch von allen größeren Firmen letzten Endes immer nur der Grundbesitz übrig geblieben sei. Das beruhigte ihn dann wieder. Tatsächlich läßt sich meines Erachtens etwas Großes und Dauerndes ohne ausreichenden Grundbesitz überhaupt nicht machen.

Transportversicherung

Eine recht verdrießliche Tätigkeit für das erste Jahr meiner Arbeit in der Firma war die Abwicklung der Schadensfälle aus Eisenbahnverlusten bei der Eisenbahnbehörde selbst und bei den hierfür zu Hülfe genommenen Transportversicherungen. Die Eisenbahn, bei der riesig gestohlen wurde und bei der die Ersatzansprüche mit der laufenden Entwertung der Währung lawinenartig anschwollen, verschanzte sich hinter einer Bestimmung, daß sie für „Kostbarkeiten“ nicht hafte, d. h. wenn der Verlust mehr als 150 Mark bei Kilogramm der verlorenengegangenen Waren ausmacht. Um Kostbarkeiten handelte es sich überhaupt gar nicht. Der Wert der Ware war stets derselbe, höchstens geringer, am Dollar gemessen. Erst nachdem Vetter Otto mich zu meinem größten Mißvergnügen häufig in heftiger Weise bedrängt hatte, raffte ich mich zu persönlichen Verhandlungen mit der Eisenbahn auf und begann mit Klage zu drohen. Ich hatte mir sonst zum Grundsatz gemacht, möglichst wenig mit Klagen zu tun zu haben und fand hierbei volles Verständnis bei allen Firmeninhabern. Ich selbst habe es auch tunlichst in jeder Weise vermieden, Prozesse während meiner Justitiartätigkeit zu führen. Ich habe mir damit in der Tat viel Arbeit und Ärger erspart. Allmählich wurde die Eisenbahn weich und fing langsam an zu zahlen. Die Versicherungsgesellschaft war eine Zeit lang hartköpfiger, bis ich mir ein eigenes Büro für diese Schadensfälle zulegte und damit begann, sie systematisch mit genau bearbeiteten Schadensmeldungen zuzudecken. Das wirkte. Es kam oft genug vor, daß ich nicht nur den Damen meines Büros, sondern außerdem sämtlichen anderen Schreibkräften für Tage, ja für Wochen sämtliche Konzepthefte vollschmierte und die Briefe an die Berliner Versicherungsgesellschaft paketweise abgingen. Schließlich sah diese kein Durchkommen mehr. Ein Vertreter kam und es wurde ein Vergleichsabschluß über die Aufhebung des Versicherungsvertrags gegen Zahlung einer schönen Summe im Vergleichswege vereinbart, wobei ich mir aber alle Regreßansprüche gegen die Eisenbahn nach den Vorschriften der Eisenbahnverkehrsordnung für die Firma vorbehielt. Gleichzeitig arbeitete ich einen Plan aus, keine neue Transportversicherung mit einer Versicherungsgesellschaft abzuschließen, sondern diese in eigene Regie zu nehmen. Die Verkaufsbedingungen wurden einfach dahin geändert, daß die Verkäuferin das gesamte Transportrisiko gegen einen billigen Satz von einigen Promille des Warenwertes übernahm, diesen den Kunden in Rechnung stellte und sofort jeden Schadensfall in kulantester Form, sei es in Natura oder sei es in Geld vergütete. Alle Kunden fanden dies sehr ordentlich und zahlten die geringe Provision gerne. Ich führte darüber genaues Buch, stellte die tatsächlich gezahlten Schäden dagegen, zog die von der Eisenbahn hereingeholten Summen ab und es ergab sich ein ansehnlicher Gewinn, aus dem ich reichlich meine Gehaltsansprüche decken konnte. Dies imponierte den Kaufleuten und fand ihren Beifall. Weniger Beifall hatte ich später damit bei Onkel Dietrich, als der versteckte Kampf um meine Beteiligung begann und ich an Hand genauer Statistiken ihm meine Verdienst auf Mark und Pfennig nachzuweisen versuchte. Er meinte ärgerlich: er habe mich nie auf Stücklohn, sondern auf Akkord engagiert.

Ich meine aber, dieses System der Selbstversicherung ist heute noch bei der Firma in Gang. Überflüssig zu erwähnen, daß einmal ein Versicherungstechniker vorzuhalten versuchte, wir hätten nicht die Genehmigung der Reichsversicherungsbehörde. Ich hörte ihn ruhig an und lachte ihn aus: Was wir Versicherung nennen, ist nichts anderes als eine einfache kaufmännische Kondition.

Vetter Will

Der älteste Sohn des verstorbenen Onkels Wilhelm Brügelmann, geboren am 2.10.1880, war fast gleichaltrig mit meinem Schulfreund und Schwager Wilhelm Reitmeister, seinem Vetter. Die beiden Mütter standen sich sehr nahe und blieben es ihr ganzes Leben lang. Ich habe den Vetter Will schon als kleinen Knaben in Hersel und Bonn kennen gelernt, später begegnete ich ihm als Student in Berlin wieder, so er sehr darunter litt, daß er nicht auch Student war. Er war damals Lehrling bei einer bedeutenden Textilfirma Gerson. Wir trafen uns auf einem Fest eines akademischen Studentenklubs an der Berlin-Charlottenburger Hochschule, der mein Freund Reitmeister angehörte. Sein Onkel Dietrich aber bestand mit eiserner Fuchtel darauf, daß er nach kaufmännischer Ausbildung möglichst bald in die Firma eintreten mußte, um die Stellung seines Vaters auszufüllen. Onkel Dietrich hat mir öfters zugestanden, daß er niemals einen besseren Lehrling gehabt habe und daß sein Neffe Will sich mit eisernem Fleiß in die Firma eingearbeitet habe. Es war ihm schließlich doch vergönnt worden, für eine Zeitlang wenigstens an der Kölnischen Handelshochschule zu studieren, um einigermaßen Ersatz für das Studententum zu finden, um das er sich betrogen fühlte.

Zugleich war er ein eifriger Sportsmann, betätigte sich mit Fußballspiel und Hochtourenklettereien in der Schweiz. So hatte er z. B. ungeachtet aller Abmahnungen seines Vaters, der ihn an die Gräber der Abgestürzten führte, das Matterhorn in der Schweiz bestiegen, immerhin eine erstaunliche Leistung. Er selbst erzählte mir dies später höchst bescheiden und meinte, man müsse nur die Ausdauer und Vorsicht haben.

Aus seinen wenige beredten aber um so eindrücklicheren Darlegungen habe ich entnommen, in welcher Weise er am inneren Aufbau der Firma beteiligt gewesen ist, so daß diese nach seinem persönlichen Ausspruch mit der Präzision eines riesigen Uhrwerks arbeitete, al sich zur Arbeit dahin kam.

Er war der einzige, der bei der maßgebenden Besprechung über meine Aufnahme in die Firma auch die Frage an mich richtete, ob ich glaubte vor mir auch all dasjenige verantworten zu können, was ich in der Firma miterleben würde und was nicht immer mit einem feinfühligen und überängstlichen Gewissen vertreten werden könnte. Ich beruhigte ihn in dieser Hinsicht, die Folge zeigte, daß er recht hatte.

Er hatte in jungen Jahren geheiratet, und ich hatte ihn als später angeheirateten Vetter mitunter besucht. Diese Heirat war nicht ganz nach dem Willen seiner Eltern ausgefallen, weil diese es lieber gesehen hätten, daß seine Frau, wie seine Mutter, größere Mittel zum Weiterbau der Firma mitgebracht hätte. Diese Ablehnung hat seine Frau ihren Schwiegereltern nie vergessen können. Es dauerte auch jahrelang, ehe sie ein erstes Enkelkind bekamen, es folgte dann bald der Sohn Friedrich Eilhelm, genannt Gerd, der heute als Soldat im Osten steht. Später kam dann noch ein zweiter Sohn, Helmuth, der als Flieger bei Dieppe auf französischem Boden durch einen Unglücksfall enden mußte, nachdem er schon vorher einmal über Dünkirchen abgeschossen worden war. Dieses erinnert an die Kriegserlebnisse seines Vaters, er wurde im Laufe des Weltkrieges als ungedienter Mann eingezogen, kam zur Artillerie und schoß aus dem Sextental auf die Italiener bereits zu einer Zeit, als wir mit Italien noch gar nicht im Kriege waren. Später hat er dann eine üble Verwundung erlitten bei irgendwelchen großen Angriffen in Frankreich. Er kam in Gefahr, sein Augenlicht zu verlieren und wurde nur wie durch ein Wunder gerettet. Später wurde er dann noch zum Offizier ausgebildet. Und er machte dann nochmals größere Materialschlachten mit. Dies alles hatte ihm gewaltig zugesetzt, aber er war letzten Endes doch wieder wohlbehalten nach Hause zu den Seinen zurückgekehrt. Er bewohnte ein schönes einfaches Haus in Rodenkirchen bei Köln. Er hatte sich dazu entschlossen, ganz draußen auf dem Lande zu leben, wenn er auch zweimal täglich mit dem Wagen zur Firma und in die Stadt hinein fahren mußte. Noch in der Entwertungszeit hatte er sich ein größeres Gelände in Rodenkirchen gekauft, und ich half ihm dies durch Zukauf noch zu arrangieren. Unvorsichtiger Weise hatte er sich mit der Architektenfirma Fabritius und Hahn eingelassen, diese hatten ihm eine Unmasse Entwürfe gefertigt und berechneten ihm diese samt und sonders, als er sich von ihnen löste. Es kam zu einem Prozesse, in welchem namentlich Fabritius seine Rechte bis auf das Alleräußerste verfolgte. Dann baute er sich nach den Plänen von Merrydl ein großes Haus von einprägsamer Eigenart, leider folgte er meinem Rate nicht, die Kellersohle über die von der Reichsbahn durch jahrelange Erfahrung erprobte hochwasserfreie Schienenoberkante zu legen; tatsächlich ist der Neubau dann auch mehrmals einer Überschwemmung ausgesetzt gewesen, wobei jedesmal die Erdgeschoß- und Heizungskellerräume überschwemmt wurden. Er gab dies mir später wiederholt zu und bedauerte, meinem Rate nicht gefolgt zu sein.

Im Gegensatz zu Onkel Dietrich und Otto, die nach gewöhnlicher Laienart sich bedenkenlos anmaßten, auch ein künstlerisches Urteil zu besitzen, vertrat er den nüchternen und selbstkritischen Standpunkt: wir verstehen etwas von Wolle und Baumwolle, aber nichts von Kunst. Wollen wir uns dies nicht weismachen. In der Tat wurde er in diesem Punkte vernünftigen Ratschlägen häufig zugänglich. Auf meine Anregung beauftragte er Pitt Müller mit der Herstellung zweier großer künstlerischer Metalltüren, die heute noch das Haus zieren. An gemütlichen Räumen fand sich in dem Neubau hauptsächlich sein Zimmer, während das Eßzimmer mit den Originalen der Vorfahrenporträts einen geradezu erkältenden Eindruck machte. In seinem Zimmer aber fand sich eine riesige Bibliothek mit den schönsten Dingen darin. Eine ganze Reihe von Ölgemälden aus den Hochalpen, wenn ich nicht irre, von Bauriedl, waren künstlerisch wertlos und konnten höchstens als gute Reiseandenken gelten. Eines Tages entdeckte ich in der Bibliothek einen sehr guten alten Holländer, eine Schneiderwerkstätte darstellend, eines bekannten alten Holländers. Bei näherer Besichtigung sehe ich, daß es ein imitatorisch gut gelungener Faksimilebuntdruck war, und ich war ganz entrüstet, vermochte aber Will es kaum klar zu machen, daß eine solche Imitation bei ihm doch an Betrug grenze, da er die Mittel hatte, sich auch ein Original zu beschaffen. Er konnte mich erst gar nicht recht verstehen. Ich habe weder ihn noch seine Frau jemals dazu vermocht, sich ein gutes Landschaftsbild, z. B. von Julius Bretz, anzuschaffen. Eines Tages gefielen ihm Landschaften des etwas matten und biedermeierlichen, aber sonst flotten Malers Gradl. Er legte mir mehrere Gemälde vor und war natürlich auf dasjenige versessen, was ich als das schwächste bezeichnen mußte. Ich mußte ihm dann die Gründe hierfür des längeren auseinandersetzen, und endlich schien ihm ein Fünkchen Verständnis zu dämmern, und er entschloß sich für das ihm angeratene bessere Stück. Später kam er noch des öfteren darauf zurück und lobte es stets. Gradl hatte eine Rheinreise dazu benützt, um alle möglichen und unmöglichen Rheinansichten, meist bei bedecktem Himmel und leuchtender Landschaft zu einer Fülle von kleinen niedlichen Bildern zu verarbeiten, welche reichlichen Absatz fanden. Die viel feinere und herbere Kunst von Julius Bretz blieb ihm stets verschlossen, ebenso wie seiner tüchtigen Frau Änne, deren Kunstverständnis im Grunde zwar ehrlich gemeint und auch durch ein fleißiges Studium vertieft war, sich aber nicht über ein beschränktes Kunstgewerbe zu erheben vermochte. Sie hat auch heute noch ein gutes Verständnis für Durchschnittsfayencen und Töpfereien besserer Art.

Im Familienbildnis kamen beide nicht über die Art des in der Familie allgemein gebräuchlichen Richard Vogts, eines angeheirateten Vetters und Kunstmalers in Düsseldorf hinaus. Immerhin waren die Bildnisse von Will und Änne einen Stich besser als die meist geradezu lieblos gemalten Bildnisse von Tante Emma und Onkel Dietrich. Da hat es Papst schon klüger gemacht: er hat sich auch von Vogts malen lassen, dazu sich aber die Mühe genommen, ihm in seinem Atelier zu sitzen, wobei Vogts durch nichts abgelenkt und so sein Bildnis bedeutend besser wurde.

Einer Szene erinnere ich mich genau: Jeden Morgen pflegte Will eine besondere Sorgfalt auf das Putzen seiner Brille zu verwenden und diese war in der Tat stets funkelnd blank. Ich selbst hatte auch die Empfindung, daß hinter dieser Brille und hinter der ganzen Person ihres Trägers noch ein zweiter Mensch stände, der mit einer gewissen ironischen Verachtung auf das erste Exemplar herunter zu blicken pflegte. Ich äußerte ihm verschiedentlich diesem meinem Eindruck und begegnete jedesmal seinem verständnisvollen Blick. Es wohnten tatsächlich zwei Seelen in seiner Brust und ich konnte es oft genug beobachten, wie er bald der einen, bald der anderen Seele nachzugeben pflegte. Jedenfalls hatte er im Laufe der Zeit eine starke Selbstzucht errungen und ich habe es selten erlebt, daß er auch in Momenten höchster Aufregung aus der Form geriet. Ein gewisser Humor war ihm eigen: Und er verstand sich darauf, ihn mitunter spielen zu lassen.

Als sein Sohn Gerd heranwuchs, beteiligte sich dieser bei Familienfesten und Einladungen sehr an der Beschäftigung der Gäste. Ich erinnere mich, daß eines Tages nach dem allgemeinen Essen in größerer Gemeinschaft ein Skiwettrennen stattfand, bei welchem jeder der männlichen Teilnehmer ein paar Kinderski untergeschnallt bekam und dann mit einer ziemlich wilden Fahrt durch die unteren Räume die Treppe des Erdgeschosses herunter- und heraufmachen und dabei Engpässe passieren mußten usw. Ich war einer der letzten, die anzutreten hatten und benutzte die Muße, um die anderen genau zu beobachten und alle gefährlichen Punkte genau festzustellen. Als ich drankam, ging ich mit großer Gelassenheit vor, machte keine Fehlgriffe und war nicht sehr erstaunt, als ich zur allgemeinen Verblüffung den ersten Preis bekam in Gestalt einer silbernen Skinadel, die ich heute noch besitze, wenn sie mir auch von Zeit zu Zeit abhanden gekommen war. Gerd hatte genauestens mit der Stoppuhr nachkontrolliert und das fröhliche Geschrei über Schiebung konnte nicht stichhalten. Gerd zeigte überhaupt allerhand Talente, konnte Drehbücher für Kinoaufführungen herstellen und gab später als erwachsener Mann in die Kriegszeitschrift mitunter Schilderungen, welche von echtem Verständnis zeugten.

Lange Jahre hatte ich in der Konferenz meinen Platz neben Will, und zwar saß ich an der Schmalseite des Konferenztisches, Otto gegenüber. Mit Will verstand ich mich meistens ausgezeichnet. Ich erinnere mich einer Unterhaltung sehr ernsten Inhaltes:
Ich: Ich bin mir bewußt, daß ich manchen Fehler und manche Untugend habe, aber von einem weiß ich mich frei, ich habe gar keinen Ehrgeiz.
Darauf Will: Muß ich das glauben?
Ich: Nein, ich habe nicht einmal den Ehrgeiz, das von dir zu verlangen.
Er schüttelte bedächtig das Haupt und ich erklärte ihm, daß es mir hauptsächlich darauf ankomme, gehörig zu verdienen. Mein übriges Leben möchte ich nur mir und meiner Familie widmen.
Ich glaube aber, daß er sich nach und nach davon überzeugt hat, daß ich recht hatte.

Für ihn war es natürlich das Höchste, einmal Seniorchef des Hauses zu werden. Nachdem Onkel Dietrich im Mai 1929 verstorben war, wurde ihm dieser Wunsch erfüllt, er hat aber nur noch vier Jahre lang dieses Amt ausgefüllt und sich keineswegs leicht damit getan. Er hatte früher einmal gehofft, sich in seinem Alter im Wesentlichen von den Geschäften zurückzuziehen, in Ruhe und Stille draußen zu wohnen und nur dann und wann sich einmal in der Firma zu zeigen. Er wurde grausam enttäuscht. Sein Sohn Gerd war noch nicht herangewachsen soweit, daß er ihn hätte vertreten können, und so angenehm als Mitgesellschafter sein sehr viel jüngerer Vetter Kurt Brügelmann war, einen ebenso wenig angenehmen Partner hatte er in Person seines jüngeren Bruders Otto, mit dem er häufig genug heftige Zusammenstöße hatte.

Mir gegenüber hatte er, als ich 1928 Notar wurde, etwas kleinlaut geäußert, dein Notariat wird uns  noch einen ordentlichen Batzen Geld kosten. Er war der naiven Ansicht, daß ich mir das Notariat mit einer größeren Abfindung abhandeln ließe. Ich dachte gar nicht daran. Mein Bestreben war vielmehr, mich langsam und sicher von der Firma abzulösen, daß ich immer noch den persönlichen Kontakt mit den Inhabern aufrecht erhielt. Und so ist es in der Tat auch gekommen.

Was Will am meisten niederdrückte, war, daß er Unglück in der Familie hatte. Das körperliche Gebrechen seiner Tochter Ilse ging ihm Tag und Nacht nach. Schließlich machte er seine Erholungsreisen auch allein. Von einer solchen kehrte er eines Tages plötzlich zurück und starb ziemlich schnell am 27.4.1933, während seine Frau und Tochter sich auf einer Seefahrt im Mittelmeer befanden und gar nicht zu erreichen waren. Dank der eifrigen Mithülfe seines damals als Oberbürgermeister von Köln in frischem Flor stehenden Schwagers Riesen wurde das Begräbnis des guten Will in Form einer nationalsozialistischen Parteifeier aufgezogen. Er würde sich selbst nicht wenig darüber gewundert haben. Bei diesem Begräbnis trafen sich eine Menge Familienmitglieder, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Bei seinem Vetter Max Forstmann stellte sich heraus, daß nicht nur er und sein Bruder Walter, sondern auch der Notar Dr. Rech Parteimitglieder waren.

Josef Papst jun.

Als ich in die Firma eintrat, war die erste Überraschung, daß mir Onkel Dietrich einen schlanken blonden Herrn, etwas größer als ich und in meinem Alter, als seinen Prokuristen Papst vorstellte. Bis zu diesem Tage hatte ich nie etwas von ihm gehört. Wenn in der Familie von einem Prokuristen die Rede war, so war es stets der alte Funkenhaus gewesen, der mit der behäbigen Würde eines Patriarchen über dem kaufmännischen Büro thronte und den ich schon seit Jahren als den „Prokuristen“ des Hauses kannte. Papst war nicht weniger überrascht, in mir einen neuen Kollegen zu sehen, indem ich ja auch Prokura bekommen sollte. Nach kurzer Zeit aber verstanden wir und sehr gut. Es stellte sich bald heraus, daß wir keinerlei Konkurrenz gegeneinander hatten, daß uns beide dasselbe streben einigte: aus der Stellung des Prokuristen heraus zu dem eines halben Teilhabers, zum mindesten eines Juniorpartners zu gelangen. Der Juniorpartner ist eine Einrichtung aus dem englischen Kaufmannsleben und erinnert etwas an die Einrichtung der Hausmeier zu Zeiten der Merowingischen Könige, von denen sich bekanntlich die Karolinger allmählich zur eigenen Königswürde emporarbeiteten.

Auf Anraten eines Onkels hatte ihn sein Vater nicht wie er beabsichtigte, zu der großen und vornehmen Firma Braubach am Laurentiusplatz in die Lehre getan, sondern zu der damals noch wenig bekannten und kleinen Firma der beiden Brüder Wilhelm und Dietrich Brügelmann in der Mühlengasse, von der aber einsichtige Leute voraussagten, daß die Firma noch eine große Entwicklung machen würde. Papst ist damals als Lehrling auch eingetreten und hat bis heute seine gesamte Kraft ausschließlich der Firma gewidmet und wird dies aller Voraussicht nach auch bis zu seinem Tode tun.

Voller Laune erzählte er mir einmal in spaßiger Form, wie er als angehender Gehülfe, der ewigen Vorhaltungen über die trefflichen Einrichtungen im Hause Arthur Königs in München-Gladbach überdrüssig, sich kurzer Hand auf die Bahn gesetzt, dorthin gefahren war und unter irgend einem Grunde sich Eingang in dieses Textilhaus verschafft hatte. Er hatte sich natürlich ordentlich umgesehen und konnte nachher in der Mühlengasse darüber einen Bericht erstatten, der vieles von der Gloriole dieses Hauses zum Erlöschen brachte. Onkel Wilhelm, der Schwiegersohn des Hauses, war riesig empört über diese Feststellungen seines jungen Angestellten, und ich könnte mir lebhaft vorstellen, daß sein jüngerer Bruder Dietrich, der zwar äußerlich in diese Vorhaltungen einstimmen mußte, innerlich darüber gelacht hat und sehr erbaut war, wenn er nicht etwa noch mit Veranlassung für diese Reise gewesen ist.

Alles und jedes, was Papst in der Mühlengasse in seiner Stellung hatte erreichen können, bevor ich ihn kennen lernte, hatte er nur unter hartem Kampf erobert. Es war wie ein geschriebenes Gesetz gewesen, ihn nach dieser Seite möglichst zurückzuhalten. Aus zahlreichen Erörterungen von ihm, meinen Vettern und meinen Onkeln habe ich deutlich und klar entnommen, daß, nachdem er die Stellung als Einzelprokurist erobert hatte, ihm der Seniorchef Dietrich Brügelmann jahrelang es als eine erreichbare Möglichkeit vorgegaukelt hat, daß er Teilhaber werden könne. Er ist es nie geworden und wird es auch nie werden. Trotz seiner vorzüglichen Eigenschaften hinderte ihn daran vor allem eines, das er mir selbst einmal offen zugegeben hat: Bei all seiner Menschenkenntnis und seiner ausgezeichneten Charakterbildung, seinem Mut und seiner Furchtlosigkeit war er trotzdem befangen a) in Gegenwart seiner eigenen Frau (einer geborenen Raffauf, Tochter eines Prokuristen aus dem Hause Seligmann) und b) in Gegenwart eines maßgebenden Familienmitgliedes der Familie Brügelmann und selbst ihrer Frauen. Dieses Gefühl der Befangenheit hatte er hingegen nicht in Gegenwart von mir und meiner Frau, und ich konnte mit ihm daher über alles und jedes frei von der Leber weg sprechen. Er war nur drei Monate älter als ich und wir verstanden uns auf das Beste. Im Laufe der Jahre hatte er aber das Thema seiner Teilhaberschaft derartig bei mir abgearbeitet, daß ich es zum Schluß müde wurde. Als ich Ende Oktober 1928 meine Bestellung zu Notar in Bonn erhielt, gedachte ich diesem Gesprächsthema ein Ende zu machen. Es kam genau so, wie ich es mir gedacht hatte und wie es mir mein Vetter Will Brügelmann in einer anderen Form deutlich vorausgesagt hatte: Er kannte ihn durch den Verkehr während all der Jahre vor meiner Tätigkeit noch viel besser als ich und hatte mir in einer ernsten Unterredung auseinandergelegt, daß er niemals sich von der Mühlengasse trennen würde, komme auch, was da kommen möge. Ich lud ihn mit seiner Frau zum nächsten Sonntag nach Bonn zur Bachstraße ein (am gleichen Tage, an dem ich mir morgens das Haus des Geheimrats Bardenhewer besehen hatte), und unter Tisch stellten wir in einer ernsten Aussprache endgültig fest: Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, mit den Plänen einmal ernst zu machen. Auf Grund meiner Ernennung zum Notar habe ich jetzt eine neue Existenzgrundlage, er müsse sich eine solche verschaffen, dadurch, daß er nach erfolgter Kündigung in der Mühlengasse Generaldirektor der Westdeutschen Handelsgesellschaft (anstelle des alten und erkrankten Steip) werde. Dann sei es seine Aufgabe, diese Gesellschaft mit ihr zusammenhängenden Einzelhandelsgeschäften der Gebrüder Sinn usw. zu einem lebensfähigen und äußerst lebendigen Konzern zu entwickeln. Ich sei gerne zur Mitarbeit bereit, letzten Endes würden dann die Brügelmänner schon kommen, um über die Verschmelzung zu verhandeln, nur auf diese Weise könne es ihm und mir gelingen, auch einmal Teilhaber bei B. S. zu werden.

Während der Unterhaltung wurde das Gesicht von ihm und seiner Frau langsam immer kleiner und blasser und am Ende verlief die ganze Unterredung in einem Nichts. Wir schieden durchaus freundschaftlich, aber es war mir ganz klar, daß weder er das jemals tun würde noch das seine Frau ihn dabei unterstützen würde. Ich bin nicht geneigt, dies bei ihm als einen Mangel an Mut auszulegen, es handelt sich vielmehr um einen gewissen Mangel an Bedenkenlosigkeit, der auf der Gegenseite ziemlich reichlich vorhanden war und ist.

Einige Zeit vorher hatte ich die Gegenseite der Medaille mit meinem Onkel Dietrich zu bearbeiten, der von mir einen Ausweg gezeigt haben wollte, wie er auf der einen Seite seinen häufigen Versprechen an Papst gerecht werden wollte und auf der anderen Seite mit einer entsprechenden letztwilligen Verfügung keinen Anstoß bei seinen Teilhabern und namentlich seinen beiden Neffen erregen wollte. Ich hatte ihm klar gemacht, daß er mit rechtlicher Wirkung nur etwas innerhalb seines Stammes verfügen könne und damit auch in seiner auf Widerstand stoßen würde. Er fand den Ausweg, auf einer Reihe von größeren Zetteln seine Wünsche über dasjenige zu Papier zu bringen, was nach seinem Tode innerhalb der Firma geschehen solle. Dieses Zetteltestament war ausdrücklich als rechtsunverbindlich gemeint und auch als solches bezeichnet. Ich konnte natürlich weder Papst noch den anderen etwas davon sagen. Nach seinem Tode, der etwa ein halbes Jahr später liegt, kamen die Zettel innerhalb einer kleinen internen Familienkonferenz durch Will zur Verlesung. Er versuchte mich mit ziemlich scharfen Worten dafür verantwortlich zu machen. Ich schob jede Verantwortung ab und mit Recht. Ich habe zwar Onkel Dietrich auf seinen Wunsch bei der Abfassung dieser Zettel unterstützt, ihn aber über die rechtliche Bedeutungslosigkeit dieser Wische keineswegs im Irrtum gelassen und auch schon damals jede Verantwortung dafür abgelehnt. Es war eben ein letzter kümmerlicher Versuch, sich aus einer Schlinge herauszuwinden, die er sich jahrelang selbst gelegt hatte. Ob diese Wunschzettel jemals an Papst mitgeteilt worden sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls hat nie die Meinung bestanden, ihn zum Teilhaber zu machen, und sei es auch nur zu einem Mitgesellschafter minderen Rechts, den man beispielsweise mit einer kurzen Kündigungszeit und unter knapp bemessenen Bedingungen heraussetzen kann, für den es für seinen Sohn oder sonstige Erben keine Nachfolge gibt usw.

Die meisten Mitglieder der Familie, die die Bedeutung von Papst nicht kannten und geneigt sind, ihn gewaltig zu unterschätzen, waren im Jahre 1936/37 bei der Steuerkatastrophe innerhalb der Firma der naiven Ansicht, Papst müßte als der Sündenbock aus der Firma ausscheiden. Otto, dem diese Unmöglichkeit natürlich von vorneherein ganz klar war, verstand es sehr geschickt, darüber herum zu lavieren und heute ist Papstens Stellung immer noch die gleiche wie früher. Ja in einem Punkte hat sie noch gewaltig zugenommen: Der neuerdings vom Stamme Werner Brügelmann unternommene Versuch, den letzten Firmenvertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten, die Firma möglicherweise aufzulösen und an den Stamm Werner zu bringen, hat blitzartig die ganze Bedeutung von Papst ins Licht gestellt. Wie mir O. B. mitteilte, hatte tatsächlich der älteste Sohn von Werner bereits den naiven Versuch gemacht, Papst für Mitarbeit mit dem Stamme Werner Brügelmann zu vrepflichten, falls es zu einer Trennung kommen sollte. Diese Zumutung ist so naiv, daß man darüber nur herzlich lachen kann. Papst lebt und stirbt für die Mühlengasse und wird sich niemals für einen einzelnen Stamm einsetzen.

Was meine persönliche Beurteilung angeht, so bin ich der Ansicht, das er eine dicht an die Genialität grenzende überwiegende Begabung für alles Kaufmännische und Organisatorische besitzt. Dazu einen eisernen Fleiß. Die minutiöseste Genauigkeit in allen kleinen und großen Dingen. Eine ungeheure Warenkenntnis, nicht nur auf dem Gebiete der Woll- und Kurzwaren, sondern auf dem ganzen Gebiete des Textilgroßhandels. Eine durchdringende Klugheit und Menschenkenntnis verbindet er mit äußerster Vorsicht und trotzdem hohem Wagemut. Er ist nach allen Seiten als Kaufmann als seriös und perfekt zu bezeichnen. Dabei ist er im Grunde seines Herzens ein tiefreligiöser Mensch und einfach in seinen Ansprüchen. Ich bedauere es lebhaft, seinen körperlichen Zusammenbruch im Jahre 1936 gelegentlich der großen Steuerkatastrophe miterlebt zu haben und denke mit Befriedigung daran, daß er auch dieses ohne Nachteil überstanden hat.

An gelegener Stelle werde ich hierauf noch zurückkommen.

Vetter Otto

Vetter Otto war von drei Söhnen seiner der Jüngste, ein kluger Junge, der als etwas hochfahrend galt. Als Jüngster war er der besondere Liebling seiner Mutter und als solcher wohl auch etwas verwöhnt. Bei meinem Schulfreund Reitmeister sah ich ihn selten, obschon dessen Vater, mein späterer Schwiegervater, sein Patenonkel war. Als Student wurde er Jurist und redete davon, in Bonn oder sonst einer guten Universität seinen Doktor zu machen. Nachher aber geriet ihm dieser in Heidelberg, gleichwohl war er anfangs recht stolz auf diesen Titel. Ich erinnere mich, daß er im Jahre 1910 seinen Glückwunsch zur Verlobung seiner Kusine (Verlobung Matthias Rech mit Helene Reitmeister) schnurrigerweise unterzeichnete: „Dein treuer Vetter Dr. juris Otto Brügelmann.“ Damals hatte er es sich nicht träumen lassen, daß er in etwa 23 Jahren Seniorchef der Firma F. W. Brügelmann Söhne sein würde. Bis dahin hatte er sich den Doktortitel langsam wieder abgewöhnt.

In den ersten Jahren unseres Zusammenarbeitens in der Mühlengasse habe ich mich oft genug gründlich über ihn geärgert. Mitunter kam es zu offenen Zusammenstößen, bei denen er meist zum Schluß recht kleinlaut zu werden pflegte. Bald aber fand ich es viel bequemer, ihn bei törichten Zumutungen auf den Sand laufen zu lassen oder noch heimtückischer, ihm durch Onkel Dietrich den Kopf zurechtsetzen zu lassen. Gegen diese Methode war er ziemlich hilflos und gewöhnte sich den hochfahrenden Ton mir gegenüber ab. Mit der Zeit schliffen wir uns aufeinander ein und konnten mitunter reibungslos arbeiten, nachdem wir uns beiderseits näher kennen und auch schätzen gelernt hatten. Wenn man ihm die Zähne zeigte, konnte man ihn schnell zur Vernunft bringen. Bewundernswert fand ich an ihm immer seinen unermüdlichen Fleiß, seine Pünktlichkeit und seine manchmal allzu große Wendigkeit. Wer von seinen Untergebenen ihn richtig zu behandeln verstand, konnte vieles und leicht von ihm erreichen, da er selbst plumpen Schmeicheleien zugänglich war. Er hat das manche böse Erfahrung machen müssen. Das Sprunghafte in seinem Wesen hat zu manchen nicht unerheblichen Schädigungen der Firma geführt, und es war keineswegs angenehm, ihm das vorhalten zu müssen. Zum Schlusse sah er es meistens ein, machte sich aber nicht viel daraus. Allmählich hatte er sich daran gewöhnt, in mir einen Mitarbeiter zu sehen, während er Papst gegenüber stets der Herrenmenschen hervorzukehren wußte, oft genug, wie es mir scheinen wollte, gegen seine bessere Einsicht.

In seiner Familie daheim war er keineswegs auf Rosen gebettet. Mitunter hatte er den Drang, sich bei mir auszusprechen und vertraute mir dann erstaunliche Dinge an. Er sei im Kriege an seine Frau und seiner Kinder geraten, ohne recht zu wissen wie. Mit seiner Frau Asta, mit der er vielfach Streit hatte, vertrug er sich doch im ganzen gut. Nur war es für die Umgebung nicht angenehm, häufig der etwas peinlich berührte Zuschauer ehelicher Explosionen zu sein. Auch hier galt der von mir in der Firma stets vertretene Grundsatz, daß derartige Explosionen den Wagen der Ehe oder der Firma weiterschoben.

Ein großer Rest seiner kaufmännischen Ausbildung als Bankfachmann blieb, so sehr er ihn auf der anderen Seite nützte, doch für seine peinlich genaue Ausbildung als Warenfachmann stets ein großes Hindernis. Ich wurde den Eindruck nie los, daß er in Papst den fachmännisch weit überlegenen Warenkaufmann sah, so sehr er auch bemüht war, es ihm auch auf diesem Gebiete gleich zu tun. Er fühlte kraft seiner Klugheit dessen Überlegenheit zu deutlich und ließ ihn im Grunde nie im Stich.

Meine Ernennung zum Notar imponierte ihm im Grunde riesig, obwohl er nie ein Wort darüber verlor. Ich habe das Gefühl, daß wir seitdem viel besser und reibungsloser miteinander arbeiteten. Als wir uns schließlich endlich trennten, bewahrten wir beiderseits ebenfalls keine schlechte Meinung voneinander. Im Grunde verstehen wir uns gut miteinander und sind uns auch in trüben Tagen des beiderseitigen Unglücks bei Gelegenheit der Steuerkatastrophe keineswegs fremd geworden, sondern haben uns gegenseitig so viel geholfen, als wir dazu im Stande waren.

Das Leben hat uns allmählich auseinander gebracht aber nicht in Gegensatz zueinander.

Besonders erwähnen muß ich seinen Mut bei dem nächtlichen Fliegerangriff der Engländer, dem die Mühlengasse Ende Mai 1942 zum Opfer fiel und bei dem es ihm gelang, noch einen ganz erheblichen Rest des Hauses und des Archivs zu retten. Er hat darüber, leider aber nur auszugsweise, einen Bericht in der Dreikronenrundschrift veröffentlicht. Ich muß zusehen, vollständige Abschrift zu erhalten.

Seine Frau: Tochter eines verabschiedeten Offiziers mit starker Neigung zum Krakeelen. Von seiner Frau, geborenen Pauli in Bremen, geschieden ( war sie) mit ihren Geschwistern in Freiheit aufgewachsen und schon früh auf Verdienst angewiesen. Anstellung in England. Nicht nur gute Sprachkenntnisse sondern auch pazifistische Gedankengänge. Dementsprechender Ton und persönlicher Verkehr im Hause. Auch manche Juden. Erziehung durch die Schwiegermutter Tante Maria zum Teil mit gutem Erfolg. Allmählich an geordneten Haushalt gewöhnt und von Tierhaltung abgewöhnt. Keineswegs unsympathischer Mensch, zum Teil auch geistreich in der Unterhaltung. Von Änne als „Weltdame“ angesehen. In Kleidung manchmal ein wenig exzentrisch. Im Ganzen ein tüchtiger Mensch. Ewiges Dienstbotenleid. Nach anfänglichem Etagenhaushalt Haus in der Bodinusstraße in Nippes. Dieses später an Walter Br. verkauft. Kauf des großen und vornehmen Hauses Bürgers, Oberländerufer 132 mit geräumigem Garten und Kutscherwohnung. Im zweiten Stockwerk Wohnung mit Sondereingang vermietet. Herrliche Veranda, schöne Sommerfeste. Mit dem Vater, der die Mutter zeitweise als Sekretärin beschäftigte, ergaben sich später Komplikationen. Ein Versuch, ihn zu entmündigen, schlug fehl und wurde von ihm mit Ersatzklagen gegen seinen Schwiegersohn OB. beantwortet. Trotzdem ging der Familienzusammenhang nicht vollständig verloren und die Streitigkeiten wurden wieder eingerenkt.

Mit der Mutter, die aus hervorragender Familie stammte, konnte ich gelegentlich eine sehr flüssige Unterhaltung leichter oberflächlicher Art führen, wovon sie meistens sehr entzückt war. Sie hatte eine besondere Art, sehr schnell von einem Thema auf das andere zu wechseln; erklärte z. B. eines Tages bei einer Kaffeegesellschaft bei Tante Emma plötzlich, sie müsse jetzt zum Schwimmen gehen. Dabei war sie aber keineswegs unsympathisch, und man ließ sie ruhig gehen. Etwas von ihrem fahrigen Charakter hatte sie auch den Kindern vererbt. Die Schicksale ihrer anderen Töchter waren zum Teil sehr merkwürdig.

Werner Brügelmann

Er war der älteste Sohn von Onkel Dietrich Brügelmann und Emma geborenen Hill, ein hoch und schlank gewachsener Mann mit schönen Körperformen und regelmäßigen Gesichtszügen, welche eine große Ähnlichkeit mit seinem Urgroßvater Friedrich Wilhelm Brügelmann, dem Gründer der Firma, aufwiesen.

Er besaß einen guten und scharfen Blick für alles Wirkliche, hatte auf der Schule schlecht gelernt, sich aber später zu einem tüchtigen Kaufmann und schlauen Rechner entwickelt, dabei war er ziemlich großspurig, hatte gesellschaftlich heftigen Ehrgeiz und war darauf aus, möglichst in Fabrikantenkreise zu kommen. Er konnte sehr liebenswürdig sein, war aber oft, auch in seiner Familie, ein ungehobelter Flegel, der namentlich oft mit seinem Vater heftig aneinander geriet, wobei die beiden weder Rücksicht aufeinander noch auf die Umgebung nahmen. Auf geistigem Gebiete war er recht anspruchslos, und was er sich gelegentlich auf Reisen in München an Bildern kaufte, war völlig wertlos. Er hatte nur Sinn für elegante Inneneinrichtungen und war im übrigen ziemlich kulturlos. Obwohl er recht stattlich aussah, sich eines guten Appetits und einer scheinbar unverwüstlichen Gesundheit erfreute, hatte er doch mit unheimlicher Regelmäßigkeit jedes Jahr zwei Angina-Erkrankungen, die er wenig zu beachten pflegte; länger als ein bis zwei Tage pflegte er seinem Körper dann trotz der Erkrankung keine Ruhe zu gönnen, und namentlich meinte er stets gleich wieder nach Deutz in die Fabrik zu müssen. Hieran ging er auch zugrunde, trotzdem ich ihn jahrelang auf das eindringlichste warnte und ihm die Folgen einer verschleppten Angina für die Nieren klarzumachen versucht hatte. Er pflegte mich vom Bett aus anzurufen und ich pflegte ihm dabei zu sagen, daß er so stark erkältet sei, daß ich befürchten müsse, von ihm selbst durch das Telefon angesteckt zu werden. Er hatte Sinn für Humor und konnte herzlich lachen, aber zur Schonung seiner Gesundheit war er nicht zu bewegen. Ich erinnere mich, daß wir die Taufe eines seiner drei Söhne als ein prachtvolles Sommerfest im Hause und Garten an der Amsterdamer Straße feierten. Dieses Haus hatte ihm sein Vater noch während des Weltkrieges gebaut, und es war bald nach Kriegsende fertig geworden. Mit seiner Frau, Tochter des Fabrikanten Lukas aus Elberfeld, der seinerseits aus einer altangesehenen Familie stammte, verlebte er in diesem Hause glückliche Jahre, bis ihn am 19. November 1925 nachts der Tod mitten aus seinem blühenden Leben riß. Diesen Tag werde ich nie in meinem Leben vergessen. Der Schlag kam für alle so unerwartet und überraschend, daß alle davon wie erschlagen waren. Seine Mutter schwebte tagelang wegen Herzkrämpfe in Lebensgefahr, sein Vater suchte über den fürchterlichen Verlust hinwegzukommen, daß er sich mit größtem Eifer den Vorbereitungen für das wirklich großartige Begräbnis und später den künstlerischen Verewigungen seines Sohnes widmete. Dabei mußte ich förmlich als sein Adjutant bei allem mit dabei sein, es waren wenig angenehme Tage für mich.

Da der Tote gänzlich unverändert war, wurde auf meine Anregung eine Totenmaske abgenommen, und zwar von dem Bildhauer Papst, der auch später danach eine mäßig gelungene Marmorbüste fertigte. Den Maskenabzug in Gips aber bewahrte Onkel Dietrich wochenlang in seinem Schreibtisch in einem ungelüfteten Fache auf und besah sich den Abzug von Zeit zu Zeit mit ernster Miene. Ich konnte ihn nicht davon abbringen, obwohl der Gips in dem ungelüfteten Fache allmählich einen grauen Schimmelton annahm, der grausig wirkte. Wochenlange Erörterungen fanden darüber statt, wer ein Bildnis von dem Verstorbenen malen sollte.

Onkel Dietrich hatte sich von dem Inhaber eines Vergrößerungsateliers dazu bereden lassen, äußerst flaue große Nachbildungen von alten Fotos machen zu lassen, sogar in farbigen Wiedergaben. Sie gefielen ihm sehr gut, sonst aber keinem, fanden vielmehr allgemeine Ablehnung. Die junge Witwe aber wollte ihren verstorbenen Mann unbedingt von einem Maler Klemm gemalt wissen, der allgemeine Modemaler für gewisse Industriekreise war und dementsprechend hohe Preise nahm. Das war mir genauestens bekannt durch Georg Rolfes, der sich ebenfalls von ihm hatte malen lassen wollen, davon aber abkam, weil Klemm einen sehr erklecklichen Betrag in Englischen Pfunden dafür verlangte. Ich warnte Onkel Dietrich, der sich natürlich als Vormund für seine Schwiegertochter auch in dieser Sache aufgeworfen hatte. Er tat sehr zuversichtlich, aber Klemm legte ihn herein, indem er versicherte, er würde ihm das Bild seines Sohnes unberechnet nur gegen die Unkosten malen. Ich warnte: Die Stadt Münster i. W. habe einmal sich über ein Gemälde, das den Abschluß des Westfälischen Friedens darstellen sollte, mit dem Maler nicht geeinigt, und dieser habe sich erboten, das Bild gegen Ersatz seiner Unkosten zu malen, worauf die Stadt Münster hereinfiel und schließlich das Bild mit dem dreifachen Betrage bezahlen mußte. Auch das Bildnis Klemm, das den guten Vetter in großer Aufmachung und in einer flotten Manier mit ziemlicher Ähnlichkeit gemalt nachher auswies, ist dem Maler, der den Dargestellten nie gesehen hatte, nachher ganz saftig bezahlt worden.

Das Begräbnis war riesig aufgezogen, und ein sehr redegewandter Pastor, irre ich nicht aus Elberfeld, wußte sich in seinen mehreren Reden in eine immer tollere Verherrlichung derartig hineinzusteigen, daß er schließlich von einer Lichtgestalt des Baldur faselte. Dafür strich er später ein Honorar von mindestens 1000 RM ein. Die ganze Familie und viele andere waren zum Begräbnis gekommen, das am 21. November 1925, einem Samstage, stattfand. Um 11 Uhr sonntags war die Leichenfeier im Trauerhause gewesen, wobei Ernas Jammer herzzerreißend gewesen war. Wir waren zu Fuß zur Wörthstraße zum Essen bei Tante Maria gegangen. Um drei Uhr nachmittags war nach endlosem Warten eine lange Rede des Pastors in der scheußlichen Kapelle und daran anschließend ein Riesenbegräbnis mit nochmaliger endloser Rede am Grab gewesen. Zum Kaffee hatten wir uns wieder bei Tante Maria versammelt und kamen erst abends spät müde und zerschlagen um halb zehn nach Hause zurück. Ich notierte: Die nächsten Tage gab uns dann Elly von Köln aus stets Telefonnachricht über das Befinden der Mutter, die mehrere Tage in großer Lebensgefahr schwebte.

Am nächsten Montag aber begann dann sofort in der Firma der Krieg darüber, wer die Deutzer Fabrik übernehmen sollte, Will, Otto oder Papst. Dieser Kampf tobte noch lange Zeit und war noch keineswegs entschieden, als am 10. Dezember auch noch im offenbaren Anschluß an die hierbei akut gewordenen Fragen in einer inneren Konferenz der wenig würdige Auftritt erfolgte, der mit dem Ruf „heraus!“ endete. Hierüber werde ich noch an anderer Stelle berichten. Es war dies am 10. Dezember gewesen, und ich hatte daraufhin bis zum 18.12. gestreikt. Bald darauf ließ Onkel Dietrich seinen Sohn Kurt kommen, und ich widmete mich mit größerem Eifer meinen Bestrebungen um ein Notariat, welche drei Jahre später zu einem Erfolg führen sollten.

Onkel Dietrich

Als jüngster Sohn seiner mit sieben Kindern gesegneten Eltern wuchs er nach dem Tode seines Vaters bei der Mutter und den älteren Geschwister auf. Wir besitzen eine allerliebste Photographie, die ihn als kleinen Jungen in einem Gartenhäuschen in dem kleinen Garten hinter der alten Mühlengasse zeigt. Als einen erwachsenen Jüngling von fast dämonischer Schönheit weist ihn ein Bild auf, das seine älteren verheirateten Schwestern mit ihren Männern und seinen älteren Bruder Wilhelm zeigt. Das Bild heißt die Tirolergesellschaft. Ähnlich wie ein bild der sechs oder sieben Geschwister, Kinder seines Vetters Karl Brügelmann und Sophie, geborenen Brügelmann, welche die Aapenfamilie heißt ob der seltenen Schönheit des jugendlichen Gesichtsschnittes dieser Kinder, von denen sich einige im Alter zu Schönheiten entwickelten.

Als ich ihn kennenlernte, war er schon ein alter Mann, der die Höhe des Lebens überschritten hatte, groß und hochgewachsen, gut gepflegt und tadellos in Anzug. Er pflegte jeden Morgen eine besondere Sorgfalt mit der Pflege seines Schnurrbartes durch den Friseur zu widmen. Er mußte jeden Morgen auf das Sorgfältigste ausgezogen, gestützt und gebrannt werden, dafür sah er aber auch den ganzen Tag immer tadellos aus. Seine grauen Augen waren mitunter voll Schelmereien und Humor. Er war im Stande, mitten in einer Geschäftskonferenz, als davon die Rede war, daß diese Konferenz in Abwesenheit der führenden Leute von den Angestellten für allerlei Hallotria mißbraucht wurde, folgende Geschichte zu erzählen:

„Als ich im Hause Königs Lehrjunge war, pflegte der alte Königs sich jeden Morgen mit einer Zeitung und einer Zigarre auf einen stillen Ort zurückzuziehen und dort mindestens eine Stunde lang unter sorglicher Ruhe zuzubringen. Zu seiner Bequemlichkeit hatte er sich auf dem Sitze zwei Armlehnen einbauen lassen, und so war es ihm sehr behaglich dabei. Regelmäßig kam er erst nach einer Stunde heraus, und das gesamte Personal wußte das ganz genau und richtete sich darnach.“

Während er dies erzählte, schaute er ruhig vor sich hin und tat so, als ob er nichts davon wüßte, daß seine beiden Neffen Will und Otto die Enkelkinder dieses alten Königs waren. Durch einen Blick auf beide überzeugte ich mich davon, daß sie mit halbverlegenem Lächeln vor sich schauten und begegnete dem Blick von Papst, der sie sich ebenfalls angesehen und sich dasselbe gedacht hatte. Onkel Dietrich tat ganz unbefangen, aber bis heute bin ich mir noch nicht ganz klar darüber, ob er nicht ganz genau daran gedacht hatte, daß die beiden Enkel dies mit anhören mußten.

Wie mir sein Vetter Albert Brügelmann, der heute, längst aus der Stammtafel herausgewachsen, als der älteste aller Brügelmänner in Köln noch lebt, gelegentlich erzählte, seien die richtigen Brügelmänner kleine und eher untersetzte Leute gewesen. Zu den richtigen zählte er sich und sich selbst und seine drei Kinder, ferner auch seinen Neffen Max Brügelmann und einige sonstige. Von der Mutter Dietrichs, die er als Tante Lenchen bezeichnete, stammten dagegen nach seiner Ansicht die nicht ganz richtigen langen Brüglemänner ab. Es war unverkennbar, daß Onkel Dietrich und sein Sohn Werner die typischen Vertreter dieser „großen“ Familienmitglieder waren.

Kampfmethoden des Onkels

Onkel Dietrich besaß eine riesige Gewandtheit auf dem Gebiete des kaufmännischen Kämpfens. Wer ihm nahestand, konnte sicher sein, daß er hauptsächlich mit Schmeichelreden und halben Versprechungen möglichst jahrelang hingehalten wurde. Er verstand es glänzend, irgendwelche Hoffnungen zu erwecken, ohne sich in irgendeiner greifbaren Weise festzulegen und damit den Betreffenden jahrelang hinzuhalten. Diese Methode hatte bei mir schließlich keinen Erfolg mehr, weil ich entschlossen einen anderen Weg ging, nachdem ich mir klar gemacht hatte, daß ich die Teilhaberschaft durch ihn nicht erreichen würde und er auch gar nicht in der Lage war, eine solche gegenüber seinen anderen Teilhabern durchzusetzen. Dieselbe Methode hat aber gegenüber Papst funktioniert und auch über seinen Tod hinaus bis heute Erfolg gehabt.

Eine andere Form seines Kampfes war das blinde Lostrommeln in scheinbar großer persönlicher Erregung. In diese mußte er sich meistens selbst erst hineinsprechen. Dann hieb er scheinbar ohne Ziel nach allen möglichen Seiten um sich. Er verbreitete dadurch bei der Gegenseite Bestürzung, und aus deren Protesten fühlte er allmählich das Richtige heraus und schälte dann den Kern des Streites sehr geschickt heraus. Fast stets hatte er mit dieser Methode Erfolg. Ich selbst war allerdings mit der Zeit genügend gerüstet und lernte es, ruhig und kühl zu bleiben und mich auf einen solchen Streit gar nicht einzulassen. Merkte er dies, so schlug er gleich andere Seiten an. Papst war hingegen gegen derartige Ausbrüche vollständig hilflos, vom anderen Personal gar nicht zu reden. Wenn schon die Ausstrahlung seiner persönlichen Energie und deren Einwirkung auf die Umgebung ganz bedeutend und offensichtlich war, so zeigte sich dies besonders im Falle von solchen scheinbaren Wutausbrüchen. Selbst Will und Otto gaben mir zu, daß sie trotz aller vernünftigen Überlegungen sich fast regelmäßig auf Anhieb von Onkel Dietrich zu Erregungen verleiten ließen, bei welchen sie sehr oft den Kürzeren zogen. Sie gaben zu, daß er hierin eine besondere Stärke entwickelte.

Ein weiteres Kampfmittel in der Hand des Onkels war der burschikose Biedermannston. Er konnte mitunter seine nächste Umgebung mit „Ihr Halunken“ in schelmischer und humorvoller Weise anreden, fand dabei meistens guten Boden und hatte Erfolge.

Auch väterliche und familiäre Töne lagen ihm gut, und er handhabte sie mit angeborener Virtuosität. Freilich kam er nicht immer damit durch. In jahrelangem Streit mit seiner Tochter und deren Mann gab er selbst zu, schließlich den Kürzeren gezogen zu haben. Seine Tochter war so ähnlich wie er, sie hat stets vergeblich versucht, ihm ein schriftliches Versprechen über einen recht erheblichen, aber den Familienverhältnissen angepaßten Zuschuß zu ihrem Lebensunterhalt abzuringen. Derartige Versprechen haßte er wie die Pest. Ich habe es schließlich drangegeben, ihn in dieser Sache zu beraten und den Mittler zwischen ihm und Arnsberg zu spielen. Es kam nichts dabei heraus, als daß beide Parteien ihren Groll auf mich abschoben und namentlich die Arnsberger sich schließlich in einen regelrechten Haß gegen mich hineinredeten. Mir war das Ganze von Herzen gleichgültig. Ich verweigerte weitere Reisen nach Arnsberg und beobachtete mit Vergnügen, wie Will sich wiederholt zu derartigen Vermittlungen hergab, stets mit dem gleichen, von mir genau im Einzelnen vorausgesagten Ergebnis. Will mußte mir Recht geben und nahm schließlich auch lachend von der Sache Abstand. Im Einzelnen könnte man hierüber einen förmlichen Roman schreiben. Zu bedauern ist nur, daß selbst heute, einige Jahrzehnte nach seinem Tode noch ein starker Gegensatz zwischen Kurt und seiner Schwester herrscht, was im Familieninteresse sehr zu bedauern ist.

Persönlicher Eindruck

Er war ein stattlicher und hochgewachsener Mann und gut im Fleische. Er hielt sehr darauf, gut auszusehen und pflegte sein Haupt- und Barthaar sehr. Als er im hohen Alter die Weltreise auf der Resolute machte, galt er den zahlreichen Mitgästen als ein preußischer General, was ihm nicht wenig schmeichelte. Er konnte in der Tat das Aussehen eines solchen haben. Seine ziemlich versteckt liegenden Augen hatten einen graubläulichen Glanz und konnten bei spöttischer Miene außerordentlich lebendig funkeln. Wurde er aufgeregt, so konnte er mit den Augen ordentlich böse dreinsehen. Meistens aber vermied er es, den Gegner anzusehen. Je nach Lage des Falles war es ihm auch nicht schwer, in ehrliche Tränen auszubrechen. Jedes Register konnte eben gezogen werden, und je nach dem Ernst der Situation versagten auch die Tränendrüsen nicht ihren Dienst, und kein Auge der Zuschauer blieb trocken. Er hatte einen starken Schuß von Schauspielerkunst, und das kam ihm bei mancher Situation sehr zustatten. Will, sein Neffe, hat mir einmal eine längere Erzählung darüber gegeben, wie der Onkel einen Hausierer, der mit leerer Kiepe in den Laden kommt und auch nichts recht kaufen will, durch geschickte Überredung nach und nach nicht nur die ganze Kiepe mit Waren gefüllt den Laden verläßt, sondern sich auch noch für weitere Bestellungen stark sagt.

Er besaß eine ordentliche Portion Gutmütigkeit und war namentlich in der Familie und auch gegenüber Freunden und Bekannten stets hilfsbereit. Dritten gegenüber mußte er manchmal den Eindruck eines Protzen machen, weil er bei einer momentanen Geldverlegenheit sich sehr schnell bereit fand, auszuhelfen und zu diesem Zweck immer eine größere Summe, mindestens aber tausend Mark in der Tasche hatte. Ich vergesse es nie, daß sein Schwager Kayser, der als Witwer eine Frau Lefaibre geheiratet hatte, eines Tages ihm seine Dummheiten aus seiner Sektvertretung beichtete und Onkel Dietrich zur Rettung seines Ansehens und seiner Stellung ihm 18.000 Mark vorschoß. Damit wurden die Schulden und Torheiten gedeckt, und ich erhielt den angenehmen Auftrag, für Deckung zu sorgen, was sich mit der Zeit als völlig ergebnislos herausstellte.

In der ganzen weitverzweigten Familie war er allenthalben als der hilfreiche Onkel Dietrich bekannt, und ich glaube nicht daß sich jemand mit einem Ansinnen ganz ohne Erfolg an ihn gewendet hat. Freilich konnte er hierbei auch ganz ungeniert die fraglichen Verhältnisse genauestens feststellen.

Große Achtung hat er mir noch in seinem Tode abgerungen: Er kam von seiner Weltreise mit einem neuen Ausdruck im Gesicht zurück. Sein Darmleiden entwickelte sich allmählich zu einem Karzinom, gegen das ärztliche Kunst ohnmächtig war. Trotzdem ließ er sich operieren und machte alle Tiefenbestrahlungen und Radiumversuche mit, welche die Ärzte ihm anrieten. Obwohl er den Tod vor Augen sah, ging er nochmals mit seiner Frau nach Baden-Baden. Kurz vor seinem Tod wurde er mit einem Krankenwagen nach Hause geholt, ließ sich offen auf einer Bahre aus dem Kölner Hauptbahnhof bringen, ohne das Gesicht hierbei zu verziehen, er war eben ein Mann.



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